DIE REVOLUTION DER TÖCHTER

Revolution der Töchter das argentinische Parlament stimmt für eine Legalisierung der Abtreibung (Foto: Cobertura Colaborativa #13J)

„El aborto será ley!“ – Abtreibung wird zum Gesetz! In der Euphorie des Morgens des 14. Juni zweifelte wohl kaum jemand mehr daran: Der lange Kampf war gewonnen, Abtreibungen werden entkriminalisiert, legalisiert und somit zu einem Recht für Frauen in Argentinien. Nach einer fast 23-stündigen Debatte in der Abgeordnetenkammer stand das Ergebnis der ersten Parlamentskammer am nächsten Morgen fest. Der Gesetzesentwurf zum Freiwilligen Schwangerschaftsabbruch (siehe LN 528) wurde mit 129 zu 125 Stimmen angenommen. Befürworter*innen sowie Gegner*innen der Abtreibung hatten für den Vortrag zu Beginn der Debatte für Demonstrationen vor dem Kongressgebäude mobilisiert. Der Vorplatz wurde abgesperrt und die konkurrierenden Kundgebungen waren durch Absperrgitter voneinander getrennt. Verglichen mit der „grünen Flut“ an Befürworter*innen auf der einen Seite, gab die Gegendemonstration auf der anderen ein eher trauriges Bild ab. Rund eine Million Menschen waren dem Aufruf der Kampagne für Abtreibung gefolgt, Zahlen für die Gegendemonstration wurden erst gar nicht veröffentlicht.

“Sowas gibt es sonst nur bei Fußball-WMs!”

Je später die Stunde, desto weniger wurden die Anhänger*innen der abtreibungsfeindlichen „Pro Vida“-Bewegung, während Tausende Befürworter*innen bei Minusgraden die ganze Nacht auf der Straße ausharrten – eingehüllt in Schlafsäcke, Zelte, gewärmt von Umarmungen und Lagerfeuern, Mate-Tee und Wein, Musik und Solidarität. Solidarität und Sororität auf spanisch sororidad – ein aktuell viel genutztes Konzept im lateinamerikanischen Feminismus, das die Solidarität unter Frauen, eine feministische Schwesterlichkeit, in einem Wort zusammenfasst. Es war eine permanent lebendige Versammlung und eine vigilia, eine Mahnwache, um den Entscheider*innen innerhalb des Kongressgebäudes zu zeigen, dass die Menschen auf der Straße darüber wachen, was sie hinter verschlossenen Türen in ihrem Namen tun.

Während drinnen debattiert und gestritten wurde, zitterte man draußen – vor allem um das Ergebnis der Abstimmung. Noch in den frühen Morgenstunden hatte es danach ausgesehen, dass das Gesetz knapp abgelehnt würde. Umentscheidungen in letzter Minute führten letztendlich zu dem Ergebnis, das gegen 10.30 Uhr Ortszeit verkündet wurde. Weinend und jubelnd fielen sich daraufhin Frauen in die Arme, ganze Straßenzüge voll springender Menschen wogen sich in Sprechgesängen. „Das hat alles gesprengt“, erinnert sich Luciana Peker, Journalistin und Aktivistin der Kampagne. „An dem Tag in eine Pizzeria zu gehen, die voller Frauen und Männer ist, die alle singen ‚Aborto legal en el hospital’ (Legale Abtreibung im Krankenhaus) … Das ist was, das es sonst nur bei Fußball-WMs gibt“, erzählt sie über die Stimmung an dem Tag, die das ganze Zentrum eingenommen hatte, auch die großen traditionellen Pizzerien von Buenos Aires, die die breiten Avenidas des Regierungsviertels säumen. Es fällt ihr schwer, sich an eine politische Situation in Argentinien zu erinnern, die eine derartige Beteiligung hervorgebracht hat.

Und die großen Protagonistinnen dieses Kampfes sind Mädchen und junge Frauen, die sich den Kampf für Abtreibung zu eigen gemacht haben, die sich in ihren Familien und Schulen für Freiheit und Selbstbestimmung eingesetzt und ihre Sexualität zum Thema gemacht haben. Die das grüne Tuch, Symbol des Kampfes für Abtreibung, auch als eigenes Empowerment, als Zeichen der Komplizität und der politischen Identität vor sich hergetragen haben. „Revolution der Töchter“ nennt Journalistin Peker diesen Boom jugendlicher Beteiligung. Nicht wenige männliche Abgeordnete haben in ihren Plädoyers über ihre Töchter und Enkelinnen gesprochen, die sie dazu bewogen haben, ihre Einstellungen zu überdenken. Die Töchter der Demokratie, geboren und aufgewachsen lang nach dem Ende der letzten zivil-militärischen Diktatur 1983. Damals kämpften ihre Groß- und Urgroßmütter gegen das gewaltsame Verschwinden ihrer Kinder und ihre Mütter für das Recht auf Scheidung. Deren Rolle in den Protesten für die Abtreibung fühle sich daher nach einer „kollektiven Mutterschaft“ an, sagt Luciana Peker. Sie meint damit die lange Tradition der feministischen Kämpfe in Argentinien, die selbstorganisierte kollektive Art, feministische Politik zu machen, die den Weg für diese Proteste geebnet hat und sich in der Revolution der Töchter widerspiegelt.

Vielleicht ist das auch eines der wichtigsten Dinge an dieser historischen Entscheidung – die Erfahrung, die so viele der jungen Protestierenden, Aktivist*innen und Schüler*innen in dieser Kampagne gemacht haben. Zu lernen, dass die Möglichkeit, selbst Politik zu machen, existiert, zu erfahren, dass ihr Aktivismus politische Ergebnisse beeinflussen kann. Als Antwort auf die Krise der traditionellen Politik die Straße einzunehmen und damit Erfolg zu haben. Dass eine heranwachsende Generation dies in Zeiten eines eher entmutigenden Rechtsrucks lernt und erlebt, gibt Hoffnung. Denn ohne die Massen auf den Straßen, die in der Nacht der Entscheidung über das Ergebnis ihrer langen Mobilisierung wortwörtlich gewacht haben, wäre das Ergebnis anders ausgefallen. Die Einschätzung, dass letztendlich der Druck der Straße ausschlaggebend für die letzten unentschiedenen Stimmen im Parlament gewesen ist, teilen viele.

Seit der Annahme des Entwurfs im Unterhaus häufen sich jedoch Berichte über verbale und gewaltsame Übergriffe auf Menschen, die das grüne Halstuch tragen oder über öffentliche Denunzierungen und Nötigungen von Abgeordneten, die für den Gesetzesentwurf gestimmt haben. Der Diskurs der „Pro Vida“-Bewegung wird zunehmend aggressiver. Die, die den Begriff des Lebens in ihren Namen und Slogans für sich besetzen („Für das Leben“, „Schutz beider Leben“, „Ja zum Leben“), zeigen Bilder von toten Föten, reden von Mörderinnen und Mord und kommen meist aus den gleichen rechtskonservativen Kreisen, die Todesstrafen für Taschendiebe fordern und Bewohner*innen der Armenviertel als Parasiten bezeichnen. Auch die Vizepräsidentin und Vorsitzende des Senats, Gabriela Michetti, hat mit ihrer offenen Einstellung gegen Abtreibungen unlängst für starke Gegenreaktionen gesorgt. Ihrer Aussage, alle Provinzen außerhalb von Buenos Aires seien gegen Abtreibung, folgten gleich mehrere Pañuelazos (Proteste mit grünen Tüchern) in den Provinzstädten.

Die nördlichen Provinzen sind zugleich die ärmsten und die katholischsten des Landes, mit der größten Ablehnung der Abtreibung auf politischer Ebene. Oft ist dort nicht einmal der Zugang zu den bereits heute straffreien Abtreibungen etwa im Falle von Vergewaltigungen gewährleistet. Ganze Kliniken haben außerdem jetzt schon institutionelle Verweigerung von Abtreibungen angekündigt, sollten Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden. Der nicht vorhandene oder nur stark eingeschränkte Sexualkundeunterricht mag mit dafür verantwortlich sein, dass die Zahlen an ungewollten jugendlichen Schwangerschaften besonders hoch sind. Die Provinz La Rioja führt die Statistiken der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation an: Acht von zehn schwangeren Frauen unter 20 Jahren haben ihre Schwangerschaft nicht geplant oder gewünscht. 16,8 Prozent der Mütter sind Mädchen oder junge Frauen unter 20. Die Muttersterblichkeit in den nördlichen Provinzen kann bis zu zwölf Mal höher sein, als die in Buenos Aires und etwa ein Drittel der Fälle sind Komplikationen bei geheimen Abtreibungen geschuldet. Integrierte Sexualkunde und die Legalisierung der Abtreibung jedoch als Aufgabe der öffentlichen Gesundheit zu sehen, geschieht in vielen Fällen dennoch nicht. Zwei der Senator*innen La Riojas haben bereits ihre Ablehnung des Gesetzesprojektes angekündigt.

Das nun „halb“ verabschiedete Gesetz ist ein seltener Konsens zwischen allen politischen Fraktionen. Um diesen zu erreichen, wurden dem ersten Entwurf Abänderungen hinzugefügt, wie die Möglichkeit für Ärzt*innen, aus Gewissensgründen den Eingriff zu verweigern, oder eine Regelung für minderjährige Frauen, die abtreiben wollen. Am 3. Juli haben nun die Plenarsitzungen im Senat begonnen, in denen das Gesetzesprojekt erneut diskutiert wird, bis am 8. August die endgültige Entscheidung fällt. Trotz des historischen Erfolgs in erster Instanz ist die Abstimmung im Senat noch nicht automatisch gewonnen, auch wenn niemand daran glauben mag, dass das Gesetz noch aufgehalten werden kann. Laut Umfragen liegt die bundesweite Zustimmung in der Bevölkerung mittlerweile zwischen 60 und 70 Prozent. Aber im Senat sind Für- und Gegenstimmen ähnlich ausgewogen wie vor der Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Von 72 Senator*innen haben sich bisher jeweils 30 dafür und dagegen positioniert, die anderen sind noch unentschlossen. Kirche und Straße – beide Seiten üben enormen Druck aus.

ZWILLINGSDEFIZIT SCHLÄGT INS KONTOR


Schafft Mauricio Macri das historische Novum? Noch nie hat ein gewählter argentinischer Präsident, der nicht aus den Reihen der Peronisten stammte, seine Amtszeit zu Ende gebracht. Die kommenden Wahlen stehen im Oktober 2019 an und die Zeit bis dahin kann für Macri sehr lang werden. Macri ist in Not, im Parlament greift er zum Veto gegen eine Mehrheitsentscheidung, finanziell ist das Land derart in Bedrängnis, dass Macri beim Internationalen Währungsfonds (IWF) vorstellig wurde. Vor allem, weil sich der argentinische Peso im Sinkflug gegenüber dem Dollar befindet, mit 21 Prozent Wertverlust allein im Mai 2018 weit mehr als der brasilianische Real (6,7 Prozent) oder der mexikanische Peso (6,4 Prozent). Seit die US-amerikanische Notenbank FED die Zinsen erhöht und damit Anreiz zur Kapitalflucht in die USA gegeben hat, ist Argentinien bei der Abwertung der Währungen aus den Schwellenländern gegenüber dem Greenback bereits Weltmeister – wobei diese Sehnsucht in der Bevölkerung sich bekanntlich erst auf die anstehende Fußballweltmeisterschaft in Russland richtet.

Trump nannte Macris Wirtschaftspolitik den “richtigen Weg”

Klar daneben ist eben auch vorbei. Noch im März verkündete Macri im argentinischen Kongress: „Das Schwerste haben wir hinter uns.“ Wen auch immer er mit „wir“ gemeint haben mag, das Schwerste steht seiner Regierung erst bevor. Proteste auf der Straße gegen seine Politik ist er gewohnt, nun hat er es auch noch geschafft, die in drei Fraktionen gespaltene und zerstrittene peronistische Opposition erstmals punktuell wieder zu vereinen. Zusammen besitzen sie eine Mehrheit im Parlament, die sie bisher nicht nutzten. Nun brachten sie Ende Mai ein Gesetz ein, das den sogenannten tarifazo, die jüngsten Anhebungen der staatlich subventionierten Preise für Strom und Gas, zurücknimmt und künftige Erhöhungen der Tarife maximal in Höhe der Inflation zulässt, um weitere Kaufkraftverluste bei der Bevölkerung zu verhindern. In Kraft tritt dieses Gesetz vorerst nicht, weil Macri wie angekündigt sein Veto einlegte. Subventionen zu streichen und Preise zu erhöhen, ist schließlich sein wenig origineller Ansatz, um das Haushaltsdefizit anzugehen.

„Das Veto zeigt die absolute Unfähigkeit dieser Regierung zum Dialog und ihre mangelnde Sensibilität für das Leiden von denen, die diese Tarife nicht mehr bezahlen können“, kommentierte Juan Grabois von der Confederación de Trabajadores de la Economía Popular, einer Vereinigung, die in den Armensiedlungen aktiv ist. Fakt ist: Seit Macri im Dezember 2015 sein Amt antrat, stiegen in der Hauptstadt Buenos Aires die Tarife für Strom um rund 560 Prozent, für Wasser um rund 340 Prozent und für Gas um rund 220 Prozent.

Mit seinem Veto bring Macri die Bevölkerung weiter gegen sich auf. Am 1. Juni demonstrierten in Buenos Aires 300.000 Menschen gegen seine Politik. In einem Sternmarsch zogen sie auf die Plaza de Mayo vor den Präsidentenpalast. Am 28. Mai war der „Marsch für Brot und Arbeit“ in fünf Provinzen losgegangen. Aufgerufen hatten soziale Organisationen aus dem informellen Sektor, der geschätzt rund die Hälfte der argentinischen Wirtschaftsleistung bewerk­stel­­ligt. Die Hauptforderungen lauteten: mehr Mittel für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den sozial schwachen Siedlungen, sofortige Nahrungshilfen für notleidende Kinder und Jugendliche, Hilfe für Abhängige und Drogengefährdete und die Einrichtung eines Kreditfonds für die familiären Landwirtschaftsbetriebe zum Kauf von Ackerflächen.

Ob Rücknahme des tarifazo oder die Forderungen beim „Marsch für Brot und Arbeit.“ Beides bringt die Regierung Macri in die Zwickmühle, weil es ihre Sparpläne torpediert. Das Defizit des Staatshaushalts beläuft sich auf rund fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und wird zu allem Überfluss durch ein Leistungsbilanzdefizit in etwa demselben Ausmaß flankiert – zusammen zehn Prozent. Der Fachbegriff dafür heißt Zwillings­defizit, und Länder, die damit gestraft sind, trudeln erfahrungsgemäß unweigerlich in eine Währungs- und Wirtschaftskrise. Die Währungskrise ist schon da.

