Guatemala ist auf der Straße

Die Revoluzzersöhne Jacobo Árbenz Villanova (Mitte links) und Bernardo Arévalo de León (Mitte rechts) (Foto: Edwin Bercian)

Wie jedes Jahr wurde in Guatemala auch am diesjährigen 20. Oktober der Tag der Revolution gefeiert. An diesem Datum wird dem sogenannten guatemaltekischen Frühling gedacht, der 1944 mit dem Sturz der Militärdiktatur von Federico Ponce Vaides begann und zehn Jahre dauerte. An diesem 20. Oktober schwang in der Erinnerung an die Revolution auch die Hoffnung mit, Jahrzehnte der Korruption und Plünderung hinter sich zu lassen.

Grund der Hoffnung ist der Erfolg des Sohnes von Juan José Arévalo, Bernardo Arévalo de León, bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Bei den demokratischen Wahlen von 1944 wurde Juan José Arévalo als Kandidat der Partei Frente Popular Libertador mit einer Zustimmung von über 85 Prozent gewählt. Der Pädagoge, Doktor der Philosophie und Erziehungswissenschaften wird als Held der Revolution bei den jährlich stattfindenden Demonstrationen am 20. Oktober geehrt. Der guatemaltekische Frühling aber endete mit dem erzwungenen Rücktritt und Exil seines Nachfolgers Jacobo Árbenz Guzmán.

Bernardo Arévalo de León wiederum gewann am 20. August dieses Jahres die Stichwahl um das Präsidentenamt, der Amtsantritt soll am 14. Januar 2024 stattfinden. Seine Kandidatur hatte dem Land die Hoffnung auf den Frühling zurückgebracht: Bernardo Arévalo und seine sozialdemokratische Partei Movimiento Semilla erlangten landesweit große Aufmerksamkeit durch ihr Versprechen, die Korruption zu bekämpfen, begleitet von einer bescheidenen Wahlkampagne in einem Land, das gemäß dem Korruptionswahrnehmungsindex von 2022 zu den dreißig korruptesten Ländern der Welt gehört.

Doch mit der Hoffnung sind auch die Gegner wieder aufgetaucht. Unter dem bekannten Vorwurf des „Kommunismus“ werden Bernardo Arévalo und seine Partei angegriffen und kritisiert. So hat auch die amtierende Regierung von Alejandro Giammattei eine Offensive gegen die Partei gestartet, um zu verhindern, dass Arévalo sein Amt antritt. Die Generalstaatsanwaltschaft, die zu einem effektiven Instrument der Unterdrückung geworden ist, hat mehrere Verfahren eröffnet, um Mitglieder der Partei zu kriminalisieren. Juan Alberto Fuentes Knight, einer der Gründer der Partei, hat das Land vor wenigen Monaten aufgrund der Verfolgung, dem das Gründungskomitee ausgesetzt ist, verlassen. Gegen Cinthya Rojas Donis und Jaime Gudiel Arias wurde wegen der Beteiligung an der Gründung der Partei Haftbefehl erlassen. Ende Oktober wurde zudem aufgrund eines Kommentars auf der Plattform X die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Samuel Pérez beantragt.

Im Angesicht dieser Ereignisse gewann der 20. Oktober eine neue Bedeutung. Bernardo Arévalo trägt das Erbe seines Vaters Juan José Arévalo in die Gegenwart. Die Hoffnung auf den Straßen wird jedoch begleitet von Unsicherheit aufgrund der Angriffe derjenigen, die eine Veränderung der aktuellen Machtstrukturen verhindern wollen. Die Demonstrierenden fordern die Anerkennung der jüngsten Wahlergebnisse und den Rücktritt der Leitfiguren der Generalstaatsanwaltschaft, die versuchen, diese Ergebnisse zu sabotieren.

Bereits in den frühen Morgenstunden dieses 20. Oktobers versammelten sich Bürger*innen aus verschiedenen Landesteilen und zogen im Gedenken an das furchtbare Feuer vom 8. März, bei dem 41 Mädchen in einem staatlichen Kinderheim starben, in Richtung des sogenannten Platzes der Mädchen im Zentrum der Hauptstadt. Angehörige indigener Gruppen, Student*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen versammelten sich vor dem Nationalpalast, um Respekt für die Demokratie, die Wahlergebnisse und die Erinnerung an den guatemaltekischen Frühling einzufordern.

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“

Besonders kritisiert wurde, dass Guatemala nicht die notwendigen Mindestbedingungen und Chancen auf ein würdevolles Leben für zukünftige Generationen bietet. Die Parole „Wegen unserer Kinder, wegen unserer Migranten” spielt darauf an, dass sich viele überwiegend junge Guatemaltek*innen deshalb zur Migration gezwungen sehen. Eine der Haupteinnahmequellen des Landes sind Auslandsüberweisungen. Die Devisen, die Migrant*innen regelmäßig nach Guatemala schicken, machen 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes aus. Wie Daten der Bank von Guatemala zeigen, ist dies mehr als der Beitrag der stärksten Wirtschaftssektoren, wie die verarbeitende Industrie, Landwirtschaft und Viehzucht, Autohandel und -reparatur.

Auf Konfrontation Polizei und Protestierende beim landesweiten Streik (Foto: Edwin Berci‡n)

„Das Volk hat gewählt und Euch zum Teufel geschickt“ war eine weitere Parole, die laut in den Straßen hallte. Die Demonstrierenden machten lautstark darauf aufmerksam, dass die Vertreter*innen des Staates bereits gewählt wurden und diese Ergebnisse respektiert werden müssen. Die noch amtierenden Regierungsvertreter*innen werden als Teil des Korruptionsproblems gesehen, es fehlt ihnen an Rückhalt in der Bevölkerung.

Die Märsche waren von historischer Symbolik geprägt. In einem Moment trafen sich auf einer Brücke im Stadtzentrum, unter der ein Teil der Menschen herzog, Sympathisant*innen der Oktoberrevolution und Demonstrierende, die Respekt für die Demokratie forderten. Bernardo Arévalo hielt zusammen mit Jacobo Árbenz Villanova, dem Sohn von Jacobo Árbenz Guzmán eine Rede, die auf den Sturz der autoritären Regierung im Frühling 1944 anspielte. Neben der Erinnerung an die Hoffnungsmomente vor 79 Jahren betonte Arévalo, dass die gegenwärtige Situation des Landes typisch für einen historischen Moment sei, und dass diese Unsicherheit eine neue Ära, einen neuen Frühling, ankündige. Er zollte den Guatemaltek*innen Respekt, die in Anbetracht der aktuellen Lage ihre Stimme erhoben haben. Er bezeichnete sie als das Volk, das sich gegen die Tyrannei der Korruption erhebt und seit dem 2. Oktober friedlichen Widerstand vor verschiedenen Vertretungen der Generalstaatsanwaltschaft im ganzen Land leistet. Schließlich bekräftigte er sein Vorhaben, die Korruption von der Exekutive aus zu bekämpfen, um dem Volk die ihm genommenen Chancen zurückzugeben. So soll ein pluralistischer und inklusiver Staat entstehen, der den Menschen eine Perspektive abseits der Migration bietet.

Seit mittlerweile mehr als einem Monat wird in vielen Teilen des Landes auf diese Weise friedlicher Widerstand geleistet. Guatemala erlebt einen kritischen Moment in der Gestaltung seiner Zukunft. Die Beteiligung indigener Gruppen war entscheidend für die Mobilisierung der Bevölkerung, sich für die Verteidigung der Demokratie einzusetzen. Diese turbulenten Zeiten werden darüber entscheiden, ob die Demokratie lebensfähig ist und das aktuelle System ablösen kann. Das guatemaltekische Volk kämpft weiter und wird nicht aufgeben.

Monokultur vertreibt Milpa

Auf Deutschlandreise Die Menschenrechtsaktivist*innen María Elena Tujil Caal (rechts), Sandra Montejo Caba (Mitte) und José Luis Caal Hub (Foto: Anderson Sandoval)

Wie kam es dazu, dass die Palmölindustrie auf Ihrem Territorium aktiv wurde? Wie haben Sie davon erfahren?
Maria Elena Tujil Caal: Es gab keine Informationen darüber, dass sie sich das Land aneignen wollten. In der Nähe unserer Gemeinden wurden zum Beispiel einfach Verarbeitungsanlagen errichtet, ohne uns vorab dazu zu befragen oder über mögliche Folgen für unsere Gesundheit und Umwelt aufzuklären. Sie haben uns den Zugang zu sauberem Wasser und Land genommen. Die Bauern wurden unter Druck gesetzt, ihr Land zu verkaufen. Die Unternehmen zahlten umgerechnet zwischen 1.200 und 1.550 Euro pro Hektar Land und kauften es über Dritte oder Zwischenhändler. Auf den Parzellen, auf denen früher Mais und Bohnen angebaut wurden, steht heute nur noch ein Haus. Gleichzeitig haben sie uns mit den angeblichen Vorteilen der Anbauprojekte betrogen: Sie boten den Bauern, die sie zum Verkauf ihres Landes gezwungen hatten, Arbeitsplätze an. Diejenigen, die noch auf den Plantagen beschäftigt sind, arbeiten zwölf Stunden am Tag und erhalten einen Lohn von etwa 10 Euro. Sie bekommen keine Versicherung. Andere werden von weit her angeworben, eingesperrt und ihrer Papiere beraubt. Oft ist nicht klar, wer dort kontrolliert und zertifiziert.

Welche Rolle spielt die Palmölindustrie in Guatemala und im internationalen Kontext?
Josè Luis Caal Hub: Palmöl ist das grüne Geschäft zur Versorgung des europäischen Marktes mit Agrotreibstoffen. Seit der Ölkrise ist es zum globalen Modell geworden. In Guatemala wurde im Rahmen des Friedensabkommens von 1996 ein Landfonds geschaffen. Er sollte Hypothekenkredite zur Verfügung stellen, um den Landerwerb zu erleichtern und die individuelle Titelvergabe zu fördern. Faktisch führte er dazu, das Land der indigenen Gemeinschaften in einen unsicheren Marktmechanismus einzubinden. Zu diesem Prozess, in dem die Institutionen Unternehmen unterstützten, gehörten Drohungen, Manipulationsversuche und die Instrumentalisierung der Gemeindebehörden. Es ist ihnen gelungen, die Gemeinschaften zu spalten und unsere traditionelle gemeinschaftliche Verwaltung zu zerstören, so dass wir ohne Ressourcen dastehen.
Sandra Montejo Caba: Im Jahr 2007 führten wir eine Befragung durch, um die negativen Auswirkungen der Rohstoffindustrie anzuprangern. Es kam zu Brüchen im Gemeinschaftsgefüge. Diejenigen, die sich dem Verkauf ihres Landes widersetzten, wurden kriminalisiert, betrogen oder gewaltvoll angegriffen. Die elf Gemeinden, die Land besaßen, hatten keinen Zugang zu Straßen und Grundstücken, wodurch sie nicht frei arbeiten konnten.

Wie ist die Lage aktuell? Wem gehört das Land und wer nutzt es?
Maria Elena Tujil Caal: In Fray Bartolomé de las Casas haben nur wenige Gemeinden Eigentumsrechte. Der Rest der Gemeinde ist in Privatbesitz, ein Teil davon gehört der Firma Naturaceite, die ihre Geschäfte auch entlang der Region Franja Transversal del Norte und im ganzen Departamento Alta Verapaz ausweitet.
Sandra Montejo Caba: Im Dschungel von Ixcán haben sie vor zehn Jahren viel Wald zerstört und zwei Staudämme gebaut. Der Prozess der Landübergabe an die Indigenen und der Kampf um Anerkennung war jedoch langwierig und dauert bis heute an. Während der Präsidentschaft von Morales wurde das Gebiet von Sololá privatisiert, viele haben ihr Land verkauft, damit die jungen Leute in die USA auswandern konnten.
Josè Luis Caal Hub: Diese Enteignungsprozesse sind nichts Neues. Wir beobachten sie in unterschiedlicher Form seit der Kolonialisierung: Zuerst siedelten sich die Spanier und die Kirche im Norden an, am Ende des 19. Jahrhunderts bauten Deutsche wie Dieseldorff ihr Imperium mit dem Kaffeegeschäft in Alta Verapaz auf. Der Profit der deutschen Kaffeebarone beruhte auf der Ausbeutung der jungen Siedler, ein feudales System blieb bestehen. Heute äußert sich die Enteignung materiell, immateriell und systematisch.

Welche Auswirkungen hat die Industrie auf die Umwelt?
Maria Elena Tujil Caal: Der Fluss führte früher reichlich Wasser und hat die Familien ernährt, jetzt gibt es fast kein Wasser mehr und alles ist verschmutzt. Als die Palmölindustrie kam, starben die Fische. Früher haben wir den Fluss überquert, um Holz zu holen, aber jetzt können wir das nicht mehr, weil das Land privatisiert wurde und fast alles abgeholzt ist. Jetzt müssen wir fast zwei Stunden laufen, um Holz zu holen. Das trifft vor allem uns Frauen, weil es viel mehr Anstrengung erfordert. Die ganze Gemeinde hat keine eigene Wasserquelle mehr, und Frauen aus anderen Orten berichten, dass die einzigen Quellen, die es noch gab, verschwunden sind. Die Zukunft ist ungewiss, die Folgen des Klimawandels sind durch die Abholzung der Wälder viel stärker zu spüren, Überschwemmungen werden häufiger. Auch Krankheiten wie Fieber, Durchfall und Hautausschläge haben zugenommen.

Ihre Weltanschauung setzt statt Monokultur auf Agrarökologie. Wie setzen Sie agrarökologische Praktiken ein?
Sandra Montejo Caba:
Wir fördern die Agrarökologie als ganzheitliche und organische Methode zur Wiederherstellung des Landes, das früher für die Viehzucht genutzt wurde. Das ist unsere Art, Armut und Unterernährung zu bekämpfen. Die Aussaat ist für uns eine Form der spirituellen Gemeinschaft und die milpa (traditionelle Anbaumethode mit Mais, Bohnen und Kürbis, Anm. d. Red.) mehr als ein Nahrungsmittelsystem: Wir lassen die Erde ruhen. Wir nutzen den Regenzyklus und passen uns den Veränderungen im Anbauzyklus. Früher wuchs Ayote auf natürliche Weise, heute hat der Boden nicht mehr so viel Kraft. Eine wichtige Rolle spielen auch verschiedene Heilpflanzen. Wir müssen die gemeinschaftliche Landwirtschaft fördern, denn in einigen Regionen gibt es keine Straßen und die Menschen müssen sehr früh zur Arbeit aufbrechen. Wir brauchen einen Wandel und Prozesse, die autonomer sind. Pueblo Nuevo hat zum Beispiel seinen eigenen Markt und eine gemeinschaftliche Organisation und Artikulation.

