EINE ANDERE ART VON LEBEN?

© Eduardo Crespo


Ich wäre nicht auf die Erde gekommen, wenn ich gewusst hätte, wie kompliziert hier alles ist.“ Daniela ist sich sicher, dass das violette Alien im blauen Koffer nicht freiwillig hier ist. Die Sehnsucht nach der Heimat spielt aber nicht nur für das Alien eine Rolle, sondern für alle Protagonist*innen von Breve historia del planeta verde. Doch was ist eigentlich Heimat? Und für wen kann die Erde ein zu Hause sein?

© Eduardo Crespo
Nachdem 2018 Malambo – el hombre bueno auf der Berlinale zu sehen war, ist der argentinische Regisseur Santiago Loza auch dieses Jahr wieder dabei. Mit seinem „Road Movie zu Fuß“, hat er ein kraftvolles Porträt einer bedingungslosen Freundschaft geschaffen, das am Ende jedoch einige Fragen offen lässt und eine eher zweifelhafte Message aussendet.

Als Tanias Großmutter stirbt, macht sie sich gemeinsam mit ihren Kindheitsfreund*innen Daniela und Pedro auf den Weg, den letzten Wunsch der Verstorbenen zu erfüllen: das Alien, das die Großmutter in ihren letzten Jahren begleitet hat, zurück in seine Heimat zu bringen. Schwarz-weiß Fotos, die die Oma mit dem Alien in Alltagssituationen zeigen, als wäre es ein geliebtes Enkelkind, rühren die drei zutiefst. Sie folgen einer Karte der Großmutter, auf der Suche nach dem Ort, an dem das Alien die Erde zum ersten Mal betreten hat. Alle drei befinden sich in schwierigen Lebenssituationen und nutzen die Reise und die wohltuende Gesellschaft des Aliens, um zu neuer Kraft zu finden. Daniela hat gerade eine Trennung hinter sich, Pedro scheint depressiv, tanzen ist für ihn die einzige Möglichkeit, seiner Traurigkeit zu entfliehen. Die Trans*frau Tania wirkt zwar selbstbewusst, ist in Wirklichkeit aber zutiefst verletzlich.
© Eduardo Crespo
Konfrontiert mit den Schatten der eigenen Kindheit in der Kleinstadt, in der ihre Reise startet, wird trotz weniger und kurzer Dialoge deutlich, dass alle drei Traumata erfahren haben. Sie transportieren das immer schwächere Alien durch unwegsames Gelände, während Tania selbst mit Schmerzen zu kämpfen hat. Doch die beiden scheinen sich gegenseitig zu heilen. Überhaupt strahlen all diejenigen, die mit dem Alien in Kontakt kommen, im Anschluss eine tiefe Glückseligkeit aus. Fast scheint es, als sei das Anders-sein selbst eine Heilung von den Traumata des Anders-seins. Vielleicht ist das Alien aber auch einfach „zu gut“ für den grünen Planeten.
Die große Stärke des Films ist die intensive und spannungsvolle Musik, von Techno über melancholische, psychedelische Cumbia zu immer wiederkehrenden Piano Variationen, in Kombination mit den düsteren Bildern der Reise durch das ländliche Argentinien. Es ist kein Film zum Wohlfühlen, aber das macht nichts. Allerdings verstrickt die Geschichte sich jedoch gerade zum Ende hin in zumindest problematischen Analogien. Die Gleichsetzung von Trans*Personen mit Aliens ist möglicherweise eine Überinterpretation, gibt jedoch Grund zum Nachdenken. Während der Film darauf pocht, dass eine andere Art von Leben möglich ist, widerspricht er sich im Verlauf der Erzählung leider selbst. Das mag Absicht sein, hinterlässt aber einen bitteren Beigeschmack.
Nichtsdestotrotz hat Loza ein ästhetisch durchaus gelungenes Tribut an den „Alien in uns“ geschaffen, das von der intimen Verbindung der drei Protagonist*innen lebt, die bereit sind, alles füreinander zu tun – sogar loszulassen.

HEIMATSUCHE IM REGENWALD


Es ist die Suche nach etwas Verlorenem, nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft, die Ramira umtreibt. Die Protagonistin in Fern von uns hat Heimat und Familie vor Jahren zurückgelassen, und es wird schnell deutlich, dass ihre Beziehung zu beiden nicht positiv ist. Die Erinnerung an die Heimat verfolgt Ramira, deren provinzieller Charakter sie abschreckt. Nun kehrt sie dennoch zurück, und besonders schwierig gestaltet sich das hinsichtlich ihrer Wiederannäherung an Sohn Matteo, der bisher von Ramiras Mutter großgezogen wurde und von ihr entfremdet ist.

Auf erstaunlich unsentimentale Weise erzählen die Regisseur*innen Verena Kuri und Laura Bierbrauer den Prozess der Annäherung einer jungen Mutter an ihr eigenes Kind. Dieser ist durch kleine Fortschritte, wiederkehrende Rückschläge und auf der Stelle treten gekennzeichnet. Fast genauso schwierig ist Ramiras Beziehung zu den anderen Familienmitgliedern: Das Urteil der Älteren über ihr plötzliches Verschwinden und ihre Rückkehr fällt vorwurfsvoll aus, mit ihrer Mutter befindet sie sich in einem stillen Konkurrenzkampf um die Erziehung Matteos. Als Ramira ihr Kind wegen hohen Fiebers in die nächstgelegene größere Stadt bringt und dabei in Konflikt mit den örtlichen Behörden gerät, ist ihr Tiefpunkt erreicht, und es flackert Neid zwischen Mutter und Tochter auf.
Dass gerade die nordargentinische Provinz Misiones, ein zwischen Paraguay und Brasilien eingeklemmtes Stückchen Land, Schauplatz des Films ist, erweist sich mitnichten als Zufall. Bedingt durch mehrere Einwanderungswellen aus Europa und ihrer besonderen geographischen Lage erscheint die Region als kultureller Schmelztiegel. So ist es nicht nur Ramira, die bei ihrer Rückkehr mit ihren Wurzeln fremdelt, sondern ebenso ihre Familie, eine Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Den Zuschauer*innen offenbaren sich hochinteressante Einblicke in diese deutsche Gemeinschaft im Exil, die nach ihrer Flucht ein neues Zuhause gefunden zu haben scheint. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch ein gewisser, durch das Leben zwischen den Kulturen bedingter Identitätsverlust deutlich. Auch zwischen den Familienmitgliedern brodelt es aufgrund ungeklärter Landbesitzansprüche und der knappen Erträge bei der Sojaernte. Die Kühe – seit Jahren die Lebensgrundlage der Bauern – versinnbildlichen die familiären Beziehungen und werden wiederholt in die Bildsprache des Films einbezogen.
Ramiras zwiespältigen Gefühle zu ihrer Heimat werden von den Regisseurinnen in Fern von uns zu einem intensiven Farbteppich verwoben und dadurch den Zuschauer*innen gefühlsecht nähergebracht. Es gelingt ihnen trotz eines relativ gemächlichen Erzählrhythmus und des spärlichen Einsatzes von Musik, eine dichte Atmosphäre zu erzeugen. Angesichts der gleichzeitig intimen und doch fremden Beziehungen beschleicht die Zuschauer*innen selbst ein bedrückendes Gefühl. Nicht zuletzt ist Ramiras existenzielle Frage nach der Entfremdung von der eigenen Herkunft und der damit einhergehenden Entwurzelung des Ichs – kurz: nach Heimat – im Zeitalter der Globalisierung aktuell.

SPANNUNG UND TRAUER AM STRAND

Foto: © Volpe Films


Zwei junge Menschen kommen zu einem Haus in einer Küstenstadt. Es gibt nur ein Bett in dem Haus. Niemand will es benutzen, genausowenig wie das Bad, so als gäbe es etwas Unangenehmes, das die beiden nicht berühren wollten.

© Volpe Films

Los miembros de la familia die Geschichte der Geschwister Gilda (20) und Lucas (17), die in die Kleinstadt gekommen sind, um etwas für beide sehr Wichtiges zu erledigen: das Einzige, was ihnen von ihrer verstorbenen Mutter geblieben ist, ins Meer zu werfen.
Ihr Plan ist, dafür nur eine Nacht zu bleiben, aber aufgrund eines sich länger hinziehenden Busstreiks sind die Geschwister gezwungen, einige Tage gemeinsam in dem alten Haus ihrer Mutter zu verbringen. Mit der Zeit kommen alte Streitereien zwischen den beiden wieder zum Vorschein, Vorwürfe des Distanziertseins und der unterschiedliche Umgang der beiden mit dem Tod der Mutter.
Ständiger Nebel und weite Kameraeinstellungen der Küste symbolisieren in den Szenen mit Lucas die Öffnung einer sexuellen Suche, eine Suche, die weitere Personen einschließt, die in diesem Entdeckungsprozess langsam wichtig werden. Gilda wird ihrerseits in geschlossenen Räumen und aus einem etwas voyeuristischen Blickwinkel gezeigt. Als Zuschauer*in betrachtet man sie wie aus einer Ecke, ohne dass sie es merkt, so als ob man sie bespitzeln wollte um herauszufinden, was sie vor uns versteckt.

© Volpe Films

Die Spannung zwischen den Hauptpersonen ist während des größten Teils des Films zu spüren. Durch Abwesenheit jeglicher Musik und die Nahaufnahmen der traurigen und unzufriedenen Gesichter fühlt man sich als Zuschauer*in etwas unbehaglich und doch wie eine Person der Geschichte.
In seinem zweiten Spielfilm beschäftigt sich Regisseur Mateo Bendesky behutsam mit den Themen Heranwachsen und Trauer. Indem er die jugendliche Identitätssuche mit der Verarbeitung des Verlusts vermischt, taucht er uns in eine komplexe Welt der Gefühle und Empfindungen.

DEPRIMIERT VS. GEHEIMNISVOLL

Fede wird von seiner Freundin verlassen, just nachdem seine Oma gestorben ist. Fede geht zur Therapie, um zu verstehen, was mit ihm los ist. Fede rammt nach Verlassen der Sitzung das Auto seiner Therapeutin. Fede traut sich nicht, noch einmal zur Therapiesitzung zu gehen, weil er das Auto seiner Therapeutin gerammt hat. Aber Fede traut sich, zu einer Party zu gehen. Fede lernt auf der Party ein Mädchen kennen. Fede geht in Begleitung des Mädchens nach Hause. Fede sieht das Mädchen gehen.

Die vom Kurzfilm Shakti des argentinischen Regisseurs Martin Rejtman erzählte Geschichte spielt in Buenos Aires. Sie handelt von den Eindrücken des Twens Fede, der einen schwierigen Moment in seinem Leben durchlebt, als seine Oma stirbt und seine Freundin ihn verlässt. Fede stellt sich Fragen, sucht Schuldige, geht ein bisschen aus dem Haus, kommt wieder. Er sieht seine Familie. Er versucht, wieder auf die Beine zu kommen.


Mit seiner auf wenigen, alltäglichen Schauplätzen erzählten Geschichte gibt uns der Regisseur das Gefühl, auf Kurzurlaub mit einem Freund zu sein, der nie zufrieden ist. Leider fragt man sich ein bisschen, ob Fedes Darsteller so verlorene Gesichtszüge hat, weil das Drehbuch dies vorsieht, oder weil Martin Rejtman keinen ausdrucksstärkeren Schauspieler finden konnte. Eine Komödie mit schwarzem oder eher hellgrauem Humor, die einem ein Schmunzeln entlockt – oder vielleicht ein halbes Schmunzeln.

Von einer Verwirrung ganz anderer Art erzählt uns der Kurzfilm Héctor der chilenischen Regisseurin Victoria Giesen. Er beginnt mit kameradschaftlichen Gesprächen einer Gruppe junger Männer an einer Fischerbucht. Es geht um den Teufel, von dem es an den Küsten Chiles Legenden zuhauf gibt. Die Beteiligten lachen und machen Witze über deren Wahrheitsgehalt.