Der 8. Mai 2018 ist sicher der bisherige Tiefpunkt in Macris Amtszeit: Um ein Uhr mittags unterbrachen die wichtigsten Fernsehsender des Landes ihr Programm, um Macris Rede an die Nation zu übertragen. Sie war kurz und weckte schmerzhafte Erinnerungen. „Ich habe beschlossen, Gespräche über Finanzhilfen mit dem Internationalen Währungsfonds aufzunehmen. Wir gehen den einzigen möglichen Weg, um dem Stillstand zu entkommen und eine große Wirtschaftskrise zu verhindern, die uns allen schaden würde“, merkte er zerknirscht an. Der Gang zum IWF, um einen 30-Milliarden-Dollar-Beistandskredit zu ergattern, ist nicht weniger als der Offenbarungseid seiner bisherigen Wirtschaftspolitik. Der IWF zeigte sich entgegenkommend und gewährte gar eine Kreditlinie von maximal 50-Milliarden-Dollar. Die Bedingung: Bereits im Jahr 2020 soll ein ausgeglichener Primärhaushalt (ohne Schuldendienst) zwischen Staatseinnahmen und -ausgaben erreicht werden.

Eine „Revolution der Freude“ hatte er im Wahlkampf versprochen, nun kommt der IWF nach Argentinien zurück, wo er zu Recht einen denkbar schlechten Ruf hat. Unter dem Rechtsperonisten Carlos Menem (1989-99) hatte sich Argentinien sklavisch an die Vorgaben des IWF gehalten. Die Einfuhrzölle wurden minimiert; Unternehmensgewinne wurden niedriger besteuert als in den USA; die Mehrwertsteuer, die alle zahlen, wurde massiv erhöht; das Land gab Anleihen zu hohen Renditen aus, um Kapital anzulocken. Davon profitierten die Anleger*innen und dafür zahlte der argentinische Durchschnittsmensch die Zeche. Um die Jahreswende 2001/2002 führte diese Politik in die Zahlungsunfähigkeit und zur größten Staatspleite der Nachkriegszeit. Millionen argentinische Sparer*innen verloren große Teile ihrer Guthaben. Seither gilt der IWF jenseits der Oberschicht als kollektives Feindbild. Néstor Kirchner löste 2005 mittels Kredit von Venezuelas damaligem Präsident Hugo Chávez sämtliche IWF-Schulden vorzeitig ab, fast zehn Milliarden Dollar, um wieder eigenständig Wirtschaftspolitik machen zu können.

Der Gang zum IWF fiel Macri nicht leicht. Noch in der Woche davor hatte die Regierung in einer koordinierten Aktion mit der Zentralbank versucht, wieder Vertrauen zu schaffen. Davor hatte die Zentralbank an einem Tag so viele Dollar wie nie zuvor verkauft – ohne die Abwertung des Peso stoppen zu können. Daraufhin erhöhte die Zentralbank den Leitzins zum dritten Mal innerhalb von acht Tagen auf nunmehr 40 Prozent – fast das Doppelte der für das laufende Jahr erwarteten Inflationsrate. Gleichzeitig kündigte Schatzminister Nicolás Dujovne eine Kürzung des für 2018 geplanten Haushaltsdefizits von 3,2 auf 2,7 Prozent des BIP an – ohne Schuldendienstzahlungen, die sich auf mindestens noch einmal zwei Prozent des BIP addieren. Der Kurs des Peso beruhigte sich daraufhin leicht, dennoch sieht Macri ohne den IWF-Kredit kein Land, auch weil die Zinswende in den USA den Schuldendienst Argentiniens 2018 mächtig erhöhen wird – laut Telesur um exakt die 30 Milliarden Dollar, die vom IWF kommen sollen.

Drei Viertel der Argentinier*innen lehnen laut Umfragen neue IWF-Kredite ab. So zogen postwendend Tausende Argentinier*innen auf die Straße, um gegen ein neues IWF-Abkommen zu protestieren und gegen die angekündigten Haushaltskürzungen und Massenentlassungen im öffentlichen Bildungssektor gleich mit.

„Die Menschen leiden und die Regierung findet keinen Weg, der uns an einen besseren Ort bringt“, sagte Roberto Baigorria, Mitglied der linken Partei Libres del Sur als Reaktion auf die Ankündigung der Kreditaufnahme. Macri ließ verlauten: „Der IWF wird uns keine Bedingungen stellen. Sie werden sich weder in unsere Gesetzgebung noch in die Anpassungen einmischen. Hier gibt es keine versteckte Agenda oder Verhandlungen.“ Keiner glaubt Macris Worten.

Wenig hilfreich für Macri hat sich nun auch Donald Trump eingemischt: Der US-Präsident nannte Macris Wirtschaftspolitik den „richtigen Weg“. Was der Argentinier da treibe, sei hundertmal besser als die chaotische Wirtschaftspolitik in, beispielsweise, dem sozialistischen Venezuela. Venezuela hin oder her – Ansagen aus den USA sind in Argentinien auf alle Fälle nicht willkommen, ob aus dem Weißen Haus oder vom IWF.
Macri ist mit seinem Reformlatein am Ende. Die Freigabe des Wechselkurses, die Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, die Abschaffung der Steuern auf den Bergbau: Die von ihm versprochene Flut bei Neuinvestitionen wurde dadurch jedenfalls nicht ausgelöst. Stattdessen sieht er sich nun mit Kapitalflucht in die USA konfrontiert, weil dort die Zinsen steigen. Es sind die Anleger*innen, für die er in Argentinien die Profitbedingungen verbessert hat, die ihm jetzt auf der Suche nach Mehrprofit den Rücken kehren.
Argentiniens wirtschaftliche Lage ist düster: Die Landwirtschaft, die den Großteil der Deviseneinnahmen einbringt, wird nach der schwersten Dürre seit Jahrzehnten in diesem Jahr etwa 20 Prozent weniger ernten und einen Einnahmeverlust in Höhe von rund einem Prozent des BIP verursachen. Eine neue Steuer, die Argentinien seit April auf die Zinseinkünfte ausländischer Anleger erhebt, hat die Kapitalflucht beschleunigt. Über all dem thront Argentiniens Zwillingsdefizit. Dieses macht das Land besonders anfällig für weitere Zinserhöhungen in den Vereinigten Staaten – und damit zu einem bevorzugten Kandidaten für den Rückzug von Anleger*innen, die sich im riskanten Markt der Schwellenländer tummeln, wo die Chancen und Risiken größer sind als in den Industriestaaten. Die von Macri noch im März verkündete Botschaft, dass die Zahl der Armen auf zehn Millionen gesunken sei – jede*r Vierte – dürfte schon überholt sein. Derzeit wachsen Auslandsverschuldung und Armut wieder simultan.

KAMPF DEN DINOSAURIERN

Mit Grün gegen das Patriarchat Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem Kongress (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

Grün ist die Farbe dieses argentinischen Herbstes. Zunächst waren die Dienstage und Donnerstage grün, dann wurden es alle Wochentage. Bei Aktionen im ganzen Land zogen hunderte und tausende Frauen mit grünen Halstüchern durch die Straßen und bis vor das Parlamentsgebäude. Das pañuelo verde (grünes Tuch) ist zum allgegenwärtigen Symbol für das Recht auf Abtreibung geworden, das derzeit im argentinischen Kongress diskutiert wird.

Argentinien trägt grün, denn die Debatte um Legalisierung der Abtreibung wird derzeit an jeder Straßenecke geführt. Sie ist präsenter denn je – auch wenn sie nicht ganz neu ist. Seit 30 Jahren ist das Recht auf Abtreibung eine der zentralen Forderungen der argentinischen Frauenbewegung. Seit 13 Jahren gibt es die Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenfreie Abtreibung, ein Bündnis von mittlerweile über 300 verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Gegründet auf einem der legendären Nationalen Frauentreffen, zu denen heute jährlich 100 000 Frauen aus dem ganzen Land pilgern, hat die Kampagne ein Gesetzesprojekt zum selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch entwickelt. Der heute im Parlament zur Debatte stehende Entwurf ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit, Reflexion und Anpassung in kollektiven Prozessen. Es ist bereits der siebte Versuch, das Gesetz ins Parlament einzubringen, aber der erste, der es bis zur Verhandlung gebracht hat. Für viele ist das ein historischer Moment, der dem unermüdlichen Aktivismus, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt dem Druck der Straße zu verdanken ist. „Wir haben unglaubliche Fortschritte gemacht“, sagt Carolina Balderrama, feministische Journalistin in der Nachrichtenagentur Telam, über die Bewegung. „Wir sind auf jeder Tagesordnung. Es gibt einfach keinen Ort mehr, an dem nicht über Feminismus, über Abtreibung, über die Rechte der Frauen diskutiert wird.“

Am 13. Juni werden zunäachst die Abgeordneten des Unterhauses über den Gesetzesentwurf abstimmen, bei positivem Ausgang wird er dem Senat vorgelegt. Zuvor hatten 738 geladene Personen jeden Dienstag und Donnerstag vom 10. April bis 31. Mai ihre Argumente für oder gegen die Gesetzesvorlage dargelegt. Vier Kommissionen erstellen auf Grundlage der Anhörungen ein Gutachten für die Abstimmung. Das Ergebnis ist denkbar knapp. Entscheidend werden die kaum 30 bislang unentschiedenen Stimmen sein, die hart umkämpft sind. Laut öffentlicher Stellungnahmen waren am letzten Anhörungstag 112 Abgeordnete für und 115 gegen den Gesetzes­entwurf, diese Zahlen jedoch variieren täglich. Sollte das Gesetz angenommen werden, würden in Argentinien Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche legal und zu einet kostenfreien medizinischen Grundleistung des Gesundheitssystems werden. Argentinien wäre damit neben Uruguay und Kuba das einzige Land in Lateinamerika, das ein bundesweites Gesetz für legale Schwangerschaftsabbrüche hätte. In anderen Ländern Lateinamerikas greifen lokale Regelungen oder straffreie Ausnahmen, Komplettverbote gibt es in Chile, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Haiti, Surinam und der Dominikanischen Republik.

Seit einem Grundsatzurteil im Jahr 2012 bleiben auch in Argentinien Abtreibungen in zwei Fällen straffrei, bei Lebensgefahr und physischen oder mentalen Gesundheitsrisiken der Schwangeren oder wenn die Schwangerschaft durch eine Vergewaltigung zustande gekommen ist. Behandlungsprotokolle für Frauen, die nach diesen Regelungen ein Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch haben, sollen den Zugang zu straffreien Abtreibungen in diesen Fällen sicherstellen. Bisher haben jedoch nur acht von 24 Provinzen überhaupt ein derartiges Protokoll aufgesetzt. Laut informeller Zahlen des Gesundheitsministeriums gibt es zwischen 400 und 500 dieser legalen Abtreibungen pro Jahr. Geheime Abtreibungen werden vom selben Ministerium allerdings offiziell auf zwischen 370.000 und 522.000 jährlich geschätzt (2009). Dabei sind seit 1983, dem Ende der Militärdiktatur, 3030 Fälle bekannt geworden, bei denen Frauen an Komplikationen bei einer Abtreibung gestorben sind. Laut Weltgesundheitsorganisation ist das der Grund für ein Drittel aller Fälle von Muttersterblichkeit. Die Mehrheit der Frauen, die in Folge von Abtreibungen sterben, sind jung und arm. Viele Aktivist*innen reden daher von der Legalisierung der Abtreibung als „Schuld der Demokratie“ als das Menschenrecht, was die Rückkehr zur Demokratie noch nicht erbracht hat. Neben Selbstbestimmung über den Körper und autonomen Entscheidungen über Mutterschaft dreht sich die Diskussion stark um die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, um den ungleichen Zugang zu sicheren Abtreibungen und die Verpflichtung des Staates, diese zu garantieren. Es ist eine Frage der Klasse, denn Frauen aus den Oberschichten haben Zugang zu Privatkliniken und Mittel diese zu bezahlen, Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten oder ärmeren Provinzen müssen oft zu unsicheren Methoden greifen. Die Frage ist längst nicht mehr, ob es Abtreibungen geben soll oder nicht, es gibt sie tagtäglich, sondern ob sie legal und sicher oder geheim und mit großen Risiken durchgeführt werden.

Gegner*innen sowie Befürworter*innen mobilisieren ihrerseits nach allen Kräften. Verschiedene Berufsgruppen haben in offenen kollektiven Briefen Stellung bezogen – Schriftstellerinnen, Künstlerinnen, Filmschaffende, Dichterinnen, Architektinnen, Lehrerinnen, Presseleute, Fotografinnen, Angestellte des Öffentlichen Dienstes und viele weitere haben über 70.000 Unterschriften gesammelt und sie an die Abgeordneten geschickt. Je näher die Abstimmung rückt, desto aufgeheizter die Debatte. Am 4. Juni, dem dritten Jahrestag der Gründung von Ni Una Menos (Nicht eine weniger), war die Hauptforderung der Großdemonstration erstmals nicht das Ende der sexualisierten Gewalt, sondern auch das Recht auf Abtreibung. Zehntausende schoben sich als „grüne Flut“ durch die Straßen von Buenos Aires und Argentinien, um für die Verabschiedung des Gesetzes zu demonstrieren.

Auch die Abtreibungsgegner*innen sammeln Unterschriften, veranstalten „Märsche für das Leben“ und tragen neuerdings ein Halstuch in hellblauen Nationalfarben, das für „die beiden Leben“ skandiert, das des ungeborenen Kindes und das der Schwangeren. Hellblaue Fluten sieht man allerdings selten, eher Fotos und Plakatwände mit gigantischen Föten. Ein sechs Meter großer Fötus aus rosa Pappmaché wird bei Demonstrationen durch die Straßen getragen. Dabei wird regelmäßig gemeinsam die National­hymne gesungen. Die Anti-Abtreibungs­bewegung bezeichnet sich als „Pro Vida“ (Für das Leben), in etwa vergleichbar mit den sogenannten Lebensschützern in Deutschland. Hinter dem Schutz des „ungeborenen Kindes” steckt oft die gleiche konservative Rechte, für die das Leben eines bereits geborenen Kindes, das in den Armenvierteln und Randbezirken aufwächst, keine Existenzberechtigung hat.

In den Anhörungen wurde von den Gegner*innen neben offensichtlichen Fake Facts meist ideologisch-religiös und moralisch argumentiert – unter anderem mit absurden (Ab-)Gründen wie: Schwangerschaften würden vor fortdauerndem sexuellen Missbrauch schützen (Ursula Basset, Doktorin der Rechtswissenschaften an der Katholischen Universität UCA), das „Verbrechen Abtreibung“ sei eine „Todesstrafe“ für ungeborene Kinder und ein „wirkliches“ gewaltsames Verschwindenlassen (Oscar Botta der NGO ProFamilia) oder Abtreibung sei „Holocaust“ (Cristina Miguens, selbsterklärte „Feministin “ der Frauenzeitschrift Sophia). Viele der mehrheitlich männlichen Vortragenden kamen aus dem Kreis der katholischen Unversität UCA oder der mit dem Opus Dei assoziierten Universidad Austral.