Unternehmersohn in Spitzenposition

Könige der Bananenwelt Daniel Noboa schart auch alte Bekannte aus der Unternehmerwelt um sich (Foto: Wambra (CC BY-NC-ND3.0)

Bei der Stichwahl um das Präsidentenamt am 15. Oktober hat sich der Überraschungskandidat aus dem ersten Wahlgang, Daniel Noboa, gegen die dem ehemaligen Präsidenten Rafael Correa nahestehende Kandidatin Luisa González durchgesetzt. Der 35-Jährige wird nun Ende November seine 18-monatige Amtszeit bis zu den nächsten turnusmäßigen Wahlen im Jahr 2025 antreten. Bis vor Kurzem war Noboa hauptsächlich als Sohn des Bananen-Magnaten Álvaro Noboa Pontón bekannt, der selbst fünf Mal daran scheiterte, Ecuadors Präsident zu werden.

Noboa präsentiert sich als neue, junge politische Option und stehe in Zeiten politischer Gewalt für Erneuerung, meint zumindest Abelardo Paco, ehemaliger Chef der Zentralbank in Ecuador. Dabei profitierte er auch von einer gut funktionierenden Social-Media-Kampagne. Die direkte Konfrontation mit seinen politischen Gegner*innen vermied er weitgehend, was besonders bei jungen Wähler*innen Anklang fand. In der Altersgruppe der Wähler*innen unter 40 Jahren, die mit etwas mehr als 50 Prozent aller Wahlberechtigten die Mehrheit bildet, war seine Unterstützung besonders hoch. Sogar in den Regionen, die traditionell von Zentrumsparteien und linken Parteien dominiert sind – hauptsächlich die Sierra und das Amazonasgebiet – konnte sich Noboa die Mehrheit der Stimmen sichern.

„Noboas Sieg folgt einem seit langem etablierten Schema seit Ecuadors ersten (demokratischen) Wahlen im Jahr 1979“, so Grace Jaramillo, Politikwissenschaftlerin und Expertin für Internationale Beziehungen, in einer Analyse für den Latin America Advisor. Sie erklärt, dass die ecuadorianischen Wähler*innen in fast allen Wahlen seit 1979 jene Kandidat*innen bevorzugten, die zuvor nicht im Amt waren und neue Botschaften vermittelten. Einzige Ausnahme ist Rafael Correa, der die Wahlen zweimal (2008 und 2013) für sich entscheiden konnte. Zudem habe Noboa es geschafft, sich von der Polarisierung zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen von Correa zu lösen, schreibt die Politologin.

Stimmenfang im rechtskonservativen Lager

Schon Noboas Wahlbündnis zur Stichwahl setzte sich aus sehr unterschiedlichen politischen Bewegungen zusammen. So hat er mit Verónica Abad eine Vizepräsidentin gewählt, die offen extrem reaktionäre Positionen vertritt und sich unter anderem gegen die Legalisierung von Abtreibungen ausspricht. Die Wahl dieser Kandidatin dürfte der Stimmenbeschaffung im konservativen Lager sicher nicht geschadet haben.

Der neu gewählte Präsident bezeichnet sich selbst als Mitte-links, steht jedoch für ein klar neoliberales und arbeitgeberfreundliches Wirtschaftsmodell. Noboa arbeitete von 2010 bis 2018 als Logistikdirektor im Bananen-Unternehmen seines Vaters. In diese Zeit fällt auch die Zerschlagung der letzten Gewerkschaft auf der Plantage Los Álamos, die Teil des Firmenimperiums ist. In Ecuador ist der gesamte Bananensektor eine gewerkschaftsfreie Zone, die Firma der Noboas ist hier keine Ausnahme. 2021 urteilte ein Gericht, dass die Branchengewerkschaft ASTAC, eine Vertretung der Land- und Bananenarbeiter*innen, vom Arbeitsministerium zugelassen werden muss. Diese Zulassung ist politisch bis heute nicht umgesetzt und es wäre überraschend, wenn dies ausgerechnet unter Noboa umgesetzt würde. Ebenso werden fossile Brennstoffe und der Rohstoffabbau weiter eine wichtige Rolle einnehmen. Noboa hat zwar angekündigt, sich an die Abstimmung zum Yasuní-Nationalpark (siehe Interview auf Seite 20) zu halten, will die Ölförderung aber an anderen Stellen vorantreiben. Ebenso möchte er weitere Bergbauprojekte angehen, kündigte Steuersenkungen an und möchte zum Ankurbeln der Wirtschaft ausländische Investitionen anlocken.

Die Partei des Präsidenten hat in der Nationalversammlung nur 13 Sitze

Ob diese Vorhaben so einfach umzusetzen sind, wird sich zeigen, denn Noboa wird mit einem zersplitterten Parlament arbeiten müssen. Sein Vorgänger Guillermo Lasso hatte als Reaktion auf ein Amtsenthebungsverfahren das Parlament aufgelöst und war selbst zurückgetreten. Aktuell ist Noboas Partei PID nur mit 13 von 131 Sitzen in der Nationalversammlung vertreten und ist somit auf die breite Unterstützung anderer Parteien angewiesen, um seine politischen Ziele umzusetzen. Die größte Fraktion bleibt im Parlament die Partei Revolución Ciudadana die die politische Strömung des Correismus repräsentiert. Nach der Wahlniederlage in der Stichwahl versprach die zweitplatzierte Präsidentschaftskandidatin Luisa Gonzáles in ihren sozialen Netzwerken die volle Unterstützung ihrer Partei, „um die Reihen zu schließen und das Land voranzubringen“”. Fraglich bleibt allerdings, ob dies aufgrund der konträren politischen Vorschläge überhaupt möglich ist.

Ende Oktober veröffentlichte Noboa schließlich über seinen X-Account auch die Namen seines Kabinetts. Dabei wurden Sonsoles García als Ministerin für Produktion und Außenhandel und Roberto Luque als Minister für öffentliche Arbeit vorgestellt. Beide sind zwar in politischen Kreisen noch relativ unbekannt. Sonsoles García ist Rechtsanwältin und gilt als Expertin für Freihandelszonen. Beide sind aber in politischen Kreisen noch relativ unbekannt. Zu den bekannteren Gesichtern in Noboas Kabinetts gehört Iván Carmigniani, der zukünftig als Generalsekretär für Kommunikation arbeiten soll. Als Politik- und Kommunikationsstratege war er in den Jahren 1998, 2002 und 2006 verantwortlich für die Präsidentschaftskampagnen von Álvaro Noboa, Vater des gewählten Präsidenten.

Gewerkschaftsfreier Raum Dass sich die Situation der Arbeiter*innen auf den Bananenplantagen unter Noboa verbessert, bleibt zu bezweifeln (Foto: David Bossart via Flickr (CC BY-SA 2.0 DEED))

Expert*innen wie der Politikanalyst und ehemalige Correa-Außenminister Guillaume Long äußerten bereits während des Wahlkampfs Skepsis hinsichtlich der vielfältigen Verbindungen der Noboa-Familie in verschiedenen Sektoren der ecuadorianischen Wirtschaft. Diese Verbindungen lassen die Befürchtung aufkommen, dass der neue Präsident seine Position nutzen könnte, um die wirtschaftlichen Interessen seiner Familie und seines engsten Umfelds zu begünstigen.

Auch Noboas Minister haben Kontakte in die Bananenindustrie

Eine Untersuchung des Mediums Wambra hat in diesem Kontext Verbindungen zwischen den Exportoligarchien Ecuadors recherchiert und und die von Noboa zunächst vorgeschlagenenen Minister unter die Lupe genommen. So auch Iván Adolfo Wong Chang, der das Amt des Landwirtschaftsministers übernehmen sollte und dessen Familie zu den größten Bananenproduzenten und -exporteuren in Ecuador gehört. Der Ingenieur lehnte das Amt jedoch ab. An seiner Stelle wurde der Geschäftsmann Franklin Danilo Palacios Márquez als zukünftiger Minister vorgestellt. Palacios hatte in der Vergangenheit ebenfalls Verbindungen zur Bananenindustrie. Er war zuvor außerdem Direktor der Hafenbehörde von Puerto Bolivar und Vorstandsmitglied der Vereinigung der Bananenexporteure Ecuadors.

Die Noboa-Gruppe selbst gehört zu den größten Schuldnern gegenüber der ecuadorianischen Steuerbehörde und zahlt im Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Aktivität vergleichsweise niedrige Steuern. Darüber hinaus teilt die Politologin Grace Jaramillo die Sorge vor einem potenziellen Machtmissbrauch durch Noboa – sei es in der Produktion von Gütern, Dienstleistungen oder in der Landwirtschaft. Es existieren kaum wirtschaftspolitische Themen, die nicht unmittelbar das Firmenkonstrukt der Familie betreffen. Daraus ergibt sich nach ihrer Einschätzung ein ständiger Interessenkonflikt.

Wie sich dieser Einfluss tatsächlich auf die politische Entscheidungen des zukünftigen Präsidenten auswirkt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die größte Hürde bleibt nach wie vor die Sicherheitskrise, die Ecuador seit zwei Jahren fest im Griff hat. Eine Welle von Verbrechen, die dem Modus Operandi der organisierten Kriminalität entsprechen, hat die Bevölkerung in Alarmbereitschaft versetzt. Dazu gehören Erpressungen, Autodiebstähle, Entführungen, Überfälle auf Geschäfte, Drogenhandel und Morde. Die Bewältigung dieser Probleme und die Erzielung langfristiger Ergebnisse dürften auch noch bei den nächsten Wahlen Thema sein.

„Wir müssen die Welt yasunisieren!”

Bei den Präsidentschaftswahlen in Ecuador am 15. Oktober siegte der Mitte-Rechts-Kandidat Daniel Noboa mit einer klaren Mehrheit. Wie äußerte sich Noboa zum Volksentscheid vom 20. August und was bedeutet seine Position für dessen weitere Umsetzung?
Das Ergebnis vom 20. August war ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Ecuadorianer Umweltfragen sehr ernst nehmen. Mit einer Zustimmung von 60 Prozent für das Ende der Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark und 70 Prozent für den Schutz des Naturreservats Chocó Andino und gegen Bergbau stimmten mehr Menschen als für beide Kandidaten der letzten Runde der Präsidentschaftswahlen zusammen. Während des Wahlkampfes hat sich Noboa gegen die Erdölförderung in Yasuní ausgesprochen. Er hat sich jedoch nicht zum Schutz der Natur oder der in freiwilliger Isolation lebenden Bevölkerung bekannt. Er hält die Erdölförderung ganz einfach für ein schlechtes Geschäft. Als Alternative zum Ende der Erdölförderung nannte er den groß angelegten Bergbau.

Welche rechtlichen Mittel stehen zur Verfügung, um das Ergebnis des Referendums durchzu-setzen, falls die Regierung ihrer Pflicht nicht nachkommt?
Die Anwälte der Initiative Yasunidos haben bereits eine Anfrage beim Verfassungsgericht eingereicht und dieses gebeten zu überprüfen, ob der Wille der ecuadorianischen Bevölkerung respektiert wird. Eine zivilgesellschaftliche Beobachtungs- und Ombudsstelle ist in Planung, um die Entscheidungen der Regierung und der Nationalversammlung zu überprüfen. Dieser sollen Vertreter verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen, aber auch Fachleute im Bereich der Erdölförderung angehören.

Welche Rolle werden die Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen in diesem Prozess spielen?
Die Zivilgesellschaft muss Druck auf den neu gewählten Präsidenten Noboa ausüben, um sicherzustellen, dass der Wille der Bevölkerung umgesetzt wird. Wir müssen uns durch das komplexe Gefüge der Rechtsprechung bewegen und auf die Einhaltung der Verfassung drängen. Gegebenenfalls müssen wir auf die Straßen zurückkehren, um zu protestieren. In einem Rechtsstaat sollte der Wille der Bevölkerung umgesetzt werden. Wie das geschieht, ist eine andere Frage, aber der Wille muss befolgt werden.

Wie viel Geld geht dem ecuadorianischen Staat durch das Ende der Ölförderung im Yasuní-Nationalpark verloren und wodurch können diese fehlenden Einnahmen kompensiert werden?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Zunächst müssen wir sehen, wie viel der ecuadorianische Staat wirklich an der Ausbeutung des Yasuní gewinnen würde. Die Zahl schwankt zwischen 300 und 400 Millionen Dollar pro Jahr. Das entspricht einem Prozent des Staatshaushalts. Das ist nichts.
Das Ganze ist eine Frage des richtigen Umgangs mit den Finanzen. Die Steuerschulden der 500 größten Schuldner belaufen sich in Ecuador auf zwei Milliarden Dollar. Die 25 größten Schuldner haben Rückstände in Höhe von 734 Millionen Dollar. Das ist nur ein erster Überblick. Dann gibt es eine Reihe von Steuervergünstigungen und Entschädigungen, die im Jahr 2021 20 Prozent des Staatshaushaltes ausmachen, 6,3 Milliarden Dollar. Das Problem dabei ist, dass der Großteil dieser Vergünstigungen an die reichsten Wirtschaftsgruppen geht. Das Geld ist also da. Es geht darum, es anders zu verteilen und von einem Grundprinzip auszugehen: Derjenige, der am meisten hat, muss auch den größten Steuerbeitrag leisten. Aber nehmen wir an, wir lösen das Geldproblem. Was wir tun müssen, ist, die Produktions- und Verbrauchsmuster zu ändern. Wir brauchen eine post-extraktivistische Gesellschaft bzw. Wirtschaft.

Wird Ecuador in Hinblick auf die Umsetzung des Referendums dem Vorbildcharakter gerecht werden können, über den in den vergangenen Wochen so viel gesprochen wurde?
Das Ergebnis des Volksentscheids steht im Einklang mit den Kämpfen in vielen anderen Ländern. Es ist sehr wichtig, dass dieses Ergebnis befolgt wird. Aber wir müssen noch weiter gehen. Das Amazonasgebiet darf nicht länger ausgebeutet werden, und die Forderungen der Bewohner dieser Region müssen gehört werden. Das Beispiel Yasuní muss zu einem Werkzeug für breitere und tiefgreifendere Prozesse werden. Wir müssen die Welt „yasunisieren“. Dabei geht es nicht nur um Fragen der Nachhaltigkeit. Soziale Gerechtigkeit und ökologische Gerechtigkeit gehen Hand in Hand. Ohne soziale Gerechtigkeit kann es keine Gerechtigkeit für die Umwelt geben und umgekehrt. Für diesen Wandel ist eine enorme internationale Solidarität unverzichtbar. Wir müssen anfangen, Netzwerke des Widerstands zu knüpfen. Wir brauchen eine Art ökologische Internationale, die uns dabei hilft, den Aufbau von Alternativen zu stärken.