© Viktoria Giesen Carvajal

Die Männer leben davon, Algen zu sammeln. Sie holen sie aus dem Meer, säubern sie und lassen sie am Strand trocknen. Einer der Gruppe wird der “Türke“ genannt. Und dann gibt es da noch “Héctor”, eine androgyne Frau, die besonders die Aufmerksamkeit des “Türken” auf sich zieht. “Héctor” versucht, unter den Männern nicht aufzufallen, aber zweifellos gelingt es ihr nicht, von den anderen als einer der ihren wahrgenommen zu werden. Langsam und fast ohne erkennbare Dialoge beginnt sich eine unerwartete Nähe zwischen den beiden Hauptfiguren zu entwickeln.

Zum nagenden Klang von Violoncelli sieht man Bilder von sich zwischen den Wellen bewegenden Algen. Sie bewirken zuweilen, dass die Zuschauer*innen sich verwirrt und unangenehm berührt fühlen. Die Felsenküste wird zu einem schweigenden, aber eindrucksvollen Hauptdarsteller, als ob sie die Anziehungskraft zwischen den Figuren bestimmen würde, und mehr noch, als ob sie jede sich entwickelnde Handlung übertünchen würde. Das Auf und Ab des Meeres wirkt wie eine Parallele zur Entwicklung des Plots: nicht einzusortieren und beunruhigend.

Dieser experimentell-sinnliche Kurzfilm zeichnet sich durch seine gute Kameraführung aus. Der Schauplatz der Handlung an der Küste eröffnet uns eine Reise ins Unbekannte und verschafft uns einen Hauch Verwirrung, genug, um uns für einen Moment dem Alltag zu entreißen.

Shakti und Héctor laufen 2019 in den Berlinale Shorts.

Sa 09.02. 16:00 CinemaxX 5
Mo 11.02. 21:30 CinemaxX 3
Di 12.02. 17:00 Colosseum 1
Do 14.02. 16:00 CinemaxX 5

Sektion: Berlinale Shorts

FEMINISTISCHE IDEENSCHMIEDE

Gemeinsam auf der Straße Das ENM ist eines der größten feministischen Treffen (Yamila Carbajo)

Von wem und wie wird das ENM jeweils organisiert?
Als ich erfahren habe, dass das Treffen in Chubut stattfinden würde, war mir sofort klar, dass ich mithelfen wollte. Am Anfang hatte ich gar keinen Plan, wie die Organisation ablaufen würde. Ich bin dann einfach zu einem der ersten Organisationsplena gegangen. Das war eine unglaublich tolle Erfahrung, es waren hunderte Frauen aus allen möglichen Orten anwesend. Beim ersten Treffen habe ich erfahren, dass alles im Konsens entscheiden wird. Mir hat sehr gut gefallen, dass es keine Hierarchien gibt. An der Planung des Kongresses waren sowohl „unabhängige“ Frauen – das heißt Frauen, die keiner Partei oder Organisation angehören – als auch organisierte Frauen beteiligt. Während des zweiten Treffens haben wir uns in Kommissionen aufgeteilt, die jeweils verschiedene Arbeiten übernahmen.

Welche Kommissionen gab es und wie lief die Arbeit innerhalb deiner Gruppe ab?
Es gab Kommissionen für Unterbringung, Sicherheit, Finanzen, Organisation, Logistik, Workshops, Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und für die Kommu-nikation zwischen den Provinzen. Ich bin der Kommission Kultur beigetreten. Mit zwei Kolleginnen haben wir 17 Theateraufführungen, sieben Tanzaufführungen und fünf Performances koordiniert. Wir waren insgesamt echt wenige Menschen für die Organisation eines so großen Events. Angefangen haben wir mit mehr als 100 Leuten, am Ende waren wir nur noch 50-60. Am Ende des Kongresses haben wir vor Erleichterung geweint, dass wir die Organisation doch so gut geschafft haben.

Einige Tage vor dem Ereignis wurde ein Dokument der Mapuche über Social Media geteilt. Sie fühlten sich von der Kongressbezeichnung „nacional“ nicht repräsentiert und wünschten sich eine Änderung in „plurinacional“. Das Plenum habe aber ihre Anliegen ignoriert.
Nein, ignoriert haben wir das nicht. Das wurde sehr viel diskutiert und respektiert. Uns als Organisationsteam steht das gar nicht zu, den Namen zu ändern. Wir sind nur 50 Leute und können gar nicht entscheiden, wie der Kongress in Zukunft heißen soll (siehe Infokasten, Anm. d. Red.).

Wie war die Zusammenarbeit mit der Stadt? Dutzende Schulen öffneten ja zum Beispiel ihre Türen für Übernachtungen und Workshops. Und dann müssen am Wochenende mal 50.000 Feminist*innen mehr aufs Klo…
Chubut hat sich nicht freiwillig für den Kongress gemeldet, sondern jedes Jahr stimmen die Teilnehmenden des ENM über den nächsten Ort ab. 2019 wird das Treffen zum Beispiel in La Plata, im Bundesstaat Buenos Aires, stattfinden. Dort, wo der Kongress dann stattfindet, muss die Stadt die Versorgung gewährleisten, ob sie will oder nicht. Das heißt, die Gesundheitsversorgung muss gewährleistet sein und für die Sicherheit gesorgt werden. Auch das Abwassersystem wird beispielsweise mehr belastet als sonst. Grundsätzliche Dinge, derer du dir erst bewusst wirst, wenn du selber so ein Event mitorganisierst.

Was waren die Reaktionen der Anwohner*innen in Chubut? Also derjenigen, die nicht am Kongress teilgenommen haben? Auf Twitter wurde ja beispielsweise die Angst verbreitet, dass manche Teilnehmer*innen planen würden, frisch geborene männliche Babys in den Krankenhäusern zu töten.
Ich denke, der Kongress hat gezeigt, wer wir sind. Jeder Ort, an dem das ENM stattfindet, macht die Menschen dort sichtbar. Es gibt einige Menschen in Chubut, die begeistert am Kongress teilgenommen haben. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Leute, die so einen Scheiß glauben. Das Treffen an sich war auf jeden Fall eine unglaubliche Party. Und was nicht eingetroffen ist, war jene Twittermeldung, die vorab über die Feministinnen in den Medien verbreitet wurden. Was aber geschah, ist, dass die staatlichen Organisationen versagt haben. Alles was die Regierung uns versprochen hat, hat gefehlt. Es gab viel Gewalt gegenüber uns Frauen.

Laut für den Feminismus Trotz Repressionen waren Tausende auf der Abschlussdemonstration (Foto: Yamila Carbajo)

Was ist passiert?
Die Regierung hat uns Sicherheit versprochen, die gab es nicht. Vor allem die gefährlicheren Viertel der Stadt wurden nicht bewacht. Im ohnehin sicheren Teil gab es drei Patrouillen. Dagegen gab es in den drei unsicheren Vierteln zusammen nur eine. Eine Schule, in der Kongressteilnehmerinnen übernachteten, wurde um sieben Uhr morgens mit Steinwürfen attackiert, eine andere Schule ausgeraubt. Alles wurde mitgenommen, Rucksäcke, Klamotten, selbst die Schlafsäcke und Isomatten waren weg.

Wie hat die Polizei sich sonst verhalten?
Die riesige Abschlussdemo am Sonntagabend war spektakulär, wir hatten unsere grünen Tücher dabei. Die Polizei hatte sich nicht mal darum gekümmert, Straßen für die Demo abzusperren. Das einzige, was wir von der Polizei erfahren haben, waren Repressionen. Am Ende der Demo sind sie mit einem Riesenaufgebot angerückt, unter anderem die Bundespolizei und das Militär, wobei es sich um ein sehr hartes Vorgehen handelte und die Repression zudem eine scheußliche symbolische Bedeutung erhält: Bekanntlich war das argentinische Militär für das Verschwinden und Ermorden von Menschen in der letzten Diktatur verantwortlich. Auch heute noch bringen Polizei und Militär Menschen um und lassen Leute verschwinden. Sie haben zehn Frauen mitgenommen. Die Situation war für die Verhafteten sehr beängstigend. Die Beamt*innen haben sich nicht ausgewiesen und die Frauen zunächst in einen vermeintlichen Raum der Feuerwehr gebracht, in dem sie schikaniert wurden. Unser Orgateam hat zum Glück gute Anwält*innen, wodurch die Frauen bald wieder auf freiem Fuß waren. Es gibt in Argentinien viel Gewalt gegen Frauen, rund alle 30 Stunden einen Femizid. Das Encuentro Nacional de Las Mujeres soll dieser Situation etwas entgegensetzen.


Viktoria
Viktoria ist als Künstlerin im Theaterbereich und Kulturproduktion in Chubut tätig, was sie dazu motiviert hat, beim ENM 2018 in der Organisation mitzumachen. Zwar hatte sie sich vorher nie als Feministin labeln lassen wollen, aber nach der Erfahrung des ENM, würde sie sich auch selbst so nennen.

NUESTRO VIEJO

(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Seit einigen Wochen bereits hatte Osvaldo das Bedürfnis gehabt aufzubrechen. Er hielt es nicht mehr aus, in seinem Häuschen „El Tugurio“ im Stadtviertel von Belgrano, in Buenos Aires, zu sitzen und nichts tun zu können. Er wollte seine Koffer packen. Er wachte morgens in dem Glauben auf, zu einem Menschenrechtskongress reisen zu müssen. Oder mit der Vorstellung, dass man ihn in einem entlegenen indigenen Dorf in der Pampa erwartete, um über eine Namensänderung einer Straße zu diskutieren, die nach einem Völkermörder benannt war, dessen Namen keine Straße je mehr tragen sollte. Oder dass er zu einer kleinen Schule in der weit entfernten Hochebene von Jujuy gerufen worden sei, wohin sich nie jemand verirrt hatte – aber er durfte nicht fehlen, um über die Rechte der indigenen Bevölkerung zu sprechen. Er wurde gleichzeitig an der Berliner Universität erwartet und auf einer Gewerkschaftssitzung in Patagonien. Er musste einfach da sein. So wie er es immer gewesen ist.
Er fragte nach seinem Koffer, ob sein Reisepass und die Flugtickets bereit lägen. Mit Claudia, der großartigen Compañera, die ihn die letzten Jahre pflegte, hatten wir Codes entwickelt, um ihn davon zu überzeugen, die Reise aufzuschieben.

Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern

Jetzt hat er keinen Aufschub mehr akzeptiert. Er hatte sich entschieden abzureisen. Als guter alter Anarchist wollte er uns alle, die wir Kerzen an einem grünen Baum anzünden wollten, nochmal mit einem Grinsen ärgern: Er suchte sich das passende Datum aus, den 24. Dezember. Seine Enkeltöchter in Hamburg stellten unter Tränen fest: Der Opa hat wieder sein Ding gemacht. Er ging nicht, ohne der Kirche auf seine Art noch mal eins auszuwischen. Ich bin davon überzeugt, dass der Grund für seine Eile in der aktuellen Realität dieses Landes, Argentiniens, liegt. Eigentlich hatte er vor gehabt, weiter zu nerven, wie er es nannte, bis er 100 Jahre alt würde. Ein Jahr weniger als seine geliebte Tante Griselda aus Santa Fe. Er respektierte ihr Alter. Aber die Realität hat ihn eingeholt. Er hatte keine Erklärung mehr für das, was er in den Zeitungen las und auf der Straße hörte. Jetzt drängte es ihn, andere Wahrheiten zu entdecken. Die hiesigen hatte er bereits aufgedeckt. Jetzt wollte er mit jenen diskutieren, mit denen er keine Gelegenheit gehabt hatte.  Mit Severino (Di Giovanni) über die Frage der Gewalt sprechen, über den Tyrannenmord, für den er (Osvaldo), der Pazifist war, trotzdem eine Erklärung fand. Di Giovanni war der Anarchist gewesen, dessen Leben Osvaldo in seinem ersten Buch neu entdeckt hatte. Mit dem Anführer der „Patagonia Rebelde“, Antonio Soto, über die grundsätzliche Frage diskutieren, ob man Mehrheitsbeschlüsse einer Versammlung ausnahmslos akzeptieren müsse, auch wenn diese den sicheren Tod bedeuten würden.