In Argumentation und Aktion der Abtreibungsgegner*innen wird deutlich, was derzeit eine Tendenz in rechten Bewegungen scheint: die Aneignung von linken Begriffen, Organisationsformen und Symbolen für eigene Zwecke – der ständige Bezug auf Menschenrechte und deren vermeintliche Verteidigung bei eigentliche Aushöhlung. Die Gegenseite bezeichnet Pro Vida daher treffender als „antiderechos”, als Bewegung, die gerade gegen und nicht für Grundrechte eintritt.

Dass nun gerade auch Präsident Macri, selbst überzeugter Abtreibungsgegner, versucht, sich einen feministischen Diskurs anzueignen und trotz seiner rechtskonservativen Cambiemos-Regierung, die Möglichkeit zur Debatte im Parlament eröffnet hat, mag zunächst überraschen. Letztendlich ist es aber dem enormen gesellschaftlichen Einfluss der feministischen Bewegung zuzuschreiben, die als aktiver politischer Akteur großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Vielen Aktivist*innen fällt es daher schwer zu glauben, dass das Gesetzesprojekt noch abgelehnt wird. „Der soziale Druck, dass jetzt legalisiert wird, ist unaufhaltsam“ erklärt Journalistin Balderrama, die selbst in einer der Anhörungen gesprochen hat. „Und mehr und mehr verbreitet sich auch der Gedanke, dass die Abgeordneten, die nicht für das Gesetz stimmen, Dinosaurier sind, die in einem vergangenen Zeitalter hängengeblieben sind“. Sogar Mitglieder der Regierungspartei PRO posierten Anfang Juni für ein gemeinsames Foto mit dem grünen Halstuch.

Die Befürworter*innen des Gesetzes haben Zahlen und Argumente auf ihrer Seite. In verschiedensten Umfragen sprachen sich stets über 50 Prozent der Befragten für Abtreibung aus, der Prozentsatz steigt in der jüngeren Bevölkerung. Laut Balderrama sind gerade die Oberstufenschülerinnen sehr wichtige neue Akteurinnen, die jetzt auf der politischen Bühne auftauchen. Sie organisieren sich und fordern, dass das in der Schublade liegende Gesetz zur „Integralen sexuellen und reproduktiven Gesundheit“ umgesetzt wird, das sexuelle Aufklärung im Schulsystem verankert. Das Motto der Legalisierungs­kampagne ist: Sexualkunde, um entscheiden zu können, Verhütungsmittel um nicht abtreiben zu müssen, legale Abtreibung um nicht zu sterben. Legalisierung bedeutet auch Recht auf Information und Zugang zu diesen Informationen, wie auch an der jüngsten Verurteilung einer Ärztin in Deutschland aufgrund des Paragraphen 219a StGB zu sehen war.

Der Kampf um das Recht auf Abtreibung hat noch mehr junge Frauen politisiert, die enorme Präsenz der Bewegung auf den Straßen ist das „Merkmal unserer Zeit“, schreibt die Ni Una Menos-Gründerin Mariana Carbajal in ihrer Kolumne in der Zeitung página12. Das soziale Bewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit zur Legalisierung der Abtreibung hat sich radikal verändert. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung ist die soziale Entkriminalisierung bereits Realität. Und obwohl es de facto bereits straffrei möglich ist, in Argentinien abzutreiben und diese Praxis existiert, sieht die Antiderechos-Bewegung eine Bedrohung in der Verankerung des Rechts auf selbstbestimmte Abtreibung im Gesetz. Das liegt auch daran, dass die Ni-Una -Menos-Bewegung wie an diesem 4. Juni die Forderung nach Abtreibung mit grundlegender Kritik an der neoliberalen Politik und dem aktuellen Sozialabbau der Regierung verknüpft. Mit dem Feminismus von Ni Una Menos, der heute mehr als jede andere gesellschaftliche oder politische Kraft mobilisiert, geht eine Opposition zum Macrismus einher. Die Forderung nach Abtreibung stellt somit in doppeltem Sinne eine Bedrohung der alten Ordnung dar.

„Wir Frauen werden zu politischen Akteuren. Das macht Angst“, erklärt Mariana Carbajal. Einer der zahlreichen Sprechgesänge auf den feministischen Demonstrationen, der Forderungen einläutet, lautet: „Ahora que sí nos ven“ – „Jetzt, da wir endlich gesehen werden.“ Jetzt, wo der Feminismus politische Kraft entwickelt hat, wo er nicht mehr zu übersehen ist, ist der Druck groß genug, damit das Recht auf legale und sichere Abtreibung zum Gesetz wird.

DAS LAND BRENNT, STEHT ABER NICHT IN FLAMMEN

Foto: Daniel Kulla

Am 21. Februar blockierten mehrere hunderttausend Menschen den ganzen Tag die Hauptverkehrsachse der Innenstadt von Buenos Aires. Verschiedene bekannte Gewerkschaftsführer wie Hugo Moyano, zur Zeit der peronistischen Kirchner-Regierungen Generalsekretär des größten Gewerkschaftsdachverbands CGT, verurteilten die Massenentlassungen vor allem im öffentlichen Sektor und die Kürzungen von Subventionen und Staatsausgaben – doch sie riefen zu keinen weiteren Aktionen oder Streiks auf. Die konservative Presse hörte trotz der Siegesmeldungen der Kirchneristas nicht auf, abschätzig von „Moyanos Demo“ zu sprechen. Präsident Macri sagte gleich gar nichts dazu. Dessen Blick ist aufs Ausland gerichtet – während seiner ausgedehnten Europareise nach Davos, zu Merkel und Macron, wie auch in seinen endlosen als „Klausuren“ verbrämten Ferien auf dem Golfplatz. Nichts deutet darauf hin, dass die „Erste Welt“, der Macri so gern angehören will, an Argentiniens Rolle als Rohstoff-Lieferant, Billiglabor (auch für deutsche Pharmaunternehmen) und Billigzulieferer (auch für die deutsche Autoindustrie) Nennenswertes ändern will. In den Worten des linken Abgeordneten Patricio del Corro möchte Macri jedoch für die Weltöffentlichkeit bis zum G20-Gipfel Ende November in Buenos Aires „seinen Laden in Ordnung” präsentieren, in der Hoffnung auf den vielbeschworenen „Investitionsregen”, der nie kommt. Also eröffnete er ein G20-Forum zu Erneuerbarer Energie, erwähnte in seiner dortigen Ansprache die Proteste mit keinem Wort und widmete sich weiter seinem Notverordnungsdekret. Mit diesem will er ohne entsprechenden Notstand das Parlament umgehen, um 19 nationale Gesetze aufzuheben und 140 substanziell abzuändern, auch in Bereichen, die von der Verfassung vor Dekreten geschützt sind. Es soll geringere Strafen für Unternehmen bei Verstößen gegen das Arbeitsrecht geben; Pfändung von Lohneinkommen und die Spekulation mit Geldern des Sozialfonds auf den Finanzmärkten sollen möglich werden. All das bereitet eine allgemeine Arbeitsreform vor: mehr Beschneidung von Arbeitsrechten, weniger Lohnnebenkosten, mehr befristete Arbeitsverträge, vereinfachte Entlassungen.

Seit Macris Regierungsübernahme 2015 erwarten Linke, dass das Land demnächst in Flammen aufgeht. Als der Höhepunkt der Proteste im Dezember 2017 auf den Jahrestag des Aufstandsbeginns vom 19. Dezember 2001 fiel, beschworen nicht nur sie eine Wiederholung der damaligen Ereignisse, samt Sturz des Präsidenten.

Seit Macris Regierungsübernahme erwarten Linke, dass das Land demnächst in Flammen aufgeht.

Buchstäblich brannte das Land seither aber nur in den infernalischen Steppenbränden, die in der Weideprovinz La Pampa allein im Januar 700.000 Hektar erfassten und die teilweise bis in die nächste Umgebung der Bundeshauptstadt reichten. Die Brände haben sich wegen der Ausdehnung des Gensoja-Anbaus, größtenteils für den Export, und der damit einhergehenden Flurbereinigung zu einer alljährlichen Rekordveranstaltung entwickelt. Zusätzlich hat die Regierung das Budget der Feuerwehren gekürzt und zelebriert ihre Ignoranz: Umweltminister Bergman schlug vor, gegen die Brände zu beten.

Auch in Buenos Aires brennt die Luft, vor allem wegen des Dauerbetriebs abertausender Klimaanlagen, die immer mehr Nachbar*innen zwingen, mit eigener Klimaanlage deren Abwärme zu begegnen – trotz extrem gestiegener Strompreise.

Bislang ist das Erstaunliche jedoch gerade, dass das Land sozial nicht in Flammen aufgegangen ist. Wie in anderen Ländern nach offen neoliberalen oder nationalistischen Regierungswechseln werden die Proteste von links zwar schriller und entschlossener, manche linke Bewegungen und Organisationen wachsen durchaus beträchtlich und die Staatsgewalt stellt sich auf Aufstandsbekämpfung ein. Doch Macri kann seine sozialen Zumutungen auch gegen Proteste von Hunderttausenden nicht zuletzt deshalb durchsetzen, weil sich der Kirchnerismo als Alternative diskreditiert hat – durch die feindselige Behandlung abtrünniger Provinzen, durch die eigene Vetternwirtschaft, nun durch das Abstimmungsverhalten in der Opposition. Die öffentlichen Wortwechsel zum Thema Korruption entbehren nicht einer gewissen Komik – etwa, als die kirchneristische Abgeordnete Sandra Marcela in einer Parlamentsdebatte auf Vorwürfe gegen ihre Partei mit einem „Hallo, und wie geht’s Ihnen denn so?“ antwortete oder als der vermögende Hugo Moyano auf der Kundgebung am 21. Februar betonte, er habe (im Unterschied zu Macri) zumindest keine Gelder im Ausland geparkt. Die Mehrheit für die „Rentenreform“ erreichte Macri durch einen Deal mit oppositionellen Gouverneur*innen – eine Einmalzahlung an Pensionsberechtigte als „Ausgleich”, ein „lächerlicher Betrag“ (labournet), nur wenige Prozent dessen, was die „Reform“ ihnen wegnimmt. Bei der Abstimmung waren zehn Abgeordnete, darunter der kirchneristische Präsi­dent­schafts­kandidat von 2015, Daniel Scioli, abwesend.

Die Lage ähnelt der in vielen Ländern: Eine unglaubwürdig und angreifbar gewordene sozialdemokratische oder liberale Linke, der gegenüber die wenigstens „richtigen“ und unverblümten Neoliberalen oder Nationalist*innen gewählt werden – und eine sozialistische Linke, die zu klein ist (oder sich anderswo als in Argentinien auch oft zu sozialdemokratisch oder linksliberal gebärdet), um wiederum als Alternative zu funktionieren. Dennoch leben von deren Initiative entscheidende Teile des sozialen Widerstands.

Foto: Casa Rosada (CC-AR Presidency/doc)

Auch im Dezember hatte der CGT durch tagelange Proteste zum Streikaufruf gedrängt werden müssen, entschied sich erst 12 Stunden vor Beginn und mobilisierte auch nicht zur Demonstration vor dem Kongress, dem argentinischen Parlamentsgebäude. Vor allem das erzeugte die Situation vom 18. Dezember, in der zunächst in Erwartung begrenzter Proteste und zur Vermeidung hässlicher Bilder die paramilitärische Gendarmería nicht eingesetzt wurde, dann aber eine aufständische Menge beinahe die Absperrungen vor dem Kongress überwand und schließlich doch sämtliche verfügbare Polizeiverstärkung aufgeboten wurde. Sie ging zur unterschiedslosen Jagd auf alle Protestierenden über, trieb sie stundenlang mit Gummigeschossen und Gasgranaten durch die Innenstadt, wobei mindestens drei Protestierende ein Auge verloren, Gas in Cafés und die U-Bahn gefeuert und mehrere Menschen von Polizeifahrzeugen angefahren wurden.

An den Kampagnen und Demos zur Freilassung der im Dezember Inhaftierten beteiligten sich Großgewerkschaften wie auch Kirchneristas so gut wie gar nicht. Und auch der Protest vom 21. Februar wirkte eher wie deren Versuch, sich mittels Vereinnahmung der allgemeinen Unzufriedenheit selbst gegen Macri ins Spiel zu bringen. Rechte Teile der Gewerkschaftsführung hatten unter Berufung auf genau diesen Verdacht ihre Beteiligung abgelehnt.

Vorbildlich agieren unter diesen Umständen die revolutionär-sozialistische Wahlallianz FIT, seit 2013 im nationalen und in mehreren regionalen Parlamenten, sowie die mit ihr assoziierten Gewerkschafts- und Menschenrechtsorganisationen. Abgeordnete der FIT wurden wiederholt in vorderster Front der Proteste selbst von der Polizei schwer verletzt. In unermüdlicher Basisarbeit unterstützen sie Arbeitskämpfe und versuchen, sie mit indigenen und feministischen Mobilisierungen zusammenzuführen. Sie fordern und erreichen die Freilassung von Inhaftierten; drängen immer wieder auf die Ausweitung der Streiks in Straßenblockaden und der Proteste in landesweite Streiks. Am 21. Februar nahmen sie trotz ihrer Vorbehalte gegen die Großgewerkschaften zu Zehntausenden mit einem eigenen Demoblock teil. Sie bereiten weitere Streiks und Blockaden vor, so zum Beispiel für den Frauenkampftag am 8. März – der G20-Gipfel ist auch wegen dieser ständigen Überforderung bisher kein Thema. Zudem gelingt es der Polizei, gegenüber den vielen kleineren Mobilisierungen zu für Argentinien unüblichen, europäisch anmutenden Taktiken zu greifen: Einkesseln, Abdrängen, Spalier, komplettes Abfilmen.

Linke Hoffnungen ruhen somit auf dem Widerstandswillen der Bevölkerung, wie er sich vor allem am 18. Dezember gezeigt hatte. Nachdem große Gruppen tagsüber der Polizei standgehalten hatten, bildeten sich im Laufe des Abends überall im Stadtgebiet spontane cacerolazos, Kochtopfproteste in der Tradition des Dezember 2001, dessen soziale Errungenschaften letztlich von den schon erfolgten und den befürch­teten weiteren Kürzungen bedroht werden. Nach Mitternacht strömten wieder Hunderttausende vor den Kongress, bis in die Morgenstunden wie 2001 skandierend: „Que se vayan todos” (etwa: „Die sollen alle gehen”) und „Unidad de los trabajadores” („Einheit der Arbeiter”). Auch aus anderen Städten (z.B. Rosario, Córdoba, Mendoza, Neuquén und Ushuaia) wurden ähnliche nächtliche Massenaufläufe berichtet.