Wie kann eine solche ökologische Internationale dazu beitragen, den Volksentscheid umzusetzen und die vorgeschlagenen Alternativen zu fördern?
Wir brauchen diese ökologische Internationale erstens, um die Menschen zu unterstützen, die seit langem organisiert sind und für die Erfüllung des Referendums kämpfen, und zweitens, um über eine neue Alternative nachzudenken. Eine Initiative, bei der der Grundsatz gilt, dass diese Art von Prozess gemeinsam mit den Ländern durchgeführt wird, die den größten Anteil an der Umweltverschmutzung haben. Auf der Grundlage des Prinzips der gemeinsamen, aber differenzierten Mitverantwortung. Dann müssen wir sehen, wie der Rückbau der Ölinfrastruktur finanziert werden kann. Woher bekommen wir die Mittel, um zu überwachen, dass diese Aufgabe auch tatsächlich durchgeführt wird? Woher bekommen wir internationale Unterstützung und Experten, die uns bei diesen Prozessen begleiten? Nicht nur Techniker, die die Infrastruktur zurückbauen, sondern auch Experten für Wiederaufforstung und für Biodiversität, die die Prozesse in Ecuador unterstützen? Wir müssen anfangen, weltweit Netzwerke des Widerstands zu weben.

Welchen Herausforderungen wird sich der neu gewählte Präsident Daniel Noboa neben der Umsetzung des Volksentscheids stellen müssen?
Wir erleben in Ecuador gerade eine sehr komplexe Situation. Ecuador ist die einzige Wirtschaft in Südamerika, die ihr Niveau von vor der Pandemie noch nicht wieder erreicht hat und in der die Armut weiter zunimmt. Es ist eine Wirtschaft, in der fünf Millionen Menschen mit weniger als drei Dollar pro Tag leben. Von extremer Armut sind fast zwei Millionen Menschen betroffen, die mit weniger als einem Dollar und 70 Cent pro Tag auskommen müssen. Währenddessen gibt es eine erschütternde Konzentration von Reichtum. Sie nimmt mitten in der Krise weiter zu. Die Reichen sind noch reicher geworden. Außerdem haben wir es mit einer Situation extremer Gewalt zu tun. Ecuador entwickelt sich zu einem der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas und der Welt. Die Frage der sozialen Sicherheit und die Reaktion auf die Unsicherheit ist zentral, dieses Problem wird weder durch Populismus noch durch Militarisierung der Straßen gelöst. Deswegen ist es wichtig, dass die sozialen Bewegungen klare Forderungen stellen, die als Basis für weitere Kämpfe dienen. Und wir werden sehen müssen, ob diese sozialen Bewegungen die nötigen Kapazitäten haben, für die Wahlen 2025 einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufzustellen.

Wie kann sichergestellt werden, dass das Ergebnis des Volksentscheids inmitten all der anderen Probleme nicht in Vergessenheit gerät?
Es ist notwendig, klare Forderungen zu stellen, wie die Erfüllung des Referendums vom 20. August. In der jetzigen Konjunktur müssen die sozialen Bewegungen, das Kollektiv Yasunidos, die verschiedenen Umweltgruppen und indigenen Bewegungen ihre Einheit bewahren. Sie müssen wachsam bleiben, da es bisher keine klaren Signale gibt, die zeigen, dass das Ergebnis des Referendums respektiert wird.

Kurz gesagt, die Situation in Ecuador ist sehr kompliziert…
Die Präsidentschaftswahlen vom 15. Oktober waren vorgezogen. In einem Jahr befinden wir uns schon wieder im Wahlkampf. Die Probleme sind zu komplex, um sie in 18 Monaten zu lösen. Die neue Regierung wird kurzfristige Maßnahmen ergreifen, ohne die zugrunde liegenden Probleme zu lösen. Über die Wahlen hinaus müssen wir uns darum bemühen, eine Gegenmacht von unten aufzubauen. Dazu braucht es solide Grundlagen, die es uns ermöglichen, von den Machthabern Veränderungen und Umgestaltungen zu fordern. Die sozialen Bewegungen, Indigene, Umweltbewegungen, Gewerkschaften und feministische Bewegungen müssen eine breite Front bilden, um sich der extraktivistischen, kolonialen, patriarchalen und der neoliberalen Politik entgegenzustellen.

Tauziehen um die Präsidentschaftswahl

Tankstelle in Caracas die Vereinigten Staaten wollen wieder Öl aus Venezuela importieren (Foto: John Mark Shorack)

Am 3. Dezember werden die Venezolaner*innen an die Wahlurnen gerufen. Allerdings nicht, um über die Führung des Landes abzustimmen. Vielmehr will sich die Regierung in einem alten territorialen Konflikt mit dem östlichen Nachbarland Guyana den Rückhalt der Bevölkerung sichern. Das sehr dünn besiedelte, etwa 160.000 Quadratkilometer große Esequibo-Gebiet (etwas weniger als die Hälfte der Fläche Deutschlands), wird faktisch von Guyana kontrolliert und macht etwa zwei Drittel von dessen Staatsgebiet aus.

Guyana beruft sich bei seinen Gebietsansprüchen auf einen Schiedsspruch von 1899, als es noch britische Kolonie war. Venezuela hingegen betont die frühere Zugehörigkeit des Gebietes zum Königreich Spanien und pocht auf den „Vertrag von Genf“ aus dem Jahr 1966. Dieser entstand im Zuge der Unabhängigkeit Guyanas und sieht Verhandlungen vor. An Brisanz gewann der Konflikt, als ein Konsortium um den US-Konzern ExxonMobil vor der Küste 2015 große Erdölvorkommen entdeckte. Die geplante Vergabe von Konzessionen facht den Streit nun weiter an.

In dem geplanten Referendum, das Guyana unbedingt unterbinden will, soll die venezolanische Bevölkerung in fünf verschiedenen Fragen die Position der Regierung in Caracas stützen. Gegenwind aus Venezuela selbst ist in diesem Fall nicht zu erwarten. Es gibt wohl kein anderes Thema, bei dem sich praktisch sämtliche politische Richtungen derart einig sind wie bei dem Anspruch auf das Esequibo-Gebiet. Inwieweit der Konflikt weiter eskaliert ist offen.

Das Referendum soll auch den Streit mit der Opposition verdecken

Die Regierung unter Nicolás Maduro nutzt das Thema aber auch, um den grundsätzlichen Streit mit der Opposition zu überdecken. Seit dem offiziellen Beginn der Wahlkampagne am 7. November trommelt sie für eine hohe Beteiligung und spielt dafür die nationalistische Karte. „Hier geht es nicht darum, ob man diesen oder jenen Kandidaten für das Amt des Gouverneurs oder des Bürgermeisters oder diesen oder jenen Kandidaten für das Amt des Präsidenten unterstützt“, erklärte Maduro in seinem eigenen Fernsehprogramm „Con Maduro+“. „Nein, hier lassen wir das alles beiseite.“

Die landesweite Mobilisierung um den Esequibo fällt just in eine Phase, in der Regierung, rechte Opposition und die USA um die Bedingungen für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr ringen: Am 17. Oktober hatten die Regierung und das Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática in Barbados ein Abkommen über transparente Wahlen unterzeichnet, das als Grundlage für weitere Gespräche dienen soll. In einer zweiten Übereinkunft bekräftigen sie den Schutz der Landesinteressen. Dabei geht es zum einen um den Konflikt mit Guyana und zum anderen um die drohende Zerschlagung des venezolanischen Erdölunternehmens Citgo in den USA. Die Vereinbarungen beruhen auf diskreten Vorverhandlungen zwischen Venezuela und der US-Regierung. Diese lockerte im Gegenzug die Sanktionen gegen das südamerikanische Land.

Laut dem Abkommen soll die gemäß Verfassung für 2024 vorgesehene Präsidentschaftswahl in der zweiten Jahreshälfte stattfinden. Die politischen Lager bestimmen ihre jeweiligen Kandidaturen nach eigenen Regeln und setzen sich beim Nationalen Wahlrat (CNE) gemeinsam für umfassende Garantien ein. Dazu zählen laut der Vereinbarung unter anderem die Aktualisierung des Wählerregisters im In- und Ausland sowie glaubwürdige internationale Wahlbeobachtung. Hinzu kommen ein respektvoller öffentlicher Umgang, Gewaltverzicht, Förderung gleichen Zugangs zu Medien sowie die öffentliche Anerkennung der Abstimmungsergebnisse.

Zwar gibt es an dem Abkommen vereinzelt Kritik. So thematisiert es beispielsweise nicht die zukünftige Besetzung der staatlichen Institutionen oder die juristischen Eingriffe in die interne Führung mehrerer rechter und linker Parteien, darunter der Kommunistischen Partei (PCV). Dennoch gilt es als die weitreichendste Vereinbarung zwischen Regierung und Opposition seit dem Amtsantritt von Nicolás Maduro 2013.

In den vergangenen Jahren waren mehrere Dialogversuche zwischen Caracas und Opposition nicht zuletzt an der Haltung der US-Regierung gescheitert, ohne die aufgrund der Sanktionsfrage kaum ein Fortschritt möglich ist. Zu einer Annäherung kam es seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, da die Vereinigten Staaten wieder Öl aus Venezuela importieren wollen. Im November 2022 lockerte Washington im Zuge einer kurzzeitigen Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Maduro-Regierung und Opposition die Sanktionen im Erdölbereich bereits leicht. Der Energiekonzern Chevron darf über seine vier Joint Ventures mit dem venezolanischen Staatsunternehmen PDVSA seitdem Erdöl in die USA exportieren. Bis vor Kurzem lag der Dialog jedoch wieder auf Eis.

Unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens von Barbados lockerte die US-Regierung die Sanktionen nun weiter. Der Handel mit und Investitionen in Erdöl, Gas und Gold sind vorerst wieder erlaubt. Die Lockerungen gelten zunächst für sechs Monate und können jederzeit zurückgenommen werden, sollte sich Caracas nicht an die vereinbarten Schritte hin zu transparenten Wahlen halten. Die US-Regierung erhielt außerdem die Erlaubnis, ab sofort Abschiebeflüge nach Venezuela durchzuführen – ein weiteres zentrales Interesse Washingtons, das aufgrund steigender Migrationszahlen aus Venezuela hinzugekommen ist.

Die Aufhebung der Sanktionen stellt aus Sicht der venezolanischen Regierung zweifellos einen Erfolg dar. Dem Staat dürfte die Rückkehr an die Rohstoffmärkte steigende Einnahmen bescheren, die die Regierung im Wahljahr dringend benötigt. Allerdings bräuchte der venezolanische Erdölsektor für eine deutliche Anhebung der Fördermenge milliardenschwere Investitionen, für die eine dauerhafte Aufhebung der Sanktionen nötig wäre.

Das Tauziehen um die Präsidentschaftskandidatur der Opposition droht die weitreichenden Vereinbarungen allerdings bereits zu torpedieren. Nur wenige Tage nach Unterzeichnung des Abkommens von Barbados hielt ein Großteil der Opposition am 22. Oktober interne Vorwahlen über eine gemeinsame Kandidatur ab. Weil mit dem CNE keine Einigung über das Datum erzielt werden konnte, lief die Abstimmung selbstorganisiert, also ohne institutionelle Unterstützung ab. Wie erwartet gewann die Hardlinerin María Corina Machado überaus deutlich. Sie erhielt 92,35 Prozent der Stimmen. Die Beteiligung gab die Vorwahlkommission mit gut 2,5 Millionen an, was die im Vorfeld eher niedrigen Erwartungen übertraf. Machado zählt seit über 20 Jahren zum rechten Rand der Opposition, hat sich in den vergangenen Jahren offen für eine US-Militärintervention in Venezuela ausgesprochen und will vor allem staatliche Unternehmen privatisieren. Seit Maduros Amtsantritt stand sie für den Flügel der Opposition, der (teils gewalttätige) Straßenproteste der Teilnahme an Wahlen vorzog.

Durch die Vorwahl ist Machado nun theoretisch die oppositionelle Präsidentschaftskandidatin. Allerdings ist ihr untersagt, für 15 Jahre öffentliche Ämter zu bekleiden. Derartige Antrittsverbote kann der Rechnungshof in Fällen von Korruption oder der Veruntreuung öffentlicher Gelder ohne Gerichtsbeschluss verhängen. Da es sich um administrative Entscheidungen handelt, die häufig intransparent erfolgen, sind sie sehr umstritten. In der Praxis setzt die Regierung dieses Instrument willkürlich ein. Davon betroffen sind nicht nur Politiker*innen der rechten, sondern auch der linken Opposition. Machado gewann die Vorwahlen auch deshalb so deutlich, weil sich der nach ihr aussichtsreichste Kandidat Henrique Capriles, der eine moderatere Linie vertritt und 2012 und 2013 unterlag, im Vorfeld zurückgezogen hatte. Als Begründung führte er das gegen ihn verhängte Antrittsverbot an.

In dem Abkommen von Barbados heißt es, dass alle Kandidat*innen, die „die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen“, an den kommenden Wahlen teilnehmen dürften. Die Regierung machte im Anschluss an die Unterzeichnung des Abkommens aber deutlich, dass die Antrittsverbote nicht zurückgenommen werden könnten.

Die Aufhebung der Sanktionen erlaubt dem Staat die Rückkehr an die Rohstoffmärkte

Machado will dennoch Druck aufbauen, um teilnehmen zu können. Auch die US-Regierung erwartet, dass Caracas bis Ende November nicht nur einen verbindlichen Wahlkalender vorlegt, sondern zudem politische Gefangene freilässt und die Antrittsverbote zurücknimmt.

Die Opposition stellt die Kandidat*innenfrage vor ein Dilemma. Tatsächlich befürchten nicht wenige, dass Machado sich verrennt und die Regierungsgegner*innen am Ende ohne zugelassene Kandidatur dastehen. Ein fragwürdiger Schritt der Regierung führte allerdings dazu, dass vorerst sämtliche Oppositionsströmungen Machado den Rücken stärkten.

Ende Oktober erließ das regierungsnahe Oberste Gericht (TSJ) ein Urteil, mit dem es die komplette Vorwahl wegen „Betrugsvorwürfen“ für ungültig erklärt. Laut Regierung hätten sich an der Abstimmung nicht 2,5 Millionen, sondern lediglich 600.000 Menschen beteiligt. Geklagt hatte ein Vertreter der moderat-rechten Opposition, dem eine gewisse Nähe zur Regierung nachgesagt wird. Im selben Urteil bestätigte das Gericht auch das Antrittsverbot gegen Machado.