Mit Simón Radowitzky wollte er sich treffen und mit Kurt Gustav Wilckens, diese Persönlichkeit die ihn so fasziniert hatte, geboren (in Bad Segeberg) wenige Kilometer von hier entfernt, wo ich diese eiligen Zeilen schreibe (Hamburg). Auf seiner Tagesordnung stand ein Treffen mit dem indigenen Anführer Arbolito ganz oben, einem der ersten Gerechtigkeitssuchenden der jungen Republik.
Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Er will jetzt mit seinem Kumpel Rodolfo (Walsh) einen Kaffee trinken, mit seinem Freund Haroldo (Conti), mit Paco (Urondo). Und außerdem muss er ja noch die Geschichte der Entführung und Ermordung von Klaus (Zieschank) aufschreiben, denn die von Elizabeth (Käsemann) hatte er bereits entdeckt und aufgeklärt. Aber vor allem ging er, um all die anonymen Helden und Heldinnen zu treffen, die für eine gerechtere Welt auf dieser Erde kämpften, jene, die sich nicht brechen ließen, und all die Namenlosen, die auch heute täglich ihre Kämpfe führen, ohne in der Zeitung aufzutauchen. Ihnen hörte Osvaldo immer zu und gab ihnen eine Stimme.

Viejo querido, geliebter Alter, danke für all das, was du uns beigebracht hast – als deine Kinder, als Kämpfende, als Bürger und Bürgerinnen, als Menschen.

Lass dich noch einmal umarmen, so wie wir das zuletzt vor kaum einer Woche getan haben.

Erinnerungen an Osvaldo Bayer Im FDCL, Januar 2019 (Foto: FDCL)

 

VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

ONDA VAGA, WAS NUN?

Das Ende vom Lied Für Onda Vaga hört es sich schlecht an (Foto: flickr.com, CC-BY-SA 2.0, Secretaría de Cultura de la Nación, no changes made)

Nun also Onda Vaga. Die Mitglieder der international bekannten Indie-Rock-Band sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, die es in sich haben. Die Rede ist von sexuellen Übergriffen und Missbrauch, Vergewaltigung und Psychoterror. Kurz: von wiederholtem, abstoßendem Machogehabe.

Onda Vaga, das sind fünf Typen zwischen Mitte und Ende 30. Fünf Musiker, deren Lieder sich meistens darum drehen, dass sie doch nur liebe Jungs sind, die sich in schöne Frauen vergucken. Ihre tanzbaren Rumba-Rhythmen verhalfen der Gruppe in den vergangenen zehn Jahren zu relativem Erfolg. Sie haben fünf Alben veröffentlicht, und bereisten allein acht mal Europa.
Onda Vaga steht dabei für ein bestimmtes Lebensgefühl. Den Wunsch nach Freiheit, gepaart mit entspanntem Laissez-faire und Easy Going: buena onda, wie es in Argentinien einfach heißt. Das ist, was Menschen suchen, und auch finden, wenn sie zu den Konzerten kommen. So auch am 27. September im Festsaal Kreuzberg in Berlin. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird getanzt. Ein Großteil des Publikums kennt die Songs auswendig und singt lauthals mit. Bald wird es schwitzig im Saal, klebrig vom wilden Herumspringen. Die Musiker auf der Bühne geben sich betont lässig, albern und turnen herum, kiffen, trinken und feiern sich selbst. Die Band hat auch in Deutschland eine feste Fancrowd. Teile der Berliner Latinx-Community sind darunter, genauso wie Menschen die mindestens einen Backpacking-Urlaub in Lateinamerika hinter sich haben. Der Sound ist hervorragend, das muss man den Männern lassen. Weder auf oder hinter der Bühne noch in der Organisation oder in der Technik findet sich eine einzige Frau.

Kurz vor dem Konzert trafen sich LN mit den beiden Bandmitgliedern Germán Cohen und Marcelo Blanco zum Interview. Wir sprachen über die aktuelle Tour, das neue Album. Ein bisschen Smalltalk darüber, wie wunderbar Berlin und wie schlecht die aktuelle ökonomische Situation in Argentinien doch sei. Auch der Feminismus als politische Kraft und die Kampagne für ein legales und kostenfreies Recht auf Abtreibung kamen dabei zur Sprache. Dinge, die sie, so Germán und Marcelo, im Herzen tragen. Insgesamt also nichts Brisantes, und doch etwas, woraus wir ein nettes Interview hätten basteln können.

Die Berichte lassen vermuten, dass sexuelle Übergriffe im Umfeld der Band zur Normalität gehörten

Nur wenige Tage später, Anfang Oktober geht die Seite Denuncias Onda Vaga online. Darauf zu finden sind zu Beginn zehn, bald darauf 20, und nach einigen Tagen bereits über 40 Berichte, in welchen Frauen von ihren unangenehmen Erfahrungen mit den verschiedenen Bandmitgliedern berichten. Die Erfahrungsberichte sind anonym, aber äußerst detailliert. Auch die beiden Musiker Germán Cohen und Marcelo Blanco werden explizit genannt. Es folgen Hunderte Tweets und Diskussionen in den sozialen Medien. Die ausstehenden Konzerte in Brüssel und Madrid werden von den Veranstalter*innen abgesagt, mit dem Verweis darauf dem Publikum keinen sicheren Raum gewährleisten zu können. Presseanfragen bleiben unbeantwortet. Verantwortlich für die Veröffentlichungen sind die Aktivist*innen des Kollektivs Ya no nos callamos más, welches Frauen ermutigt ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen zu teilen und versucht, das Mittel der escraches, also der öffentlichen Denunziation, auch auf den digitalen Raum auszuweiten.

Die Erfahrungsberichte lassen vermuten, dass sexuelle Übergriffe im Umfeld der Band eine gewisse Normalität hatten, über Jahre hinweg und unter verschiedensten Umständen. Ob nach Konzerten oder im Privatleben, ob unter Einfluss von Alkohol oder nüchtern: despektierliches Verhalten, Objektifizierung von Frauen und ein Verständnis von Sexualität, was nicht weitergeht als über die eigene Befriedigung hinaus, waren wohl mehr Normalzustand als Ausnahme. Es scheint, als hätten Onda Vaga ihre Position als Stars der Musikszene systematisch ausgenutzt, um ihre sexuellen Fantasien an jungen und manchmal sogar minderjährigen Frauen auszuleben.
Erste Konzerte wurden bereits abgesagt Die Vorwürfe gegen Onda Vaga sind leider nur ein weiterer Fall von sexuellen Übergriffen in der argentinischen Musikbranche. Ähnliche Vorwürfe gibt es gegen weitere Größen der alternativen Musikszene, wie etwa den Sänger von El Otro Yo, Christian Aldana, den ehemaligen Gitarristen von La Yegros, David Martínez oder Guillermo Ruiz Diaz, den Gitarristen der Band El mató a un policía motorizado. Wie nicht anders zu erwarten, wird die Anonymität der Berichte zum Einfallstor für Vorwürfe des Rufmords und Verschwörungsfantasien. So ließ beispielsweise Sänger Christian Aldana, gegen den seit Mai 2018 ein Prozess wegen sexuellem Missbrauch von Minderjährigen läuft, auf seiner Facebook-Seite verlauten, er sehe Onda Vaga als Opfer einer anonymen Verleumdungskampagne, hinter welcher er eine Verschwörung der kommerziellen/Mayor-Musikbranche gegen die Indie-Szene vermutet. Dass allerdings als erste Reaktion auf die Vorwürfe über die Anonymität der Berichte diskutiert wird, ist ein bekanntes Muster. Denn, wenn von Übergriffen berichtet wird, sind es meistens zuerst die Opfer, die sich Fragen gefallen lassen müssen und nicht die (vermeintlichen) Täter. Wie es mit der Band weitergehen wird, ist unklar. Anstatt die Vorwürfe zur Diskussion zu stellen und eine öffentliche Stellungnahme von Seiten der Bandmitglieder einzufordern, wird zuallererst die Glaubwürdigkeit der berichtenden Frauen angezweifelt. Onda Vaga schweigt. Wie es mit der Band in der nächsten Zukunft weitergehen wird, ist unklar. Erste Konzerte in Argentinien wurden bereits abgesagt. Dass sich weder die Band noch ihre einzelnen Mitglieder bisher zu den Vorwürfen geäußert haben, ist nicht nur schwach, sondern auch für die tausenden von Fans weltweit enttäuschend.
Ein entschiedenes Dementi sieht anders aus.

DAS VERSCHWINDEN DES JOSEF MENGELE

Olivier Guez weiß, wovon er spricht: Seit mehr als zehn Jahren recherchiert der französische Autor über das Schicksal der Nazis in der Nachkriegszeit. Als Co-Autor des Drehbuchs zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“ über die Suche nach Adolf Eichmann bekam er 2016 den Deutschen Filmpreis, im Jahr 2007 erschien sein Buch über jüdische Holocaust-Überlebende in Deutschland. In Das Verschwinden des Josef Mengele dreht es sich diesmal um die Perspektive der Täter.

Lückenlos beschreibt Guez die Flucht Mengeles nach Argentinien im Jahr 1949, seinen jahrelangen Aufenthalt unter falschem Namen im Buenos Aires der 50er Jahre, seine Verstecke in Paraguay und letztendlich in Brasilien. Der Autor gibt Einblicke in die argentinische „Nazi Society“, die sich nach ihren Uniformen zurücksehnt und das wahre Ausmaß der Ermordung der Juden verleugnet. Vom Perón-Regime unterstützt, von der jungen Bundesrepublik zunächst nicht verfolgt, führen die Ex-Nazi-Funktionäre ein ausschweifendes, unbehelligtes Leben. Mengele traut sich nach einigen Jahren sogar, einen deutschen Reisepass auf seinen richtigen Namen anzufordern – und erhält ihn problemlos. Erst nach 1959, als ein deutscher Haftbefehl gegen Mengele erlassen wird, erfolgt die schrittweise Verwandlung Mengeles vom üppig lebenden „Pascha“ zur verfolgten, paranoiden „Ratte“. Seine Flucht über den südamerikanischen Kontinent dauert am Ende dreißig Jahre.

„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein Roman. Die Sprache ist durchgehend dokumentarisch-nüchtern, die Erzählung chronologisch. Politische und gesellschaftliche Zusatzinformationen rahmen die Geschichte ein. Der Autor stellt sich vor, dass das Buch wie ein Krimi zu lesen ist. Dabei steht dem/r Leser*in jedoch die Erzählweise im Weg: Die aneinandergereihten Daten und Fakten verhindern an vielen Stellen einen Spannungsaufbau. Die wenigen Gedankenmonologe des Protagonisten reichen nicht aus, um das abstrakte Monster Mengele menschlicher oder verständlicher erscheinen zu lassen. Der ehemalige KZ-Arzt bleibt ein bestialischer Mann, der am Ende seine Strafe erhält, wenn auch keine gerichtliche: Die „Tortur des Exils“ in einem „Gefängnis unter freiem Himmel“.  Guez behauptet, fast nichts erfunden zu haben. Ist der Roman dann überhaupt eine Fiktion? Die beiden Berufe von Guez, Journalist und Autor, scheinen sich in diesem Werk zu vermischen. Auch wenn er erklärt, nicht journalistisch gearbeitet zu haben, hat man beim Lesen oft das Gefühl, eine nüchterne Reportage in den Händen zu halten. Die Einschätzung des französischen Schriftstellers Frédéric Beigbeder, Guez hätte eine neue Romanform geschaffen, mutet befremdlich an. Da trifft es der Erklärungsversuch des Autors im Deutschlandfunk-Interview besser: „Es ist eine literary non-fiction – eine Erzählung oder ein Dokumentarroman oder etwas dazwischen.“

Um die Lebensgeschichte des „Todesengels von Auschwitz“ ranken sich viele Legenden. Das Verdienst des Romans ist es, die Lücken zu schließen, die trotz Mengeles Tagebüchern und zahlreicher Literatur über seine Person in den Berichten bestehen geblieben sind. Wer allerdings eine fesselnde Fluchtgeschichte erwartet, wird enttäuscht werden.