Es wird weitere Streiks, Proteste und Blockaden geben – so sehr ihnen der Erfolg zu wünschen ist, sind die Aussichten aber trübe. Öffentliches Interesse in einem der Länder, für dessen Kapital Präsident Macri sein Land derzeit so brutal „öffnet“, wäre sicherlich hilfreich. Deutschland ist eines der wichtigsten davon.

„WIR MÜSSEN UNORDNUNG SCHAFFEN“

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, wo es Glauben an den Staat und die Gesetze gibt. Dinge, bei denen sich meiner Meinung nach erwiesen hat, dass sie nicht ans Ziel führen, weder hier noch dort! Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staats-gründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe. Die Staaten stehen daher außerhalb dessen, was sie regieren.

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen, sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sich sehr an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionellen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanische und indigene Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht. Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibung und ich glaube, das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat, weil Frauen gezwungen werden, ein Stück Fleisch in sich zu tragen, das sie nicht möchten. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf 6 Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

In Ihren Abhandlungen schreiben Sie, dass Patriarchismus dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: In einem primordialen Moment gibt es demnach eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Und die Frau, das Weibchen, begeht dann einen Fehler, ist ungehorsam, auf diverse Art und Weisen: Sie kümmert sich nicht richtig um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut… Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.

In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ transformieren, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht und Gesetze braucht, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.

Das ist aber optimististisch, oder? Denn das heißt ja, dass das Beste uns noch bevorsteht.
Ja, ein bisschen. Entweder, wir schaffen es aus dieser patriarchalen Frühzeit der Menschheit heraus oder unsere Spezies wird verschwinden. Aber mein Denken ist nicht utopisch im Sinne eines utopischen Autoritarismus. Utopien können nämlich sehr autoritär sein. Das dekoloniale Denken geht von dem aus, was existiert, und nicht von einer Idee einer Gesellschaft, die von einem bärtigen Deutschen entworfen wurde (lacht laut). Nicht von einem „so sollte es sein“, das es nicht gibt. Das, wovon wir reden, gibt es wirklich. Natürlich hat es viele Mängel, die korrigiert werden müssen.

Wie wird in indigenen Gemeinschaften zum Beispiel der Gender-Binarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarismus abgeschafft.

Diesen Binarismus bekämpfen auch westliche LGTBI*. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen oder Klassen.

In Ihren Abhandlungen sagen Sie: Statt einer Politisierung des Häuslichen braucht es eine Verhäuslichung des Politischen.
Wir könnten Knoten sein in einem Faden der Erinnerung, die durch den Prozess des Kolonialismus sehr angegriffen wurde. Das heißt, zurückfinden zu Formen, in denen Frauen kollektive Probleme lösten. Domestizierung würde dann heißen, dass Das Andere seine Art zu sein durchsetzt.

Und so kann man den Binarismus überwinden?
Ich glaube schon. Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Zuerst müssen wir Unordnung schaffen. Wir müssen Unordnung schaffen.

TRAVESTIS: EINE POLITISCHE IDENTITÄT

Wie wir uns selbst nennen: Travestis in Lateinamerika
Ich wünsche mir, dass dies dazu beiträgt, ein Gedächtnis des lateinamerikanischen Travestismo aufzubauen. Ich glaube, wir haben Geschichte zu erzählen und Geschichte zu schreiben. Und zwar eigene Erfahrungen aus der ersten Person, um sie den Diskursen entgegenzusetzen, die über uns verbreitet werden. […]

In den 90er Jahren, als wir Travestis begonnen haben, in der Öffentlichkeit laut zu werden und uns zu organisieren, haben wir entschieden, dass wir unsere kollektive Energie zuerst auf die Umdeutung des Begriffs Travesti konzentrieren mussten, der bis dahin sowohl für andere als auch für uns selbst negativ besetzt war. Er wurde und wird immer noch als Synonym für aidskrank, diebisch, skandalös, infiziert und ausge-grenzt verwendet. Wir haben uns entschieden, dem Wort Travesti neue Bedeutungen zu geben und es mit Kampf, Widerstand, Würde und Freude zu verbinden.

Uns Travestis ist es wichtig, die politischen Bedeutungen des Wortes Travesti zum Ausdruck zu bringen. Es bestimmt Subjekte – uns –, die wir in verschiedenen Momenten und Orten Gegnerinnen und Gegnern die Stirn bieten, den Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, den Autoritären, den Ausbeuterinnen und Ausbeutern und den Verteidigerinnen und Verteidigern des Patriarchats und der Heteronormativität. […]
Wir konstruieren unsere Identität, indem wir die Bedeutung, die die dominante Kultur den Genitalien verleiht, infrage stellen. Die Gesellschaft sieht auf die Genitalien und daraus ergeben sich Erwartungen hinsichtlich der Identität, der Fähigkeiten, der sozialen Position, der Sexualität und der Moral eines jeden Menschen. Es wird davon ausgegangen, dass zu einem Körper mit einem Penis eine maskuline und zu einem Körper mit einer Vagina eine feminine Subjektivität gehört. Der Travestismo bricht mit dieser in westlichen Gesellschaften hegemonialen binären Logik, die diejenigen unterdrückt, die sich dagegen wehren, sich den Kategorien „Mann“ und „Frau“ unterzuordnen. […]

Travestis in Lateinamerika: Wie wir leben
Unser Travestismo ist ein Phänomen, das sich vom nordamerikanischen und europäischen Transgenderismus unterscheidet. […] Das Wort Transgenderismus ist in theoretischen Arbeiten der US-amerikanischen Wissenschaft entstanden. Im Gegensatz dazu stammt der Begriff Travesti in Lateinamerika zunächst aus der Medizin und wurde sich von Travestis selbst angeeignet, neu ausgearbeitet und verkörpert, um sich selbst so zu benennen. Das ist der Begriff, in dem wir uns wiedererkennen und den wir uns ausgesucht haben, um uns als Rechtssubjekte zu konstruieren.

Dieser Prozess der Aneignung des Travestismo als Ort, von dem aus wir unsere Stimmen erheben und unsere Forderungen aufstellen, bestimmt einen politischen Kampf. […] Der Travestismo als verkörperte Identität überwindet die Politik der binären Körperlichkeit und der dichotomen Logik von Sexualität-Geschlecht.

Hier in Lateinamerika hat sich der Travestismo über die politische Mobilisierung und Diskussion mit anderen subalternen Subjekten einen eigenen Raum geschaffen. […] Es ist nicht möglich, Identitätskonstruktion von Lebensbedingungen in unseren Gesellschaften zu trennen. Unsere Lebensbedingungen sind gekennzeichnet durch den Ausschluss aus dem formellen Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Innerhalb dieser Szenarien ist Prostitution die einzige Einnahmequelle, die am weitesten verbreitete Überlebensstrategie und einer der sehr wenigen Orte, in der die Travesti-Identität als Möglichkeit, in der Welt zu existieren, anerkannt wird. […]

In Lateinamerika und Argentinien wird der Travestismo oft in jungen Jahren angenommen. In einer Gesellschaft, die Travesti-Identitäten kriminalisiert, führt diese Situation häufig zum Verlust des Zuhauses, der familiären Bindungen und dem Ausschluss aus der Schule. […]

In den Lebenswegen von vielen von uns ist die Erfahrung der Entwurzelung mit der Annahme unserer Identität verbunden. […] Auch die Erfahrung des Todes und insbesondere der Verlust von Freundinnen und Bekannten ist für lateinamerikanische Travestis im Unterschied zu privilegierten Gruppen nichts Außergewöhnliches, sondern eine alltägliche Erfahrung. Die geringe Lebenserwartung begleitet die Mehrheit von uns. Es fehlen Generationen von älteren Travestis und die jüngeren kennen keine Erwachsenen, die ihnen helfen, einen Zeitpunkt kommen zu sehen, der über die unmittelbare Gegenwart hinausgeht oder eine Dimension zu erahnen, die die Individualität übersteigt. Der massive Verlust von compañeras hat Einfluss auf eine fehlende kollektive Erzählung, eine fehlende gemeinschaftliche Erinnerung, die uns ermöglichen würde, uns in der Zukunft zu projizieren.

Über Sittenverstöße, Polizeiverordnungen, Verhaltenskodexe und den öffentlichen Raum (für einige und einige wenige)
Die Kriminalisierung der Travesti-Identität findet zudem durch die Kontrolle bestimmter Bevölkerungsgruppen statt, die der Staat durch Polizeiverordnungen, Sittenverstöße, Verhaltenskodexe durchführt. Diese verfassungswidrigen Regulierungen sind dazu da, bestimmte soziale Gruppen polizeilich zu verfolgen und ihren Zugang zum öffentlichen Raum zu begrenzen: Travestis, Sexarbeiterinnen, cartoneras und cartoneros (Papiersammler*innen), piqueteras und piqueteros (Mitglieder der Arbeitslosenbewegung) und Straßenhändlerinnen und Straßenhändler.

Auf diese Weise wird unser Aufenthalt und unsere Bewegung eingeschränkt und für Travestis ist diese Begrenzung des Öffentlichen besonders schwerwiegend, da die Straße eine der wenigen Ressourcen ist, die wir als Kollektiv haben. Wir haben weder Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu eigenem Wohnraum und die Straße ist daher ein sehr relevanter Raum in unserem Alltag.

Es ist nicht unser Wunsch, soziale Anerkennung zu erreichen, sondern die Hierarchien, die über die Identitäten und die Subjekte verfügen wollen, die wir uns als Schwarze, Nutten, Palästinenserinnen, Revolutionärinnen, Indigene, Dicke, Inhaftierte, Drogensüchtige, Exhibistionistinnen, Piqueteras, Villeras (Slumbewohnerinnen), Lesben, Frauen und Transen bekennen, niederzureißen. Auch wenn wir keine Möglichkeit haben, ein Kind zu gebären, haben wir trotzdem den Mut und die Wut, die notwendig sind, um eine andere Geschichte hervorzubringen.

MENSCHLICHKEIT IM TIEFEN SINNE

Wir haben eine Rede von Lohana Berkins zum Travestismo als politische Identität abgedruckt. Können Sie nochmal sagen, was für Sie den argentinischen Travestismo ausmacht?
Unser Begriff Travesti unterscheidet sich von anderen Transgenderbewegungen im Bewusstsein und in der Komplexität, mit der wir uns selbst sehen. Wir sehen uns nicht aus einer Genderperspektive, ohne uns vorher aus der Klassenperspektive betrachtet zu haben. Die Trans- und Travesti-Community in Argentinien ist stark durch strukturelle und symbolische Armut geprägt. Wir beziehen uns in unserem Transgenderismus auf Subjektivität mit klarem eigenen Gehalt. Wir sind eine radikal andere Option der Identität. Wir wollen gar nicht in die Kategorien von Mann und Frau passen. Das ist eine Halluzination der Heterosexualität, dass wir euch imitieren wollen. Wir wollen weder Mann noch Frau sein, da beide ein gescheitertes Dasein haben.
Wir sehen Mann und Frau als systemisches Paar: Es ist nicht allein das Patriarchat und die Männer, es sind Männer und Frauen, die an dieser Gesellschaft, wie wir sie heute haben, schuld sind. Um diese Gesellschaft so derart scheitern zu lassen, haben sich Männer der Unterdrückung bedient. Aber Frauen sind mitverantwortlich, sie sind notwendig in diesem systemischen Paar. Sie tragen immer noch dazu bei, dass das Ganze erhalten bleibt. Bedauerlicherweise müssen sie anfangen, darüber nachzudenken.

Wird das nicht in der Frauenbewegung getan?
Der Feminismus ist eine notwendige Kritik, aber eine Kritik, die nicht die Veränderungen schafft, die die Welt braucht. Und das, was der Feminismus macht, um das Bestehende zu erhalten, macht er besonders gut. Jeden Tag erhält er das Patriarchat, den Kapitalismus und den Machismus, der heute weltweit die Gesellschaft ausmacht.
Die Wahlmöglichkeit der Frauenbewegung bleibt die der Frau, zu entscheiden, dass sie eine Frau sein will. Wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass der Ort der Frau vom Patriarchat und vom Mann konstruiert wurde. Der Mann definiert und er erlaubt, ob dieser Ort sich verändern kann oder nicht. Er erlaubt oder erlaubt nicht, dass heute für ,Ni una menos’ protestiert wird, er erlaubt heute, dass unsere Schwarze Bevölkerung nicht mehr verschleppt und versklavt wird und ob sich Bedingungen ändern.
Dass aber heute in meinem Land immer noch Menschen umgebracht werden, geschieht aufgrund eines systemischen Paars aus dominierendem Mann und funktionaler Frau. Und sogar die Frauen, der Feminismus und die Bewegungen, die aus der weiblichen Subjektivität heraus etwas schaffen wollen, sind immer noch zwingend notwendige Komplizinnen dieses systemischen Paars. Und solange, wie sie sich nicht aus dieser Illusion der obligatorischen Heterosexualität befreien, tun sie so, als ob sie keine Verantwortung dafür tragen würden, funktional für und mitschuldig an einem System zu sein, das tötet.

Können Sie genauer erklären, inwiefern die obligatorische Heterosexualität gescheitert ist und Tod produziert?
Das ist so offensichtlich, dass ich nicht weiß, was ich euch daran noch erklären soll. Ich könnte euch von religiösen Bewegungen erzählen, ganz beispielhaft von der katholischen Kirche mit ihrer Geschichte der Hexenverbrennungen und der Inquisition, Verbrechen, für die sie sich nie entschuldigt hat. Der Mittlere Osten ist ein permanenter Kriegsherd, der Imperialismus produziert immer weitere Tote. Und es regiert der Heterosexismus, um Kinder zu bekommen, ohne dass es irgendjemanden interessiert, ob diese Kinder auf dem Müll landen. Wir sehen nur zerstörte Kindheiten. Wir sehen die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung – Benetton kommt und kauft ein Stück Land und lässt Hunderte Mapuche umbringen; Wichis werden vertrieben, weil neues Soja angebaut werden muss, die Menschen werden mit Glyphosat vergiftet. Die heterosexuelle Welt definiert sich also über das Scheitern und den Tod. Die Diktaturen in Lateinamerika, die 30 000 Verschwundenen in Argentinien, die weiteren in der heutigen Demokratie – all diese Toten! Die Frauenmorde in Mexiko, die Kinder in der Produktion, bei den Paramilitärs der Drogenkartelle…
Die Heterosexualität ordnet die Welt auf diese Art und Weise. Wir verstehen nicht, dass wir euch, die Heterosexualität, Patriarchat und Kapitalismus aufrechterhalten, immer noch erklären müssen, dass ihr versagt habt und sehenden Auges Tod produziert.