Abgesehen davon, dass derlei Schritte gegen eine privat organisierte Abstimmung fragwürdig sind, verstößt das Vorgehen nach Ansicht vieler Beobachter*innen gegen die in Barbados getroffene Vereinbarung. Noch ist unklar, ob das die gerade begonnene Annäherung zwischen Regierung und Opposition einerseits und den USA andererseits grundlegend gefährdet. Die venezolanische Regierung kalkuliert offensichtlich damit, dass die Opposition weiterhin zerstritten auftritt und spielt auf Zeit. In den kommenden Wochen steht nun zunächst das Referendum über die Esequibo-Region im Vordergrund.

Mehr als überleben

G77-Gipfel in Kuba Lula setzt auch auf die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden (Foto: Palácio do Planalto/Ricardo Stuckert/PR via Flickr (CC BY ND 2.0 Deed))

Von Anfang an war klar, dass Lula sein Amt unter sehr schwierigen Bedingungen antritt. Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei (PT), verfügt auch mit ihren Verbündeten über keine Mehrheit, sie muss mit der Unterstützung eines konservativen Blocks regieren, der allgemein als Centrão bezeichnet wird. Und der nur sehr knappe Wahlsieg sowie die Wahlerfolge vieler Unterstützer*innen von Bolsonaro machen die Ausgangslage nicht einfacher. So werden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens (São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro) von Anhängern Bolsonaros regiert. Angesichts dieser extrem schwierigen Ausgangslage hat die Regierung Lula ihr erstes Jahr zwar nicht ohne Blessuren, aber doch mit beachtlichen Erfolgen überstanden.

Allerdings hängt die Bewertung stark von den Erwartungen ab. International konzentrierten sich diese auf die Frage der Entwaldung und Brasiliens Rolle in der zukünftigen Klimapolitik. Dies korrespondiert aber auch mit den Erwartungen der indigenen Völker, die im Widerstand gegen die Bolsonaro-Regierung eine prominente Rolle eingenommen hatten. Die ersten Signale des gewählten Präsidenten waren sehr vielversprechend. Zum einen wurde zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Ministerium für indigene Fragen eingerichtet und dies mit einer prominenten Vertreterin der indigenen Völker, Sônia Guajajara, besetzt. Zum anderen wurde mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin ein starkes Zeichen dafür gesetzt, dass Umweltpolitik nun eine wichtige Rolle in der Regierungspolitik spielt. Eine erste eindrucksvolle Aktion war ein energisches Vorgehen gegen die illegale Goldschürferei in Amazonien.

Aber bald zeigten sich auch die ersten Konfliktlinien. Auf einem Treffen der Amazonasstaaten unterstützte die brasilianische Regierung nicht die Forderung von Kolumbiens Präsident Petro nach einem Moratorium für neue Ölförderungen in Amazonien. Hintergrund ist die mögliche Erschließung von Ölvorhaben im Gebiet der Amazonasmündung. Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. Während das Energieministerium und der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras die Erschließung befürworten, hat das Umweltministerium Einspruch erhoben. Der Konflikt um das Öl am Amazonas zeigt auch, dass die Konfliktlinien quer durch die Regierung gehen. Der von Lula eingesetzte Präsident der Petrobras war bis dahin Senator für die PT und hat das wichtige Amt als Vertrauter Lulas gewonnen. Zurzeit ist völlig offen, wie der Konflikt ausgeht.

Einen Erfolg kann Lula jedenfalls verbuchen: Die Entwaldungszahlen sind im Jahre 2023 deutlich gesunken – zumindest im Amazonasgebiet. So sank die Entwaldung im September von 1.454 Quadratkilometer im Jahre 2022 auf 590 im Jahre 2023. Auch wenn die Zahlen noch vorläufig sind, steht eine deutliche Reduzierung der Entwaldung im Amazonasgebiet außer Frage. Aber im angrenzenden Cerrado (Baumsteppe) ist die Entwaldung währenddessen gestiegen – von 273,41 auf 516,73 Quadratkilometer (alle Angaben beziehen sich auf den Monat September).

Die Entwaldungszahlen im Amazonasgebiet sind deutlich gesunken

Für die meiste Brasilianer*innen ist aber die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend für die Bewertung der Regierung. Und hier läuft es ganz gut. Die Inflation geht zurück, sie liegt jetzt bei 5,19 Prozent. Das Wirtschaftswachstum für 2023 wird knapp unter 3 Prozent liegen, nach Jahren der Wirtschaftskrise ein beachtlicher Wert und die Arbeitslosenquote weist mit 7,7 Prozent den niedrigsten Wert seit 2015 auf. Dabei hatten die formalen Beschäftigungsverhältnisse das größte Wachstum. Und auch die Programme zur Bekämpfung der extremen Armut zeigen erste Erfolge. Nach einer Studie, an der unter anderem die Fundação Getúlio Vargas und die Weltbank beteiligt waren, ist die Zahl der in extremer Armut Lebenden bis September um drei Millionen (von 4,5 Millionen) zurückgegangenen. Die Wiederaufnahme der verschiedenen Programme zur Armutsbekämpfung zeigen offensichtlich bereits Wirkung.
Diese Erfolge sind keineswegs selbstverständlich und werden unter widrigen Umständen erzielt. Die Zentralbank wird immer noch von einem Präsidenten geleitet, der von Bolsonaro eingesetzt worden ist. Er weigerte sich zunächst, die Leitzinsen zu senken und tat dies dann auch nur in homöopathischen Dosen. Im November 2023 liegt der Leitzins (Selic) bei 12,25 Prozent und damit deutlich über der Inflationsrate. Die zweite große Schwierigkeit der Regierung ist der eher eingeschränkte Spielraum für Ausgaben durch einen Haushaltsdeckel, der unter der Regierung Temer mit einer Verfassungsänderung eingeführt worden ist. Der Regierung Lula ist es gelungen, diese Restriktionen zumindest zu lockern. Bemerkenswert ist, dass es der Regierung gelang, alle wichtigen Abstimmungen in den ökonomischen Fragen recht deutlich zu gewinnen. Die Frage ist nur zu welchem Preis.

Die Mechanismen der brasilianischen Politik lassen sich gut an dem Beispiel einer Steuerreform erkennen, die vielleicht das wichtigste Reformprojekt der Regierung Lula im Jahre 2023 ist. Kernstück ist die Vereinfachung von verschiedenen Steuern zu einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Diese Vereinfachung des Steuersystems wurde sogar von den Bolsonaro-Gouverneuren unterstützt. Schwieriger war es aber, eine Mehrheit für einen anderen zentralen Punkt der Steuerreform zu bekommen, nämlich der Besteuerung von großen Vermögen und im Ausland operierenden Fonds (offshore) brasilianischer Anleger*innen. Das konnte nur durch Kompromisse (niedrigere Steuerquote als ursprünglich geplant) und durch Verhandlungen mit dem Centrão gelingen. Schlüsselfigur ist dabei der Parlamentspräsident Arthur Lira. Er forderte von Lula für seine politische Klientel die Leitung der Caixa Econômica Federal – eine staatliche Bank, die nach Zahl der Kontoinhaber*innen mit 150 Millionen die größte Bank Brasiliens ist und zahlreiche staatliche Sozial- und Kreditprogramme abwickelt. Lula kam dieser Forderung nach, entließ die Amtsinhaberin und ernannte einen Vertrauensmann Liras, Carlos Antônio Vieira Fernandes. Neben der Caixa wurden insgesamt drei Ministerien in diesem Jahr dem Centrão geopfert. Dabei musste die prominente Volleyballspielerin Ana Moser den Posten der Sportministerin räumen und einem Mann des Centrão weichen. Zwei der drei geopferten Ministerien wurden von Frauen geleitet, ihre Nachfolger sind alles Männer des Centrão.

Ein weiteres Mittel, parlamentarische Zustimmungen zu erkaufen, sind die sogenannten emendas parlamentares. Das sind Zusatzanträge von einzelnen Abgeordneten zum Haushalt. Sie haben in diesem Jahr ein Volumen von etwa sieben Milliarden Euro erreicht. Diese emendas müssen von der Regierung in den Haushalt aufgenommen werden, zwingen dann aber auch die Abgeordneten, dem Haushalt zuzustimmen.

Deutlich weniger von Kompromissen abhängig ist Lula in der Außenpolitik. Und hier wird der Bruch mit seinem Vorgänger Bolsonaro besonders deutlich. Als erste Priorität verkündete Lula den Ausbau der Beziehungen zu den Ländern Südamerikas und seine erste Auslandsreise führte ihn nach Argentinien. Im Mai gelang es Brasilien, einen Lateinamerika-Gipfel zu organisieren, der in seiner Abschlusserklärung die Perspektive einer größeren Kooperation wiederbelebte. Im Juni folgte der Gipfel der Amazonasanrainerstaaten in Belém, wohl der Höhepunkt der außenpolitischen Initiativen im Jahre 2023. Lula will offensichtlich Brasilien wegen der Entwaldungen im Amazonasgebiet von der Anklagebank herunterholen und das Land zu einem Vorreiter der globalen Klimapolitik zu machen. Er weiß, dass eine globale Führungsrolle Brasiliens nur erreicht werden kann, wenn das Land ein glaubhafter Player in der Klimapolitik wird. Jedoch zeigten sich auch auf dem Amazonasgipfel Differenzen, die eine substanziellere Einigung verhinderten. So war schnell klar, dass ein konkretes Ziel zur Reduzierung von Entwaldung, wie es Brasilien verkündet hat, nicht konsensfähig ist. Und die Frage der Erdölförderung zeigt die bereits erwähnten Differenzen zu der Position der kolumbianischen Regierung.

In der globalen Politik ist Brasilien von einer Blockbildung mit dem „Westen“ deutlich abgerückt. Nach einigem Zögern wurde der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, aber Brasilien beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Ein deutliches Signal ist auch die Wiederbelebung der BRICS-Allianz auf dem Gipfeltreffen im vergangenen August in Südafrika. Dass Brasilien mit China und Russland bedenkenlos kooperiert, wurde vom „Westen“ mit Kritik überzogen. Aber Indien verhält sich keinen Deut anders als Brasilien, der Wille eine multilaterale Weltordnung zu fördern, ist offensichtlich sehr groß. Die neue Zusammenkunft ist natürlich nicht in erster Linie ein Bündnis für die Menschenrechte, wie auch die Liste der Beitrittskandidaten für die BRICS Koalition zeigt. Hier finden sich etwa Saudi-Arabien und Iran.

Brasiliens Regierung will dies nicht als anti-westliche Politik verstehen, Leitbild ist vielmehr die Idee „ein Land ohne Feinde“ und Kooperation mit allen, unabhängig von den innenpolitischen Verhältnissen dieser Länder. Und so gehört auch der Abschluss der Freihandelsabkommen zwischen Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten zu den Prioritäten der Regierung.

Wie also kaum anders zu erwarten, finden sich in der Einjahresbilanz positive und negative Punkte. Eine Bewertung hängt stark von den Erwartungen ab, die man an die Regierung Lula hat. Eines sollte aber klar sein: die Erwartung kann nicht sein, dass Lula eine Regierung der sozialen Transformation anführt oder eine Regierung gegen das Agrobusiness. Es ist eine Regierung einer sehr heterogenen Allianz mit einer prekären parlamentarischen Mehrheit. Sieht man diesen Ausgangspunkt, dann hat sich die Regierung Lula im ersten Jahr recht gut geschlagen und sogar eine Steuerreform durchbekommen, die die Besteuerung hoher Einkommen verschärft. In den Umfragen bewerten nach neun Monaten Regierungszeit 48 Prozent der Befragten die Regierung positiv, ein Wert, von dem die deutsche Bundesregierung nur träumen kann. Aber stabile 45 Prozent der Bevölkerung lehnen die Regierung ab. Die Spaltung des Landes ist also nicht überwunden und die Gefahr eine Rückkehr des Bolsonarismo nicht gebannt.

Kinder und Alte bleiben zurück

Wird auch in Berliner U-Bahnhöfen beworben Anbieter zum Verschicken von remesas (Foto: Theresa Utzig)

Alle zwei Wochen fährt Julissa Gómez aus dem Dorf Ticamaya nach San Pedro Sula. Dort holt sie bei einer Bank den Gegenwert von 125 US-Dollars in der honduranischen Währung Lempira ab. Das Geld schickt ihr Mann, Elbin Antony, der vor vier Monaten illegal in die USA gereist ist. Der 26-Jährige lebt dort in New Jersey bei seinem Vater, den er über 20 Jahre lang nicht gesehen hat. Zunächst arbeitete Elbin in einem Supermarkt, jetzt als Tellerwäscher in einem Restaurant. Julissa erzählt: „Das Geld verstecke ich gut in der Hosentasche und kaufe dann sofort Lebensmittel und die Pulvermilch für meine beiden Kinder. Letzten Monat musste ich auch viel Geld für Medikamente ausgeben, weil sie unter Eisenmangelanämie leiden.“

Wie Julissa geben über 80 Prozent der Empfänger*innen ihre remesas für grundlegende Lebenshaltungskosten aus. Kein Wunder, denn in Honduras kosten allein die Lebensmittel für eine fünfköpfige Familie mehr als der Mindestlohn. Darüber hinaus müssen Patient*innen in den öffentlichen Krankenhäusern viele Medikamente selbst bezahlen, Lehrer*innen verlangen Schulmaterial und oft auch Geld von den Eltern. Auch die Mieten sind nach der Pandemie stark gestiegen.

Laut einer aktuellen Studie der honduranischen Zentralbank vom August 2023 sind die Rücküberweisungen das einzige Einkommen für weit über ein Drittel der Familien, die sie erhalten. So auch für Julissa, denn sie arbeitet nicht, um sich um ihre beiden Kinder zu kümmern. Immerhin lebt sie mietfrei im Haus ihrer Geschwister.

