FEST AN DER SEITE DER BEVÖLKERUNG

Misstrauen gegenüber Parteien Das Lebensmotto von Victor Pey (Foto: Nils Brock)

Victor Pey wurde im August 1915 in Madrid geboren. Er wuchs in einem anti-autoritären Ambiente und einem Elternhaus voller kritischer Ideen auf. Sein Vater Segismundo war Schriftsteller und antiklerikaler Priester, der zivilen Ungehorsam predigte und die Soutane irgendwann ganz an den Nagel hing. Von seinem Sohn Víctor wissen wir, dass er sich während des spanischen Bürgerkriegs (1936-1939) den Anarchosyndikalist*innen anschließt und am 24. Juli 1936 mit der “Kolonne Durruti” von Barcelona los zieht, um die Stadt Zaragoza aus den Händen der frankistischen Truppen zu befreien. Später ist er für die republikanische Regierung in Barcelona aktiv, um die zivile Industrie Kataloniens auf die Kriegsproduktion umzustellen. Als Barcelona fällt, flüchtet er mit seinem Bruder Raúl zu Fuß über die Pyrenäen. „Zum Glück hatten wir einen Kompass mit“, erinnert sich Pey in einem Interview mit dem Rechercheprojekt Allendes Internationale. „Aus Angst vor Bombenangriffen war auf spanischer Seite nachts alles abgedunkelt. Als wir eines Tages Lichter sahen, war uns klar, dass wir französischen Boden erreicht hatten.“
Die Familie Pey wird eine Zeit lang im Konzentrationslager Rivesaltes, in der Nähe von Perpiñán interniert. Französische Freimaurer erreichen ihre Freilassung und bringen sie nach Lyon, von wo aus Víctor heimlich nach Paris weiterreist. Abends arbeitet er für die Exilregierung der spanischen Republik in der Rue Salazar, tagsüber sucht er fieberhaft nach einem persönlichen Ausweg.

Pablo Neruda als Fluchthelfer

Beim Spazierengehen liest er eines Nachmittags an einem Zeitungskiosk die Nachricht, der Dichter Pablo Neruda halte sich als Sonderbeauftragter Chiles in Paris auf, um spanische Flüchtlinge auszuwählen, die in seinem Land politisches Asyl erhalten würden. Unverzüglich sucht Pey das Gespräch mit ihm. Neruda notiert seinen Namen, verspricht aber nichts. Monate später, am 4. August 1939, legen Pey und seine Familie an Bord des Ozeandampfers Winnipeg in Bordeaux ab. “Ich erinnere mich an diesen Moment, als die Winnipeg den Anker lichtete und sich in Bewegung setzte”, erzählt Pey. “Auf dem Achterdeck hatte sich ein Chor aus Katalonen gebildet und intonierte das Lied „L’Emigrant“. Mich hat das tief beeindruckt, das ist unvergesslich.“ Einige Tage später trifft das Schiff in Valparaiso ein und noch während der Begrüßung der spanischen Flüchtlinge lernt Pey den damaligen Gesundheitsminister Salvador Allende kennen – der Beginn einer großen Freundschaft, die erst mit dem gewaltsamen Tod Allendes am 11. September 1973 endet. Pey findet eine Beschäftigung als Landvermesser und ermöglicht so seiner Familie eine gesicherte Existenz. Noch in den 1940er Jahren beginnt er Artikel für die Zeitschrift La Hora zu schreiben. Während dieser Zeit freundet er sich mit dem Journalisten Darío Sainte-Marie an, der in den 1950er Jahren die Tageszeitung Clarín gründen wird. Dieses Blatt erlangt sehr bald große Beliebtheit. Nicht nur aufgrund seiner gewagten Sprache, sondern auch wegen seiner teils reißerischen Schlagzeilen und Aktfotos (mitunter begleitet von machistischen und homophoben Kommentaren). In den 1960er Jahren hatte die Auflage bereits 150.000 Exemplare erreicht. Das Motto des Clarín lautete: “firme junto al Pueblo”, was soviel heißt wie “fest an der Seite der Bevölkerung”.Dem Clarín gelingt es, die Hegemonie der rechten Unternehmer-Blätter zu brechen. Die Zeitung repräsentierte die Aufstiegsambitionen der breiten Masse und unterstützte ab 1969 die Präsidentschaftskandidatur von Allende. Pey war es dann, der den Clarín 1972 kaufte und damit fortan “beständig und schlagkräftig” die Politik der Regierung bis zum letzten Tag verteidigte. “Jeden Tag, wenn ich gegen halb acht abends aus der Druckerei kam, brachte ich dem Präsidenten das neueste Exemplar”, erzählt Pey. So auch am 10. September 1973. Am nächsten Morgen jedoch, um 4 Uhr verhindern Armeeeinheiten die Auslieferung der aktuellen Ausgabe. Wenige Tage später konfisziert die Militärjunta den Sitz des Clarín. Nach Herausgeber Pey wird gefahndet und einmal mehr ist er gezwungen, um Asyl zu bitten, diesmal in der Botschaft Venezuelas, von wo aus er zuerst nach Caracas und später nach Paris reiste.

In den 1990er Jahren gründet Pey gemeinsam mit seinem Freund, dem spanischen Anwalt Joan Garcés, der in Chile als Berater der Regierung der Unidad Popular gewirkt hatte, die Stiftung “Fundación española Salvador Allende”. Die Institution hat 1998 entscheidenden Anteil an der Verhaftung von Augusto Pinochet in London und dem darauf folgenden Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits einige Jahre vorher, nach Ende der Diktatur, war Pey nach Chile zurückgekehrt und beteiligte sich aktiv am Kampf für die Menschenrechte sowie an der Erinnerungsarbeit für die Unidad Popular. 2015 ehrte ihn die Universität von Chile zu seinem 100. Geburtstag mit der “Medaille des Rektorats”. Bei der Verleihung sagte Pey: “Für uns bedeutet Chile Freiheit, wir fanden eine Beschäftigung, hier arbeitete ich, hier verliebte ich mich […], hier unterstütze ich die Regierung von Salvador Allende, den Anführer eines Sozialismus ohne Blutvergießen, den chilenischen Weg zum Sozialismus, mit Empanadas und Rotwein [und] hier stehe ich jetzt vor euch, bei dieser Hommenage die mir so viel bedeutet.”

Eine Entschädigung für die Enteignung der Zeitung Clarín erreicht Pey bis zuletzt nicht

Bis zu seinem Tod am 5. Oktober 2018 versuchte Pey das Grundstück vom Clarín zurückzubekommen und von Chile eine Entschädigung für die Enteigung zu erwirken – ohne Erfolg. Dabei hatte eine internationales Schiedsgericht der Weltbank (Ciadi) die Rückgabe angeordnet und den chilenischen Staat zur Zahlung von 10 Millionen Dollar verurteilt. Doch der Fall konnte nie abgeschlossen werden, da sich ausnahmslos alle Regierungen nach Ende der Diktatur weigerten, dem Schiedspruch nachzukommen.
Im Alter von 103 Jahren erinnert sich Pey besonders gern an seine Zeit als Professor für Industrieingenieurwesen an der Staatlichen Technischen Universtität (UTE) und die langen, schlaflosen Nächte, in denen er Allende beriet. Über die revolutionären Zeiten die Pey mitgestaltete, sagte er: “Meine Position allem gegenüber war stets eine misstrauische Haltung gegenüber politischen Parteien. Das ist meine libertäre Essenz, die ich mir immer bewahrt habe.”

WENN PAROLEN GEGEN WAFFEN NICHT REICHEN

Welchen neuen Aspekt der chilenischen Militärdiktatur wollen Sie mit Ihrem Film über Raúl Pellegrin beleuchten?