Was sind unsere Möglichkeiten, die kulturell besetzten Machtbeziehungen zwischen Mann und Frau und die damit verknüpften konstruierten Identitäten zu ändern?
Der Mann ist heute Herr des Hauses und ihm gehört die Hegemonie. Egal ob das daher kommt, weil er Kapitalist, Patriarch oder Imperialist ist. Und er sagt: ‚Du bist Frau, du bist Travesti, du bist eine Schwuchtel, du bist homosexuell, du bist indigen, du bist, du bist, du bist.’ Und er definiert uns. Er definiert sich nicht selbst. Wir, der Rest der entwerteten Subjekte, definieren diesen Mann. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert ihre sekundäre Rolle. Wenn wir Travestis davon sprechen, trans zu sein, geht es um eine politische Position, da wir dieses systemische Paar verlassen.
Auch heterosexuelle Männer und Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen können trans sein, hinsichtlich einer neuen Kondition, die eindeutig politisch ist. Das bedeutet, sich nicht in diesem Binom und nicht in diesen alleinigen Kategorien von Mann und Frau zu denken – die außerdem von jeglicher Seite völlig widerlegt sind, auch von der Natur. Weil wir alle aus der Natur kommen, wir sind Intersexuelle, wir sind Lesben, Schwule, Heterosexuelle oder was auch immer. Außerdem handelt es sich um Konstrukte, in denen wir sehr viel mehr aufgrund der Unterdrückung, als aufgrund der Natur festgefahren sind. Der Gebrauch des Wortes Natur wird für Unruhe sorgen, da die Rechte es benutzt, um zu definieren, was natürlich ist. Oder es wird gesagt, dass Gott befiehlt, Mann oder Frau zu sein. Das ist eine völlige Lüge. Der natürliche Charakter des Menschen ist es, sich selbst und die Welt um ihn herum zu verändern, zu transformieren. Wir sind natürlicherweise kulturelle Wesen.

Was ist der politische Ansatz des Travestismo?
Unser Travestismo ist ein politischer Diskurs, wir berufen uns ganz klar auf die Menschenrechte. Wir sind Subjekte ohne jegliche Verhandlungsmacht. Aus dieser ,Unmacht‘ heraus verhandeln wir. Warum müssen wir immer noch fordern, das wir nicht gesteinigt, nicht umgebracht, nicht verhaftet, nicht verfolgt werden? Wenn das doch etwas Wesentliches des Menschlichen ist? Warum müssen wir darüber diskutieren, dass ich aufgrund meiner Geschlechter-identität nicht diskriminiert werden darf, dass mir keine Rechte verwehrt werden dürfen?
Aufgrund dieser schlimmen Erfahrungen tut es uns weh, dass der Feminismus so lange braucht, um klarzukriegen, ob Travestis nun Feministinnen sein können oder nicht, ob sie bei den Frauentreffen dabei sein können oder nicht. Es tut uns weh, dass viele emanzipatorische Bewegungen nicht den Anstand haben, die Türen nicht vor uns zu verschließen. Die Travesti-Bewegung in Argentinien bringt das Konzept ,Trans’ als politische Möglichkeit vor, wo alle hineinpassen, die aus dem obligatorischen Heterosexismus entflohen sind. Für mich ist ,Trans‘ ganz klar die Möglichkeit einer politischen Identität. Wie andere sagen würden rechts, links, demokratisch, republikanisch oder wie auch immer. All diese Politik ist alt und abgelaufen und hat ihr Scheitern in der Realität gezeigt.

Ihr sucht nach einer „anderen Art Weiblichkeit“. Wie soll die aussehen?
Wir gehen in einem radikalen Sinn in Richtung Weiblichkeit. Aber eine Weiblichkeit, die sich mächtig anfühlt und die sich nicht gemäß dem vorherrschenden Paradigma konstruieren muss. Nicht diese frauliche Weiblichkeit, hübsch sein zu müssen. Oder hässlich, dick, tätowiert zu sein, um intelligent sein zu können. Wir sind, wie wir sind. Jede will sein, wie sie sein will und in diesem Sein-Wollen, gebe ich dem Männlichen keinen Deut Macht. Ich bin mit Penis geboren und mit dem Bewusstsein erzogen worden, dass mein Phallus meine Macht bedeutet. Die Situation der Unmacht entsteht nicht dadurch, mich der Identifikation mit dem Maskulinen verweigert zu haben. Ich streite nicht ab, dass es Gewalt gibt, aber ich akzeptiere es nicht, abgewertet zu werden. Es gibt immer noch Frauen, die das zulassen.
Wir ertragen die Gewalt, aber trotzdem sind wir uns unseres Wertes absolut bewusst. Deswegen werden wir nicht unsere Träume und unsere Wünsche zurückstellen. Wir verhandeln nichts. Wir sind in der Welt und wir gehen nach vorne. Die männliche und weibliche Welt will uns auf die Straße setzen, uns umbringen, uns angreifen, uns Entwicklungsmöglichkeiten nehmen – ok. Das ist euer Ding. Ich bin das, was ich in dieser völlig gescheiterten und gewalttätigen Welt sein kann, die von Männern und Frauen in ihrem dichotomen heterosexistischen Paradigma geschaffen wurde. Diese Welt hat nichts mit Menschlichkeit im tieferen Sinne zu tun.
Diese andere Weiblichkeit, die wir suchen, wäre eine wirklich starke Weiblichkeit. Mit der Kraft des absoluten Wissens, das sein zu können, was wir sein wollen, ohne das Männliche zu imitieren. Das wäre, eine menschliche Margaret Thatcher zu sein, eine menschliche Condoleeza Rice, Merkel und CFK (Cristina Fernández de Kirchner) – welche politische Person auch immer. Und dabei absolut kohärent mit dem, was wir sind.

Was ist euer Gegenentwurf für hegemoniale Identitäten und Beziehungen?
So etwas wie das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Erst als die Kinder in ihrer Unbedarftheit sagen, dass der Kaiser nichts anhat, merken plötzlich alle, dass sie von den Schneidern belogen worden sind. Sehr intelligent übrigens. Unser Gegenentwurf will die Gewalt sichtbar machen, die in dieser Welt Schritt für Schritt produziert wird.
Es wird überall gemordet, aktiv, indem mit Kriegsmaschinerie losgezogen wird, oder passiv, indem in Rindfleisch für wenige investiert wird, statt in Nahrungsmittel für alle. Wir erlauben, dass Kinder verhungern, dass es Sextourismus gibt und Vertreter der UNO und Militärs verschiedener Länder unsere Kinder prostituieren, wir erlauben Gewalt in Häusern, Schulen, Medien. Wir erlauben, dass die Gewalt sich in jedem Augenblick produziert und reproduziert. Wir ignorieren, dass es unser Ziel in der Welt ist, uns, Subjekte und Gesellschaften mit Vertrauen zu reproduzieren. Diese sollten frei von Gewalt, Armut und Demütigung sein. Das ist das, was das heterosexuelle, kapitalistische und patriarchale System produziert, mit dem wir alle so beschäftigt sind.

Was sind deine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft?
Ich würde mir so wünschen, dass die Kinder, die in diese Welt kommen, in eine Welt kommen, in der alle Unterschiede in einer Umarmung aufgenommen werden können. Die Differenz zu radikalisieren und in dieser Differenz zu verstehen, dass die juristische, soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit radikal und intrinsisch notwendig ist. Da können wir eine Utopie erschaffen, in der wir eine Politik der Menschlichkeit im tieferen Sinne schaffen. Wo niemand seinen Körper, seine sexuellen Praktiken oder seine Formen, Beziehungen zu führen, ins Spiel bringen muss. In der wir uns einfach auf wirklich demokratische Weise neu erfinden.

AKT DER BEFREIUNG

1968, zur Hochzeit der ultrakonservativen Regierungen und Militärregimes in Lateinamerika, begann ein verbotener und verrufener Film, sich über den Kontinent zu verbreiten. La Hora de los Hornos („Die Stunde der Feuer“) [ursprünglich als „Die Stunde der Hochöfen“ übersetzt, Anm. der Red.] wurde in geheimen Aufführungen, in Stadtteilorganisationen, Gewerkschaften, Kirchengemeinden, Privathäusern, Schulen und Universitäten gezeigt. Jede Filmvorführung war ein Akt des Widerstandes, der sich an Aktivist*innen, Mediengruppen oder studentische und politische Führungspersönlichkeiten richtete. Sie kamen zusammen, um den Film zu sehen und dabei über künftige Strategien zu diskutieren. Nicht nur die Vorführenden, sondern auch die Teilnehmenden setzten sich der Gefahr aus, festgenommen und wegen subversiver Aktivitäten angeklagt zu werden. Die Filmrollen wurden in Kellern, Lagern oder Garagen versteckt. Während die staatliche Repression umgangen werden musste, perfektionierte sich der Vertrieb. In den ersten fünf Jahren sahen schätzungsweise mehr als 250.000 Zuschauer*innen den Film. In diesem alternativen Vorführungssystem mit rund 50 zirkulierenden Kopien von La Hora de los Hornos wurden auch andere Produktionen des revolutionären lateinamerikanischen Kinos gezeigt. Erst im Jahr 1973 konnte der Film in Kinosälen vorgeführt werden.

Doch die Aufhebung des Verbots war nur von kurzer Dauer. Nach dem argentinischen Militärputsch von 1976 konnte La Hora de los Hornos erneut nur unter großer Gefahr im Untergrund in geheimen und verbotenen Aufführungen gezeigt werden. Die Mitglieder der Gruppe Cine Liberación (Befreiungskino), die den Film gedreht und produziert hatten, mussten ins Exil. Viele verschwanden gewaltsam aufgrund der entfesselten staatlichen Repression dieser Jahre. Erst 1989, 20 Jahre nach seiner Fertigstellung, kehrte der Film in die argentinischen Kinosäle zurück.

La Hora de los Hornos ist eine vierstündige Trilogie aus voneinander unabhängigen Filmen, die aber ein Leitmotiv zusammenhält: Abhängigkeit und Freiheit. Es geht um die soziale und politische Situation Argentiniens in den Jahren 1945 bis 1968, verbunden mit einem Aufruf zur Aktion und zum Kampf gegen den Neoliberalismus. Versatzstücke aus Literatur, Aufrufe zum Kampf, Filmaufnahmen der gesellschaftlichen Realität der unteren Klassen, historische Einordnungen und Archivmaterial von Fidel Castro, Che Guevara, Mao Zedong und Juán Perón wurden zu einer Collage montiert. Die häufig eingeblendeten Zitate und Überschriften erzeugen einen atemlosen Rhythmus. Der Film ist zugleich theoretischer Essay, stilistisches Avantgardewerk und revolutionäres Propagandamaterial. Von Anfang an war ein offenes Werk beabsichtigt, in das nachträglich neue Sequenzen eingebunden werden konnten. Das war schon dem historisch unvollendeten Charakter der Thematik geschuldet. So war es – selbst als der Film eigentlich schon fertig produziert war – möglich, weitere Interviews und Reportagen einzufügen. Aus diesem Grund sprachen die Macher von La Hora de los Hornos auch nicht von einem Film, sondern von einem „Akt“ – einem Akt der Befreiung.

Die Arbeit an der revolutionären Filmfront war aber nicht nur gefährlich, sondern auch extrem aufwändig. Eine Produktionsfirma war in Zeiten der Staatszensur ebenso unmöglich aufzutreiben wie ein professioneller Vertrieb. Das machte die Filmproduktion zu einem langwierigen und arbeitsintensiven Vollzeitjob, der nur mit extremem Idealismus und Learning-by-Doing umzusetzen war. Der Dreh von La Hora de los Hornos erforderte drei Jahre Arbeit. Seine Macher, Fernando „Pino“ Solanas und Octavio Getino, reisten dafür mehr als 18.000 Kilometer durch das Land und nahmen 180 Stunden Material auf. Außerdem durchforsteten sie Filmarchive, Museen, Kinematheken, stellten Statistiken staatlicher und privater Organisationen zusammen und recherchierten Hintergründe in aktuellen lokalen und internationalen Medien. Solanas selbst sagt heute, er könne diese Arbeitsweise niemals mehr in dieser Form durchhalten. Gedreht wurde größtenteils auf 16-Millimeter mit Kameras von Bolex oder Beaulieu. In den Laboratorios Alex in Buenos Aires wurde der Film geschnitten und auf 35 Millimeter erweitert, für die Überspielung mussten die Filmrollen jedoch außer Landes – nach Rom – geschmuggelt werden. Bei Ager Film, der Produktionsfirma des Regisseurs Valentino Orsini und der Brüder Taviani, die später mit ihren Filmen Preise auf den großen Festivals in Cannes und Berlin gewinnen sollten.

Einmal exportiert und fertiggestellt, ließ der Erfolg von La Hora de los Hornos nicht lange auf sich warten. Die erste öffentliche Aufführung fand am 2. Juni 1968 auf dem Filmfestival Mostra Internazionale del Nuovo Cinema in Pesaro (Italien) statt, wo er erstmals einen Preis gewann. Es folgten weitere Preise auf zahlreichen Filmfestivals. Heute zählt ihn die internationale Kritik zu den Klassikern des politischen Dokumentarfilms; unter anderem wird er mit dem legendären russischen Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin verglichen. La Hora de los Hornos wurde in 70 Ländern von schätzungsweise 40 Millionen Zuschauer*innen gesehen. Der Film wurde auf der ganzen Welt zu einem Symbol für den Kampf der Generation der 1960er und 1970er Jahre. Und er bleibt aktuell: Im Mai ist Solanas in Cannes eingeladen, um den Film auf dem dortigen Festival in der Sektion „Retrospektiven“ erneut zu zeigen; zusammen mit Werken von Bergman, Welles, Kubrick, Hitchcock und anderen, die in Cannes entdeckt wurden und heute zu den Klassikern des Weltkinos gehören.

Das internationale Interesse verschaffte La Hora de los Hornos erneut eine große Bekanntheit in Argentinien, wo der Film verboten und verleumdet worden war. Er rückte wieder ins Bewusstsein eines großen Teils der Aktivist*innen und politischen Kämpfer*innen, die begannen, neue Vorführungen zu organisieren, und dies bis heute tun. Dass La Hora de los Hornos immer wieder veröffentlicht, verboten und wieder gezeigt wurde, ist kein Zufall. Denn er ist nicht als abgeschlossenes Kunstwerk, sondern als Prozess zu begreifen. Oder, um es mit den Worten von Solanas auszudrücken: „Der Film ist durchaus noch nicht beendet, wenn man bedenkt, dass ein aktuell-geschichtlicher Film kein Ende haben kann. Er wird erst enden, wenn wir die Macht haben, wenn die Revolution stattgefunden hat.“

 

SOJAMEER STATT PFIRSICHBÄUME

Grünes Meer soweit das Auge reicht. Millionen Hektar Sojaplantagen bedecken das Land und auch wenn Argentiniens Soja-Problematik ökologisch interessierten Menschen geläufig sein mag, wurde sie selten so plakativ und geballt vorgeführt, wie in Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die verseuchten Dörfer).

Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Sojabooms in Argentinien, die gefeierten Anfänge, die Entwicklung, die extremen Folgen. Dafür reist Regisseur Fernando „Pino“ Solanas durch verschiedene Provinzen Argentiniens und widmet sich der dortigen Sojaproduktion und den damit verbunden Problematiken – es geht um Entwaldung, Vertreibung von indigenen Gemeinden, Landflucht, Binnenmigration. Aber auch um Agrobusiness, transnationale Verflechtungen, Patentrechte, die extremen gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und Rückstände von Pestiziden in Flüssen, in Böden, im Gemüse, in Blutanalysen.

So reist das Team von Pino Solanas in die Provinz Salta, trifft dort auf Wichi-Communities, die mit Pflanzenschutzmittel geradezu „bombardiert“ und von Gebieten, in denen sie über 200 Jahre ansässig waren, vertrieben werden, da diese als Sojaanbaugebiete genutzt werden. Oder nur noch eingezäunt in Arealen leben, weil Straßen und Zugangswege bereits privatisiert sind. Solanas besucht ländliche Schulen, über die die Sprühflugzeuge ohne Beachtung vorgeschriebener Distanzen hinwegfliegen; Dörfer, in denen überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken oder mit Missbildungen geboren werden und Gemeinden, in denen Kinder sterben, weil sie pestizidverseuchten Flüssen gespielt haben.

„Es gibt kein Leben, keine Insekten mehr“, beschweren sich Landwirt*innen in Entre Ríos, nur ein kleines „subversives Unkraut“ finden sie, das ob des Einsatzes der Pestizide überlebt hat. Hunderttausende Menschen haben das traditionelle Campo und die Arbeit in der Landwirtschaft verlassen. Dabei galt das genmanipulierte Saatgut zu Beginn des Sojabooms als Zeichen der Modernität. So weit ging der Fortschrittswahn, dass alles, was nicht genmanipuliert war, als rückständig, ja fast schon reaktionär galt. Doch nach dem Boom kam der Fall und die Krise nach dem Preisverfall auf dem Weltmarkt trieb hunderttausende abhängige kleine Produzent*innen in den Ruin. Was geblieben ist, ist eine Landwirtschaft ohne Landwirt*innen (gepflanzt wird nur noch übers Telefon), Quantität ohne Qualität, verlassene Bauernhöfe, verwaiste Schulen, abgeholzte Bäume und Wälder, Erinnerungen an Pfirsichbäume, wo nun Sojameere wachsen.

Solanas Film ist dicht, fast etwas erschlagend und vor allem deprimierend. Die Wörter „traurig“ und „machtlos“ fallen oft in den Interviews und wirken fast alternativlos angesichts einer Rhetorik in der Regie, die oft an Kriegsszenarien erinnert und vom Soja wie von einem übermächtigen Feind spricht, von Invasion, Überfall, Bombardierung, Zerstörung.

Eindeutig kommen alle Beteiligten des Films zu dem Schluss, dass diese Form der Landwirtschaft nicht den versprochenen Fortschritt gebracht hat, sondern den größten Rückschritt für ihr Land bedeutet. Und suchen daher wieder nach Alternativen zum Sojamodell, die im Film auch nicht zu kurz kommen. So entdecken sie heimische Gemüsesorten wieder neu, erzählen von Mischwirtschaft und Biohöfen, von Protesten der betroffenen Dorfgemeinschaften und wissenschaftlichen Studien an Universitäten und aus medizinischer Forschung. Diese belegen die Zusammenhänge zwischen dem Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat und den gestiegenen Zahlen an Krebserkrankungen, an Allergieleiden und schweren Missbildungen.

Viaje a los pueblos fumigados ist der achte Dokumentarfilm des argentinischen Filmemachers und grünen Politikers Fernando „Pino“ Solanas. Bereits im Jahr 2004 hatte Solanas einen Goldenen Bären für seinen Film Memorias del Saqueo gewonnen. Viaje a los pueblos fumigados läuft in der diesjährigen Berlinale im Programm Berlinale Special, das außergewöhnliche Filmpersönlichkeiten ehrt.

Pino Solanas als die besondere Persönlichkeit, die er ist, ist dann auch durchweg präsent im Film, meist kommt er im Auto (immer in verschiedenen) an seine Schauplätze gefahren, zeigt sich hinter und vor der Kamera, baut Nähe zu seinen Interviewpartner*innen auf, indem er sie immer mit Vornamen anredet und mit ihnen Mate trinkt. Jedenfalls ist er immer im Bild. Die Nähe aber ist spürbar, seine Protagonist*innen schätzen Pino und vertrauen ihm, er ist ein willkommener Gast, ein Freund, ein angesehener Aktivist.

Durch die entsättigten Farben der Aufnahmen, erinnert die Bildsprache an die 70er Jahre, was ästhetisch (und manchmal leider pathetisch) wirkt, aber vielleicht der Aktualität und Brisanz des Materials entgegenwirkt. Denn so scheint es fast, als ginge es um längst vergangene Kämpfe und könnte darüber hinwegtäuschen, dass diese bodenlosen Dummheiten in den letzten Jahren geschehen und immer noch aktuell sind.

Was der Film deutlich macht, ist die Abwesenheit des Staates, die fehlende Kontrolle der Politik. Keine Politiker*innen kommen zu Wort, niemand, der*die die (fehlende) Politik zu rechtfertigen sucht. Alle noch so extremen Konsequenzen der Sojaproduktion werden verleugnet oder verschwiegen. „Alle wissen es, aber niemand spricht darüber“, ist der Tenor, der zuletzt auch durch Bilder jener, die diese Katastrophe zu verantworten haben, emblematisch wird: stumme Präsident*innen und Minister*innen, die nur als Fotografien eingeblendet werden und nicht sprechen. Ob sie nicht wollten oder nicht durften, bleibt unklar.

Viaje a los pueblos fumigados ist zugleich Zeugnis und Anklage. Zeugnis einer, wie Solanas sagt, sozio-kulturellen und politischen Krise seines Landes und eine Anklage gegen Kontrollbehörden und Politiker*innen, die die Zerstörung der Ökosysteme und Beeinträchtigung der Gesundheit durch Pflanzenschutzmittel und Pestizide zulassen. Es ist ein Film, der vor allem auch in Argentinien gesehen werden sollte.

 

Viaje a los pueblos fumigados lief im Berlinale Special und ist vielleicht bald in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

STILVOLL STEPPEN IN SCHWARZ-WEIß

Wer gewinnt, muss aufhören. Das ist eines der ehernen Gesetze beim Malambo, einem dem Flamenco nicht unähnlichen Tanz aus Argentinien, der völlig ohne Gesang auskommt und ausschließlich von Männern praktiziert wird. Einmal im Jahr findet ein großer Wettbewerb statt. Der Sieger erntet großen Ruhm, darf danach aber nie mehr bei Turnieren antreten, sondern nur noch andere Tänzer anleiten und ausbilden.

Auch Gaspar träumt den großen Traum, den Wettbewerb der besten Malambistas zu gewinnen. Aber seine Voraussetzungen sind schlechter als bei seinen Konkurrenten: Er hat hartnäckige Rückenschmerzen und das beeinträchtigt ihn beim Üben für die körperlich sehr anspruchsvolle Performance unter Anleitung seines extrem fordernden Trainers Fernando sehr. Deshalb ordnet Gaspar alles seinem großen Traum unter. Er trainiert wie ein Verrückter, schwimmt und macht Wärmebehandlungen, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Er ignoriert sogar Flirtversuche seiner Physiotherapeutin. Doch seine Verbissenheit und sein Hass auf den Gegner, der ihn beim letzten Turnier besiegt hat, sind für seine Ziele nicht nur förderlich.

Malambo – El Hombre Bueno ist eine sauber und mit viel Herz erzählte Charakterstudie. In stilvollen Schwarz-Weiß-Bildern bleibt der Film sehr dicht an seinem zutiefst sympathischen Protagonisten Gaspar, seinen Zweifeln und Hoffnungen. Obwohl der Hauptdarsteller Gaspar Jofré auch im wirklichen Leben Malambista ist, ist der Film keine Dokumentation. Trotzdem wird ein interessantes und faszinierendes Bild des hierzulande ziemlich unbekannten Tanzes vermittelt – viele schick anzusehende Tanzszenen inklusive. Regisseur Santiago Loza sagt zwar: „Ich mache Filme mit meinen Freunden und für meine Freunde!“ – in diesem Fall könnte es ihm aber außerdem glücken, auch ein weit entferntes Publikum für ein außerhalb Argentiniens weitgehend unbekanntes Phänomen zu interessieren. Sein Beitrag gehört dadurch genau zu der Art von Filmen, wegen derer Filmfestivals wie die Berlinale ursprünglich erfunden wurden.

Malambo – El Hombre Bueno lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama.

ECHT INSZENIERT

Wie gelingt es, einen argentinischen Film über den Falklandkrieg zu machen, ohne pathetisch zu sein, ohne anzuklagen, ohne Stellung zu beziehen? Ihren ersten Langfilm widmet die vor allem als Theaterregisseurin bekannte Lola Arias der Erinnerung an diesen fast vergessenen Krieg und zeigt darin ihre intensive Arbeit mit Kriegsveteranen bei den Proben zu ihrem Theaterstück Minefield, das im letzten Jahr in Argentinien und Europa zu sehen war. Zwar klingt ein Dokumentarfilm über ein Theaterprojekt nicht gerade nach einem sonderlich vielversprechenden Angebot. Aber Arias hat es mit Theatre of War (Teatro de Guerra) geschafft, aus diesem Stoff ein spannendes und berührendes Dokument zu machen, das statt in Klischees zu verfallen immer wieder neu zu überraschen vermag.

Die Protagonisten von Theatre of War sind sechs Veteranen des Kriegs um die Islas Malvinas bzw. Falklandinseln – je nachdem, aus welcher Position gesprochen wird. Der Krieg im Jahr 1982 zwischen Argentinien und Großbritannien um die besagte Inselgruppe im Atlantik, ca. 400 km östlich von Feuerland, kostete etwa 1000 Soldaten auf beiden Seiten das Leben. Nach zwei Monaten Nahkampf verlor Argentinien den Krieg auf den Malvinas – was den Anfang des Endes der argentinischen Militärdiktatur einläutete. Noch heute schwelt der Konflikt um die Inseln. In Großbritannien bald in Vergessenheit geraten, ist der Krieg und die Frage um die „rechtmäßige Zugehörigkeit“ der Inseln in Argentinien immer noch hoch aktuell und ein heikles Thema: „Die Malvinas sind argentinisch“ ist unter Argentinier*innen eine mindestens so unumstrittene Gewissheit, wie die, dass Maradona ein Heiliger ist. Und ein bitterernstes Streitthema, sollte jemand, vor allem Europäer*innen, Zweifel daran haben. Seither kämpfen die argentinischen Veteranen um Pensionen, soziale Sicherung und Anerkennung durch den argentinischen Staat und sind bald ebenso häufig gesehene Gäste auf der berühmten Plaza de Mayo wie die Madres derselben, die für die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur einstehen.

In Lola Arias Film Theatre of War, der nun bei der diesjährigen Berlinale im Forum läuft, treffen jeweils drei argentinische und drei britische Veteranen aufeinander. Heute Lehrer, Wachmänner, Gärtner oder Musiker zwischen Mitte 50 und Mitte 60, begegnen sie sich, um ihre Erinnerungen von vor über 35 Jahren zu rekonstruieren, als sie sich als junge Männer an der Front gegenüberstanden. Der Film arbeitet mit Nahaufnahmen der Protagonisten, mit Interviews, die sie noch näher kommen lassen, die Sympathie aufbauen und in denen die ehemaligen Soldaten zart wirken und verletzlich, traurig und berührend, lustig und skurril.

Die Veteranen erzählen aus ihrer Erinnerung, rekonstruieren sie mit Requisiten und Bewegungen, mit Messern, mit den Armen Maschinengewehre imitierend, kniend, in Montur – je nach Szene. Die Aufnahmen vermischen inhaltliche Erzählungen mit theatralen Aspekten, die wiederum dadurch aufgelöst werden, dass die Kamera den Ausschnitt vergrößert und die Zuschauer*innen die sich erinnernden, schauspielenden Veteranen im aufgebauten Set sehen: Mikros, Licht, Leinwand sind nun Teil des Spektakels, der Bühne, auf der die Veteranen ihre Erinnerungen durch Schauspiel erneut lebendig werden lassen. Und dabei so sehr darin versunken sind, dass sie im Spiel das Setting auf einmal verlassen, plötzlich zwischen den Mikrofonständern sitzen oder so sehr in Kampfbewegungen versunken sind, dass die Hintergrundleinwand verrutscht.

Was ist Text, was Erinnerung? Was ist geprobt, was spontan? Was genuin, was inszeniert? Alles verschwimmt und es wird unwichtig, zu wissen, was was ist – vielleicht ist auch immer beides beides. Zumindest wirkt es immer so, als könnte es beides beides sein.

Und das macht die Besonderheit dieses Films aus, einer, der einerseits so inszeniert ist und andererseits so echt. Vielleicht ist es diese ständige Grenzüberschreitung, die eine*n gebannt folgen und mitfühlen lässt, so z.B. die peinlich berührende Situation des ersten Treffens zweier ehemaliger Erzfeinde: argentinischer Soldat trifft auf englischen, Handschütteln, steifes Annähern in Spanglish oder einer auf Englisch, einer auf Spanisch. Alle reden aneinander vorbei, wo soll das schon hinführen? Die unbehagliche Steifheit überträgt sich durch die Kinoleinwand und die Situation wirkt genauso künstlich wie sie es in echt wohl wäre – oder vielleicht sogar noch künstlicher? Doch immer mehr mischen sich zaghafte, fast liebevolle Gesten unter den einzelnen Männern zwischen die Begegnungen. Trotz immer noch vorherrschender gegensätzlicher politischer Ansichten (war der argentinische Angriff nun eine Invasion oder eine Rückeroberung?) und Vorurteilen gibt es eine gewisse Verbundenheit von gemeinsamen Erfahrungen und Traumata, ein doch irgendwie geteiltes Leid. Irgendwann wird klar, wie wahllos und willkürlich Krieg ist und wie es am Ende für diejenigen, die an der Front kämpfen und darin ihr Leben lassen müssen, keine Rolle mehr spielt, wer Angreifer und wer Angegriffener gewesen ist. Alle sechs so unterschiedlichen Charaktere tragen die Erinnerungen auf verschiedene Weisen mit sich, als Narben auf den Körpern, als Bilder im Kopf, als Traumata oder Psychosen, als Steine von den Inseln in Koffern.