„Das Geld der Auslandshonduraner*innen hält das Land über Wasser“, fasst der junge Ökonom der Arbeitgeberorganisation COHEP, Alejandro Kaffati, die Situation zusammen. Im Jahr 2022 betrugen die remesas 8,68 Milliarden US-Dollars. Das entspricht einem guten Viertel des Bruttoinlandproduktes, was wiederum dem Wert aller Exporte außer Textilien entspricht. Dieses Jahr werden die Überweisungen der Auslandshonduraner*innen vermutlich erneut um gut 7 Prozent wachsen. Fast 24 Millionen US-Dollars werden jeden Tag durch die Rücküberweisungen in die Wirtschaft gepumpt. Das ist ein Segen für den Handel überall im Land: Von kleinen Lebensmittelläden, Kleidergeschäften und Restaurants über Dienstleistungen wie Schönheitssalons und Werkstätten bis hin zu nationalen Ketten, die Haushaltsartikel und elektronische Geräte vertreiben, oft auf Kredit. „Diese wirtschaftliche Dynamik trägt zum Wirtschaftswachstum von rund 4 Prozent bei, denn neben den vielen importierten Artikeln werden auch einheimische Produkte konsumiert. Dazu kommen Löhne für die Angestellten, die ebenfalls konsumieren“, erklärt der Ökonom und Universitätsdozent Rafael Delgado.

Nicht nur für die Empfänger*innen und die Wirtschaft sind die remesas lebenswichtig, sondern auch für den honduranischen Staat: Er kann den Wechselkurs der Landeswährung Lempira gegenüber dem US-Dollars stabil halten, indem er Devisenvorräte anhäuft. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich der Druck auf das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem verringert. Alejandro Kaffati schätzt, dass ohne die Rücküberweisungen der Anteil der Armen in Honduras von aktuell 71 Prozent auf 80 Prozent steigen würde. Ein Anstieg an Menschen in finanziellen Notlagen hätte unweigerlich noch größere soziale Konflikte zur Folge, in einem Land mit hoher Kriminalität und einem fragilen sozialen Netz.

Obwohl alle Regierungen das Sozialbudget kontinuierlich erhöht haben, lag das Land im Menschlichen Entwicklungsindex der UNO 2022 bloß auf dem 137. Platz von 191 evaluierten Ländern. Eine bessere Zukunft scheint also nur im Ausland möglich.

Sechs von zehn Auslandshonduraner*innen, die remesas an ihre Familie schicken, tun das monatlich und überweisen mit 467 US Dollars etwas mehr als den honduranischen Mindestlohn. Fast die Hälfte von ihnen lebt seit über 20 Jahren in den USA. Ein großer Teil der honduranischen Arbeiter*innen in den USA ist im Service-Sektor tätig: Sie sind Putzpersonal in Hotels oder Angestellte in Restaurants und Altenpflege, Männer arbeiten oft im Baugewerbe. Laut der bereits erwähnten Studie der Honduranischen Zentralbank verdienen Auslandshonduraner*innen durchschnittlich rund 3.000 US-Dollars pro Monat und setzen zwischen 8 Prozent und 14 Prozent ihres Einkommens für Rücküberweisungen an ihre Angehörigen in der Heimat an. Dazu kommen Überweisungen in Notfällen sowie für spezielle Anlässe und große Pakete mit Kleidern und Geschenken zu Weihnachten.

„Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative”

Macht Geld, für das die Menschen nicht selbst arbeiten, faul? „Nein“, sagt José Manuel Pineda, Vizepräsident der Nationalen Entwicklungs-stiftung von Honduras (FUNADEH). „Wer remesas bekommt, hat meist keine Alternative, denn er findet keinen Job, ist alt oder krank oder kümmert sich um die zurückgebliebenen Kinder. Es gibt einfach nicht genug Jobchancen, die wenigen Stellen sind zudem sehr schlecht bezahlt.“

Julissa will nicht illegal emigrieren, weil das Risiko, dass ihr auf dem beschwerlichen Weg durch Mexiko etwas zustößt, zu groß sei: „Unser Ziel ist es, Geld für ein kleines Restaurant zu sparen und es dann gemeinsam zu führen.“ Falls das nicht klappt, ist sie sich bewusst, dass die Familie möglicherweise viele Jahre lang getrennt leben wird, nimmt das aber auf sich. Um sie herum geht es vielen so.

Óscar Bautista ist Kaffeeproduzent und Bürgermeister von Santa Rita, einer Gemeinde im Departamento Santa Bárbara im Westen des Landes. Er schätzt, dass 90 Prozent der circa 4.000 Einwohner*innen von Santa Rita Angehörige im Ausland haben, die ihnen remesas schicken. „Das sieht man an neuen Häusern, mehr Autos sowie Investitionen in die Plantagen. Aber da es fast keine jungen Leute mehr gibt, fehlt es an Arbeiter*innen, besonders für die arbeitsintensive Kaffee-Ernte zwischen November und März. Die Landwirtschaft kann nicht wachsen, das wird in Zukunft zu höheren Lebensmittelimporten führen“, befürchtet Bautista. Zurück bleiben die Älteren, die dank des Geldes der Migrant*innen einigermassen würdevoll leben können.

Getrennte Familien sind der soziale Preis, den Länder bezahlen, aus denen viele Menschen emigrieren. Dazu kommen weitere negative Aspekte der Rücküberweisungen, so dass sie von vielen Ökonomen sogar als Falle bezeichnet werden. In erster Linie sinkt die Produktivität und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit aufgrund fehlender Arbeitskräfte in allen drei wirtschaftlichen Sektoren sowie Investitionen in Firmen aller Art. Besonders junge Leute aus ruralen Gebieten verlassen das Land in Scharen und setzen ihre Arbeitskraft in den Ländern des globalen Nordens ein. Dazu kommen immer mehr Fachkräfte, die aufgrund fehlender Perspektiven – sprich Weiterbildung, adäquate Löhne und bessere Lebensqualität – auswandern. Dank ihnen kommen viele Devisen ins Land, von denen ein Teil in importierte Güter investiert wird. Das erhöht kurzfristig die Lebensqualität, trägt aber nicht zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum bei, das zusammen mit gerechteren Strukturen den Exodus aus Honduras zumindest etwas verringern würde.

Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme

Rafael Delgado bringt es so auf den Punkt: „Die remesas erlauben einer gewissen Bevölkerungsschicht eine Bequemlichkeit, die längerfristig aber fatal ist und immer mehr Personen dazu motiviert, ebenfalls zu emigrieren.“ Der Staat ermutigt die Migration dabei durch offizielle Programme. Fernseh- und Radiospots, die vor den vielen Gefahren auf der Route durch Mexiko warnen und von der Behörde für Entwicklungszusammenarbeit der US-Regierung bezahlt sind, werden praktisch ignoriert. Zu groß sind die Not und der Traum von einer besseren Zukunft und dieser beinhaltet auch die Hilfe an die „daheimgebliebenen“ Familienmitglieder.

Ein konkreter Weg aus der Falle der Rücküberweisungen wären laut Alejandro Kaffati spezifische Kredite für die Empfänger*innen von remesas. Drei Viertel von ihnen verfügen zur Zeit nicht einmal über ein Bankkonto. Dennoch gibt es Personen, die über genug Geld für eine Investition wie ein Grundstück oder sogar ein Haus verfügen. „Durch Kredite mit niedrigeren Zinssätzen könnten Investitionen ermöglicht werden, beispielweise in Immobilien oder Kleinfirmen. Das stärkt Wirtschaftsbranchen wie das Baugewerbe, das bisher nur wenig von den remesas profitiert. So würde die Arbeitslosigkeit bekämpft und das Wohnungsdefizit verkleinert“, so Kaffati. Dafür ist ein gewisses Kapital sowie ein finanzielles Grundwissen nötig und eine klare Vision der Zukunft, die weit über das simple Konsumieren hinausgeht.
Mit größeren Investitionen in Bildung und Anreizen für neue, innovative Firmen kann der Staat die wirtschaftliche Dynamik erhöhen. Das allerdings setzt einen starken politischen Willen voraus, der die vierjährige Amtszeit einer Regierung überschreiten müsste. Nicht sehr wahrscheinlich in diesen Zeiten, wo sich nicht nur in Honduras die politische Rechte und Linke unversöhnlich gegenüberstehen.

Rafael Delgado schlägt daher vor, Modelle aus Mexiko zu übernehmen, wo der Staat auf verschiedenen Ebenen mit den remesa-Empfänger*innen zusammenarbeitet, um ihre Gemeinden zu stärken. So soll weniger konsumiert und mehr investiert werden – in soziale Infrastruktur wie Schulen, Gesundheitszentren, Wege und Trinkwasser, aber auch in ihre Häuser und Kleinstfirmen. Mexiko erhält nach Indien weltweit die meisten Rücküberweisungen.

Das ernüchternde Fazit ist, dass laut einer Studie des Internationalen Währungsfonds keines der zehn Länder, die zwischen 1990 und 2017 in Relation zu ihrem Bruttoinlandsprodukt die meisten Rücküberweisungen erhielten, sein BIP pro Kopf im Vergleich zu Ländern mit weniger Rücküberweisungen steigerte. In der Mehrheit sind die Wachstumsraten der großen Empfängerstaaten sogar um rund einen Prozent geringer als die der vergleichbaren Länder. Zu den Staaten, die besonders von Rücküberweisungen profitieren, gehören neben Honduras auch Jamaika, Kirgisien, Nepal und Tonga. Es handelt sich also keineswegs um ein rein lateinamerikanisches Phänomen. Doch rund tausend Honduraner*innen verlassen ihr Land fast täglich auf der Suche nach besseren Chancen und diese Dynamik scheint unaufhaltbar.

Digitale Mauer

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Warten auf eine App-Entscheidung Vor der Migrant*innenherberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt (Foto: Lilia Tenango)

Mitten in der COVID-19-Pandemie, im Oktober 2020, führte der US-amerikanische Zoll- und Grenzschutz (CBP) die Smartphone-App CBP One ein, um die Migration stärker zu kontrollieren und zu reduzieren. Die neue Applikation wurde im Kontext zweier bestehender Immigrations- und Grenzmaßnahmen eingeführt, die die Migrationsdynamiken zu dem Zeitpunkt zentral bestimmen: Zum einen das binationale Abkommen Quédate en México („Bleib in Mexiko“, MPP) von 2019 bis 2022, zum anderen das zwischen 2020 und Mitte 2023 verordnete Gesundheitsgesetz, das als Title 42 bekannt ist. Unter dem MPP mussten Asylsuchende monatelang in Mexiko verweilen, während ihr Asylverfahren in den USA verhandelt wurde. Title 42 hingegen erlaubte es der US-amerikanischen Grenzbehörde, vornehmlich mexikanische und zentralamerikanische Menschen, die irregulär die US-amerikanische Grenze überquerten, direkt abzuschieben, ohne ihnen eine Chance auf ein Asylverfahren zu geben. CBP One ist somit ein weiteres Instrument zur Steuerung der Migration sowie zur Reduzierung von irregulären Grenzübertritten und heute das zentrale Tool, das Grenzübertritte reguliert.

Lupe Alberto Flores, Anthropologe an der Rice University in Houston, erklärt gegenüber LN, dass die App seit ihrer Einführung bereits für verschiedene Zwecke eingesetzt wurde. Sie kam schon während des MPP zur Anwendung, um Personen zu verifizieren, die in Mexiko auf ihren US-amerikanischen Asylbescheid warteten. Außerdem wurde die App 2021 zur Evakuierung von Menschen aus Afghanistan oder 2022 für die Einreise von Ukrainer*innen im Rahmen des humanitären Schutzprogramms Uniting for Ukraine genutzt. Venezolaner*innen können über die App unter bestimmten Bedingungen im Rahmen eines anderen humanitären Schutzprogramms ihre Asylanträge sogar schon in Venezuela stellen. Bei einem positiven Bescheid dürfen sie direkt mit dem Flugzeug in die USA einfliegen. Kurzum: Wer als Nicht-US-Amerikaner*in über den Landweg die Grenze überqueren will, braucht einen Termin. Dies ist vor allem für das Stellen eines Asylantrags relevant. Wer sich ohne diesen Termin in die USA begibt, kann mit einer Abschiebung und einem fünfjährigen Wiedereinreiseverbot rechnen.

Die App ist zunächst für jede Person mit Mobiltelefon frei erhältlich. Flores beschreibt die Funktionsweise der App als einen Filter: Sie fragt neben biometrischen Echtzeitfotos und allen persönlichen Daten auch nach Informationen zur bisherigen Reise. Menschen werden auf der Grundlage ihrer Selbstauskunft schon vor ihrem ersten Kontakt von den US-amerikanischen Grenzbeamt*innen auf frühere Verurteilungen oder Straftaten überprüft. Außerdem fragt die App stets den aktuellen Standort ab. Dies ist insofern relevant, da die App grundsätzlich erst nördlich von Mexiko-Stadt funktioniert – was bedeutet, dass Menschen auch erst einmal bis dorthin kommen müssen. Wer einen Termin bekommt, darf Mexiko in der Regel ungehindert durchqueren. Berichten von Betroffenen und Organisationen zufolge fordern mexikanische Beamt*innen dennoch häufig Geld für die Weiterreise auf dem Landweg.

Flores erklärt, dass CBP One somit eine „logistische“ Technologie ist, die zwar einerseits die Einreise erleichtert, gleichzeitig aber eine verschärfte Kontrolle der Immigration bedeutet und umsetzt. Laut Flores konnten, Stand August dieses Jahres, 90 Prozent der Asylsuchenden mit Termin die Grenze überqueren, um ihren Asylantrag in den USA zu stellen. Weil sie ebenjene Möglichkeit zur legalen Einreise in die USA bietet, ist die App unter den Menschen im Transit begehrt. Ein Mann aus Usbekistan sagt gegenüber LN darüber in Tijuana: „Du kannst die App hier einfach herunterladen und damit in die USA einreisen. Das ist cool. Du brauchst kein Visum und sie akzeptieren dich einfach“.

App mit Lotteriecharakter

Problematisch wird es für Personen, die kein Mobiltelefon besitzen oder deren Telefone die technischen Voraussetzungen der App nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass viele Menschen im Transit durch verschiedene Städte und Länder oftmals nur eingeschränkten oder gar keinem Zugang zum Internet haben. Flores beschreibt die Terminbeantragung darüber hinaus als ein Labyrinth, bei dem verschiedene Wege zum Ziel führen können. Allerdings können technische Fehler oder fehlerhaft eingegebene Informationen genauso in eine Sackgasse führen. Diese Momente verursachen enorme Stresssituationen, da in solchen Fällen ganze Registrierungen gelöscht und erneuert werden müssen. Die Psychologin der Migrant*innen-Herberge Casa Tochan in Mexiko-Stadt, Janett De Jesús, betont im Interview mit LN, dass sich die CBP One-App erheblich auf die Psyche der Menschen auswirke. Abseits der Zufriedenheit darüber, eine legale Möglichkeit zu haben, in die USA einzureisen, kommen zunehmend Frust und Verzweiflung auf. Hervorgerufen werden diese von vielen technischen und strategischen Unsicherheiten, aber auch von den zahlreichen Gerüchten zur aktuell verbreiteten erfolgreichen Vorgehensweise. Viele Menschen können auch die Tragweite ihrer eingegeben Daten nicht einschätzen. Die App machte zudem schon zu Beginn Schlagzeilen, weil die damit aufgenommenen Echtzeitfotos Menschen mit dunkler Haut oftmals nicht erkennen.