Michelle Ribaut: Das Thema Erinnerung wird in Chile nur aus einer Perspektive heraus betrachtet: der Perspektive der Opfer, die in der Diktatur Menschenrechtsverletzungen ertragen mussten. Was natürlich eine wichtige Pers-pektive ist, weil sie Teil der Anerkennung der Verbrechen ist und die Würde der Opfer wiederherstellen möchte. Bei der Recherche ist uns allerdings aufgefallen, dass kaum Produktionen existieren, die sich mit dem Thema Widerstand beschäftigen. Erinnerungskultur wird um das Thema Angst herum gesponnen, während diejenigen, die gegen die Angst kämpften, kaum einen Platz in unserer Geschichte haben.

Gabriel Astudillo: Ich fühle mich mit der Geschichte Pellegrins sehr verbunden. Wir beide sind kurz nach seiner Ermordung geboren und in einem Chile aufgewachsen, in dem die Mehrheit der Menschen entweder in Armut oder knapp über der Armutsgrenze leben. Unsere Demokratie ist noch immer sehr eingeschränkt. Während wir in diesem Chile aufwuchsen, erfuhren wir, dass es vor uns Personen gab, die unter sehr repressiven Bedingungen ähnliche Kämpfe austrugen, wie wir sie heute beispielsweise im Zuge der Studierendenbewegungen austragen. Die Geschichte des Widerstands in der Diktatur schenkt uns Hoffnung.

Was ist das Besondere an der Figur Raúl Pellegrin?

M.R.: Pellegrin hat in seinem Leben wichtige Stationen der lateinamerikanischen Geschichte durchlaufen. Als Kind erlebte er die kubanische Revolution, seine Familie zog 1960 nach Kuba. Zurück in Chile durchlebte er die Jahre der Unidad Popular. Er kämpfte im sandinistischen Befreiungskampf in Nicaragua und litt unter den Repressionen der Pinochet-Diktatur. Er erlebte das Exil in Deutschland. Sein Leben war also bereits vor der Gründung des FPMR sehr bewegt.

Wird Ihr Projekt denn trotz – oder gerade wegen – des schweren Stands des Themas Widerstand innerhalb der Erinnerungskultur mit öffentlichen Mitteln gefördert?

M.R.: Wir haben zwei Jahre lang versucht, eine öffentliche Förderung zu bekommen. Doch die Finanzierungsmöglichkeiten für künstlerische Projekte sind in Chile sehr schlecht. Im Bereich Film ist die Lage besonders prekär. Der Neoliberalismus will, dass du mit deinen Kolleg*innen um ein paar Pesos wetteiferst. Hinzu kommt, dass es Themen gibt, an deren Finan-zierung die Zuständigen kein Interesse haben. Wie gesagt, die offizielle Linie ist es, Projekte zu fördern, die aus der Angst-und-Schrecken Perspektive produziert werden. Da passen wir einfach nicht rein. Wir finanzieren uns nun vorwiegend durch Spenden.
G.A.: Ein weiterer Punkt ist, dass im Rahmen des chilenischen Neoliberalismus die Förderung von Kultur und Wissenschaft extrem marktorientiert ist. Es gibt Fördertöpfe, die explizit und ausschließlich dazu da sind, im klassischen Sinne zu investieren. Die Projekte sollen sich auf lange Sicht selbst finanzieren können und Gewinne generieren, kommerziell sein.

Sie glauben nicht, dass die Entscheidung inhaltlich, nämlich gegen den FPMR war?

M.R.: Die „offizielle Wahrheit“ besagt noch immer, dass der FPMR eine terroristische Vereinigung war, die einzig und allein Angst schürte. Ihr Ziel war aber die Bekämpfung des Staatsterrorismus. Pellegrin sagte auf einer Konferenz, dass das Volk sich nicht mit Parolen wehren könne, wenn es mit Kugeln angegriffen würde. Wenn deine Nächsten ermordet, verschwundengelassen und entführt werden, reicht Diplomatie als Antwort kaum aus. Es war eine bewusste, aus der Not heraus entstandene Entscheidung, zu den Waffen zu greifen. Der FPMR war allerdings weit mehr als nur „der bewaffnete Arm der Kommunistischen Partei Chiles“. Er war auch ein politischer Apparat, der, wenn er weiterhin existiert hätte, das Militärische vermutlich aufgegeben hätte und nur noch seinem politischen Kurs gefolgt wäre.

G.A.: In einigen Kommentaren in den sozialen Netzwerken des Projekts wird deutlich, wie stark der bewaffnete Kampf in Chile verurteilt wird. Typisch ist: „Gewalt, wo auch immer sie herkommt, ist schlecht“. Die pazifistische Position ist legitim. Aber diese Kritik nimmt keine Rücksicht auf den extremen Staatsterror, der die Gegengewalt erst provozierte. So wie ich es sehe, ist die militärische Komponente innerhalb einer kollektiven Aktion etwas, das Leben retten und die Repression eindämmen kann. Und trotzdem ist diese für viele Personen nicht legitim, wenn sie von staatsfernen Oppositionsbewegungen ausgeht, sie halten den FPMR für gewaltverherrlichend. Pellegrin hingegen sagte oft: „Wir mögen Waffen nicht. Wir mögen Gewalt nicht. Wie schön wäre es, wenn wir nicht auf sie zurückgreifen müssten.“

Dennoch wird die Geschichte des FPMR, wie auch die vieler anderer revolutionärer Bewegungen, als Geschichte des Scheiterns wahrgenommen.

M.R.: Der bewaffnete Kampf kann nicht als etwas Alleinstehendes betrachtet werden, er findet nicht zu seinem eigenen Zweck statt. Er darf nicht von anderen Bewegungen getrennt werden, die dasselbe Ziel verfolgen. In Chile gab es einen strategischen Spielzug seitens der Militärregierung: Sie kam aus der Deckung und veranlasste ein Plebiszit, das über die Zukunft Pinochets entscheiden sollte. In diesem Sinne ist der Widerstand gescheitert. Es war allerdings ein Scheitern der Linken insgesamt, da unser Land noch immer voll und ganz dem Neoliberalismus und seiner Entmenschlichung unterworfen ist.

G.A.: Laut Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Wir dürfen nicht denken, dass der bewaffnete Kampf ein Alleinstellungsmerkmal revolutionärer Bewegungen ist. Das Militärische ist Bestandteil jeder Politik. Rechte Bewegungen, sozialdemo-kratische Bewegungen, alle haben eine Militär-politik. Oft werden die Aktionen des FPMR jedoch isoliert betrachtet und die politische Überzeugung der Gruppe wird vernachlässigt. Die Bewaffnung war aber niemals die zentrale Kom-ponente dieser Überzeugung. Das Militärische kann verschiedenste Ausdrucksformen haben. Demonstrationen, große Versammlungen oder Barrikaden sind für mich ebenso militärische Elemente, die noch immer Teil des kollektiven Kampfes sind.

Welche Schlüsse können also vom Kampf des FPMR für die heutige Zeit gezogen werden?

G.A.: Die chilenische Linke hat das Projekt einer substanziell anderen, vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft im Lauf der achtziger Jahre größtenteils aufgegeben. Was heute vorgeschlagen wird, sind Korrekturen, aber alles im Rahmen des Neoliberalismus. Der FPMR hingegen wollte den Kapitalismus abschaffen. Obwohl es vereinzelt Gruppierungen gibt, die vom Sozialismus und vom Antikapitalismus sprechen, verortet sich der Großteil der Linken, wie zum Beispiel der Frente Amplio, der als die Alternative zur Concertación gehandelt wird, innerhalb des aktuellen Systems. Die klassische Linke hat uns jedoch Ideen hinterlassen, über die es sich heute wieder nachzudenken lohnt. Der zweite Punkt ist, dass wir vom FPMR viel über die strategische Organisation lernen können, über die technische Vorbereitung politischer Aktionen und die Artikulation einer politischen Idee, die für das Gemeinwohl der Bevölkerung eintritt.