So begleitet man die Männer in nachgestellten, oft skurrilen Szenen in leere Schwimmbäder, Militärkrankenhäuser, Stützpunkte und Diskotheken, in denen die Schauspieler aber so echt wirken, dass sie die absolute Künstlichkeit des Settings konterkarieren. Allesamt Orte der Erinnerungen, diesmal verbunden mit Erinnerungen aus dem Leben nach dem Krieg. Einerseits scheint das Erlebte sie zu jagen, sie nicht ruhen zu lassen, andererseits scheinen sie Angst zu haben, zu vergessen. Und jede künstliche Szene wird durch Natürlichkeit aufgelöst und in jeder aufrichtigen Erzählung die Künstlichkeit bewusstgemacht. Es ist ein sehr durchdachter und perfekt inszenierter Film, auch die Sprachbarrieren, die gegenseitigen Vorbehalte, der Theateraspekt werden vorsorglich reflektiert, indem die Unbehaglichkeit der Männer im Schauspiel, im Aufeinandertreffen, in der Arbeit am Projekt zum Thema verschiedener verfilmter Unterhaltungen wird.

Letztlich übergeben die sechs Veteranen ihr gemeinsam erarbeitetes „Drehbuch aus Erinnerungen“ an „echte“, junge Schauspieler, die die vergangenen Ichs der Soldaten verkörpern und im Spiel ihre kollektive Erinnerung zu einer Geschichte werden lassen – vielleicht die Möglichkeit für die Veteranen, das Kriegstheater in Frieden zu verlassen.

 

Teatro de Guerra lief 2018 im Forum der Berlinale.

BLEISCHWERE JUGEND

Eine Gruppe von Jugendlichen streift auf ihren aufgemotzten Fahrrädern durch die Straßen einer argentinischen Kleinstadt. Fast sind es noch Kinder, doch alle geben sich betont hart: fluchen, kein Bock auf Schule, kein Bock auf die Eltern.

Wer schon einmal in Lateinamerika war, wird sich sofort in diese frühabendliche Stimmung hineinversetzen können, wenn langsam das gelbliche Licht der Straßenlaternen die kleinen Gassen ausmalt und der Feierabendverkehr dichter wird. Darío Mascambroni wählt diese Szenerie als Schauplatz für die Geschichte des 14-jährigen Tomás.

Am Tag, an dem der Mörder seines Vaters aus dem Gefängnis entlassen werden soll, ist Tomás bereit, ihn mit einer geladenen Pistole im Schulrucksack zu empfangen. Doch ist es weniger Rachsucht, die ihn antreibt, als vielmehr das Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung, in der ihn umgebenden Welt von Intrigen und Unausgesprochenem, seinen Platz einnehmen zu müssen. So trägt er nicht nur die Last der Pistole mit sich herum, sondern auch die der Gewissheit, dass es jetzt an der Zeit ist, erwachsen zu werden und wie ein Mann zu handeln. Immer wieder wird diese Trennlinie gezeichnet: Erwachsenenangelegenheiten in der Erwachsenenwelt; Kinderangelegenheiten in der Kinderwelt. Insgesamt ist die Stimmung bedrückend, aufgeladen, oft gewaltvoll – eine Realität, von der man vermutlich behaupten würde, sie sei nicht für Kinder gemacht. Und so wird den Zuschauenden schnell klar, dass es sich um eine Farce handelt, wenn Tomás Mutter und alle anderen Erwachsenen davon ausgehen, die Jugendlichen bekämen nichts mit und verstünden nichts. Tomás versteht sehr wohl, dass es sich um ein Netz aus Lügen und Halbwahrheiten handelt, dass seit dem Tod seines Vaters um ihn herum gesponnen wurde, vermeintlich, um ihn zu schützen. Er kann nicht länger warten, muss endlich herausfinden, wer sein Vater war und warum man ihn tötete.

In Mochila de Plomo werden die Gedanken und Konflikte der Jugendlichen in den Mittelpunkt gerückt – Gefühle, die sonst meist im Verborgenen bleiben. Mascambroni zeichnet dabei auch ein bestimmtes Bild von Männlichkeit und männlichen Verhaltens. Die ehemaligen Freunde von Tomás‘ Vater treffen sich im Fußballverein, um sich zu betrinken und die Rückkehr des Mörders und ebenso geschätzten Vereinsmitgliedes aus dem Gefängnis zu besiegeln. Die älteren Brüder von Tomás‘ Freunden schrauben an Motorrädern und rasieren den Jüngeren stylische Muster ins Haar. Die einzigen beiden weiblichen Figuren werden auf ebenso stereotype Geschlechterrollen festgeschrieben. Zunächst ist da Tomás‘ angeheiratete Tante, die – schwanger, spießig und mit sich selbst beschäftigt – mit den Geschichten ihres herumstreichenden, von der Schule suspendierten Neffen, nichts zu tun haben will. Und dann gibt es noch seine Mutter. Diese schlägt ins andere Extrem: Nach den langen Nächten, die sie mit einem jüngeren Typen verbringt und in seinem schicken Auto von Bar zu Bar zieht, verschläft sie die Tage und vernachlässigt ihren Sohn. Auch diese scheinbar undurchdringbar starren Rollen sind es, die ein Gefühl von Unbehagen hinterlassen. Mochila de plomo dauert nur 65 Minuten, doch werden viele Fragen angestoßen: Darüber, wer wann authentisch handelt und spricht oder aber nur eine Rolle spielt und darüber, ob sich dies überhaupt so einfach unterscheiden lässt.

Mochila de plomo lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation Kplus.

LEG DICH NICHT MIT DEN ALTEN AN!

Fotos: Nacho Yuchark / Iavaca.org

Die Bilder ähneln sich, die Lage des Präsidenten nicht. Im Dezember 2001 waren die gewaltsamen Proteste gegen den damaligen Präsidenten Fernando de la Rúa der Anfang vom Ende seiner Amtszeit. De la Rúa flüchtete noch am 21. Dezember desselben Jahres per Hubschrauber aus dem Präsident*innenpalast. Die schweren Ausschreitungen am 18. Dezember 2017 rund um die Verabschiedung einer Rentenreform zu Lasten der Rentner*innen werden Maurico Macri eine Warnung sein, das schnelle Ende seiner Amtszeit läuteten sie aber kaum ein. Darüber können auch die Gesänge der Demonstrant*innen à la „Macri, Macri, Macri, du wirst fliegend gehen wie De la Rúa” nicht hinwegtäuschen.

„Macri, leg Dich nicht mit unseren Alten an!“ „Nicht mit den Rentern!“, waren einige andere Slogans, die Demonstrant*innen vor dem argentinischen Parlament skandierten, in dem die Abgeordneten über die Reform des staatlichen Fürsorgesystems debattierten. Seit Beginn der Debatte im Parlament am 14. Dezember hatte es heftige und massive Demonstrationen aus Bündnissen sozialer Organisationen gegeben, die von den staatlichen Sicherheitskräften brutal zurückgedrängt wurden – ein vorläufiger Höhepunkt der sich immer mehr zuspitzenden Repression von sozialen Protesten unter Macris Präsidentschaft. Die Pressegewerkschaft von Buenos Aires SiPreBA und Menschenrechtsorganisationen forderten angesichts der sechs zum Teil schwer verletzten Journalisten durch staatliche Sicherheitskräfte während der Proteste den Rücktritt von Sicherheitsministerin Patricia Bullrich.

“Das ist der Moment, um Widerstand zu leisten!”

Die Entscheidung über die Rentenreform musste zunächst auf den 18. Dezember vertagt werden. Proteste und Repressionen gingen indes weiter. Am Entscheidungstag zogen Hunderttausende vor den Parlamentssitz auf die Plaza Congreso. Dabei kam es zu stundenlangen Straßen­schlachten. Beide Seiten agierten nicht zimperlich: Militante Demonstrierende griffen die vor dem Kongressgebäude positionierten Polizeieinheiten mit Steinen und Molotowcocktails an, die Polizei antwortete mit Knüppeleinsatz, Gummigeschossen und Tränengas – dabei blieben auch ältere Demonstrierende nicht verschont. Mindestens 162 Menschen wurden verletzt, darunter 88 Sicherheitskräfte. Bereits bei der ersten Lesung des Rentengesetzes eine Woche zuvor wurden Demonstrant*innen mit massiver Polizeigewalt vom Parlament ferngehalten, während drinnen Abgeordnete von Regierung und Opposition ihre Meinungsunterschiede teils handgreiflich austrugen.

Der Gewerkschaftsdachverband CGT hatte kurzfristig aus Anlass der Rentenreform zu einem 24-stündigen Generalstreik am 18. Dezember aufgerufen. Wichtige Einzelgewerkschaften folgten jedoch nicht: Während Flugzeuge am Boden blieben und die Nahverkehrsbahnen stoppten, floss der Busverkehr normal. Banken blieben geschlossen, doch im Baugewerbe und im Handel wurde normal gearbeitet. Auch die Gewerkschaft der Staatsbediensteten UPCN schloss sich dem Streik nicht an.


Die lautstarken Proteste waren zwar unüberhörbar, dessen ungeachtet brachte Macri auch ohne eigene Mehrheit seines Mitte-rechts-Bündnis Cambiemos die umstrittenen Rentenmaßnahmen durch das Parlament. Für das entsprechende Gesetz stimmten am 19. Dezember 128 Abgeordnete von Cambiemos und ihrer Verbündeten. Dagegen votierten 116 Abgeordnete, zwei enthielten sich der Stimme.

Was die Rentner*innen aufbringt, ist die neue Berechnungsformel. Wie sie sich langfristig auswirkt, ist in Expert*innenkreisen umstritten und vom Entwicklungspfad der Wirtschaft abhängig, kurzfristig ist die Wirkung glasklar: Bei der Neujustierung der Renten im März beläuft sich der Anstieg auf weniger als sechs Prozent, während mit der alten Formel 15 Prozent Erhöhung sicher gewesen wäre. Und selbst letztere läge weit unter der Inflationsrate, die vom Wissenschaftsinstitut der linken Gewerkschaft CTA Autónoma, dem IEF-CTA im Dezember 2017 auf 24,7 Prozent veranschlagt wurde, offiziell wird sie auf 23 Prozent beziffert.

Die neue Formel orientiert sich zu 70 Prozent an der Inflationsentwicklung und zu 30 Prozent an der Lohnentwicklung im formellen Sektor. Die Formel von 2009 ließ die Inflationsrate außen vor, die in den letzten Jahren der Kirchner-Ära offiziell verkündeten Inflationsraten nahm ohnehin niemand für bare Münze. Stattdessen wurde die Rentenformel hälftig an der Lohnentwicklung im formellen Sektor und der Entwicklung der Steuereinnahmen festgemacht. Mit der neuen Formel erhofft sich die Macri-Regierung Einsparungen von mindestens 60 Milliarden Pesos (rund 3 Milliarden Euro) pro Jahr. Allein daraus wird ersichtlich, dass das, was Rentenreform heißt, Rentenkürzung bedeutet: Sie betrifft 17 Millionen Empfänger*innen. Macri sieht das freilich anders, ihm geht es darum „die Rentner zu schützen. „Was wir gemacht haben, ist eine Rentenformel nicht für die nächsten sechs Monate oder ein Jahr zu garantieren, sondern für die kommenden Jahre, eine Formel, die die Rentner gegen das Schlimmste, was sie erlitten haben, schützt: die Inflation“, verteidigte Macri im Parlament die Maßnahme. Dessen ungeachtet sieht Macri in der Reform einen Schritt zur Reduzierung des Staatshaushaltsdefizits, das bei beträchtlichen sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Ähnlich wie bei der Rentenreform hat es Macri auch bei der Defizit­redu­zierung geschafft, lagerübergreifend Bündnis­partner*innen zu gewinnen. In einem Fiskalpakt mit den Provinzen haben sich die Gouverneur*innen verpflichtet, ihren Teil an Kürzungen beizutragen.

Frauen sind besonders betroffen von den Auswirkungen der Rentenreform, denn Möglichkeiten, wie sie vor der Reform bestanden, auch nicht bezahlte oder informelle Arbeit als Hausfrauen oder Hausmädchen als Pensionsansprüche geltend zu machen, sind gestrichen worden. Zudem wurde im Zuge der Reform das Kindergeld gekürzt, das in 99 Prozent der Fälle an Mütter ausgezahlt wird, die sich in prekären Situationen befinden.

“Macri, Macri, Macri, du wirst rausfliegen wie De la Rúa!”

Die Kürzungen werden nicht zuletzt die 30 Prozent der Armen an der Gesamtbevölkerung treffen, die die offiziellen Statistiken für Argentinien ausweisen.

So wie das Jahr 2017 endete, begann das Jahr 2018: mit Protesten. Landesweit legten am 4. Januar die Staatsangestellten die Arbeit nieder. Die Beamt*innengewerkschaft ATE und der Gewerkschaftsdachverband CTA Autónoma hatten dazu aufgerufen. Anlass ist der Stellenabbau im staatlichen und staatsnahen Bereich, der allein im Dezember 2017 zu 1200 Entlassungen geführt hat. Seit Macris Amtsantritt am 10. Dezember 2015 wurden im Staatssektor weit über 100.000 Angestellte auf die Straße gesetzt. Dass Macri den Forderungen, Stopp des Stellenabbaus und der Wiedereinstellung der Betroffenen, nachkommt, ist nicht zu erwarten.

Ein besonderes Augenmerk Macris gilt seit Amtsbeginn den staatlichen Medien. Beim traditionsreichsten Rundfunksender Argentiniens, Radio Nacional, begann die Entlassungswelle bereits im Januar 2016. Damals wurde der Nachrichten-Redaktion verboten, über die Massen-entlassungen im öffentlichen Dienst zu berichten. Wenig später wurde der Begriff „zivil-militärische Diktatur“ auf den Index gesetzt, obwohl dies der durch soziale Organisationen etablierte Begriff für die letzte Diktatur ist, um die fraglose Beteiligung der bürgerlichen Rechten deutlich zu machen. Künftig durfte nur noch von einer Militärdiktatur gesprochen werden. Insgesamt verloren mehr als 3.000 Journalist*innen in den ersten beiden Macri-Jahren ihre Arbeit. Dazu gehören auch die Angestellten der Nachrichtenagentur Diario y Noticias, die im vergangenen November geschlossen wurde.