Ein zusätzlicher Frustfaktor ist der willkürliche Lotteriecharakter, der für die Menschen eine große Belastungsprobe bedeuten kann. Flores erklärt, dass die Auswahl für die Termine zweispurig erfolgt: 50 Prozent der Anfragen werden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, die Logik der Vergabe der anderen 50 Prozent erfolgt nach dem Registrierungsdatum. Die Wartezeiten variieren somit stark und reichen von wenigen Tagen oder Wochen bis hin zu mehreren Monaten – für Menschen in prekären Situationen eine sehr lange Zeit. Darüber hinaus leiden sie unter der täglichen Ungewissheit darüber, wie lange sie noch warten müssen. Die Wartezeit ist daher nicht nur mit Geduld und Nerven, sondern im Zweifel auch mit erheblichen Kosten und Gefahren in Mexiko verbunden.

Wer nicht mehr warten kann, entscheidet sich, irregulär weiter Richtung Norden zu reisen. Die Psychologin De Jesús berichtet: „Der Grad der Verzweiflung ist so groß, dass die Menschen bereit sind, alles zu tun, was nötig ist, um den Termin tatsächlich zu bekommen. Dies impliziert, wieder auf bekannte Migrationswege wie den Zug zu setzen, auf denen die Personen Gefahren wie Überfällen, Entführungen, oder Unfällen ausgesetzt sind.“ Als Reaktion auf den Anstieg irregulärer Grenzübertritte im September haben die USA und Mexiko gemeinsam weitere Abschreckungsmaßnahmen beschlossen. Unter anderem sollen Menschen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in den nordmexikanischen Grenzstädten aufhalten, verstärkt in ihre Herkunftsländer abgeschoben und die Nutzung von Güterzügen als Transportmittel unterbunden werden.

Durch die „neue” Situation, die sich durch die App ergibt, müssen auch die Migrant*innenherbergen ihre Arbeit mit und für die Menschen im Transit anpassen. Dazu gehört, dass sich Mitarbeiter*innen und Freiwillige mit der CBP One-App und ihren Funktionen vertraut machen, denn die Nachfrage nach Unterstützung bei der Registrierung ist groß. Maricela Reyes, die in der Casa Tochan arbeitet, betont im Interview mit LN, dass dies gar nicht so einfach sei, da die Funktionsweise der App ständig verändert wird. Weiter führt sie aus, dass die Herberge ständig am Limit arbeite. Denn obwohl Casa Tochan lediglich für 46 Bewohner*innen mit Betten ausgestattet ist, beherbergt sie weit mehr Menschen: Mitte September waren es um die 150 Menschen, für die die Mitarbeiter*innen zeitweise sogar ein großes Zelt vor dem Eingang aufstellen mussten, damit sie die Nacht dort verbringen konnten. Die Direktorin der Migrant*innenherberge, Gabriela Hernández, erklärt gegenüber LN, dass es dringend politische Maßnahmen seitens des mexikanischen Staates brauche, um diesen Menschen während ihrer Wartezeit eine temporäre Aufenthaltserlaubnis zu geben: „Wenn sie ein humanitäres Visum hätten, dürften sie arbeiten. Dann könnten sie in Ruhe arbeiten und sich unabhängig machen, Miete zahlen und auf ihren Termin warten. Das wäre eine weitere Möglichkeit, die Überfüllung der Herbergen zu beenden. Stattdessen setzt die Regierung darauf, Menschen an der irregulären Reise in die USA zu hindern und sie abzuschieben.” Die mexikanische Regierung selbst äußerte sich positiv über die Möglichkeit der legalen Grenzüberquerung mithilfe der CBP One-App. So auch Präsident López Obrador im August in einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Biden.

Menschenrechtler*innen und Betroffene klagen gegen die App

Wie sich die Situation zukünftig entwickeln wird, ist ungewiss. Erstens bleibt die Frage offen, inwiefern die großen Mengen an gesammelten Daten der CBP One-Nutzer*innen zukünftig verwendet werden. Zweitens wartet auf diejenigen, die mit der App die Grenze überqueren, in den USA der Gerichtsprozess, in dem endgültig über ihr Asylersuchen geurteilt wird. Drittens ist ungeklärt, ob der Einsatz der App im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Asylrechtrechtswidrig ist und in dieser Form überhaupt bestehen bleiben kann. Menschenrechtsorganisationen und Asylbewerber*innen haben gegen dieses Vorgehen gemeinsam Klage eingereicht.

Die neue US-amerikanische Strategie im Namen einer „sicheren, geordneten und regulären Migration” schafft somit zwar eine legale Möglichkeit der Einreise in die USA, doch sie schränkt das Recht auf Asyl ein. Die damit verbundenen Kosten und Risiken tragen die Personen im Transit, die sich gezwungen sehen, im für sie unsicheren Mexiko einen längeren Zeitraum auszuharren. Außerdem fällt die größte Arbeitslast auf zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in Mexiko, die an vorderster Front für eine menschenwürdige Behandlung und Wahrung der Menschenrechte von Migrant*innen und Geflüchteten kämpfen. Flores zufolge ist mit der App zur physischen Mauer nun noch eine digitale Mauer hinzugekommen, die es erst einmal zu überqueren gilt, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Letztlich handelt es sich um eine weitere Externalisierungsmaßnahme der USA, um die Migrationen Richtung Norden schon in Mexiko zu kontrollieren.

„Es gibt keine Sicherheit mehr“

Wichtiger denn je, aber auch schwieriger denn je Die Arbeit des Menschenrechtszentrums Frayba ist stark eingeschränkt (Foto: Anne Haas)

Die Nachrichten aus Chiapas dieser Tage sind erschreckend. Wie interpretiert ihr die aktuelle Welle der Gewalt in eurem Bundesstaat?

Patricia: Es ist ja nicht so, dass wir nicht wussten, was uns erwartet. Es ist bekannt, dass die organisierte Kriminalität in Mexiko operiert. In Chiapas wurde es in den letzten zehn Jahren immer sichtbarer, seit 2018 sehr offensichtlich. Und ab 2021 haben wir eine Situation der offenen Auseinandersetzung um das Territorium. Wenn es uns klar war, dann auch dem Staat. Warum ist nichts passiert?
Der Präsident leugnet die Verbrechen in unserem Bundesstaat bis heute. Das kommt ihm nicht gerade zugute. Daher mussten wir nun diese weite Reise antreten, um hier in Europa unsere Informationen zu verbreiten.

Lázaro: Unser letzter Menschenrechtsbericht 2020 bis 2023 heißt nicht ohne Grund: „Chiapas ein Desaster. Zwischen krimineller Gewalt und der Komplizenschaft des Staates“. Wir beobachten eine Umstrukturierung des Territoriums mit Bruch des sozialen Gefüges in den Gemeinden. Das hat verschiedene Gründe:
Zum einen sind da die bekannten Infrastrukturprojekte wie der Bau der beiden Zugstrecken des Tren Maya und Transístmisco. Ganz zu schweigen von den ökonomischen Vorhaben, wie Minen, Fracking, Entwaldung und so weiter.
Zum anderen sind da die viel zitierten Sozialprogramme wie Sembrando Vida (finanzielle Förderung für das Aufforsten mit Nutzbäumen auf privatem Land, Anm. d. Red.). Sie führen gezielt zu Konflikten in den Gemeinden, Individualisierung, Privatisierung, Landstreitigkeiten und schaffen parallele Verwaltungsstrukturen und Abhängigkeiten. Das ist auch als Angriff auf organisierte indigene Gemeinden und Autonomieprojekte zu werten.
Zu Wirtschaft und Staat kommt nun der dritte Akteur: die organisierte Kriminalität im Kampf um Vorherrschaft im Territorium von Chiapas. Das ist vor allem in den Landkreisen der Grenzregion zu Guatemala sichtbar. Aber das Problem zieht sich auch bis in den Lakandonischen Regenwald hinein. Es gibt gewaltsame Vertreibungen, Zwangsrekrutierung der bäuerlichen Bevölkerung, besonders von Jugendlichen, gewaltsames Verschwindenlassen, sexualisierte Gewalt und Hinrichtungen. Und wir beobachten, dass es zu einer Wiederaufnahme von Extraktivismusprojekten kommt, wo diese eigentlich schon erfolgreich verboten worden waren.

Wen macht ihr für die Situation in Chiapas verantwortlich?

Patricia: Als Menschenrechtszentrum machen wir für diese schweren Menschenrechtsverletzungen stets den Staat verantwortlich, denn es ist seine Aufgabe für Sicherheit, Bewegungsfreiheit und Zugang zu Gesundheitseinrichtungen für die gesamte Bevölkerung zu sorgen. Das passiert nicht. Der Staat ist Komplize durch Unterlassung als auch durch seine Taten. Während die Verbrechen aus der Zeit der Aufstandsbekämpfung und Paramilitarisierung in den 90er Jahren ungestraft bleiben, findet nun eine Remilitarisierung unseres Bundesstaates statt. Das hat aber keinesfalls zu mehr Sicherheit geführt. Im Gegenteil hat sich die Gewalt diversifiziert.
Als Frayba identifizieren wir also ein Dreieck, bestehend aus Staat, Wirtschaft und dem organisierten Verbrechen mit dem Ziel, das übrige Land wirtschaftlich, welches noch in den Händen der lokalen Gemeinden ist, nutzbar zu machen.

Wie wirkt sich das ganz praktisch auf euren Arbeitsalltag mit den Gemeinden aus?

Lázaro: Abgesehen davon, dass unsere Mobilität massiv eingeschränkt ist, können wir im direkten Kontakt vor Ort oft nicht mal offen sprechen. In einem Falle wurden wir zusammen mit der Diözese zu einer Dokumentation in eine Gemeinde gebeten, wo es Fälle sexualisierter Gewalt und Verschwindenlassen gab. Wir fuhren dorthin, hörten den Berichten zu, aber schon kurz nach Beginn des Treffens zeigte sich eine der bekannten ominösen Größen der Region, stellte sich vor und setzte sich dazu. Dies sind Momente, wo du dir sagst: Wenn bei solchen geschlossenen Versammlungen derartige Situationen auftreten, gibt es keine Sicherheit mehr.
Das ist auch für die Menschen in den Krisenregionen ein Problem. Jahrelang haben wir mit den Menschen trainiert, wie man Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, Gedächtnisprotokolle anfertigt. Wir geben Sicherheitsworkshops, aber mittlerweile machen die meisten nicht mal Notizen. Denn als Militär verkleidete Mitglieder des organisierten Verbrechens kontrollieren im öffentlichen Transport Rucksäcke, Notizen und sogar Handy-Chats und Fotos. Viele nutzen wieder alte Handys statt Smartphones.

Das Ambiente ist jetzt schon hochgefährlich für Aktivistinnen und Menschenrechtsver-teidigerinnen. Ihr seid diejenigen, die wiederum die betroffenen Menschen vertei-digen. Wie könnt ihr eure Arbeit überhaupt realisieren, ohne selbst in Gefahr zu kommen und gleichzeitig die Betroffenen zu stärken?

Patricia: Bei Frayba arbeiten wir seit Langem mit einem Fünfjahresplan – um eine Vision für die Zukunft zu haben und nicht nur defensiv aktuelle Fälle abzuarbeiten. Dabei sprechen wir von einer sozial-integralen Verteidigung der Menschenrechte – also nicht nur juristisch. Unsere aktuellen Schwerpunkte sind Erinnerungsarbeit und Konstruktion von Frieden. Außerdem bauen wir auf verstärkte Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, die vielleicht andere Themenschwerpunkte haben, aber eine ähnliche Vision. Und wir müssen auch die Regionen unterstützen, in welche diese massive Gewalt bis heute noch nicht vorgedrungen ist! Sie sind wichtige Inseln und Schutzräume. Daher haben wir ein Projekt namens corredores de paz (Korridore des Friedens). Hier vernetzten sich Gemeinden bei ihren Aktionen und im Erfahrungsaustausch und bieten auch ganz praktisch Schutzräume für Durchreisende an. Gemeinsam erarbeiten und befähigen wir die Gemeinden dazu, selbstständig Risikoanalysen durchzuführen und Strategien zu entwickeln, sich zu schützen. In den anderen Regionen wird es langfristig darum gehen, das soziale Gefüge wieder aufzubauen. Es gibt einiges zu tun.

Lázaro: Um das zu veranschaulichen: Die Zahlen durch das Organisierte Verbrechen verschwunden gelassener Menschen werden in den nächsten Jahren massiv ansteigen. Aber wie sollen wir in einem solchen Fall mit unserer Arbeit fortfahren, wenn eine Familie – verständlicherweise – Angst hat überhaupt nur eine Vermisstenanzeige aufzugeben? Also suchen wir Wege mit anderen Organisationen, um diese Fälle zu bearbeiten, ohne die Familien in erneute Gefahr zu bringen. Wir erarbeiten Strategien zusammen mit den Menschenrechtsorganisationen Voces Mesoamericanas, SeraPaz, und dem Menschenrechtszentrum Fray Matías aus Tapachula. Die haben beispielsweise viele Erfahrungswerte mit verschwunden gelassenen Migrant*innen. Wir erstatten Anzeige über Organisationen, die nicht in Chiapas sind, um uns vor Repression zu schützen und wir wenden uns vermehrt an internationale Instanzen wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die UNO und so weiter.
Und wir suchen den Austausch mit anderen lateinamerikanischen Akteuren. Die Entwicklung in Kolumbien ist teilweise vergleichbar mit der unseren. Neulich durften wir die Guardia Indígena del Cauca (Indigene Wache des Cauca) kennenlernen. Sehr beeindruckend deren Arbeit! Wir können viel von ihnen lernen.

Nun seid ihr hier in Frankfurt auf der letzten Station eurer Reise. Haben sich eure Erwartungen erfüllt und mit welchen Eindrücken fahrt ihr nach Hause?

Lázaro: Mexiko wird trotz der Gewalt wirtschaftlich immer attraktiver für die EU. Unser Ziel war es, Politik und Öffentlichkeit für die schwierige Situation zu sensibilisieren. Unsere Hoffnung ist, dass hiesige Akteure aus der Politik bei weiteren gravierenden Menschenrechtsverletzungen Druck auf die mexikanische Regierung aufbauen. Darüber hinaus wollten wir unsere Netzwerke, die wir nach Europa haben, stärken, sowohl mit hiesigen NGOs als auch mit Gruppen der internationalen Solidarität.