M.R.: Pellegrin hat zwischen 1986 und 1987 schon die Idee einer verfassungsgebenden Versammlung ausgeführt, die Idee, dass ein Raum für Diskussion geschaffen wird. Stattdessen haben wir eine Demokratie, die nur mit Tinte und Papier eingeführt wurde. Zwar haben die Massenverbrechen aufgehört, aber Pellegrin selber wurde zum Beispiel erst nach dem Plebiszit ermordet. Heute wäre es vor allem wichtig, eine Demokratisierung des Militärs und der Polizei voranzutreiben.

Welche Erwartungen haben Sie an den Filmstart?

M.R.: Nächstes Jahr ist nicht nur Pellgrins 30. Todestag, sondern wir „feiern“ auch 30 Jahre Rückkehr zur Papier-und-Tinte-Demokratie. In diesem Zusammenhang wird die Idee, dass der Diktator immerhin so großzügig gewesen sei, „freiwillig“ aufzugeben, und dass alle Widerstandsbemühungen somit irrelevant gewesen seien, weiter gestärkt werden. Die Geschichte von Raúl Pellegrin dient dazu, die verdrängte Seite der Erinnerung wieder aufleben zu lassen. Wir möchten mit dem Film einen Raum für Diskussion und alternative Erinnerungskultur schaffen.

 

ENDLICH AUFARBEITUNG?

Besuche im Knast lohnen sich wohl doch manchmal. Mario Carroza, seines Amtes Richter in der chilenischen Hauptstadt Santiago besuchte am 25. August 2017 das Gefängnis von Cauquenes, etwa 300 Kilometer südlich von seinem Arbeitsplatz. Dort verhörte er die Funktionäre der ehemaligen Sektensiedlung Colonia Dignidad Kurt Schellenkamp (90), Gerd Mücke (87) und Gunter Schafrik (62), die alle drei wegen Sexualdelikten gegen Kinder zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Obwohl bereits in den 1960er Jahren einzelne Colonos (Siedler*innen) entkommen konnten, die von den Grausamkeiten in der Siedlung berichteten, hielt sich die Siedlung, die heute Villa Baviera (Bayerisches Dorf) heißt, bis Mitte der 1990er. Möglich war dies unter anderem aufgrund der Verbindungen hochrangiger Sektenmitglieder zu deutschen Politiker*innen und Diplomat*innen und weil die deutsche Botschaft in der Hauptstadt Santiago de Chile sich taub stellte, wenn über die Verbrechen der Colonia berichtet wurde.

Sektenführer Paul Schäfer war im Jahr 2006 in Chile zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und starb 2010 im Gefängnis. Und auch wenn mittlerweile einige ehemalige Funktionäre der Sekte in Haft sind, gibt es noch einiges an Aufarbeitung zu tun. Unter anderem sind noch immer Gräber von gewaltsam Verschwundenen der Militärdiktatur unentdeckt. Eben wegen der Suche nach einem dieser Gräber machte sich Carroza auf den Weg zum Gefängnis von Cauquenes, um dann direkt weiter zu fahren, um Hinweisen von Willy Malessa (68), einem ehemaligen Colono nachzugehen. Dieser berichtete von einem Grab, circa zwölf Kilometer vom Eingang der Colonia entfernt. Die Ermittlungen und Ausgrabungen dazu sind noch im Gange, Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen der verhafteten Verschwundenen und politisch Hingerichteten in Talca, mahnt aber trotzdem, die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben: „Es gibt eine neue Spur, einen neuen Hoffnungsschimmer dafür, dass diese Erde einen oder mehrere unserer geliebten Angehörigen versteckt. „Wir dürfen keine Erwartungen aufbauen, die über das hinausgehen, was die Wissenschaft und das korrekte Handeln von Herrn Mario Carroza uns sagt.“ Man müsse nun vorsichtig und behutsam sein.

Während in Chile also zumindest etwas Hoffnung besteht, dass die sterblichen Überreste einiger der im Auftrag der Militärdiktatur gewaltsam Verschwundenen gefunden werden können, wurden in den letzten Sitzungswochen des Bundestages die Weichen dafür gestellt, dass auch in Deutschland Aufarbeitung stattfinden kann. Nach monatelangem Hin und Her und den üblichen unwürdigen parteipolitischen Spielchen wurde am 29. Juni ein von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Grünen eingebrachter Antrag mit dem Titel „Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad“ einstimmig beschlossen. Auch die Linkspartei, die bei der Antragsausarbeitung ausgeschlossen wurde, unterstützte den Antrag. „Leider konnte die Union auch in diesem Fall nicht über ihren ideologischen Schatten springen“, so der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Jan Korte.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden.

Neben einem Hilfsfond für die Opfer der Sekte, soll eine Begegnungs- und Gedenkstätte eingerichtet, sowie eine deutsch-chilenischen Expertenkommission eingesetzt werden. Die Opfer sollen psychosozial betreut und gegebenenfalls finanziell unterstützt werden. Dafür sollen nach dem Willen der Parlamentarier auch Mittel aus dem Vermögen der Sekte herangezogen werden. Bemerkenswert an dem Antrag ist, dass die Opfer der chilenischen Militärdiktatur ausdrücklich erwähnt werden.

Vor allem aber verpflichtet der Antrag die Bundesregierung bis zum 30. Juni 2018 „ein Konzept für Hilfsleistungen zur Beratung vorzulegen und dessen Finanzierung zu prüfen.“ „Durch die konkrete Frist ist sichergestellt, dass Fragen mit finanziellen Konsequenzen nicht nur geprüft, sondern auch umgesetzt werden“, so Christian Flisek (SPD) gegenüber den LN. „Im vorliegenden Antrag wird jede eindeutige Zusage für die Förderung der Aufarbeitungs- und Gedenkarbeit sowie einer Hilfe für die Opfer vermieden“, kritisiert hingegen Jan Korte.

Laut Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile Lateinamerika (FDCL) ist der Antrag ein wichtiges und Hoffnung gebendes Signal. „Zum Feiern ist es aber noch zu früh. Es gab ja schon 2002 einen Bundestagsbeschluss mit dem Titel ‘Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad’, der nicht angemessen umgesetzt wurde“. Stehle erinnert zudem daran, dass auf chilenischer Seite auch noch viel passieren muss, da viele der im Antrag beschlossenen Maßnahmen nur bilateral umgesetzt werden könnten.

Die Entwicklungen in Deutschland werden auch in Chile kritisch begleitet. „Das ist das erste echte Signal dafür, dass die Schäden, die die Sekte von Paul Schäfer angerichtet hat, beglichen werden“, sagte Myrna Troncoso von der Vereinigung der Angehörigen gegenüber den LN.
Tatsächlich scheinen dieses Mal den Ankündigungen und Willensbekundungen des Bundestages Taten zu folgen. Der Regionalbeauftragte für Lateinamerika und Karibik, Botschafter Dieter Lamlé, und der Botschafter der Republik Chile, Patricio Pradel, haben schon am 12. Juli Absprachen über die Einsetzung einer chilenisch-deutschen Kommission unterschrieben. Klar ist bis jetzt, dass diese Kommission die Vergangenheit der Colonia aufarbeiten, deren Vermögen untersuchen, sowie eine Gedenkstätte einrichten soll.