„So wie alle neoliberalen Regierungen, die wir bisher erdulden mussten, haben auch sie es auf die öffentlichen Medien abgesehen. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern”, stellte Carlos Saglul, der Sekretär der SiPreBa, kürzlich fest.

Präsident Macri hält derweil unbeirrt an seinem neoliberalen Kurs fest und hat im Moment gute Karten, als erster nicht peronistischer Präsident in Argentinien seine Amtszeit im Dezember 2019 regulär zu beenden, wobei er noch eine zweite draufsetzen will. Beflügelt hat Macri das überraschend gute Abschneiden von seinem Bündnis Cambiemos bei den Parlamentswahlen im vergangenen Oktober, das angesichts der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, die weit hinter Macris vollmundigen Aussagen zu Amtsantritt zurückbleibt, nicht erwartet wurde. Mit Hochdruck will Macri nun die Reform der Arbeitsgesetze und des Steuersystems vorantreiben. Denn da er nach wie vor keine eigenen Mehrheiten im Kongress hat, muss er weiter mit oppositionellen Gouverneur*innen Übereinkommen schließen. 2019 in Zeiten des Vorwahlkampfes wird die Zusammenarbeit mit dem Kongress, Gouverneur*innen und Gewerkschaften deutlich schwerer.

Die Verhandlungen mit den Gewerkschaften und Gouverneur*innen sind bereits angelaufen. Die beiden zentralen Ziele sind eine Steuerreform und eine Deregulierung des Arbeitsmarktes, was wie immer auf einen Abbau der Rechte der Beschäftigten hinausläuft. Mit den Arbeitsgesetzen soll vor allem der informelle Sektor – ein Drittel des Arbeitsmarktes – schrumpfen. Mit geringeren Lohnnebenkosten sollen Unternehmer*innen animiert werden, reguläre Anstellungen anzubieten. Lohnnebenkosten sind bekanntlich die Beiträge zur Sozialversicherung, sinkende Lohnnebenkosten bedeuten in der Regel Sozialabbau.

Macris Steuerreform verfolgt dieselben Ziele wie jene von Donald Trump in den USA: Steuersenkung für die Unternehmen, in der Hoffnung, dass dann die Investitionen sprudeln. Klar ist, dass jedes Unternehmen eine Steuersenkung begrüßt, klar ist aber auch, dass Investitionsentscheidungen nicht von in der Vergangenheit gezahlten Steuern abhängen, sondern von den mit der Investitionsentscheidung erwarteten künftigen Gewinnen, wobei die darauf anfallende Gewinnbesteuerung nur einer von vielen Standortfaktoren darstellt.

Ob Macris Rechnung dieses Mal aufgeht, ist fraglich, seine erste Liberalisierungswelle gleich nach Amtsantritt im Dezember 2015 mit Freigabe des Wechselkurses, der Aufhebung der Agrarexportbesteuerung beziehungsweise der Senkung beim Soja, der Abschaffung der Steuern auf den Bergbau, haben die von ihm versprochene Flut bei Neuinvestitionen jedenfalls nicht ausgelöst.

Auch wenn die Konjunktur 2017 angezogen hat, die Wachstumsrate ausgehend von einer Rezession im Vorjahr knapp drei Prozent betrug und laut Prognosen 2018 sogar weiter zulegen könnte, wird der Widerstand gegen Macris Umverteilungspolitik von unten nach oben anhalten. „Das ist der Moment, um Widerstand zu leisten. Es gibt keine Verhandlungskanäle mehr. In der aktuellen sozioökonomischen Situation ist ein entlassener Kollege gesellschaftlich praktisch tot, denn es gibt keine Wiedereinstellung, sondern Entlassungen und Strukturanpassungen auch im privaten Sektor”, verkündete Ricardo Peidro von der CTA Autónoma in Buenos Aires während der Protestaktion im Januar. Mit dieser Auffassung steht Peidro nicht allein.

DIE EINSAME KUH

Den Anfang macht ein frühmorgendlicher Anruf in Buenos Aires. Von seinem Vater erfährt Federico Souza, dass Pajarito Lernú tot in einem Wassergraben gefunden wurde und ihm „einige Stunden vor seinem Tod eine Kuh geschenkt“ habe. „Das Tier ist in keinem guten Zustand, sagt er. Er hat es dem alten Soto geklaut.“ Also fährt der Drehbuchautor erstmals nach zwölf Jahren wieder nach Chivilcoy, sein Heimatstädtchen in der Provinz, wo früher einmal die Bahnlinie endete.

Nur einen kurzen Absatz braucht der argentinische Autor Hernán Ronsino, um die Leser*innen in seinen neuen Roman Lumbre („Glühen“) hineinzuziehen. Wer nun aber eine von den Rätseln um Lernús Tod und die mysteriöse Kuh getragene Spannungsgeschichte erwartet, wird überrascht. Zwar versucht der Erzähler Souza akribisch, den Umständen von Lernús Tod auf den Grund zu gehen. Doch Ronsino verwebt in diesen Rahmen unzählige Nebenstränge, die den vermeintlichen Hauptstrang an den Rand drängen. Immer wieder schweift der herumtreibende Souza in persönliche Erinnerungen ab, sei es an seine verstorbene Mutter, deren Grab er sucht, oder an seine in Buenos Aires zurückgebliebene Freundin Hélène. „Sich an etwas zu erinnern bedeutet, es – jetzt erst – zum ersten Mal zu sehen“, lautet einer der zentralen Sätze des Buches.

Seiner Heimatstadt begegnet der Erzähler mal liebevoll, mal distanziert. Er beobachtet präzise alltägliche Szenen, beschreibt die von latenter, struktureller Gewalt durchzogenen Lebensumstände und spickt seine Erinnerungen mit zahlreichen Anspielungen auf die argentinische Geschichte. Eine zentrale Rolle spielen die Aufzeichnungen des verstorbenen Lernú und ein verschollener Film über den modernistischen Dichters Carlos Ortiz, der 1910 in Chivilcoy ermordet wurde. Das Drehbuch hat kein geringerer als der große argentinische Schriftsteller Julio Cortázar verfasst, der in jungen Jahren eine Zeit lang als Spanischlehrer in Chivilcoy gelebt hat.

Lumbre ist der dritte Roman Ronsinos, der ebenso wie seine Vorgänger in dem Geburtsort des Autors angesiedelt ist. Auch die Figuren sind teilweise schon bekannt. So ist der Vater von Federico Souza einer der vier Erzähler aus dem meisterhaft konstruierten Kurzroman Letzter Zug nach Buenos Aires, der in deutscher Übersetzung ebenfalls im bilgerverlag erschienen ist.

Ronsino bedient sich filmischer Stilmittel und erzeugt starke Bilder. Nach und nach entsteht so ein großes gesellschaftliches Panorama, verortet in der Provinz im Jahr 2002, kurz nach dem Staatsbankrott Argentiniens. Von politischer Mobilisierung ist in Chivilcoy nichts zu spüren, aber der über Jahrzehnte vollzogene wirtschaftliche Niedergang ist allgegenwärtig. Sinnbildlich dafür fallen während der drei Tage die Getreidesilos des Ortes der Abrissbirne zum Opfer. Statt des einstigen Wohlstands bleibt nur eine einsame, gestohlene Kuh zurück.

KEINE ZEIT ZUM TRAUERN

Am 24. November wurde das abschließende Gutachten der Autopsie des gewaltsam verschwundenen Aktivisten Santiago Maldonado veröffentlicht. Seine Leiche war nach monatelanger Suche am 17. Oktober im Fluss Chubut gefunden worden. Das nun veröffentlichte Gutachten besagt, dass sein Tod durch Ertrinken hervorgerufen wurde, begleitet von Unterkühlung. Mit drei verschiedenen Methoden wurde berechnet, wie lange sich die Leiche vor dem Fund bereits im Wasser befunden hatte. Der Aktivist war am 1. August bei einer Protestaktion um Landrechte der Mapuche in der Provinz Chubut verschwunden und blieb 78 Tage vermisst. Je nach Methode wird davon ausgegangen, dass der tote Körper zwischen 53 und 73 Tagen im Wasser gewesen sein muss. Die Berechnung der Dauer ist wichtig, um herauszufinden, was vor seinem Tod passiert sein könnte. Denn trotz abgeschlossener Autopsie sind die Umstände seines Todes immer noch ungeklärt und es gibt keine Informationen darüber, was in den mindestens fünf Tagen geschehen ist, die zwischen seinem Verschwinden und seinem Tod liegen. Nach Abschluss der rechtsmedizinischen Untersuchung fordern die Familienangehörigen von Santiago Maldonado weiterhin eine unparteiische, unabhängige und umfassende Untersuchung, um ihren Forderungen nach Wahrheit und Gerechtigkeit für Santiago einen Schritt näher zu kommen. Der zuständige Richter Gustavo Lleral hatte zuvor eine unabhängige Untersuchungskommission abgelehnt. In den nächsten Wochen sollen neue Beweise aufgenommen werden.

Während der öffentlichen Trauerfeier für Maldonado in der Kleinstadt 25 de Mayo in der Provinz Buenos Aires verbreitete sich die Nachricht von einem weiteren Todesopfer im Kontext des gleichen Konflikts um die Besetzung von Mapuche-Gebieten im Süden Argentiniens. Der 22-jährige Rafael Nahuel wurde von Sicherheitskräften der Spezialeinheit „Albatros“ der argentinischen Marine während der Räumung einer Besetzung in der Nähe des Mascardi-Sees bei Bariloche von hinten erschossen. Nahuel war kein bekannter Aktivist, aber hatte sich ähnlich wie Maldonado mit den Protesten solidarisiert und war zur Unterstützung seiner Familie in die Gemeinde Lafken Winkul Mapu gereist. Der Mord fand im Rahmen einer mehrtägigen Operation staatlicher Sicherheitskräfte statt, bei der drei Tage zuvor bereits vier Frauen und fünf Kinder festgenommen worden waren. Am 25. November gab es neben dem Mordopfer zwei weitere Festnahmen von Aktivisten, die, nachdem sie vier Stunden an den bereits verstorbenen Nahuel angekettet waren, in Isolationshaft gesteckt wurden. Fausto Jones Huala und Lautaro González wurden am 27. November wieder freigelassen. Sonia Ivanoff, Mapuche-Anwältin und Vizepräsidentin der Vereinigung von Anwält*innen für indigenes Recht in Argentinien, sprach angesichts des erneuten Mordes von einer „Jagd auf Mapuche“, die von der Regierung als „Gefahr“ dargestellt würden. Im ganzen Land von Tucumán bis Bariloche gingen Menschen auf die Straße, um gegen den Mord von Rafael Nahuel und die Kriminalisierung der Mapuche zu demonstrieren.

Die Sicherheitskräfte und die argentinische Regierung erklärten wiederholt, dass der Mord an Rafael Nahuel eine Reaktion auf Beschuss durch die Besetzer*innen gewesen sei, konnten aber – genau wie im Fall von Santiago Maldonado – bisher außer selbst gefertigten Berichten keine Belege für diese These vorlegen. Aktivist*innen hingegen bestreiten diese Angaben und in Untersuchungen konnten keine Spuren von Schusswaffengebrauch an den Händen der Festgenommenen festgestellt werden. Auch der erste Autopsiebericht bestätigt, dass Nahuel von hinten erschossen wurde. An der Besetzung beteiligte Aktivist*innen wiederholen immer wieder, dass sie unbewaffnet gewesen seien. „Wir hatten Steine und Stöcke. Was hätten wir damit machen können? Eine Kugel tötet!“, so ein anonymer Sprecher der Gemeinde in der Zeitschrift Cítrica.

Schrei nach Gerechtigkeit für Rafael und Santiago (Foto: Voijf – lavaca.org)

Sicherheitsministerin Patricia Bullrich und Justizminister Germán Garavano reagierten mit einer Pressekonferenz, in der sie zu verstehen gaben, dass es Konsequenzen habe, wenn Personen gegen das Gesetz verstoßen würden. Der offene Zynismus mit dem Bullrich hier argumentiert ist mehr als nur grotesk: Im Landkonflikt wird systematisch und andauernd gegen internationale Konventionen und Gesetze auf Provinz- und Landesebene verstoßen. Die Version der Sicherheitskräfte sei die „Wahrheit“, und Beweise für das, was Sicherheitskräfte in einem Einsatz mit richterlichem Befehl machten, müssten nicht erbracht werden. Die Argentinier müssten lernen, dass Gewalt keine Lösung sei, so Bullrich. Gewalt geht allerdings vor allem von staatlicher Seite aus.

Die zunehmende Militarisierung Patagoniens durch die Gendarmerie zeigt die angespannte Stimmung in einem Konflikt, der unter dem argentinischen Regierungsbündnis Cambiemos noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Präsident Macris Regierung, die nach nur zwei Jahren Amtszeit schon zur autoritärsten Regierung der letzten 30 Jahre in Argentinien geworden ist, hat die Entscheidung getroffen, die Interessen großer Unternehmen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Denn es sind seine eigenen.

Unterstützung erhoffen sich die argentinischen Behörden mittlerweile auch von chilenischer Seite. Der argentinische Staatsanwalt José Gerez traf sich am 4. Dezember mit Amtsvertretern aus der chilenischen Provinz Araucanía, wo die Behörden schon jahrelange Erfahrung mit der Militarisierung und Repression gegen Mapuche-Aktivist*innen haben, um Informationen und Strategien auszutauschen. Die argentinische Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Besetzungen und andere Aktionen der Mapuche in Argentinien nur mit logistischer Unterstützung von Gruppen aus Chile haben stattfinden können. Das Treffen der Staatsanwälte verlief vorerst ergebnislos, allerdings erklärten beide Seiten, dass sie in Zukunft zusammenarbeiten würden.

„Bei dem Boden, den die Mapuche unter den Füßen haben, sind Millionen Dollar im Spiel“, erklärt die Mapuche-Aktivistin Moira Millán das starke Interesse in der Region in Anbetracht der Rohstoffe in Patagonien. „Aber es geht auch um eine ideologische Konfrontation. Es sind zwei konzeptuell verschiedene Welten, für die eine Welt ist das Privateigentum heilig, für die andere das Leben.“ Dass diese Logik anderen Teilen der Gesellschaft bewusst werden könnte, die dann die Ideen der Mapuche als Alternative erkennen könnten, um die Geschichte zu ändern, mache der Regierung Angst und daher konstruiere sie die Mapuche als inneren Feind der Demokratie. Millán spricht von einem „Zirkus der Demokratie“. Vielleicht ganz treffend, denn der zuständige Richter, der den Fall Nahuel untersuchen soll, ist Gustavo Villanueva, der auch den Befehl zur Räumung gegeben hat, die zu Nahuels Tod geführt hat. Villanueva zeigt sich auch verantwortlich für die Verhaftung eines anderen Mapuche-Aktivisten.

 

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