ALLE UNTER EINEM DACH

Eine schrecklich nette Familie Das Drama der Fujimoris geht in die nächste Runde (Illustration: Joan Farías Luan)

Fast dreißig Jahre lang spielte die Familie Fujimori eine dominierende Rolle in der peruanischen Politik. Alberto Fujimori regierte das Land von 1990 bis 2000 mit eiserner Hand, seine Tochter Keiko verlor zweimal nur um Haaresbreite die Stichwahl um das Präsidentenamt. 2016 erreichte Keiko mit ihrer Partei Fuerza Popular (FP) sogar die absolute Mehrheit der Stimmen im peruanischen Kongress und war damit de facto die mächtigste Person im Land. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sie selbst zur Präsidentin aufsteigen würde. Und Keikos Bruder Kenji errang bei den Kongresswahlen 2016 die meisten Stimmen aller Abgeordneten. Nun hat die Erfolgsgeschichte der Fujimoris ein vorläufiges Ende gefunden.

Zunächst kam es zum Bruch zwischen den Geschwistern: Ende letzten Jahres brachte Kenji Fujimori mit zehn weiteren Abtrünnigen aus der FP ein Misstrauensvotum seiner Schwester gegen den damaligen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski zu Fall. Kuczynski unterschrieb im Gegenzug die Begnadigung des inhaftierten Familienpatrons Alberto Fujimori (s. LN 525 und LN 526). Anschließend versuchte Kenji ein Bündnis mit Kuczynski zu schmieden und weitere Abgeordnete aus der Partei seiner Schwester abzuwerben. Beide Operationen gingen gründlich daneben: Kuczynski wurde durch das nächste Misstrauensvotum gestürzt, und Kenji ließ sich bei seinen Abwerbeversuchen filmen. Anschließend stimmte die Mehrheit der Abgeordneten auf Betreiben Keikos für den Ausschluss Kenjis aus dem Kongress.

Doch für Keiko kam es noch dicker, denn sie sitzt seit Ende Oktober im Gefängnis. Der Staatsanwalt José Domingo Pérez verdächtigt sie, als Drahtzieherin einer kriminellen Vereinigung illegale Wahlkampfspenden des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht in Höhe von 1,2 Millionen US-Dollar umdeklariert zu haben. Als Gegenleistung für die Spende sollte Keiko laut der Ermittlungsakte dem Konzern als gewählte Präsidentin überteuerte Aufträge zukommen lassen. Staatsanwalt Pérez beschuldigt Keiko Fujimori außerdem, seine Ermittlungen massiv zu behindern. Aus diesem Grund und wegen akuter Fluchtgefahr verhängte der Richter Richard Concepción die maximal mögliche Untersuchungshaft von drei Jahren gegen die Parteichefin der FP. Ohne eine Rücknahme des Urteils wird Keiko Fujimori die nächsten Präsidentschaftswahlen im April 2021 verpassen.

Die Ermittlungen gegen Keiko Fujimori wurden Richter Concepción zufolge durch Absprachen zwischen der FP und einer kriminellen Vereinigung hochrangiger Richter, Staatsanwälte und Unternehmer*innen mit dem harmlosen Namen „Weiße Kragen vom Hafen“ behindert. Vermeintliche Köpfe der „Weißen Kragen“ waren César Hinostroza, Richter am obersten peruanischen Gerichtshof, und Walter Rios, oberster Richter in Limas Hafenbezirk Callao. Die Organisation flog im Juni 2018 auf, weil die zuständige Staatsanwaltschaft Telefongespräche verdächtiger Mitglieder abgehört hatte. Dabei kam heraus, dass die „Weißen Kragen“ Bestechungsgelder für die Vergabe von Justizposten erpressten und durch Absprachen Urteile manipulierten. Außerdem offenbarten sich durch Callao Kontakte der „Weißen Kragen“ zur Drogenmafia und weitere Verbindungen zur FP.

In einer der mitgeschnittenen Aufnahmen, die auf Youtube gehört werden kann, fordert Richter Rios für die Besetzung einer Stelle „diez verdecitos“, „zehn kleine Grüne“, von einer Bewerberin ein. Damit gemeint sind zehn Tausenddollarscheine. Rios sitzt inzwischen hinter Gittern, Hinostroza flüchtete und wurde in Spanien verhaftet.

Der Revisionsrichter war anscheindend einer der Köpfe der kriminellen „Weißen Kragen“

Ausgerechnet Richter Hinostroza, vermeintlicher Chef der „Weißen Kragen“, leitete vor seiner Suspendierung im obersten Gerichtshof die Berufungsverfahren in wichtigen Korruptionsfällen. Eine Verurteilung des FP-Genaralsekretärs Joaquín Ramírez wegen illegaler Geldwäsche hatte er bereits kassiert. Als zuständiger Revisionsrichter hätte Hinostroza auch die Anklage gegen Keiko Fujimori wegen der Gründung einer kriminellen Vereinigung zurückweisen und ihr die dreijährige Untersuchungshaft ersparen können. Keiko Fujimori ging sogar in „Vorleistung“. So stimmte eine Mehrheit um die FP im zuständigen Parlamentsausschuss zweimal gegen die Aufhebung der Immunität Hinostrozas. Unterstützung erhielt sie dabei ausgerechnet von der Partei APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), aus deren Reihen der ebenfalls in den Odebrecht-Skandal verwickelte Ex-Präsident Alan García stammt. Eine Anklage gegen Hinostroza konnte damit vorerst abgewendet werden. Doch der öffentliche Druck wurde am Ende so groß, dass Hinostroza nicht zu halten war und auch nicht mehr in das Verfahren gegen Keiko Fujimori eingreifen konnte. Für seine anschließende Flucht über Ecuador nach Spanien benötigte Hinostroza indes noch einmal Hilfe, da er Peru auf richterliche Anordnung nicht verlassen durfte. Er bekam einen Ausreisestempel, wurde aber entgegen den sonstigen Gepflogenheiten nicht als Ausreisender registriert. Die zuständige Sachbearbeiterin bei seinem Grenzübertritt war zufällig die Gattin eines Kongressabgeordneten der FP.

Als weiteres mutmaßliches Mitglied der „Weißen Kragen“ wird kein Geringerer als der Staatsanwalt der Nation Pedro Chávarry gehandelt, der schon in der gleichgeschalteten Justiz des Fujimori-Regimes zum Generalsekretär der Staatsanwaltschaft aufgestiegen war. Damals gehörte es noch zu den Aufgaben der Justiz, Menschenrechtsverbrechen und Korruptionsfälle der Regierung zu vertuschen. Genau wie im Falle Hinostrozas weigert sich die Kongressmehrheit um die FP und die APRA, Chávarrys Immunität aufzuheben. Der neue peruanische Präsident Martín Vizcarra forderte Chávarry bereits mehrfach zum freiwilligen Rücktritt auf. Dieser tut stattdessen alles, um die Ermittlungen gegen Keiko Fujimori zu torpedieren, und suspendierte ohne Absprachen die mit dem Fall betraute Chefermittlerin seines Kollegen Pérez.

Durch Indiskretionen gerieten ferner Chats des engeren Führungszirkels der FP an die Öffentlichkeit, in denen Abgeordnete der Partei aufgefordert wurden, Hinostroza und Cháverry mit allen Mitteln zu unterstützen, den Staatsanwalt Pérez dagegen zu bekämpfen und zu diskreditieren. Anonyme Drohungen gegen Pérez und ein Einbruch in sein Haus während der Anwesenheit seiner Familie wertete Richter Concepción folglich ebenso als eine Behinderung der Ermittlungen wie die mutmaßlichen Absprachen und gegenseitigen Gefälligkeiten der „Weißen Kragen“ und der FP.

Die Mehrheit der Bevölkerung schaut den Manövern der FP verständnislos bis entsetzt zu

Die Kongressmehrheit beschränkt sich aber nicht nur darauf, vermeintlich korrupten Richtern und Staatsanwälten den Job zu retten. Sie wird sogar gesetzgeberisch aktiv, wenn es sein muss. Und es musste wohl sein, denn nachdem der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Begnadigung des Ex-Diktators Alberto Fujimori als unrechtmäßig beurteilt hatte, ordnete ein peruanischer Richter Anfang Oktober die erneute Inhaftierung des inzwischen 80-Jährigen an, der bislang nicht einmal die Hälfte seiner 25-jährigen Gefängnisstrafe abgesessen hat. Also drückte der Kongress postwendend ein Gesetz durch, das eine Begnadigung für Gefangene vorsieht, die ein Drittel ihrer Strafe verbüßt haben und älter als 78 Jahre sind. Diese Gefangenen sollen mit einer elektronischen Fußfessel unter Hausarrest gestellt werden. Präsident Vizcarra weigerte sich zwar, das Gesetz zu unterschreiben, aber es wird noch geprüft, ob seine Unterschrift überhaupt erforderlich ist.

Vorerst befindet sich Alberto Fujimori noch in einer Klinik. Fragen zu seinem Gesundheitszustand werden von den zuständigen Ärzten nicht beantwortet. Der Ex-Diktator behauptet aber, eine Rückkehr ins Gefängnis wäre sein sicheres Todesurteil. Sein Strafregister umfasst Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Gründung einer Todesschwadron, Mord, Entführung, Folter, Unterschlagung, Amtsanmaßung und Bestechung. Von dem neuen Gesetz würde aber nicht nur Alberto Fujimori, sondern auch sein ehemals allmächtiger und brutaler Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos profitieren, der in bislang 34 Verfahren zu insgesamt mehr als 250 Jahren Haft verurteilt wurde. Kritiker*innen sprechen daher schon ironisch von einem Montesinos-Gesetz.

Die Fuerza Popular wurzelt ideologisch und personell in der früheren Regierungspartei Alberto Fujimoris. Im inneren Führungszirkel der FP halten sich bis heute zahlreiche ehemalige Helfershelfer*innen und Minister*innen des Ex-Diktators, die zum Teil in dessen Verbrechen verstrickt waren. Nur drei Beispiele: Fujimoris ehemaliger Wirtschaftsminister Jaime Yoshiyama, sein früherer Transportminister Augusto Bedoya und sein letzter Agrarminister José Chlimper sind laut Staatsanwaltschaft allesamt maßgebliche Strippenzieher der Geldwäscheoperationen in der aktuellen Odebrecht-Affäre. Chlimper war vor kurzem sogar noch Generalsekretär der FP und Keiko Fujimoris letzter Vizepräsidentschaftskandidat.

Die Mehrheit der Bevölkerung schaut den Manövern der FP verständnislos bis entsetzt zu. Laut aktuellen Meinungsumfragen unterstützen nur noch 14 Prozent der Bevölkerung Keiko Fujimori, knapp 80 Prozent lehnen ihre Politik ab. Bei den Regional- und Kommunalwahlen Anfang Oktober gewann die FP keinen einzigen Gouverneursposten und stellt seitdem nur noch wenige Provinz- und Bezirksbürgermeister. In Lima kam Keiko Fujimoris Bürgermeisterkandidat Diethell Columbus auf ganze zwei Prozent der Stimmen. Trotzdem wird das Land der Willkür, der Korruption und den Machenschaften der FP und der APRA vermutlich noch länger ausgeliefert sein, denn die nächsten Kongresswahlen finden erst 2021 statt. Daher werden die Appelle an Präsident Vizcarra, diesen Kongress aufzulösen, immer lauter. Doch Vizcarra, der ansonsten durchaus entschieden gegen die Korruption vorgeht, hält sich in diesem Punkt bedeckt. So bleibt vorerst offen, ob die Festnahme Keikos tatsächlich das Ende der Ära Fujimori markiert.