Unklar ist allerdings wer in der Kommission vertreten sein wird. „Wir hoffen, dass zivilgesellschaftliche Organistionen und Experten nicht nur angehört, sondern in die Arbeit der Kommssion von Beginn an mit eingebunden werden. Im besten Fall ist dies der erste Schritt für die Schaffung einer Wahrheitskommission, die zur umfassenden Aufklärung aller Verbrechen der Colonia beitragen kann“, so Jan Stehle. Zum ersten Treffen der Kommission im Oktober in Chile sollen nach jetzigem Stand allerdings nur Regierungsvertreter*innen kommen. Immerhin wird aber schon vor den im November und Januar anstehenden Wahlen die Arbeit aufgenommen. Sollte nämlich der Konservative Sebastian Piñera als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen in Chile hervorgehen, dürfte dies die Arbeit der Kommission noch schwerer und langsamer machen, als sie sowieso schon ist.

Erstaunliche Geschwindigkeit aufgenommen hat wiederum das Vollstreckungsersuchen gegen den ehemaligen Sektenarzt Hartmut Hopp, der in Chile wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Dieses lag dem Landgericht Krefeld seit 2015 vor. Es geht dabei um die Frage, ob Hopp die gegen ihn verhängte Haftstrafe in Deutschland verbüßen muss. Das Gericht war wiederholt für seine langsame Vorgehensweise kritisiert worden. Am 14. August erklärte es überraschenderweise das chilenische Urteil für in Deutschland vollstreckbar. Petra Isabel Schlagenhauf, Kooperationsanwältin des European Center for Constitutional and Human Rights sagte dazu in einer Presseerklärung: „Die Entscheidung des Landgerichts Krefeld gegen Hartmut Hopp wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch in der Colonia Dignidad begrüße ich sehr. Sie lässt darauf hoffen, dass in diesem Teilbereich der in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen die Aussicht für die Opfer besteht, dass Gerechtigkeit geschieht. Sie bestätigt außerdem, dass die Verurteilung von Hartmut Hopp in Chile in einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt ist.” Die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig, da Hopp, der unbehelligt in Krefeld lebt, Rechtsmittel eingelegt hat. Zumindest aber ist es nun im Bereich des Möglichen, dass mit ihm ein weiterer Colonia-Funktionär für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird.

CHILENISCHE ALLTAGSHELDEN

„Jede dieser Geschichten ist ein Ferngespräch mit der Vergangenheit“, heißt es auf dem Klappentext von Ferngespräch. Im Original ist der Bandtitel jedoch identisch mit dem der ersten Erzählung – „Eigene Dokumente“ – und spätestens der Satz „eigentlich will ich diese Datei schließen und für immer im Ordner Eigene Dokumente speichern“ lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Anspielung auf einen Computerordner handelt. Jede Geschichte ist gewissermaßen ein Dokument in diesem Ordner. Ein Fragment, das sich einem persönlichen Erlebnis, einem Thema widmet und aus dem Ordner eine Art Erinnerungssammlung macht.

Nicht nur der Titel „Eigene Dokumente“, sondern auch die Ich-Perspektive mehrerer Geschichten legt eine autobiographische Lektüre nahe. Diese wird durch zahlreiche Details bestärkt, wie etwa, dass der Autor selber in der Kommune Maipú aufwuchs und im Instituto Nacional zur Schule ging, dass er an Cluster-Migräne leidet und sein Vater wegen Kurzsichtigkeit auf eine professionelle Fußballkarriere verzichten musste. Die Details geben dem Band Kontinuität. Die Geschichten sind aber genau so reich, wenn man jede nur für sich betrachtet.

Der rote Faden wird dabei durch die angesprochenen Themen abgesteckt: Diktatur und Erinnerung, Religion, sexuelle Erfahrungen, Männlichkeitsbild und Fußball, Literatur. Bei den Charakteren handelt es sich um Typen: Mal geht es um den Raucher, der an Migräne leidet, mal um den Schüler, der während der Diktatur aufwächst, umgeben von „diese[m] verdächtige[n], typisch chilenische[n] Schweigen […], das alles zudeckt“. Um den Literaturstudenten, der planlos durchs Leben streift und sich mit willkürlichen Jobs übers Wasser hält – bis er eine Nacht den Wasserhahn im Büro offen lässt und sich einen neuen Job suchen muss. Um den Jungen, der in einem katholischen Bildungssystem groß wird und Lieder einübt, „darunter das Vaterunser zur Melodie von ‚The Sound of Silence‘“. Um Liebende, die nicht wissen, dass sie lieben und um solche, die noch nicht wissen, dass sie es nicht mehr tun.

Bemerkenswert ist vor allem Zambras Sprache. Oft reflektiert er über Sprache und Schreiben, Computermetaphern und -bilder sind im ganzen Band sehr präsent. Mit einer fast mechanischen Präzision zählt Zambra oft scheinbar unbedeutende Details auf, die die Erzählungen anreichern. Sei es in der Szene, in der die Mutter Englisch lernt und stundenlang Kassetten mit sinnfreien Lektionen hört („der Mann sagte ‚These are my eyes‘ und die Frau antwortete ‚Those are your eyes‘“). Oder die Geschichte „Instituto Nacional“, wo die beschriebene Atmosphäre und die Art der Lehrer*innen an den Club der Toten Dichter erinnert.

Überhaupt können Leser*innen reichlich Popkultur- und Literaturreferenzen entdecken, aus Chile und anderswo. Die Protagonist*innen lesen sowohl Paul Celan, Emily Dickinson und Heinrich Böll, als auch Humberto Díaz Casanueva und Nicanor Parra. Sie hören Simon and Garfunkel und Radiohead aber auch Künstler*innen der Nueva Canción Chilena wie Violeta Parra oder die Bands Quilapayún und Inti Illimani. Und sind leidenschaftliche Fußballfans.

Ganz im Geiste seiner Geschichten ist Ferngespräch ein Buch für Menschen, die das Lesen lieben, die auf meisterhafte Sprachkniffe stehen und die noch über die Absurdität des Lebens und der Welt lachen mögen. Das Buch liest sich leicht, aber man nimmt sich gern mehr Zeit, um Wort für Wort, Zeile für Zeile, Geschichte für Geschichte, die fabelhafte Sprache Zambras zu genießen.

 

GESUNDHEIT VOR GERECHTIGKEIT?

Es wirkte fast schon verzweifelt. Ein weiterer Versuch in der Reihe der unermüdlichen Anstrengungen, endlich das lang gewünschte Ziel zu erreichen: Alberto Fujimori, der wegen Mord, schwerer Körperverletzung und Entführung zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, aus dem Gefängnis zu holen. Im April wurde zuletzt ein Gesetzesvorhaben vor dem peruanischen Kongress vorgestellt. Der 78-Jährige ehemalige Politiker sei schwerkrank, was einen Arrest im eigenen Haus nötig mache, hieß es. Fujimori zählt zu den kontroversesten Politikern der peruanischen Geschichte. Die Auseinandersetzung zwischen den Anhänger*innen des „Fujimorismo“ und seinen Gegner*innen zeigte sich auch beim Präsidentschaftswahlkampf im vergangenen Jahr. Keiko Fujimori, die älteste Tochter des Inhaftierten, kam mit ihrer rechtskonservativen Partei Fuerza Popular als stärkste Kraft in die Stichwahl. In der zweiten Runde musste sie sich nur knapp Pedro Pablo Kuczynski von der neoliberalen Partei Peruanos por el Kambio (PPK) geschlagen geben. Dass es am Ende für Keiko an einem Prozentpunkt scheiterte, war größtenteils der Anti-Fujimori-Bewegung zu verdanken. Mit Slogans wie „Fujimori nunca más“ (Nie wieder Fujimori), demonstrierte die Bewegung in den großen Städten gegen eine erneute Machtübernahme eines Fujimoris (siehe LN 503). Auch eine mögliche Haftentlassung von Alberto Fujimori trieb viele Demonstrant*innen auf die Straße.