Patricia: So haben wir in den letzten fünf Wochen Abgeordnete des EU-Parlaments getroffen, des belgischen, des katalanischen und des deutschen Parlaments sowie den Bürgermeister von Rom. Die meisten zeigten sich sehr offen und besorgt angesichts unseres Berichts. Viele haben uns sehr unterstützt, wie die Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko oder in Katalonien die Taula per Mèxic. Neu war für uns, europäische Menschenrechtsorganisationen und ihre Arbeit kennenzulernen, beispielsweise deren Kampf um soziale Gerechtigkeit oder Frauenrechte oder eine Hochschule für Rechtswissenschaft, mit der wir zukünftig das Thema strategische Prozessführung vertiefen werden.
Und es war beeindruckend, die Solidarität zu sehen. Viele Personen waren ja schon über die Menschenrechtsbeobachtung bei uns, zum Beispiel mit dem Verein Carea. Sie fragten uns ständig: „Was können wir tun? Wie können wir eure Arbeit unterstützen?“. Nun, sie können an der Menschenrechtsbeobachtung teilnehmen oder spenden. Aber vor allem sind da auch unsere Unterschriften-Aktionen, die Urgent Actions, die sehr effektiv sind. Oder sie können auch eigene Stellungnahmen herausgeben. Wir haben auch erkannt, dass wir kontinuierlicher unsere Information mit der Internationalen Solidarität teilen müssen, zum Beispiel über online Treffen. Wir konnten auf dieser Reise sehen: Frayba, das sind nicht nur die 25 Personen des Teams, sondern da sind Hunderte, die mit dem Herzen bei unserer Arbeit sind. Das macht uns glücklich. Ich fahre sehr müde, aber auch sehr glücklich nach Chiapas zurück.

Militärischer Pomp und Wirtschaftslobby

“Mörderin Dina” Protest gegen die peruanische Präsidentin Dina Boluarte, die in Berlin mit militärischen Ehren empfangen wurde (Foto: Fujimori Nunca Más – Berlin)

Dina Boluarte war am 12. und 13. Oktober in Deutschland, hauptsächlich um als Ehrengast am vom Wirtschaftsgremium Lateinamerika Verein e.V. (LAV) organisierten Lateinamerika-Tag teilzunehmen. Mit anderen Worten: Ein Teil der peruanischen Wirtschaft erwartete die Präsidentin einer Regierung, die Menschenrechte verletzt hat, als Ehrengast auf einer Veranstaltung in Deutschland, um für Investitionen in ihre Bereiche zu werben. Teil dieser Wirtschaftslobby waren peruanische Unternehmer*innen wie der Vorstandsvorsitzende von Minas Buenaventura, Roque Benavides, unter anderem bekannt für die Einschüchterungen gegen die Bäuerin Máxima Acuña, die sich gegen die Enteignung ihres Landes durch das Bergbauunternehmen Yanacocha in Cajamarca wehrte. Oder Ricardo Márquez von der Nationalen Industriegesellschaft und ehemaliger Vizepräsident des Diktators Alberto Fujimori. Weitere Teilnehmer*innen der Veranstaltung waren Ana Cecilia Gervasi, Außenministerin Perus (am 6.11.23 zurückgetreten, Anm. d. Red.), und andere peruanische Regierungsvertreter*innen, ebenso Norbert Onkelbach, CCO von Lima Airport Partners, dem Betreibers des Flughafens von Lima Jorge Chávez (dessen Anteile mehrheitlich bei der deutschen Fraport AG liegen), Vertreter*innen von Anwaltskanzleien, die mit deutschen Unternehmen in Peru zusammenarbeiten, wie „Beminzon & Benavides“, „Rodrigo, Elías & Medrano“, und andere.

Dieses Ereignis blieb in Peru sowohl in den großen Medien als auch in einem Großteil der nicht vom Marktmonopolisten El Comercio kontrollierten „unabhängigen Presse“ fast unbemerkt. Es scheint also kein Problem zu sein, wenn peruanische Wirtschaftsleute zusammen mit einer Präsidentin Investitionen mit dem Versprechen rechtlicher Stabilität und sozialen Friedens bewerben, nachdem weltweit quasi alle wichtigen staatlichen und nicht-staatlichen Menschenrechtsorganisationen die Geschehnisse in den südlichen Anden Perus als außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert und ebenso das Vorgehen der peruanischen Regierung gegen die indigene Bevölkerung als rassistisch motiviert bezeichnet haben. Vielmehr bezog ein Großteil der peruanischen Presse sich darauf, dass Boluarte sich auch mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper getroffen hatte, dessen Position der von Boluarte untergeordnet ist und deshalb dem Anlass nicht angemessen gewesen sei. Wir vom Kollektiv Fujimori Nunca Más – Berlín möchten aber auf eine andere Tatsache hinweisen: Peruanische Geschäftsleute kommen nach Deutschland, um Investitionen einzuwerben und präsentieren eine Regierung, die Menschenrechte verletzt, als Garantin für „sozialen Frieden“ und „Stabilität“.

Am darauffolgenden Tag, dem 13. Oktober, ging es für Dina Boluarte nach Berlin, wo sie im Schloss Bellevue vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit militärischen Ehren empfangen wurde. Es ist verständlich, dass Deutschland aus diplomatischen Gründen die Person empfangen muss, die das peruanische Präsident*innenamt innehat. Nichtsdestotrotz war es für unsere Gemeinschaft schmerzlich zu sehen, wie Dina Boluarte in Deutschland mit militärischen Ehren empfangen wurde, nachdem in Peru 49 Menschen durch Waffen der Polizei und der Armee getötet worden waren. Menschenrechtsverletzer*innen, die auf Menschen schießen, haben keine Ehre. Es wird kein roter Teppich für diejenigen ausgerollt, die auf wehrlose Jugendliche schießen. Es gibt keinen Beifall für diejenigen, die Bauern, Bäuerinnen und Indigene erschießen, welche ein Land fordern, das ihnen mehr Gerechtigkeit gibt. Es gibt keinen Grund, das Ansehen der Regierung Boluarte reinzuwaschen. Wir fordern Gerechtigkeit, und wir fordern sie jetzt. Deswegen waren wir als Bündnis PEX-Alemania (peruanxs en Alemania, Deutsch: Peruaner*innen in Deutschland) bei den verschiedenen Aktivitäten Dina Boluartes sowohl in Stuttgart als auch in Berlin anwesend. Die militärischen Ehren im Schloss Bellevue wurden vom legitimen Protest der peruanischen Community – zu der auch das Kollektiv Fujimori Nunca Más gehört – überschattet. Während der Zeremonie konnte sie unsere Stimme des Protestes hören, die ebenso die Stimme der großen Mehrheit des peruanischen Volkes ist: “¡Dina Asesina! ¡El pueblo te repudia!” (Deutsch: „Dina du Mörderin, das Volk lehnt dich ab!“, Anm. d. Red.).

Hierbei sei auch erwähnt, dass verschiedene Kollektive von Peruaner*innen in Deutschland und Europa ein Schreiben unterzeichnet haben, das von einem bekannten Vertreter unserer Gemeinschaft persönlich an Bundespräsident Steinmeier übergeben und auch in unseren sozialen Netzwerken veröffentlicht wurde. In dem Schreiben weisen wir auf die Ereignisse in unserem Land hin und teilen unsere Ablehnung des Deutschlandbesuchs von Boluarte mit. Eine der Schlussfolgerungen des Dokuments ist, dass wir, die peruanische Gemeinschaft, die hier in Deutschland studiert, arbeitet und die Gesetze und Institutionen des Landes respektiert, der Meinung sind, dass die Anwesenheit von Boluarte dem Ansehen Deutschlands bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten in der Welt schadet.

Nach dem Wirtschaftslobby-Treffen und militärischem Pomp führte die Reise Boluarte in den Vatikan, wo sie vom Papst empfangen wurde, der nur wenige Minuten mit ihr verbrachte und sich, den vom Vatikan veröffentlichten Fotos und der Kürze des Treffens nach zu urteilen, sehr unwohl bei diesem fühlte. Im Allgemeinen wurden in Peru die verschiedenen Reisen von Dina Boluarte in die Vereinigten Staaten und nach Europa sowohl als frivol im Hinblick auf die Höhe der ausgegebenen Gelder als auch als inkonsequent bezeichnet. Sie konnte weder mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammentreffen, noch wurde sie von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni empfangen, als sie Italien besuchte. Nach unserer Einschätzung wurde sie bei ihrem Besuch in Deutschland jedoch ihrer Rolle als Garantin des „sozialen Friedens“ für Investor*innen gerecht. Auch wenn noch keine großen Projekte angekündigt wurden, wird die Zeit zeigen, ob die „Ehrengästin“ der Stuttgarter Veranstaltung, die nur von 13 Prozent der Peruaner*innen anerkannt wird und der in allen Sprachen und überall, wo sie auftaucht, „Mörderin“ entgegen geschrien wird, die deutschen Unternehmer*innen überzeugt hat.

„Anmeldung für Alle!“

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“Wohnen ist ein Recht, keine Ware” Ciudad Migrante auf einer Demo in Berlin-Kreuzberg (Foto: Ian Clotworthy / @ianshotworthy)

Der Anstieg und die Spekulation mit Mieten, die Inflation und die Gentrifizierung bestimmter Stadtteile haben für die Berliner*innen in den vergangenen Jahren ein alarmierendes Ausmaß erreicht. Die Folgen bekommen Menschen aus dem Ausland am stärksten zu spüren. Denn Migrant*innen und vor allem wir, die wir aus dem Globalen Süden kommen, finden uns beim Zugang zu Wohnraum in einer besonders nachteiligen Ausgangssituation wieder: Dazu gehören nicht nur die Sprachbarrieren, das Unwissen über die Bürokratie, die prekarisierten Arbeitsbedingungen und die fehlenden Unterstützungsnetzwerke. Wenn es darum geht, eine Wohnung zu finden, erleben wir systematische Ausgrenzung und Diskriminierung.
Aus dieser schwierigen rechtlichen Arbeits- und emotionalen Situation heraus haben sich Mitglieder des Bloque Latinoamericano im April 2022 zusammengeschlossen, um über das Recht auf Wohnraum zu sprechen. Zuerst fanden offene Workshops statt, zu denen Dutzende Menschen kamen, um ihre Geschichten zu erzählen und gemeinsame Lösungen zu diskutieren. Als wir diese Erfahrungen in einem systematischen Zusammenhang betrachteten, wurde uns klar, dass es mehr braucht als ein kollektives Zuhören: Wie können wir die Wohnungssituation der migrantischen Gemeinschaft konkret verbessern?
So haben lateinamerikanische und spanisch-muttersprachliche Migrant*innen Anfang 2023 den offenen Raum Ciudad Migrante geschaffen. Er ist das Ergebnis eines mühsamen kollektiven Prozesses und entstand aus der Überzeugung, dass wir Migrant*innen in Berlin durch Solidarität und politische Teilhabe ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugen können. Unsere Arbeit folgt zwei zentralen Prinzipien: dem Kampf für gleichen Zugang zu Wohnraum und dem Recht auf Stadt.

Zuallererst begreifen wir den Zugang zu Wohnraum als Grundbedürfnis für ein Leben in Würde. Deshalb treiben wir Antidiskriminierungs- und Inklusionspraktiken voran. Dazu gehört auch, Migrant*innen auf Wohnungssuche mit Informationstools auszustatten. Im September dieses Jahres haben wir dafür das Guía migrante de supervivencia urbana („Migrantisches Handbuch für das Überleben in der Stadt“) mit dem Untertitel „Werkzeuge für den Wohnungsmarkt und die Berliner Bürokratie“ herausgebracht. Darin stellen wir Verfahren vor, mit denen man ein Zimmer finden kann; erklären Charakteristiken, Rechte und Pflichten unterschiedlicher Mietverträge und gehen darauf ein, auf welche üblichen Betrugsmaschen man achten muss. Wir thematisieren auch mögliche Angebote bei Erfahrungen sexualisierter Gewalt im eigenen Wohnraum und geben weitere unerlässliche Informationen, die nicht immer offensichtlich sind, wenn man in eine unbekannte Stadt kommt.

Das Recht auf Stadt bezieht sich auf das Recht der Bewohner*innen, die Stadt aufzubauen, über sie zu entscheiden und sie zu gestalten. Dabei werden die Bedürfnisse der Gemeinschaft über marktwirtschaftliche Interessen gestellt. Unsere beiden Prinzipien machen Ciudad Migrante zu einer antikapitalistischen Gruppe, die sich auf die politische Aktion konzentriert. Damit wollen wir jenen Menschen, deren unmittelbare Situation sie in die Entpolitisierung zwingt, den Zugang zu Wohnraum und die gesellschaftliche Entwicklung erleichtern. Statt nur individuelle Lösungen anzubieten, geht es darum, strukturellen Wandel herbeizuführen und die Lebensrealitäten von Migrant*innen sichtbar zu machen. Dabei adressieren wir auch die deutsche Gemeinschaft und wirken politisch auf die Entscheidungen ein, die das Leben aller Menschen in Berlin betreffen. Zu den materiellen und psychologischen Hürden kommt für Migrant*innen vor allem eine Reihe bürokratischer Mechanismen, die den Zugang zu grundlegenden Diensten und Mitteln rund um das Thema Wohnen erschweren. Besonders schwierig: die Anmeldung. Nachdem wir über diese bürokratische Formalität gesprochen und mit verschiedenen Werkzeugen der kritischen Kartografie gearbeitet haben, hat sich die Anmeldung zum zentralen Thema unserer politischen Arbeit entwickelt. Diese offizielle Registrierung spielt bei der Legalisierung und Einrichtung des privaten Lebens in Deutschland eine Schlüsselrolle. In der Theorie ist sie ein progressives Werkzeug für die Bevölkerungszählung, Behördenkommunikation und den Zugang zu Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsdiensten. Im Kontext der Wohnungskrise in Berlin führt die strikt erforderliche, aber selten zu findende Anmeldung jedoch zum grundlegenden Ausschluss migrantischer Leben. Ohne Anmeldung gibt es keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten, zu legaler Beschäftigung oder zu Finanzdiensten. Man braucht sie, um eine Krankenversicherung abzuschließen, eine Steuernummer anzufordern, ein Bankkonto zu eröffnen, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben und für viele weitere wichtige Aspekte und Rechte des urbanen Lebens.