KEIN STROM, KEIN GAS, KEIN WASSER

Mobilisierte Bevölkerung Essensausgabe auf einer Demo gegen die Politik Macris (Fotografías Emergentes via Flickr CC BY-NC 2.0)

„Wenn ich weniger als 18 Stunden am Tag arbeite, dann komme ich nicht über die Runden“, berichtet Javier. Er ist Taxifahrer in einem Außenbezirk von Buenos Aires. „Heute endet mein Arbeitstag gegen 24 Uhr, und morgen muss ich schon wieder um sechs Uhr früh raus. Es gibt kaum noch Arbeit. Die Leute können sich ein Taxi nicht mehr leisten.“ Das liegt an dem starken Kaufkraftverlust aufgrund der Inflation und zudem ist der Benzinpreis seit Beginn des Jahres von 25 auf fast 40 Pesos (etwa 1 Euro) pro Liter angestiegen.

Tatsächlich musste sogar der argentinische Präsident Mauricio Macri in seiner Fernsehansprache vom 3. September eingestehen, dass sich die Lebensbedingungen vieler Argentinier*innen in diesem Jahr verschlechtert haben. Auch wenn er dafür äußere Bedingungen und natürlich das „schwere Erbe der Ära Kirchner“ verantwortlich macht. Damit meint er das Erbe von Néstor (Präsident von 2003-2007, 2010 verstorben) und dessen Frau Cristina Fernández de Kirchner (Präsidentin von 2007-2015), die einen staatsinterventionistischen Wirtschaftskurs pflegten.

Macris Verweis auf das Erbe der Kirchners ist wohlfeil, denn das zentrale Problem liegt vielmehr darin, dass die rechtskonservative Regierungskoalition Cambiemos die argentinische Wirtschaft in eine massive Abhängigkeit vom Dollar und den internationalen Finanzmärkten getrieben hat. Die mehr als 100 prozentige Abwertung des Peso in diesem Jahr hat die Inflation in die Höhe getrieben. Bereits im September lag diese bei über 32 Prozent. Die ohnehin schon mageren Gehälter wurden nicht entsprechend angepasst, weshalb der Konsum dramatisch eingebrochen ist. Dazu kommt die Verteuerung von Strom, Gas und Wasser. Das trifft vor allem die armen Haushalte und geht zu Lasten der Grundbedürfnisbefriedigung.

„Ich bekomme eine Sozialhilfe vom Staat von 5750 Pesos (etwa 133 Euro) und ein wenig Geld für die Kinder, aber das reicht hinten und vorne nicht. Und Arbeit kriege ich nicht, nicht mit den Kindern und ohne Schulabschluss“, erzählt Rocio. Rocio ist 23 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und besucht jeden Abend eine Volkshochschule im Armenstadtteil Villa 31, um die Oberstufe abzuschließen. Um heute in Argentinien nicht als arm zu gelten, muss eine Familie im Monat mehr als 22.000 Pesos (etwa 510 Euro) verdienen. Für mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes liegt das außer Reichweite. “Bis Anfang dieses Jahres konnte ich meinen Kindern wenigstens noch jeden Tag ein vernünftiges Essen auf den Tisch stellen, aber jetzt haben wir nicht mal mehr Geld, um das Gas zum Kochen zu bezahlen. Zum Glück gibt es die Gemeinschaftszentren, wo ich die Kleinen hinschicken kann. Dort bekommen sie auch etwas zu essen, aber wenn du da nicht früh hingehst, kommst du nicht mehr rein. Zu viele Leute haben Hunger“, berichtet Rocio weiter.

Doch es sind nicht nur die Lebensmittel, die fehlen. „In unser Viertel kommt nicht mal der Krankenwagen, weil die Straßen nicht asphaltiert sind. Kindertagesstätten oder eine Schule gibt es nicht und jedes Mal, wenn es regnet, steht mein Haus unter Wasser, weil die Regierung die versprochenen Abwasserkanäle nicht baut“, erzählt Ana. Sie lebt im sogenannten zweiten Gürtel, in der Stadt La Matanza, nur etwa 30 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. Hier ist die Situation besonders prekär. Etwa 45 Prozent der Menschen können die Nebenkosten nicht mehr bezahlen. Nicht selten muss in Schulen der Unterricht nach zwei Stunden abgebrochen werden, weil es kein Wasser gibt. Die Provinzgouverneurin und Parteigenossin Macris, Maria Eugenia Vidal, investiert aber lieber in mehr Polizei auf den Straßen.

Die sozialen Bewegungen im Land, vor allem jene, die in den ärmsten Stadt- und Landesteilen mit den Menschen arbeiten, sind besorgt. Gonzalo vom Bündnis Vamos berichtet: „Seit Juni, als der Peso dermaßen an Wert verloren hat, ist es für uns noch schwerer geworden, den sozialen Unmut in den Vierteln einzudämmen. Die Menschen sind wütend auf Macri. Sie fühlen sich betrogen. Er hat eine Reduzierung der Armut und mehr Arbeit versprochen, aber genau das Gegenteil ist eingetroffen. Außerdem hat er den Internationalen Währungsfonds wieder ins Land geholt, der am Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahr 2001 beteiligt war. Das sind alles Faktoren, die dazu führen, dass sich die Stimmung immer mehr aufheizt.“

Bereits im Dezember 2017 kam es während der Parlamentsdebatte zur Rentenreform zu massiven Ausschreitungen vor dem Kongressgebäude. Auch dieses Jahr könnte es wieder heikel werden für die Regierung, denn mehr als 50 Prozent aller Unternehmen haben für den Dezember Entlassungen angekündigt. Die Regierung kürzt weiter im Sozialbereich: Erst kürzlich wurde per Dekret mehr Geld für die Polizei zur Verfügung gestellt, das aus dem Bildungs- und Gesundheitshaushalt abgezogen wurde. Die nun noch besser ausgerüstete Polizei wird vom 30. November bis 1. Dezember Schwerstarbeit zu leisten haben, wenn in Buenos Aires der G-20-Gipfel stattfindet – eine riesige PR-Show für Mauricio Macri. Die Nachricht, die von diesem Gipfel in alle Welt dringen soll, steht fest: Wenn die 20 wichtigsten politischen Repräsentant*innen der Welt sagen, Argentinien sei auf dem richtigen Weg, dann ist das so. Das argentinische Volk irrt also, wenn es gegen den vom IWF diktierten Haushalt 2019, der auch „Armut per Dekret“ genannt werden kann, auf die Straßen geht. Es irrt auch, wenn es an seinem Präsidenten zweifelt, der, während tausende argentinischer Kinder hungrig ins Bett gehen, seine illustren Gäste am 30. November im Colón-Theater bei einem festlichen Abendessen verköstigen wird. Aber wofür hat das Land den Milliardenkredit des IWF, wenn nicht dafür?

“EINE ANDERE ENGERGUE KREIEREN”

Ihr kommt in diesem Jahr zum dritten Mal nach Berlin. Wie waren eure bisherigen Erlebnisse mit der Stadt und den Menschen?

Dolores: Auf jeden Fall haben wir hier bisher immer positive Erfahrungen gemacht.
Julia: Ja, unsere Erlebnisse in Berlin waren schon immer sehr prägend und vor allem sehr inspirierend. Wenn wir durch die Straßen laufen und die verschiedenen Leute beobachten, wie sie sich kleiden und bewegen, dann hat das etwas Anarchistisches. Und das unterscheidet sich sehr von Buenos Aires, wo wir herkommen. Als Band sind wir früher viel durch die Natur gereist oder an Orte, die eng mit ihr verbunden sind. Als wir dann nach Berlin kamen, haben wir eine urbane Seite unserer Band kennengelernt, die wir vorher nie so gesehen hatten. Auf einmal dachten wir: „Wir sind nicht nur Land, wir sind auch Stadt!“. Und die Stadt ist gut und voller Inspirationen.

 

Buenos Aires ist riesig, trotzdem reflektiert sich diese Urbanität, aus der ihr stammt, nie in eurer Musik. Wie kommt das?

Julia: Eigentlich kommen wir ja aus den Vororten von Buenos Aires.
Dolores: Aber ich weiß, was ihr meint. Wir kommen zwar aus dem städtischen Raum und sind irgendwie urbane Menschen, aber wir hatten schon immer eine starke Neigung zum Ländlichen. Wenn wir Urlaub machen, dann fahren wir nicht in die Stadt. Der Rhythmus dort zieht uns nicht so an wie jener der Natur. Trotzdem sind wir natürlich von der Stadt beeinflusst, schließlich sind wir dort aufgewachsen. Wir mögen die Reize und die Inspirationen, die das städtische Leben uns bietet und können viel vom kulturellen Angebot lernen. Dauerhaft so leben wollen wir aber nicht.

 

Macht es denn einen Unterschied, wo ihr spielt? Was verändert sich beispielsweise, wenn ihr in einer europäischen Stadt spielt statt in einer lateinamerikanischen?

Dolores: Heute beim Konzert habe ich gesehen, dass der Großteil des Publikums aus Lateinamerika kam oder einen starken Bezug dazu hatte. Das hat man sofort gespürt. Ich denke, unsere Konzerte sind für die Leute auch eine Art der Verbindung dorthin.
Julia: Genau. Es gibt sehr vieles hier, das lateinamerikanisch ist. Das ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Heute haben mich die vielen europäischen Gesichter überrascht, denn vor ein paar Tagen standen wir in Amsterdam vor einem fast ausschließlich lateinamerikanischen Publikum. Heute habe ich zum Beispiel mehr Leute gesehen, die die Texte nicht konnten, die aber trotzdem eine starke Verbindung zu unserer Musik gezeigt haben. Genau das mag ich sehr: Auch für Leute zu spielen, die mich gar nicht verstehen. Besonders eindrücklich war das in Schweden. In Malmö waren fast nur Schweden bei unserem Konzert. Sie standen viel weiter weg von der Bühne und nur die wenigsten sprachen wahrscheinlich Spanisch. Trotzdem habe ich in ihren Gesichtern gesehen, dass sie etwas Grundlegendes an unserer Musik verstehen. Etwas, das über Sprache und Text hinausgeht. Das ist die Sprache der Musik, die Grenzen überschreiten kann.

 

Meint ihr, dass ihr auch ein Stückchen lateinamerikanischer Spiritualität hierherbringt?

Julia: Ich denke schon. Vor allem die Verbundenheit zur Erde und Natur und ihre Wertschätzung: Pachamama. Ich würde sagen, das haben wir im Blut. Das ist keine direkte Nachricht, die wir überbringen wollen, sondern etwas, das einfach da ist. Hier spüren wir das weniger.

 

In eurer Musik gibt es viele Elemente der lateinamerikanischen Folklore. Wie ist es dann, hier für Menschen zu spielen, die gar nicht mit so etwas aufgewachsen sind? Oft denken wir, dass es hier kaum noch Folklore gibt…

Dolores: Ich finde, es ist genau andersherum. Es gibt Orte, wo die Folklore herkommt, aber das heißt nicht, dass man sie an anderen Orten nicht spielen kann oder dass es sie dort nicht gibt. Du kannst zum Beispiel einen Samba spielen, ohne in Brasilien zu sein.

 

Eignet man sich damit nicht ein Stück weit die Tradition der Folklore an?

Dolores: Vielleicht. Aber letztendlich zählt nicht wirklich, ob beispielsweise ein Rhythmus aus der Folklore ist oder nicht, weil wir ohnehin damit arbeiten und ihn verändern. Wir sind keine echten folkloristas, wir brechen auch selbst oft mit der Folklore. Wir bedienen uns bei verschiedensten Musiktraditionen aus der ganzen Welt. Von der Folklore sagt man, sie sei etwas sehr Natürliches: Ein Kind wird geboren, es wächst mit einem Rhythmus auf, sieht sein Leben lang einen Tanz und wenn es groß ist, beginnt es selbst auf natürliche Weise, diesen Rhythmus zu spielen. Unsere Verwendung folkloristischer Elemente ist vielleicht nicht so natürlich, sondern eher spielerisch eingesetzt und bewusster auf den speziellen Rhythmus bedacht.