Trotz der Wahlschlappe sind die Bestrebungen zur Entlassung Fujimoris nicht abgeklungen, sondern haben lediglich ein neues Gesicht erhalten. So stellte der fraktionslose Kongressabgeordnete Roberto Vieira am 24. April den Gesetzentwurf Nr. 1295 zur „Regelung der Strafe für Senioren ab 75 Jahren“ vor. Mit dem Entwurf sollte eine besondere Bedingung in das Strafgesetzbuch integriert werden. Schwerkranke, alte Gefangene sollten demnach den Rest ihrer Strafe zu Hause absitzen können. Obwohl das Gesetzesvorhaben keinen konkreten Namen nannte, bestätigte Vieira, dass er das Projekt unter Berücksichtigung des ehemaligen Präsidenten entworfen habe. Vieira bestand allerdings darauf, dass der Entwurf nicht mit einer Entlassung gleichzusetzen sei: „Es ist keine Begnadigung. Es wird nichts verziehen. Stattdessen können 820 Menschen, die die Anforderungen erfüllen, die Vorteile nutzen.“

Diese Anforderungen waren, dass der Gefangene ein Drittel der auferlegten Haftstrafe abgesessen hat, älter als 75 Jahre ist und an einer schweren Krankheit leidet und sich so in einer heiklen Gesundheitslage befindet. Im Falle Fujimoris, der 78 Jahre alt ist, wären die ersten beiden Bedingungen erfüllt gewesen. Der ehemalige Diktator hatte im vergangenen Jahr das erste Drittel seiner Haftzeit beendet. Bezüglich seines Gesundheitszustandes wurden verschiedene Beschwerden festgestellt. Im Februar musste Fujimori ins Krankenhaus eingeliefert werden, da ein Bandscheibenvorfall an seiner Wirbelsäule ihm am Laufen gehindert hatte. Der Neurochirurg Carlos Álvarez erklärte, dass dies ein typisches Anzeichen des Alterungsprozesses sei, was den Patienten in seiner Beweglichkeit einschränken würde. Zusätzlich wurden beim ehemaligen Diktator weitere Leiden wie Bluthochdruck, Herzrasen, Mundkrebs und eine Magenschleimhautentzündung diagnostiziert. Fujimoris Arzt, Alejandro Aguinaga, erklärte, dass sein Patient jedoch keinen Herzinfarkt gehabt hätte: „Ein Fehler der Mitralkappe verursacht sein Herzrasen, aber kein Infarkt.“ Inwieweit diese Beschwerden ausreichend sind, den Ex-Diktator aus humanitären Gründen zu begnadigen, ist unklar. Jedoch hätte die Verabschiedung des Gesetzentwurfes Fujimori eine Möglichkeit eröffnet, seine Haft legal zu umgehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen.

Trotz der Beteuerungen Vieiras, dass dieses Vorhaben rein aus humanitären Gründen ins Leben gerufen wurde, blieb die politische Motivation unverkennbar und sorgte für viel Aufsehen. Das Gesetz wäre nämlich nicht nur dem Ex-Diktator zu Gute gekommen. Eine Reihe weiterer Gefangener, unter denen sich auch Vladimiro Montesinos, der brutale und korrupte Geheimdienstbeauftragte der Regierung Fujimori, befindet, hätten auf diese Weise die Chance gehabt, ihre Haftstrafe in Hausarrest umzuwandeln. Laut dem Anwalt Alonso Gurmendi hätte dieses Gesetz sogar Abimael Guzmán, Anführer der maoistischen Terrororganisation „Leuchtender Pfad“, zu partieller Freiheit verhelfen können. Ein Schreckensszenario für viele Peruaner*innen, die die Grauen des bewaffneten Konfliktes zwischen der Terrororganisation und der peruanischen Armee in den 1980er und 1990er Jahren miterlebt haben.

Kritik an dem Gesetzesvorhaben äußerte auch die Fuerza Popular, die Partei des „Fujimorismo“. Die Kongresspräsidentin und Abgeordnete, Luz Salgado, erklärte im Interview mit dem Sender RPP Noticias, dass sie mit dem Hausarrest nicht einverstanden sei: „Ich möchte Alberto Fujimori frei sehen, nicht in einem Haus eingesperrt. Ich denke, dass es eine Begnadigung geben muss, und das liegt in der Macht von Präsident Kuczynski“.

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Ipsos Perú befürwortet mehr als die Hälfte der peruanischen Bevölkerung eine Begnadigung Fujimoris aus humanitären Gründen. Diese kann allerdings nur vom Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski erteilt werden. Außerdem wird von 54 Prozent der Befragten die auferlegte Strafe von 25 Jahren Haft als zu streng empfunden. Diese Daten sind sinnbildhaft für die weiterhin starke Unterstützung, die Fujimori in der peruanischen Bevölkerung genießt. Dass er nach seiner Wahl den peruanischen Kongress im Jahr 1992 auflöste, alle oppositionellen Kräfte im Land durch den sogenannten autogolpe (Selbstputsch) zum Schweigen brachte, die Medien zensierte und mit Hilfe von Todesschwadronen unschuldige Menschen des Terrorismus beschuldigte und ermorden ließ, scheint aus der Erinnerung vieler Menschen verschwunden zu sein.

Am 10. Mai wurde das Gesetzesvorhaben Vieiras zur Haftentlassung Fujimoris vom peruanischen Kongress abgelehnt und archiviert. Der Versuch, Fujimori aus dem Gefängnis zu holen, scheiterte damit erneut. Ausschlaggebend war ausgerechnet der Widerstand der Fuerza Popular, die sich gegen den Hausarrest und für eine komplette Begnadigung aussprach. Ob die gesundheitlichen Beschwerden des Gefangenen ausreichend sind, um eine Entlassung aus der Haft zu erreichen, bleibt also weiterhin ein strittiges Thema. Das Land ist in zwei gegensätzliche Lager gespalten. Fraglich ist auch, ob bei den vielen Verbrechen Alberto Fujimoris überhaupt eine frühzeitige Entlassung gerechtfertigt werden kann. Sind seine körperlichen Beschwerden wirklich schwerwiegender zu gewichten als die Erpressungen, Ermordungen und Entführungen, die während seiner 10-jährigen Regierungszeit stattgefunden haben? Eine Frage, die eine gründliche Reflexion benötigt – besonders von Seiten der peruanischen Regierung.

MONOKULTUR ALS BRANDBESCHLEUNIGER

„Santa Olga ist abgebrannt,” der Bürgermeister der Gemeinde Constitución ringt um Fassung, als er die Nachricht in den frühen Morgenstunden des 26. Januars im Interview mit Radio Cooperativa überbringt. Der 5000- Einwohner*innen-Ort existiert nicht mehr, 1000 Häuser sind abgebrannt. Die Vernichtung des Ortes in der südlichen Region Maule markierte einen traurigen Höhepunkt der Katastrophe, zu der Präsidentin Michelle Bachelet erklärt, dass man „etwas diesen Ausmaßes nie zuvor in der Geschichte Chiles” gesehen habe. Bereits Anfang Januar gab es vermehrt Waldbrände in verschiedenen Regionen, in der Hafenstadt Valparaiso verbrannten mehr als 200 Häuser. Doch die Nachrichten verheerender, sich schnell ausbreitender Flächenbrände kamen am 17. Januar aus Pumanque in der Region O’Higgens, 200 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile. Innerhalb von zwei Tagen breitete sich das Feuer mit rasender Geschwindigkeit aus und geriet außer Kontrolle. Bald standen auch weite Teile der Regionen Maule, Bío Bío und La Araucanía in Flammen.