Die Möglichkeit, an den Staat und die politischen Parteien zu appellieren, ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit von Ciudad Migrante. Deshalb sind wir mit klaren politischen Forderungen auch auf den Straßen präsent: Wir fordern von den zuständigen Institutionen konkrete Lösungen für die verschiedenen Arten der Prekarisierung migran- tischen Lebens. Um gegen die bürokratischen Hindernisse anzukämpfen, startet Ciudad Migrante Ende dieses Jahres die Kampagne „Anmeldung für alle!“. Zu unseren Vorschlägen gehört die Einrichtung einer universellen Postadresse, an der man sich unabhängig vom eigentlichen Wohnort anmelden kann; die Abschaffung der Wohnungsgeberbestätigung und die Entkriminalisierung von Scheinanmeldungen. Um diese Ziele zu erreichen, zu denen auch die Modifizierung des gültigen Meldegesetzes gehören könnte, ist die Zusammenarbeit mit anderen Mieter*innenbewegungen in Berlin und der parlamentarischen Linken ungemein wichtig. Deshalb laden wir alle Einzelpersonen und Initiativen ein, sich dem Kampf gegen die Bürokratisierung und Kommerzialisierung von Wohnraum anzuschließen: Für das Recht auf eine migrantische Stadt!

“ANMELDUNG PARA TODES!”

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Para les habitantes de Berlín, el aumento y la especulación de los precios de la vivienda, la inflación y la gentrificación de ciertas partes de la ciudad han alcanzado en los últimos años dimensiones alarmantes. Las consecuencias, por supuesto, afectan de manera desmedida a las personas extranjeras. Les migrantes, y particularmente aquelles que venimos del sur global, nos encontramos en importantes desventajas para acceder a una vivienda: además de las limitaciones ligadas al idioma, del desconocimiento del sistema burocrático, de las condiciones laborales precarizadas y de las redes de apoyo reducidas, sistemáticamente sufrimos prácticas excluyentes y discriminatorias a la hora de encontrar dónde vivir.

Ciudad Migrante: una iniciativa desde abajo

Motivades por la inseguridad legal, laboral y consecuentemente emocional ligada a esta situación, algunes integrantes del Bloque Latinoamericano iniciaron en abril de 2022 una serie de reuniones sobre el derecho a la vivienda. En un primer momento, estos encuentros fueron talleres abiertos a los cuales se acercaron decenas de personas para compartir sus historias y discutir soluciones comunes. A partir de la sistematización de estas experiencias, vimos la necesidad de ir más allá de la escucha colectiva: ¿Cómo podemos generar acciones concretas que tengan un impacto positivo en el acceso a la vivienda para la comunidad migrante?

Es así como, a principios del 2023, surge Ciudad Migrante, un espacio abierto creado por migrantes latinoamericanes e hispanohablantes en Berlín. Es el resultado de un arduo proceso colectivo y de la convicción de que Berlín es una ciudad donde les migrantes podemos crear un sentido de pertenencia a través de la solidaridad y de la participación política. Nuestro trabajo se orienta por dos principios fundamentales: la lucha por el acceso igualitario a la vivienda y el derecho a la ciudad.

En primer lugar, reconocemos el acceso a la vivienda como una necesidad básica para una vida digna. Esta convicción guía nuestro compromiso por promover prácticas antidiscriminatorias e incluyentes, así como por proveer herramientas informativas a les migrantes en busca de vivienda. Así, en septiembre de este año lanzamos la Guía migrante de supervivencia urbana: Herramientas para enfrentar el mercado inmobiliario y la burocracia en Berlín. En este manual se ponen a disposición mecanismos a través de los cuales puede obtenerse un cuarto; se explican las características, los derechos y las obligaciones que revisten los diferentes tipos de contrato de alquiler; cuáles son las estafas habituales a las que hay que prestarles atención; qué recursos existen para lidiar con situaciones de violencia de género en el hogar y muchas otras informaciones indispensables que no siempre resultan evidentes al momento de llegar a una ciudad desconocida.

El derecho a la ciudad se refiere al derecho de les habitantes a construir, decidir y crear la ciudad, priorizando las necesidades de la comunidad por sobre aquellas de los intereses mercantilistas. Ambos principios definen a Ciudad Migrante como un grupo anticapitalista, concentrado en la acción política, con miras a facilitar el acceso a la vivienda y al desarrollo social de aquellas personas cuya situación inmediata les orilla a la despolitización. Más que ofrecer soluciones individuales, nuestro objetivo es generar un cambio estructural, visibilizando las realidades de las personas migrantes, interpelando a la comunidad alemana e incidiendo políticamente en las decisiones que afectan la vida de todas las personas en Berlín.

El círculo vicioso de la Anmeldung

El problema del acceso a la vivienda no sólo plantea obstáculos materiales, financieros y psicológicos para les migrantes, sino que pone de relieve una serie de mecanismos burocráticos que dificultan el acceso a servicios esenciales. Entre estos, hay uno particularmente escabroso para la vida migrante: la anmeldung (registro). Fue a través del diálogo y de la reflexión con varios instrumentos de la cartografía crítica que este trámite burocrático surgió como un tema central en nuestro quehacer político. Este mecanismo de registro oficial ocupa un lugar fundamental en la legalización y establecimiento de la vida privada en Alemania. En teoría, la anmeldung se perfila como una herramienta progresiva para el control del censo poblacional, la comunicación con las autoridades y el acceso a servicios educativos, sociales y de salud. Sin embargo, en el contexto de la crisis habitacional mencionada, la deseada y muy rara vez obtenida anmeldung representa un dispositivo de exclusión fundamental de las vidas migrantes en Berlín: sin Anmeldung no hay acceso a la salud, al trabajo legal o a los servicios financieros, pues es requerida para obtener un seguro médico, solicitar el Steuernummer, abrir una cuenta de banco, firmar un contrato de trabajo, entre muchos otros servicios y derechos urbanos importante.

Campaña “Anmeldung für Alle”: la apuesta política de Ciudad Migrante

La capacidad de interpelar al Estado y a los partidos es un aspecto fundamental de la praxis política de Ciudad Migrante. Por ese motivo, nuestra reiterada presencia en las calles está siempre acompañada de consignas políticas claras a través de las cuales demandamos frente a las instituciones correspondientes soluciones concretas a los distintos aspectos de la precarización de la vida migrante. Con el propósito de luchar contra las trabas burocráticas que obstaculizan el acceso a la vivienda, Ciudad Migrante lanzará antes de fin de año una campaña denominada “Anmeldung für alle!”. Algunas de las soluciones que imaginamos son la creación de una dirección postal universal que brinde la posibilidad de registrarse en la ciudad independientemente del lugar en que se habita, la supresión de la autorización del proveedor de la vivienda (Wohnugnsgeberbestätigung), la decriminalización del falso empadronamiento (Scheinanmeldungen), entre otras. Para lograr estos objetivos, que pueden implicar la eventual modificación de la actual Meldegesetz (Ley de Registro), el trabajo conjunto con otras organizaciones del movimiento de inquilinos (Mieterbewegung) en Berlín y la izquierda parlamentaria es fundamental. Por eso motivo, todas las personas individuales e iniciativas políticas están invitadas a sumarse a la lucha en contra de burocratización y mercantilización de la vivienda. ¡Por el derecho a una ciudad migrante!

Lyrik aus Lateinamerika

Illustration: Joan Farías Luan / cuadernoimaginario.cl

Qué bueno está buscar en Google

me separo? me parte?
si me parte me destroza o me agranda?

en qué bar sucede buenos aires?

dónde te encuentro?
me esperaste?

cómo hago para desescribir al monstruo que me destruye por la noche el alma?
quién es el que me grita que no?

cómo amarrarme la lengua cómo explotar la nube negra cómo quitarme el nombre

cómo saber de dónde soy?

Google-Suchen sind toll

soll ich mich trennen? was heiß das physisch?
bin ich zweigeteilt klein gemacht oder größer?

in welcher bar passiert buenos aires?

wo finde ich dich?
hast du auf mich gewartet?

was mache ich, um das monster, das nachts meine seele frisst, zu entschreiben?
wer entgegnet mir ein geschrienes nein?

wie kann ich meine zunge zäumen, wie die schwarze wolke zerpplatzen, wie meinen namen ablegen

wie wissen woher ich bin?

Zarte Poesie des Alltags

Auf einer mit Wasserfarben getupften Wiese, über der Libellen schweben, liegt ein Kind und schaut in den Himmel. Der Titel Als du Wolke warst verrät schon, dass dies ein Buch zum Träumen ist. Die chilenische Journalistin und Schriftstellerin María José Ferrada nimmt uns in 16 Gedichten auf vorsichtige, aber mutige Entdeckungsreisen mit. Mit ihren behutsam gesetzten Worten erforschen wir die kindlich-neugierige Poetik des Alltags. Da galoppieren kleine Pferde über den Frühstückstisch, Astronauten erzählen auf dem Spielplatz von ihrer letzten Reise zum Mond und das vielbeschworene Monster unter dem Bett ist eigentlich ganz umgänglich und hält sich an seinem Stück Dunkelheit fest. Die verträumte, verspielte Lyrik Ferradas hat Übersetzerin Silke Kleemann wundervoll ins Deutsche übertragen.

Ferradas feines Gespür für sprachliche Details spiegelt sich in den farbenprächtigen Bildern wider, mit denen Zeichner Andrés López jedes Gedicht ergänzt. In fantasievollen und detail- verliebten Zeichnungen, mal wie von Kinderhand mit dickem Buntstift gekritzelt, dann wieder in fein getupften Ölfarben, erzählt López eine Geschichte außerhalb der Worte und lädt zum Entdecken und Interpretieren ein. In der farbenfrohen Welt von López‘ Bildern gibt es außer dem Kind keine weiteren Menschen, dafür wimmelt sie von Tieren und Geistern und sogar Berge erwachen zum Leben.

Aus dem Kleinen entsteht das Große und so wie alles entsteht, vergeht es auch: In mehreren Gedichten wird ein abwesender Großvater angesprochen. Ferrada wiederum widmet den Lyrikband ihrem eigenen Opa.

Die Autorin, die laut Angaben gerne Bücher schreibt und liest, die sie an die Zeit erinnern als sie sieben Jahre alt war, schafft mit Als du Wolke warst eine zauberhafte Sprachlandschaft, die nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene voller Überraschungen steckt. In der wunderschönen deutschen Ausgabe, erschienen beim „winzigen“ Verlag Hagebutte in München, kommen die Bilder von López zudem hervorragend zur Geltung.

// Fette Gewinne und trockene Kehlen

Der Mangel an sauberem Süßwasser wird immer dramatischer. Darauf machte die chilenische Wasser- und Umweltorganisation MODATIMA aufmerksam, die im September auf Einladung der Lateinamerika Nachrichten und anderer Organisationen nach Deutschland reiste. In der Veranstaltungsreihe „Bis zum letzten Tropfen“ betonten die Aktivist*innen immer wieder die chilenische, aber auch die globale Dimension des Problems.

Chile ist in Bezug auf Wassermangel ein besonders drastischer Fall. Im Zuge der Neoliberalisierung während der Militärdiktatur wurde Wasser privatisiert. Bis heute hat sich daran nichts geändert: Statt als Grundrecht der Bevölkerung wird es als Ware behandelt. Es fließt reichlich in den Bergbau, in die Forst- und die Landwirtschaft, so auch in den Anbau von Avocados für den europäischen Markt.

Während transnationale Unternehmen so fette Gewinne einfahren, geht den lokalen Gemeinden das Trinkwasser aus. Die Bewohner*innen ganzer Regionen werden in Chile mit Wasserlieferungen nur unzureichend versorgt. „Diejenigen, die über das nötige Geld verfügen, haben Zugang zu Wasser. Die normale Bevölkerung geht leer aus“, klagt Victor Bahamonde von MODATIMA. Profitmaximierung für Wenige statt menschenwürdige Lebensbedingungen für die Vielen.

Mitverantwortlich für den Wassermangel ist in Lateinamerika oft auch die Wirtschaftspolitik Deutschlands. So wie in La Guajira im Nordosten Kolumbiens. Ein großer Teil der Kohle, die bei uns verstromt wird, kommt von dort. 2022 erhöhte Deutschland die Importe kolumbianischer Steinkohle auf das Dreifache im Vergleich zum Vorjahr. Der Steinkohletagebau El Cerrejón, Teil des Schweizer Multis Glencore, verbraucht in der niederschlagsarmen Region täglich 24 Millionen Liter Wasser – eine Menge, die ausreichen würde, um 15.000 Menschen zu versorgen.

Dagegen wehrt sich auch der Umweltaktivist Samuel Arregocés. „Wir können unser Wasser nicht weiter El Cerrejón überlassen“, erklärte er gegenüber LN. In La Guajira sind infolge des Bergbaus bereits mehr als 17 Wasserläufe ausgetrocknet, der Tagebau hat 30 Flüsse umgeleitet. Sollten weitere Flüsse umgeleitet werden, wäre das „das Ende der Guajira“, ist sich Arregocés sicher. Die Wasserknappheit in La Guajira zeigt, wie die deutsche Regierung ihre miserablen Klima- und Umweltbilanzen vertuscht: Die Folgen des auf dem Raubbau an der Natur basierenden Wirtschaftsmodells werden in den Globalen Süden auslagert. Hierzulande verkündet sie gleichzeitig die „grüne Wende“.

Wassermangel ist allerdings schon lange nicht mehr nur ein Problem anderer Weltregionen. Auch in Deutschland wird das Nass knapp. Jedoch nicht für alle: Während das Versorgungsunternehmen WSE in Brandenburg 2022 damit begann, das Wasser für Privathaushalte zu rationieren, bedient sich der Großkonzern Tesla in Grünheide weiter am Grundwasser. In dem wasserarmen Bundesland wurde die Großfabrik für den Bau von Elektroautos 2020 trotz Protesten eröffnet.

Jetzt soll die Fabrik in Grünheide noch erweitert werden. Dagegen organisierte ein breites Bündnis aus Klimaaktivist*innen und Anwohner*innen am 16. September ein „Wald- und Wasserfest“. Mitglieder von MODATIMA betonten dort während ihrer Rede, Umweltaktivist*innen weltweit müssten angesichts der sich zuspitzenden Lage voneinander lernen. Der Kampf um den Zugang zu Wasser verbinde die lokale Bevölkerung in allen Erdregionen. Victor Bahamonde forderte: Auch wenn das Thema Wasser in den reichen Ländern noch wenig als Problem wahrgenommen werde, sollte es eine zentralere Rolle in den Kämpfen für Klimagerechtigkeit einnehmen. Bewegungen wie das Bündnis „Tesla den Hahn abdrehen“ sind dafür ein wichtiger Schritt.

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