 

In den letzten Jahren hat Perotá Chingó als Band eine große Veränderung durchgemacht. Ihr spielt nicht mehr in Wohnzimmern, sondern in Konzerträumen. Eure Musik wird nicht mehr nur auf der Straße gefilmt, sondern im Studio aufgenommen. Habt ihr selbst Veränderungen in eurer Art und Weise, Musik zu machen, bemerkt?

Julia: Ja. Wir machen jetzt schon sieben Jahre zusammen Musik. So ein Projekt wächst und verändert sich und will sich weiterentwickeln. Wir sind aus einfacher root music entstanden: Lola und ich, die Gitarre und unsere Stimmen. Das hat sich zu etwas Professionellerem und Größerem entwickelt. Im neuen Album Aguas hört man mehr musikalische Anpassungen, mehr Stimmen und kleine elektronische Elemente. Also ja, es gibt einen Wandel in unserer Musik und der ist wichtig und gewollt. Weil wir immer weitermachen wollen.

 

Ihr seid als Duo unabhängiger Musikerinnen bekannt geworden und es gibt viele Frauen, die sich für eure Musik begeistern. Seht ihr euch als Feministinnen?

Dolores: Ich weiß nicht, ob wir uns unbedingt einen Namen geben oder eine bestimmte Flagge zeigen müssen. Wir sind Frauen, wir respektieren uns und wir lieben, was wir tun. Uns gefällt es, eine Inspiration für andere Frauen und Menschen zu sein, damit sie sich trauen, sie selbst zu sein und daraus Kraft zu schöpfen.
Julia: Wir sind Teil einer Generation, die viele Dinge aus einer femininen Perspektive verändert. Dem kann man sich nicht verweigern. Wir mögen es nicht, dass uns ein feministisches Label aufgedrückt wird, denn das beinhaltet auch viele Dinge, mit denen wir nicht unbedingt einverstanden sind. Aber es stimmt, dass wir Teil einer globalen Bewegung sind, allein dadurch, dass wir Frauen sind. Auf unseren Konzerten wird mir oft klar, dass wir der sichtbare Teil dieser Bewegung sind, die überall stattfindet, aber nicht immer sichtbar wird. Wir geben ihr ein Gesicht.

 

Das Element Wasser war eure Inspirationsquelle für euer neues Album Aguas. Heutzutage ist der freie Zugang zum Trinkwasser in vielen Regionen Lateinamerikas gefährdet. Wie nehmt ihr diesen Konflikt wahr?

Julia: Im Album geht es mehr um das Wasser als Element, aus dem wir alle geschaffen sind. Die verschiedenen Formen des Wassers symbolisieren die verschiedenen Emotionen, die wir als Menschen durchmachen. Wir nehmen das nicht so wortwörtlich, da wir nicht so sehr in ökologische Konflikte verwickelt sind. In unserem Album geht es mehr darum, sich wieder mit dem Wasser als Element zu verbinden, mit dem Fluss des Lebens, den sich verändernden Emotionen.

 

Es ist also nicht politisch? Pure Emotionen?

Dolores: Genau. In Argentinien und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es zurzeit so viele Krisensituationen, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll… Es passieren tausend Dinge.
Julia: Wir versuchen, mit unserer Musik eine andere Energie zu kreieren und eine Botschaft zu übermitteln, die den Menschen hilft, ihre eigene Kraft zu finden und damit ihre Realität zu verändern, anstatt die Politiker um Erlaubnis zu fragen. Es geht um Empowerment: „Los, wir alle schaffen das!“. Natürlich wissen wir, dass diese Veränderung nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden wird. Anstatt uns mit einer Flagge zu identifizieren, liegt unsere politische Haltung eher darin, die Kraft in uns selbst zu suchen und andere zu inspirieren, das auch zu tun.
Dolores: Dafür ist es notwendig, dass wir uns zusammentun, um Dinge zu verändern. Das generiert eine große Kraft, wie beim Feminismus zum Beispiel.

 

Das Internet war für euch von Anfang an ein wichtiges Medium. Das Video zu Rie Chinito hat inzwischen über 18 Millionen Klicks auf Youtube. Welche Möglichkeiten seht ihr für Musiker*innen im Internet und den sozialen Netzwerken?

Dolores: Wäre das Internet nicht, wären wir nie bekannt geworden. Das ist durch genau dieses Youtube-Video im Jahr 2011 passiert. Das Internet bietet uns eine Möglichkeit der Unabhängigkeit und der Freiheit, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die unsere Musik mögen. Dafür brauchen wir keine dritte Instanz. Wir haben so viele Möglichkeiten und immer erreichen wir mehr Menschen.

 

Bis hierhin nach Europa.

Julia: Ja, genau! Und wir freunden uns auch immer mehr damit an. Am Anfang war es eher eine lästige Pflicht für uns, ständig überall präsent zu sein. Aber es ist, wie es ist. Wir sind alle durch das Internet verbunden und ein Teil davon. Das Internet ist ein Medium und es ist uns selbst überlassen, wie wir es nutzen. Mittlerweile gefällt es uns, wie wir damit arbeiten können.
Dolores: Wir lernen auch stetig dazu, schließlich verändert sich alles so schnell. Als Menschen, die das Internet aufkommen gesehen haben, fühlt sich für uns alles immer noch so neu an und verändert sich ständig. Wohin das noch geht, weiß keiner.

 

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Julia: Wir machen gerade eine ziemlich starke Veränderung durch, einen Prozess der Beobachtung: Welche neuen Dinge fallen uns ein? Was möchten wir umsetzen? Wo wollen wir mit unserer Musik hin? Auch wenn wir das nicht genau wissen, wollen wir doch weiter versuchen, zu uns selbst zu finden und zu dem, was wir mit unserer Musik vermitteln möchten. Wir haben die Chingoneta (Name des Tour-Vans der Band, Anm. d. Red.) verkauft, die aus Europa und die aus Argentinien, es gab zwei. Unser Team ist größer geworden. Jetzt reisen wir mit Soundtechnikern, einer Lichttechnikerin, dazu kommt bald ein Coach, jemand, der uns in unserem kreativen Prozess begleitet. Wie eine Familie in einem Van zu reisen, ist eine romantische Idee. Das ist super, aber es ist für uns ein vergangener Lebensabschnitt. Jetzt fängt für uns eine neue Zeit an.

GRÜNE WELLE SOLL ZUM TSUNAMI WERDEN

Lautstarke Bewegung Millionen Menschen forderten am 8. August das Recht auf Abtreibung (Foto: lavaca.org)

Darf in Argentinien unter keinen Umständen abgetrieben werden?

Doch, 1921 wurde ein Gesetz zur teilweisen Strafbefreiung der Abtreibung beschlossen, das den Schwangerschaftsabbruch unter drei Umständen erlaubt: wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; wenn die körperliche, psychische oder emotionale Gesundheit der Mutter gefährdet ist; und wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. 2012 ratifizierte das Oberste Gericht Argentiniens in der „F.A.L. Entscheidung“ das Recht auf Abtreibung, sollte sich eine Frau in einem der drei Umstände befinden. Es gibt also Gründe, die die Abtreibung in Argentinien legalisieren. Allerdings sind die Möglichkeiten dennoch sehr begrenzt, weshalb wir seit Jahren für eine komplette Legalisierung der Abtreibung kämpfen.

Wie ist die Kampagne entstanden?

Während des nationalen Frauentreffens in Rosario 2003 fand ein Workshop zum Recht auf Abtreibung statt, der von einem bereits seit über zehn Jahren existierenden Zusammenschluss organisiert wurde. Dort wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der zum einen den 28. September. zum Aktionstag zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika erklärte und zum anderen die Gründung einer Kampagne zum Recht auf Abtreibung beschloss. Diese sollte drei Ziele verfolgen, die gleichzeitig ihr Motto sind: „Sexualunterricht zur Vorbeugung; Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen, und legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“ Zwei Jahre später wurde die Kampagne in Córdoba offiziell gestartet.

Wieso hast du dich der Kampagne angeschlossen?

2003 während des Frauentreffens in Rosario erhielt ich ein grünes Tuch, auf dem die Entkriminalisierung der Abtreibung gefordert wurde. Mit einem Textmarker fügte ich noch die Legalisierung hinzu, denn ich hatte das Gefühl, dass die Entkriminalisierung den Staat aus der Pflicht nahm, entsprechende Maßnahmen zur körperlichen Integrität der Schwangeren umzusetzen. Nach meiner Rückkehr nach Glew, wo ich damals lebte und politisch aktiv war, erfuhr ich dann, dass ein Mädchen bei dem Versuch, mit Stricknadeln abzutreiben, umgekommen war. Eine andere lag im Krankenhaus, weil sie versucht hatte, mit Petersilie abzutreiben. Das war 2003. Leider hat sich seitdem nichts geändert. Fast täglich hören wir von jungen Frauen, die beim Versuch abzutreiben, sterben, wie z.B. einen Tag nach dem 8. August 2018, als der Versuch mit Petersilie abzutreiben, einer Mutter von zwei kleinen Kindern das Leben kostete. Tatsächlich werden bei einer Mehrzahl der Frauen, die auf Grund des Versuches eine Abtreibung vorzunehmen, sterben, körperliche Verstümmlungen gefunden. Laut Schätzungen treiben in Argentinien jährlich etwa 500.000 Frauen heimlich ab.

Wie organisiert ihr euch?

Die Kampagne ist ein pluraler, heterogener, föderaler, basisdemokratischer Raum, der auf Konsensbildung ausgerichtet ist. Solange du das dreifache Motto unterstützt, kannst du mitmachen, unabhängig von deiner politisch-ideologischen Zugehörigkeit. Heute sind mehr als 500 Organisationen im ganzen Land Teil der Kampagne, die sich auch international vernetzt. Wir organisieren jährliche Treffen, bei denen Strategie­pläne für das Jahr ausgearbeitet werden. Zudem haben wir es geschafft, dass es inzwischen Vorlesungen zum Thema an fast jeder öffentlichen Universität gibt. Poesiekreise, Zirkusgruppen, Unternehmerinnenzirkel, unabhängige Verlagsgruppen und viele andere haben sich der Kampagne vor allem im vergangenen Jahr ange­schlossen. Zudem unterhalten wir ein Netzwerk von Ärzten, die legale Abtreibungen vornehmen und Lehrern, die Sexualunterricht an Schulen geben.

Wie habt ihr es geschafft, so enorm zu wachsen?

Die Kampagne hat über zehn Jahre Aufklärungsarbeit an der Basis betrieben. Zudem ist die Bewegung der Frauen und Feministinnen in Argentinien in den letzten Jahren exponentiell gewachsen, wobei sowohl die Bewegung zur Gewalt gegen Frauen (Ni una Menos), als auch die seit über 30 Jahren stattfindenden nationalen Frauentreffen Impulsgeber sind. Aus der Vielzahl von Aktionen und Debatten zu den unterschiedlichsten Themen, die unser Geschlecht betreffen, hat sich in den vergangenen Jahren eine mächtige Bewegung entwickelt, was bei den letzten Demonstrationen am 8. März und am 3. Juni, sowie zu den zwei Abstimmungstagen des Gesetzes am 13. Juni und am 8. August eindrucksvoll gezeigt wurde.

Stimmte das im Senat zur Abstimmung stehende Gesetz mit euren Forderungen überein?

Das am 13. Juni vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz basierte auf unserem Gesetzesvorschlag, wenn es auch einige Änderungen enthielt. Dennoch konnten wir viele unsere Forderungen durchsetzen, wie die Legalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche. Da die Senatoren es jedoch am 8. August ablehnten und sich auch nicht auf eine Debatte über mögliche Änderungen einlassen wollten, konnte es nicht in Kraft treten. Tatsächlich gab es sogar Senatoren, die offen zugaben, das Gesetz nicht einmal gelesen zu haben.

Aus welchen Gründen wurde das Gesetz abgelehnt?

Die Argumente kommen von jenen, die wir „Anti-Rechte (Anti-Derechos)“ nennen, wobei sie sich selbst als „pro Leben“ bezeichnen. Ihre Kampagne ist eng an die katholische und die evangelikalen Kirchen gebunden, die im Vorfeld der Abstimmung einen großen Einfluss auf die Senator*innen genommen haben. So meinten sie unter anderem, dass eine Frau ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben könnte, wenn sie es nicht wollte. Zudem ist das Gesetz laut ihnen verfassungswidrig und Abtreibung Mord.