1600 Häuser wurden zerstört, mehr als 7000 Menschen sind betroffen.

Die Medienberichte zeigten ein Inferno, das selbst tausende Feuerwehrkräfte mit schwerem Gerät und zahlreiche Löschhelikoptern angesichts immer neuer Brandherde nicht unter Kontrolle bekamen. Erfolge bei der Löschung der größten Brände erzielten schließlich der sogenannte Super Tanker aus den USA mit einem 73000-Liter-Tank sowie El Luchín – das von Russland entsendete Löschflugzeug Ilyushin Il- 76.

Die Meldungen aus Pumanque führten zu einer Welle der Solidarität: Unzählige Freiwillige halfen, in dezentralen Anlaufstellen wurden Spenden gesammelt, Autokorsos brachten Hilfe zu den betroffenen Orten, Notunterkünfte wurden gebaut. Auch die internationale Hilfe kam schnell. Argentinien, Brasilien, Venezuela, Mexiko, Peru und andere lateinamerikanische Länder entsendeten Löschbrigaden. Expert*innen, Flugzeuge und Geld kamen aus Nordamerika, Südkorea, Japan, Frankreich und Deutschland. Erst Anfang Februar gab es offiziell keine neuen Brandherde mehr, doch noch immer waren nicht alle Brände gelöscht. Ein Fläche von 400.000 Hektar, so groß wie Baden-Württemberg, verbrannte innerhalb von zwei Wochen. Über 1600 Häuser zerstörten die Flammen, elf Menschen starben. Mehr als 7000 Menschen sind von der derzeitigen Katastrophe betroffen. Am heftigsten wüteten die Feuer in den Regionen, die ohnehin schon zu den ärmsten des Landes zählen.

Viele Waldbrände werden von Menschenhand verursacht: Entweder vorsätzlich oder fahrlässig. Die Fahndung nach vermeintlichen Brandstifter* innen begann schnell. Die Polizei konnte mehr als 40 Personen verhaften. Laut Präsidentin Bachelet könne bei einigen der Festgenommenen vorsätzliche Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden.

Auch die Elektrizitätswerke sollen eine Mitschuld an den Bränden tragen. Der Staatsanwalt der Region O’Higgins, Emiliano Arias, geht davon aus, dass sich 15 Prozent der Brände in der Region durch Defekte an Leitungen entzündeten. Er leitete ein Verfahren gegen die Compañía General de Electricidad (CGE) ein. Sechs Mitarbeiter eines Subunternehmers der CGE wurden vorläufig festgenommen, weil sie während der Reparaturen an einer Stromleitung in Pumanque die Brände entzündet haben sollen. Parallel dazu wurde ein Verfahren gegen einen leitenden Angestellten eingeleitet. Das Unternehmen stritt jegliche Verantwortung ab.

Die rechts-konservative Opposition überschüttete indes die amtierende sozialdemokratische Regierung mit Schuldzuweisungen. Ex-Präsident Sebastian Piñera, der bei den Präsidentschaftsvorwahlen für das rechts-konservative Parteienbündnisses Vamos Chile kandidieren wird, leitete mitten in der Katastrophe den Wahlkampf ein: Über Twitter kritisierte er das angeblich zu späte Handeln der Regierung, suggerierte Unfähigkeit im Katastrophenschutz und beklagte den angeblichen Ausschluss von oppositionellen Bürgermeistern bei der Katastrophenbekämpfung. Weitere Angriffe kamen von Bürgermeistern und Senatoren der Opposition. Rückendeckung kam hingegen vom früheren sozialdemokratischen Präsidenten Ricardo Lagos und sogar vom linken Abgeordneten Gabriel Boric, der twitterte: „Das ist nicht der Moment für politische Spielchen. Die Präsidentin hat meine ganze Unterstützung bei der Bekämpfung der Katastrophe.”

Trotz der demonstrativ unter Beweis gestellten Handlungsfähigkeit und den zugesagten Soforthilfen in Millionenhöhe spitzen die Brände die Regierungskrise weiter zu. Die ohnehin schon schlechten Umfragewerte von Bachelet sanken laut den wöchentlichen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Cadem nochmal um einige Prozentpunkte auf nur noch 19 Prozent Zustimmung.

Umwelt-Expert*innen, unabhängige Medien und soziale Bewegungen sehen, entgegen der institutionellen Politik und großen Medien, einen anderen Hauptgrund für die Ausbreitung der Waldbrände: Die expansive monokulturelle Bewirtschaftung mit Pinien und Eukalyptusbäumen, die native Baumarten über Jahrzehnte größtenteils verdrängt haben. Die Bäume gelten als Brandbeschleuniger, die Feuer überleben können. Zudem saugen sie Wasser auf und lassen Böden errodieren. Die durch den Klimawandel ansteigenden Temperaturen, die zunehmende Desertifikation und die hohe Brennbarkeit der Bäume führen zu sich schnell ausbreitenden großen Flächenbränden. Die Baumplantagen in Chile bestehen inzwischen zu fast 70 Prozent aus Pinien und zu über 20 Prozent aus Eukalyptusbäumen – und konzentrieren sich in den Regionen, die am stärksten von den Bränden betroffen sind. Bereits im November 2016 haben die Bewohner*innen dieser Regionen öffentlich den starken Rückgang des Wassers beklagt.

Die expansive monokulturelle Bewaldung ist im Dekret 701 gesetzlich verankert. Das 1974 während der Diktatur verabschiedete Dekret schreibt die staatliche Förderung expansiver Baumpflanzung durch steuerliche Vergünstigungen und staatliche Subventionen fest. Die größten Profiteure sind die beiden großen Unternehmensgruppen und Familienclans Matte und Angelini, die zusammen zwei Millionen Hektar Land besitzen. Eukalyptus und Pinien wachsen schnell und lassen sich zu Zellulose verwerten. Der Absatz von Zellulose ist enorm gestiegen, Chile belegt weltweit den neunten Platz. Die Hauptexporteure von Zellulose in Chile sind Angelini mit dem Tochterunternehmen Arauco und Matte mit dem Unternehmen CMPC. An der Bekämpfung der Waldbrände beteiligten sich die Unternehmen erst Ende Januar nach einem Krisentreffen mit der Präsidentin.

Allerdings formiert sich Protest gegen die Protegierung des Forstwirtschaftsmonopols. Ein breites Bündnis aus mehr als hundert Organisationen fordert die Abschaffung des Dekrets 701, ein Ende der Privilegierung der Großunternehmen und eine gründliche Untersuchung der Verantwortung der großen Forstunternehmen für die Brände. Ende Januar übergaben Sprecher* innen des Bündnisses einen offenen Brief an die Regierung, in dem auch die Untersuchung von möglichen Brandstiftungen durch die Unternehmen selbst, etwa um Versicherungssummen zu kassieren, gefordert wird. Aus dem Bündnis wird auch institutionelle Kritik an der Forstbehörde Conaf laut, die zwar dem Agrarminsterium zugeordnet, aber privatrechtlich organisiert ist. Gefordert werden dagegen staatliche Programme, die grundlegend den Schutz der Umwelt garantieren.

Präsidentin Bachelet versprach Anfang Februar per Twitter eine Gesetzesvorlage einzubringen. um eine staatliche Forstbehörde zu schaffen und die Conaf, die auch wegen fragwürdigen Auftragsvergaben kritisiert wird, zu ersetzen. Ob ihr dies in den acht Monaten bis zu den Wahlen gelingen wird, bleibt fraglich.