Wie war und ist die Stimmung jetzt in der Bewegung?

Das Nein der Senator*innen war ein harter Rückschlag nach so vielen Monaten der ständigen Mobilisierung, mehreren Aktivitäten pro Woche, Podiumsdiskussionen, Gesprächskreisen usw., und all das neben der Arbeit, denn das Engagement bei der Kampagne wird nicht bezahlt. Dennoch sind wir sehr stolz auf das Erreichte, denn inzwischen hat sich in der Gesellschaft so etwas wie ein Konsens ausgebreitet, dass Abtreibung nicht länger kriminalisiert werden soll. Es gibt heute keinen Ort in Argentinien, wo nicht über das Thema geredet wird. Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt an tausenden von Rucksäcken und Taschen im ganze Land.

Wann kann das Gesetz das nächste Mal zur Abstimmung kommen?

Wir können das Gesetz nächstes Jahr erneut zur Abstimmung vorschlagen. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung des Parlaments und des Senates mit den Wahlen im Oktober 2019. Die neu gewählten Volksvertretern übernehmen ihre Posten dann im Dezember, wobei die Arbeit des Parlaments nach den Sommerferien im März 2020 beginnt. Daher stellt sich für uns die Frage, ob es Sinn macht, das Projekt denselben Repräsentanten vorzulegen, die sich bereits dagegen ausgesprochen haben, oder ob es nicht geschickter ist, die neue Zusammensetzung der gesetzgebenden Organe abzuwarten. Das werden wir jetzt als Kampagne diskutieren, allerdings besteht für uns kein Zweifel daran, dass wir das Gesetz erneut vorlegen werden. Bis dahin bleiben wir aktiv und präsent auf der Straße.

Wie geht es jetzt weiter?

Mitte September findet unser nächstes nationales Treffen statt, wo wir über unser weiteres Vorgehen beraten werden. Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, dass die Abgeordneten und Senatoren verstehen, dass ihr Nein sie für jede neue Abtreibungstote verantwortlich macht, und versuchen, Druck auf jene Provinzen auszuüben, wo Ärzt*innen juristisch belangt werden, die legale Abtreibungen durchführen. Derzeit bereiten wir außerdem die Demonstration zum 28.9. vor, damit die grüne Welle nicht nur unser Land, sondern den ganzen Kontinent erfasst. Tatsächlich hat sie sich bereits auf Chile, Brasilien, Mexiko, Peru, Kolumbien, Venezuela, die Dominikanische Republik und Costa Rica ausgebreitet, und wir sind uns sicher, dass sie solange wachsen wird, bis sie die Ausmaße eines Tsunamis angenommen hat – und dann zum Gesetz wird!

WELCOME TO HELL, AGAIN

“Malvenida” in Hamburg Die Welcome to Hell-Demo bei den G20-Protesten im Juni 2017 (Foto: montecruzfoto.org)

Während Hamburg uns noch in den Knochen sitzt, rüstet sich Argentinien bereits für den nächsten G20-Gipfel Ende November in Buenos Aires. Ein weiteres Mal wird der Gipfel inmitten einer Großstadt stattfinden und diese in einen Ausnahmezustand versetzen. Neben den mächtigsten Politiker*innen der Welt werden etwa 8.000 Personen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen zu dem Gipfeltreffen anreisen. Der Tagungsort Costa Salguero am nördlichen Küstenstreifen des Río de La Plata liegt zynischerweise in unmittelbarer Nähe der Villa 31, einem der größten Armenviertel der Stadt, wo mehr als 40.000 Menschen informell leben. Hinter verschlossenen Türen wird auf dem Gipfel auch über die Zukunft dieser Menschen entschieden werden, ohne sich jemals mit ihrer Lebensrealität auseinandergesetzt zu haben.

Zum Galadinner sollen die Staatschefs ins nahegelegene Teatro Colón im Zentrum bewegt werden. Gastgeberpräsident Mauricio Macri erwägt, dafür einen arbeitsfreien Tag für die Stadt Buenos Aires anzuordnen, um die komplette Abriegelung des Stadtzentrums zu erleichtern. Ein derartiger Gesetzesentwurf wurde von der Regierung Ende Juli vorgelegt.

Je näher der Gipfel rückt, desto repressiver wird die Politik gegenüber sozialen Protesten


Die durch Wirtschaftskrise, Inflation und stetig sinkenden Pesowert angeschlagene Regierung Macris will die Blicke der Welt auf Argentinien als Gastgebernation nutzen und zeigen, dass sie alle Anforderungen an ein neoliberales Musterland erfüllt: drastischer Sozialabbau, Renten- und Arbeitsreform, Anleihen beim IWF. Das soll beruhigend auf mögliche Investoren wirken und ihnen das Bild vermitteln, dass sie auf die Unterstützung der wichtigen Sektoren des Landes zählen können. Riots wie zum vergangenen G20-Gipfel in Hamburg passen nicht in dieses Bild. Deswegen rüstet die Regierung massiv auf, über eine Milliarde Argentinische Pesos (fast 30 Millionen Dollar), ein Drittel des G20-Budgets, sind laut verschiedenen Tageszeitungen in Sicherheit und Verteidigung investiert worden. Das Gesamtbudget entspricht in etwa den vorgesehenen Kürzungen im Bildungssystem. Die Sicherheits-„Einkaufsliste“ liest sich derweil, als würde sich Argentinien für einen Weltkrieg wappnen: Überschallflugzeuge, Helikopter, ein Raketenabwehrsystem, das mit 50 Raketen auf einem vorgelagerten Kriegsschiff installiert wird, mehrere Radare, Installationen zur Cybersicherheit, weitreichende Anti-Riot-Ausrüstung und weitere geheime Käufe von militärischem Material per Dekret im Februar dieses Jahres.

Das Gipfeltreffen trägt somit nebenbei zur Militarisierung Argentiniens bei, denn die angeschaffte Ausrüstung verbleibt selbstverständlich auch dann im Land, wenn die Staatschefs es wieder verlassen haben. Je näher der Gipfel rückt, desto repressiver wird die Politik gegenüber sozialen Protesten. Bereits im vergangenen Jahr bei den Großdemonstrationen im September (Santiago Maldonado) und Dezember (Renten„reform“) wendete die Polizei eine bisher nicht gekannte Härte gegenüber den Protestierenden an. Die Einführung neuer Straftatbestände im Zusammenhang mit Demonstrationen hat in dieser Zeit zu einer neuen Dynamik der Repression und einem Boom an Verhaftungen von Journalist*innen und Aktivist*innen geführt, wie Mitglieder des Fernsehsenders Antena Negra berichteten (siehe LN 529). Zudem hatte die Entlassung von mehr als 350 kritischen Journalist*innen bei der öffentlichen Nachrichtenagentur Telam im Juni dieses Jahres unter den Entlassenen zu Spekulationen geführt, dass so auf die Berichterstattung über G20 eingewirkt werden sollte.

14.500 Polizeikräfte der vier in Buenos Aires agierenden staatlichen Sicherheitsorgane sollen dann im Einsatz sein, verstärkt durch Spezialeinheiten aus allen Provinzen des Landes. Die Koordination der „Megaoperation Sicherheit“ obliegt dem Sicherheitsministerium unter der Leitung von Ministerin Patricia Bullrich, die sich schon bei dem Gewaltsamen Verschwinden von Santiago Maldonado durch besonderen Zynismus und die Verteidigung des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte ausgezeichnet hatte und von sozialen Organisationen zum Rücktritt aufgefordert worden war (siehe LN 522). Gute Aussichten für den bevorstehenden Gipfel, der zudem ein Highlight für viele der Spezialeinheiten zu werden scheint. Laut der Ministerin gab es Anfragen aus den Provinzen, an den Operationen teilzunehmen, sodass sie kurzerhand alle dazu „eingeladen“ hätte. „Das ist für uns etwas, das noch nie dagewesen ist“, schwärmt sie geradezu. „Viele wollen daran teilnehmen, weil sie sonst nie im Leben bei so einem Event dabei sein würden. So wurde das auch in Hamburg gemacht. Das erscheint uns eine gute Idee. So bildet sich ein gutes Engagement für die Nation heraus“.

Hamburg als Beispiel für auch nur irgendetwas zu nehmen, zeugt von der Ignoranz derartiger Amtsinhaber*innen gegenüber demokratischen Rechten von Bürger*innen. Eher klingt es nach gut Spaß und Spannung, mit voller Legitimation die neu angeschafften Spielzeuge auszuprobieren. Das Team Sicherheit unter Bullrichs Kommando setzt sich zudem aus Verteidigungs- und Außenministerium, Geheimdienst und einer Allianz mit dem Comando Sur der US-Streitkräfte zusammen, jenem Teil des Pentagon, dessen Aktionsradius den südlichen Kontinent, Zentralamerika und die Karibik umfasst. Das Comando Sur war auch bei den Olympischen Spielen in Brasilien 2016 vor Ort. Laut der argentinischen Ausgabe des Online-Zeitungsnetzwerks Izquierda Diario ist es verantwortlich für die Entwicklung des Plan Condor, über den in den 60er und 70er Jahren die Genozide der Militärdiktaturen koordiniert wurden. Im vormaligen Sitz des Comando Sur, der Escuela de las Américas in Panama, wurden 60.000 Militärs in Foltertechniken und Spionageabwehr ausgebildet, unter ihnen alle namhaften Diktatoren des Kontinents. Die starke Kooperation mit den USA in Sachen Sicherheit hat, wie Ministerin Bullrich gegenüber der konservativen Zeitung Clarín äußerte, den netten Nebeneffekt, zu helfen, die „alte Wunde“ in den bilateralen Beziehungen zu heilen, die aus dem Kirchnerismo geerbt worden war. Im Juli kam dann auch die erste Delegation des Comando Sur für ein Spezialtraining von 40 Gendarmen und Polizeikräften nach Buenos Aires – ohne jedoch eine parlamentarische Autorisierung für diesen Einsatz gehabt zu haben. Das Sicherheitsministerium will gut vorbereitet sein, ist es doch die zuständige Einheit für die „gewaltsamen Demonstrationen und Proteste, die die Antiglobalisierungs- und Antiregierungsgruppen – international und lokal – in derartigen Gipfeln normalerweise aufziehen“, wie Clarín berichtet. Verschiedene dieser Gruppen haben sich in der Asamblea No G20 zusammengefunden und mobilisieren derweil für einen breiten Widerstand gegen den Gipfel. Sie stellen Informationsmaterial zur Verfügung und planen eine Aktionswoche, die am 26. November beginnen und in der möglicherweise auch ein Gegengipfel stattfinden soll.

Im feministischen Forum geht es um Alternativen, um eine Welt, die mit einer anderen Logik funktioniert

Die hochrangigen Gäste sollen sich nicht willkommen fühlen, aus dem bienvenida soll ein malvenida werden – die argentinische Version von „Welcome to Hell“. Dabei appellieren sie auch an die internationale Solidarität: „Wir rufen Menschen aus der ganzen Welt auf, ihre Körper, Stimmen und Fäuste gegen dieses Forum zu erheben, wo das Schicksal der Welt ohne uns entschieden wird“, heißt es in einem Aufruf für ein internationales Vorbereitungstreffen dieser Tage in Buenos Aires.

Auch die offiziellen Vorbereitungen laufen seit mehreren Monaten, oft begleitet von gleichzeitigen Gegenveranstaltungen. Etwa 50 vorbereitende Treffen von Minister*innen und Arbeits- gruppen werden bis zum endgültigen Gipfel stattgefunden haben. Der Dialog mit der Zivilgesellschaft wird wie üblich über sogenannte Dialoggruppen hergestellt, die eigene Empfehlungen an die G20 formulieren. Ob Stimmen der Zivilgesellschaft über „unabhängige Gruppen“ in einem „inklusiven Prozess“ miteinbezogen werden, ist vor allem dann fragwürdig, wenn man bedenkt, dass Vertreter*innen der Gruppen direkt von der Gastgeberregierung benannt werden. Diese bilden dementsprechend eine „globale Elite“ und „Gewinner*innen des Kapitalismus“ ab, die „Garanten dafür sind, dass diese Welt so weitergeht, wie wir sie kennen“, wie die Asamblea No G20 informiert.