Die Folgen der Katastrophe und der Wiederaufbau werfen zudem weitere grundsätzliche Probleme auf. Das Zentrum für Sozioökonomische Auswirkungen von Umweltpolitik (CESIP) fordert, die Folgen der Brände hinsichtlich verschiedener sozialer Aspekte, wie zum Beispiel den Anstieg ländlicher Armut, zu analysieren um entsprechende politische Maßnahmen ergreifen zu können. „In den Gebieten, die am stärksten betroffen sind, bildet der Zugang zu natürlichen Ressourcen einen großen Teilen der sozioökonomische Lebensgrundlage,” so die CESIP. Doch kurz vor den Wahlen braucht es schnelle Versprechen: Michelle Bachelet kündigte an, Santa Olga innerhalb eines Jahres wiederaufbauen zu wollen und benannte eine Person für die Koordination. Abgesehen von der geringen Erfolgsaussicht des Unterfangens zeigt sich darin die Fortsetzung einer Politik, die ihre Aufgabe lediglich darin sieht, die Menschen mit einem „Dach über dem Kopf” zu versorgen. Diese Aufgabe wird in Chile mittels staatlicher Subventionen an private Bauunternehmen delegiert – auch dies ein Erbe der Diktatur. Die Erfahrungen aus dem Erdbeben 2010 und den weitgehend folgenlos gebliebenen Kämpfen für einen gerechten Wiederaufbau zeigen, dass diese Politik die ohnehin zunehmenden sozialen Probleme noch weiter zu verschärfen droht.

STRAFE TROTZ MACRI

Buenos Aires, 20. September 2016. Das Gerichtsgebäude mit seiner bürokratischen Nüchternheit nimmt einen ganzen Häuserblock ein. Gleich hinter ihm beginnt das Hafenviertel. Vom Stadtzentrum ist es durch mehrspurige, vom Schwerlastverkehr beherrschte Avenidas abgeschnitten. Wer das Gebäude betritt, gelangt in ein zentrales Hauptportal, das von hohen Eisengittern umgeben ist. Ob man zu den Kläger*innen oder den Angeklagten gehört, will das Personal wissen, dann erst gibt es die Zutrittserlaubnis. Der Verhandlungssaal liegt im Keller. Er ist fensterlos und in ein schummriges künstliches Licht getaucht. Der allgemeine Publikumsbereich, der durch eine Glaswand vom Innenbereich getrennt ist, ist an diesem Tag prall gefüllt. Unter den vielen Köpfen stechen zwei hervor, bedeckt mit den weißen Tüchern der Madres de la Plaza de Mayo. Darüber befindet sich die Galerie. Dort sitzen – außerhalb des Sichtbereichs aller anderen – die Angehörigen und Sympathisant*innen der Angeklagten.

Fotos: Christian Dürr

Dann betreten die Richter den Saal und ein mehrminütiges Blitzlichtgewitter beginnt. Von den Angeklagten dürfen keine Fotos gemacht werden, was zu einem ablehnenden Raunen im Publikum führt. Die neun älteren Herren, die Minuten später den Saal betreten, sind halb formell, halb leger gekleidet. Das Haar ist bereits schütter. Ihre Namen sind: Gerardo Jorge Arráez, Juan Carlos Mario Chacra, Eduardo Ángel Cruz, Alfredo Omar Feito, Raimundo Oscar Izzi, Carlos Alberto Lorenzatti, Héctor Horacio Marc, Juan Miguel Méndez und Ricardo Valdivia. Im Dienste der staatlichen Repressionsorgane waren sie Schergen der argentinischen Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 rund 30.000 Personen gewaltsam „verschwinden“ ließ. Konkret wird ihnen zur Last gelegt, an Entführungen, Folterungen und Morden in drei geheimen Internierungszentren im Großraum Buenos Aires mit den Namen „Club Atlético“, „Banco“ und „Olimpo“ – kurz: „ABO“ – beteiligt gewesen zu sein.

Die Verlesung der Anklageschrift dauert mehr als zwei Stunden. 352 Einzelfälle müssen in den kommenden Monaten verhandelt werden. In allen lautet die Anklage auf illegale Freiheitsberaubung und Folter, in einigen wenigen auch auf Mord. Die Militärs wollten möglichst keine konkreten Spuren ihrer Verbrechen hinterlassen, auch nicht in Form der Körper der Ermordeten. Eine der Methoden sich ihrer zu entledigen war, die Gefangenen noch lebend aus Flugzeugen über dem Rio de la Plata abzuwerfen. Doch der Fluss hatte oft seinen eigenen Willen und spülte die Toten wieder zurück ans Ufer. Die Behördenermittlungen führten im Fall solcher Leichenfunde nie zu einem Ergebnis, waren die Behörden selbst doch für das Verbrechen mitverantwortlich. Die Körper wurden als NN –„Identität unbekannt“– in den nächstgelegenen Friedhöfen bestattet. So vergingen Jahre und Jahrzehnte. Erst mittels der modernen forensischen Methoden der Argentinischen Arbeitsgruppe für forensische Antropologie (EAAF), einer Vereinigung von Gerichtsmediziner*innen im Dienste der Menschenrechte, konnten in den letzten zwei Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl unbekannter Opfer identifiziert und ihre Angehörigen verständigt werden. Auch im Fall des Olimpo leistete die EAAF entscheidende Aufklärungsarbeit. Im Jahr 2007 wurden zehn als NN begrabene Leichen als die sterblichen Überreste einer Gruppe von Gefangenen identifiziert, die am 6. Dezember 1978 auf einen „Todesflug“ geschickt worden war. Heute kann daher in diesen Fällen wegen Mordes angeklagt werden.

Der erste Verhandlungstag wird für beendet erklärt. Die Angeklagten im Saal erheben sich von ihren Stühlen und strecken ihre Beine durch. Die Zuseher*innen hinter der Glasscheibe machen dasselbe. Dann beginnen einige von ihnen zu singen und spontan stimmen alle anderen mit in den Chor ein: „Cómo a los nazis les va a pasar: a donde vayan los iremos a buscar“ („Wie den Nazis wird es ihnen ergehen: Wo immer sie sich auch verkriechen, wir werden sie uns holen“). Die Angeklagten tun so, als würden sie davon keine Notiz nehmen.

Im Publikum befindet sich auch Isabel Fernández Blanco. Isabel war Gefangene in den Folterlagern Banco und Olimpo. Es wird zumindest noch ein Jahr dauern, bis sie als eine der letzten Zeug*innen im Prozess aussagen wird. Bis dahin wird sie sich mental intensiv darauf vorbereiten. Wenn Überlebende im Gerichtssaal ihren Folterern gegenübersitzen, öffnet sich die Vergangenheit in ihnen oft wie ein Strudel, der sie zurück in die Opferrolle kippen lässt. Isabel dagegen will, so wie in den Prozessen davor, Fassung bewahren und so viele Informationen wie möglich liefern, die zur Verurteilung führen. Sie hat viele Erinnerungen, etwa an ihren ersten Folterer im Internierungszentrum Banco, Julio Héctor Simón, alias „Turco Julián“: „Eines Tages holte er mich aus meiner Zelle und brachte mich in ein kleines Zimmer. Dort brachte er mich mit seinen Schlägen halb um. Aber irgendwann kommt der Moment, an dem du aufhörst, Schmerzen zu empfinden. Er konnte mich weiter schlagen, aber mein Körper war von den vielen Schlägen wie betäubt. Ich konnte nicht mehr vom Boden aufstehen, und da begann ich zu heulen. Ich erinnere mich noch, was er mir sagte: ‚Was für ein Glück du hast, dass du heulen kannst.‘ Dann half er mir auf die Beine, setzte mich in einen Stuhl und bot mir eine Zigarette an.“