Die B20-Gruppe der Unternehmer*innen wird beispielsweise durch Daniel Funes Rioja, einen ehemaligen Berater des Planungsministeriums in der Militärdiktatur, angeleitet. Die Veranstaltungen der B20 und anderen Gruppen zu den Themen Jugend, Arbeit, Zivilgesellschaft, Think Tanks, Wissenschaft (Civil20) und Frauen (Women20) werden durch illustre Sponsoren wie unter anderem Coca-Cola, Google, American Express und Pharmakonzerne finanziert. Als Gegenposition zu Women20 (W20) haben feministische Aktivist*innen das Foro Feminista contra el G20 gegründet, das sich unter dem Motto „Nicht in unserem Namen“ gegen die Vereinnahmung feministischer Konzepte in Kontexten von Unternehmensgründungen und flexibilisierten Arbeitszeiten wehrt. Sie kritisieren das binäre Geschlechterkonzept und die Fokussierung auf wirtschaftliche Faktoren bei W20. Empowerment wird dort rein marktwirtschaftlich verstanden und bedeutet die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, ohne dabei das Konzept der Arbeit, von Wirtschafts- und Machtbeziehungen in Frage zu stellen und ohne Diskussionen über Reproduktionsarbeit und Pflege miteinzubeziehen. „Die Zukunft, die sie denken, schließt uns nicht mit ein“, beschwert sich daher Florencia Parteño vom feministischen Netzwerk DAWN über die Politik der G20-Staaten, die vorgeben, eine Genderperspektive miteinzubeziehen. Im feministischen Forum geht es um Alternativen, um eine Welt, die mit einer anderen Logik funktioniert. Diese sollen in alternativen und partizipativen Foren diskutiert werden. „Wir werden auf der Straße sein und unsere feministischen Widerstände sichtbar machen, dort wo deren Agenda besprochen wird“, kündigt die Ökonomin Patricia Laterre an. Denn dass es bei dem G20-Gipfeltreffen nicht um zivilgesellschaftliche Fragen geht, machte Argentiniens Chef-Unterhändler Pedro Raúl Villagra Delgado bei einer Sitzung der Civil20 Gruppe im April bereits klar: „G20 ist nicht der Ort, wo über Menschenrechte diskutiert wird“. Umso wichtiger, dass den alternativen Diskussionen auf den Straßen Gehör verschafft wird und diese Stimmen bis in die gut gesicherten Konferenzräume vordringen.

BILDUNGSPOLITIK MIT NEBENWIRKUNGEN

„Hier gibt niemand auf!“ Kunsthochschule Belgrano kämpft gegen Schließung (Foto: Joaquín Berardino)

Seit Anfang August geht nichts mehr an den 57 argentinischen Universitäten: Aus Empörung über die desaströse Situation der staatlichen Hochschulen streiken die Lehrkräfte. Sie beklagen, dass die finanziellen Mittel nicht einmal für elementare Materialien und die grundlegende Deckung der universitären Ausgaben reichen. Seit der Amtsübernahme Macris im Dezember 2015 ist der Anteil der Investitionen im Bildungssystem an den städtischen Ausgaben auf rund 18 Prozent gesunken – nun ist er so niedrig wie nie. Hinzu kommen die gescheiterten Tarifverhandlungen um die Lehrgehälter. Während die Gewerkschaften eine Lohnerhöhung um mindestens 30 Prozent als Inflationsausgleich forderten, war die Regierung am Jahresanfang nur zu einem Zugeständnis von 15 Prozent bereit, das Mitte August auf circa zehn Prozent zurückgestuft wurde – bei einer Inflationsrate von fast 30 Prozent. Bereits 20 nationale Universitäten haben den Notstand verhängt, weil die Unileitungen befürchten, die Löhne nur noch wenige Monate lang auszahlen zu können.

„Wir wissen, dass das aktuelle politische System auf Lügen basiert!“

Als wäre die Situation nicht schon dramatisch genug, sorgen die zwei jüngsten Bildungsreformen der neoliberalen Regierung für weitere Aufregung. Die „weiterführende Schule der Zukunft“ (secundaria del futuro) und die Dozent*innenuni „UniCABA“ sind zwei Projekte, die die Qualität des argentinischen Bildungssystems durch ein „zukunftsweisendes Programm“ verbessern sollen. Bei Lehrkräften, Schüler*innen und Studierenden treffen die Pläne jedoch auf großen Widerstand. Bereits im letzten Herbst kam es zur Besetzung von 29 Schulen durch Schüler*innen, die die Reformprojekte als wenig zukunftsweisend empfinden. Kritikpunkte sind unbezahlte Assistenzen in Firmen, zusammengestauchte Unterrichtsinhalte und eine drastische Verkürzung der Präsenzzeit von Lehrer*innen, die zu 70 Prozent nur noch als Begleitung eines technologiebasierten Lernens auftreten sollen. Dennoch startete ein entsprechendes Pilotprojekt mit 17 Schulen der Hauptstadt ins Schuljahr 2018.

Gleichzeitig erzürnt das UniCABA-Projekt die derzeit streikenden Hochschullehrkräfte, die den freien Zugang, die Unabhängigkeit und die Qualität der Ausbildung in Gefahr sehen. Die neue Dozent*innenuni soll als alleinige Einrichtung die 29 Institute der Hauptstadt ersetzen, die für die Ausbildung von Lehrkräften zuständig sind. Eine knappe Ankündigung in Form eines PDF-Dokumentes stammt aus dem November 2017. Obwohl konkretere Informationen fehlen, soll die UniCABA bereits Anfang 2019 ihren Betrieb aufnehmen. Die entsprechende parlamentarische Abstimmung findet angeblich schon in den nächsten Wochen statt. Die Professor*innen der betroffenen Institute beschweren sich über einen Mangel an Information und Kommunikation: Es sei unklar, wer genau das Projekt UniCABA erarbeitet habe und welches pädagogische Konzept dem Ganzen zugrunde liege. Es habe weder ein Dialog mit Vertreter*innen der Gewerkschaften noch eine angemessene Debatte stattgefunden. Die betroffenen Studierenden und Professor*innen erschreckt diese autoritäre Durchsetzung des Projektes. „Wir fühlen uns sehr desinformiert“, empört sich Camila Ramirez, Studentin der Kunsthochschule Manuel Belgrano. „Es ist unmöglich, dass für ein Projekt von solchem Ausmaß die Meinung derer, die für die Ausbildung zuständig sind, außer Acht gelassen wird.“

Zudem mag nach den wiederholten Entlassungswellen der vergangenen Jahre im öffentlichen Dienst niemand daran glauben, dass alle Arbeitsplätze nach dem Ersatz von 29 Intituten mit einer Uni erhalten bleiben („29 x 1“). „Angeblich wird keine Professur gestrichen“, erklärt Joaquín Berardino, Mitstudent von Ramirez. „Aber wir wissen, dass das aktuelle politische System auf Lügen basiert!“ Dozent*innen und Studierende sorgen sich darüber hinaus um die Unabhängigkeit und Qualität der Ausbildung. Die Leitung der zukünftigen Dozent*innenuni soll ein*e von der Regierung beauftragte*r Rektor*in sowie eine Kommission aus parlamentarischen Vertreter*innen übernehmen – eine Absage an die Autonomie und die demokratische Organisation, die die Hochschulen bisher auszeichnet. „Die Qualität der Ausbildung wird stark darunter leiden, dass die unterschiedlichsten Disziplinen in einem Gebäude unterrichtet werden und den Schülern nicht mehr die Aufmerksamkeit und Förderung zukommen kann wie vorher“, ergänzt Berardino. Sollte die Regierung als Beschwichtigung eine Koexistenz der bisherigen Hochschulen mit der UniCABA vorschlagen, befürchten die Studierenden eine Abwertung ihrer akademischen Titel und eine extreme Kürzung finanzieller Mittel, die ihre Schulen unweigerlich zum Auslaufmodell machen würden.

Reformen sind ein Angriff auf die öffentliche Bildung

Warum diese weitreichenden Reformen? Die Regierung beklagt einen Lehrer*innenmangel und eine Absolvent*innenrate an den Unis, die mit etwa 30 Prozent zu den niedrigsten weltweit gehört. Dass sich am argentinischen Bildungssystem einiges verbessern ließe, möchte wohl niemand bestreiten. Doch gerade im UniCABA-Projekt sind die neoliberalen Interessen der Politiker*innen klar zu erkennen. Einerseits waren an den Arbeitsausschüssen Unternehmer*innen statt Dozent*innen beteiligt, andererseits erinnert der Diskurs der Regierung in vielerlei Hinsicht an ein Dokument der Weltbank, das Vorschläge zur angeblichen Verbesserung der lateinamerikanischen Bildungssysteme beinhaltet. Das frei verfügbare PDF „Excellent Teachers“ stellt die Lehrer*innen als den Schwachpunkt der schlechten lateinamerikanischen Bildungssysteme und die Autonomie der ausbildenden Hochschulen als Hindernis für die Qualität der Ausbildung dar. Auch das technologiebasierte Lernen findet sich im Weltbank-Leitfaden wieder, in dessen Argumentation das Bildungssystem als Dienstleister der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit erscheint. Und die versucht die Regierung verzweifelt zu steigern, gilt es doch, die Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) einzuhalten: Im Gegenzug für den versprochenen Kredit über 50 Milliarden Dollar müssen die Staatsausgaben gekürzt und das Haushaltsdefizit abgebaut werden.

Bei vielen Argentinier*innen ruft das negative Erinnerungen an die Wirtschaftskrise der Jahrtausendwende hervor, im Zuge derer das Land von IWF-Krediten abhängig war. Außerdem lässt sich vermuten, dass die Regierung von Macri nicht ohne erste Resultate auf dem G20-Gipfel Ende November in Buenos Aires dastehen möchte, auf dem auch über das Thema Bildung gesprochen wird.

„Ich weiß nicht, was die wirklichen Beweggründe des UniCABA-Gesetzes sind, aber wahrscheinlich geht es wieder nur um ökonomische Interessen“, meint auch Ramirez, die die Entwicklung des argentinischen Bildungssystems an ihr Heimatland Chile erinnert. Dort wird ein Großteil der Hochschulbildung von privaten oder ausländischen Geldgebern finanziert und viele Jugendliche müssen sich für ein Studium hoch verschulden, während in Argentinien auch Hochschulen keine Gebühren erheben. „In Chile ist die Bildungspolitik ein Geschäft. In Argentinien besteht die Gefahr, dass es zu einer ähnlichen Situation kommt, wenn die Möglichkeit einer kostenlosen, qualitativ hochwertigen Hochschulbildung verschwindet, die vielen benachteiligten Jugendlichen Zukunftsperspektiven und Arbeitschancen vermittelt.“

Um gegen den Tausch von „29 x 1“ und die prekäre Situation der Hochschulbildung zu protestieren, wird es voraussichtlich weitere Protest­märsche geben. Zusätzlich organisieren viele der betroffenen Institute Aktionstage, an denen sie mit Vorträgen, Konzerten und Straßenkunst auf ihre Situation aufmerksam machen. Als letztes Mittel sehen viele Studierende, wie schon die Schüler*innen der weiterführenden Schulen, nur die Besetzung ihrer Institute. Sie werten die Reformen als Angriff auf die öffentliche Bildung, die der Privatisierung und Kommerzialisierung die Türen öffne. Trotz des entschlossenen Widerstands erscheint eine Abkehr von den Reformprojekten unwahrscheinlich. Leider hat die Regierung Macri schon an anderer Stelle bewiesen, wie leicht sie sich über gegenteilige Interessen hinwegzusetzen weiß.

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