„Turco Julián“, war einer der berüchtigtsten Folternden im Komplex ABO. Dennoch konnte er nach dem Ende der Diktatur jahrelang frei herumlaufen. In den 1990er-Jahren absolvierte er Auftritte in Fernsehshows, in denen er sich öffentlich seiner Taten brüstete. Die Schergen der Diktatur waren lange Zeit vor jeglicher rechtlicher Verfolgung sicher – und das obwohl die erste Phase der Aufarbeitung mit der Einsetzung einer „Nationalen Kommission über das Verschwindenlassen von Personen“ (COANDEP) im Jahr 1983 und dem Prozess gegen die Mitglieder der Militärjuntas im Jahr 1985 vielversprechend begann. Unter dem demokratischen Präsidenten Alfonsín wurden 1986 und 1987 zwei Gesetze verabschiedet, die die weitere Strafverfolgung praktisch zum Erliegen brachten: das erste setzte für das Einbringen von Anzeigen wegen Menschenrechtsverletzungen ein zeitliches Ultimatum; das andere machte Gehorsamspflicht gegenüber Vorgesetzten geltend und gewährte damit den tatsächlichen Folterern, die oft niedrigeren militärischen Rängen entstammten, praktisch Straffreiheit. Alfonsíns Nachfolger Carlos Menem erließ Amnestiegesetze, mit welchen die bis dahin Verurteilten wieder auf freien Fuß gelangten. Doch im Jahr 2003, zwei Jahre nach dem argentinischen Volksaufstand, wurden diese Gesetze vom Kongress für ungültig erklärt. Dies öffnete den Weg für neue Verfahren, und es war just Julio Héctor Simón alias „Turco Julián“, der als erster verurteilt wurde: im Jahr 2006 zu 25 Jahren Haft, im Jahr 2010 wegen weiterer Delikte schließlich zu lebenslang.

“Hier lebt ein Massenmörder”: Escrache gegen Alfredo Omar Feito

 Der Soziologe Daniel Feierstein analysierte für ein 2015 erschienenes Buch sämtliche seit 2006 geführten Diktatur-Prozesse. Bis Jahresende 2013 ergingen demnach 110 Urteile zu mehr als 3.000 individuellen Fällen. Von etwa 600 Angeklagten wurden mehr als 550 verurteilt – eine Bilanz die weltweit ihresgleichen sucht, wenn es um die juristische Verfolgung staatlicher Verbrechen geht. Die Prozesse waren unter den Regierungen von Néstor Kirchner (2003-2007) und Cristina Fernández de Kirchner (2007-2015) als staatspolitische Priorität vorangetrieben worden. Mit dem Regierungswechsel und dem Amtsantritt des konservativen Staatspräsidenten Mauricio Macri Ende 2015 hegten viele die Befürchtung, dass die Verfahren zum Stillstand kommen würden. Doch zeigt sich, dass diese mittlerweile eine soziale Dynamik erreicht haben, die auch die gegenläufigen politischen Interessen der neuen Regierung nicht mehr zu stoppen vermögen. Unter dem Präsidenten Macri wurden Budgets und Personal gekürzt, weswegen sich die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen verzögern und die dringend notwendige psychologische Betreuung der Zeug*innen immer dürftiger wird. Doch auch wenn die Umstände, unter denen sie stattfinden, prekärer werden, die Prozesse selbst gehen weiter. Die von Feierstein erhobenen Zahlen werden in Zukunft weiter nach oben korrigiert werden müssen.

Seit Macris Amtsantritt häufen sich außerdem Fälle, in denen Militärs Hausarrest gewährt wird. Anstatt wie jede*r gewöhnliche Verbrecher*in die Haft in einem öffentlichen Gefängnis abzusitzen, können sie es sich zu Hause, umgeben von Familie und Dienstpersonal, gemütlich machen. Dieses Privileg wurde auch einem Angeklagten des aktuellen Verfahrens um den Komplex ABO zuteil: Alfredo Omar Feito, in einem früheren Prozess bereits rechtskräftig zu 28 Jahren Haft verurteilt. Die Organisation H.I.J.O.S., gegründet von Nachkommen von während der Militärdiktatur „verschwundenen“ Personen, hat daher zu einem sogenannten Escrache gegen Feito aufgerufen. Der Escrache ist eine während der Epoche der Straffreiheit in den Neunzigern entstandene Form des sozialen Protests, der in einer Mischung aus Volksfest und politischer Demonstration nach wie vor in Freiheit lebende Täter*innen öffentlich outet und die gesellschaftliche Sanktion durchsetzt, wo die staatliche Sanktion versagt. Treffpunkt ist das ehemalige Folterlager Olimpo, vormals Feitos „Dienststelle“. Die physischen Überreste des Olimpo sind heute ein Ort der Erinnerung, aber auch des Community Building im Zeichen der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart. In dem angeschlossenen Seminarzentrum finden etwa Workshops statt, die sich mit der ökonomischen und politischen Geschichte und Gegenwart Argentiniens befassen. Am 14. Dezember spätnachmittags dominieren Plakate mit den Gesichtern der „Verschwundenen“ das Gelände.

Die Verlesung der Anklageschrift dauerte mehr als zwei Stunden.

Dazu wehen die Fahnen von politischen Organisationen und Menschenrechtsgruppen. Eine Murga – die für die Region des Rio de La Plata typische Form der karnevalesken Musik- und Tanzensembles – lässt ihre Trommeln und Trompeten ertönen. Der Demonstrationszug bewegt sich vorbei an neugierigen bis gleichgültigen Anrainer*innen durch ein Mittelschichtsviertel am südwestlichen Rand von Buenos Aires. Julián Athos ist Fotograf und Mitglied von H.I.J.O.S. Er hält diesen historischen Moment mit seiner Kamera fest. Der letzte Escrache, an den er sich erinnern kann, fand im Jahr 2006 gegen niemand geringeren als den Ex-General Jorge Rafael Videla statt. Durch die Wiederaufnahme der Prozesse wurde diese Form des Protests in den folgenden Jahren obsolet. Doch nun sei die Zeit reif, sie wieder aufleben zu lassen. Nach etwa einer Stunde erreicht der Zug eine größere Straßenkreuzung und kommt zu einem Halt. Ordner versuchen Struktur in das Chaos zu bringen. Die Menge singt im Rhythmus der Murga das unvermeidliche „Como a los nazis les va a pasar…“. Eine Gruppe junger Leute malt quer über die Fahrbahn mit gelber Farbe und in breiten Lettern die Worte: „Acá vive un genocida“ („Hier wohnt ein Völkermörder“). Der dazugehörige Pfeil zeigt auf ein unscheinbares, graues, zweistöckiges Haus. Es sieht aus, als sei es lange verlassen. Sämtliche Rollläden sind heruntergelassen, und nicht ein Lichtschimmer ist zu sehen. Hier wohnt Alfredo Omar Feito. Doch heute hat er es vorgezogen, sich an einen anderen Ort zu begeben. Zum Abschluss der Veranstaltung gibt es Reden. Sie erinnern an Feitos Rolle während der Diktatur. Sie betonen die Bedeutung der Gerichtsprozesse. Sie kritisieren die aktuelle Regierung für ihren Unwillen, diese konsequent weiterzuführen. Und sie prangern die sich zuletzt mehrenden Vorfälle von Polizeigewalt und Einschüchterungsversuchen gegenüber Regierungs­gegner*innen an.

Neue Prozesse werden folgen, wenn im Prozess ABO ein Urteil gefällt worden sein wird. Etwa gegen die ökonomischen Profiteure der Diktatur: Leute wie den Unternehmer Carlos Pedro Blaquier, der seine eigene Belegschaft verfolgen und auf seinem Firmengelände ein Folterzentrum errichten ließ. Die Justiz unter Macri sträubt sich, dieses Kapitel der gerichtlichen Aufarbeitung anzugehen. Doch die Gesellschaft verlangt danach. Und so lange dem nicht entsprochen wird, wird es in Zukunft noch den einen oder anderen Escrache mehr geben.

Newsletter abonnieren