MEXIKO IM ÜBERGANG

Die Hoffnungen in den neuen Präsidenten sind groß Aber auch berechtig? (Foto: Robert Swoboda)

Mexiko steht vor einer politischen Zeitenwende: Mit Andres Manuel López Obrador ist – im dritten Anlauf – ein Politiker ins Präsidentenamt gewählt worden, dem man manches nachsagen kann, aber keine Korrumpierbarkeit. Zwölf Jahre lang hat er in einer Art Endloswahlkampf durch die Lande die „Mafia an der Macht“ angeprangert – gemeint waren die zunehmend kartellartig organisierte Staatspartei PRI und ihre politischen Kompliz*innen. Sie alle sind nun von Wahlberechtigten mit einer Wucht aus Ämtern, Parlamenten und Landesregierungen gespült worden, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Ein gewaltiges Aufatmen geht durch das Land. Alles Geschwätz vom drohenden Populismus – ohnehin ein (nicht nur für Mexiko) hohler Kampfbegriff ohne analytischen Mehrwert – verpuffte. Von Wahlbetrug ist zum ersten Mal seit 30 Jahren keine Rede mehr.

Aber auch die einstige Kampfansage scheint mit einem Mal in Luft aufgelöst. Schon in der Wahlnacht gab der Gewählte reconciliación, Versöhnung, als neue Devise aus. Nicht mehr der realexistierenden Mafia, sondern dem Abstraktum der Korruption wird fortan der Kampf angesagt, aus einem politischen wird ein moralischer Imperativ. Schon eine solche – von López Obrador ausdrücklich sogenannte – „Moralisierung“ der Politik ist problematisch, ebenso wie seine religiöse Semantik von „Wiedergeburt“, „Seelenheil“ und „Nächstenliebe“.

Richtiggehend fatal aber wird der Leitspruch der „Versöhnung“ angesichts der Gewaltkatastrophe, die das Land seit einer Dekade überzieht. Schätzungen zufolge sind an die 240.000 Menschen seit 2007 gewaltsam zu Tode gekommen, also erschossen, massakriert oder zu Tode gefoltert worden. Die bisher letzte offizielle Statistik räumt 37.000 Verschwundene ein, mehr als in allen südamerikanischen Militärdiktaturen zusammen. Bis zur Amtsübergabe im Dezember will der künftige Präsident nun eine Strategie der „Befriedung“ vorlegen. Manches geht bereits in die richtige Richtung: Die Sicherheitspolitik soll demilitarisiert werden, verschleppte Menschenrechtsskandale sollen endlich untersucht werden. Für einen echten Neuanfang, so behauptet López Obrador leider auch, „müssen wir lernen zu vergeben“.

So polemisch es klingen mag: „Nationale Versöhnung“ war in den 1950er Jahren die Losung von General Franco, nachdem er zehn Jahre zuvor die Spanische Republik in Schutt und Asche gelegt hatte. Und als er dann 1975 friedlich entschlafen war, war dies auch das Motto der „Übergangsregierung“, die das Land in die Demokratie führte, gepaart mit einer kommoden Amnestie für die am Massenmord Beteiligten. In Argentinien hingegen, so etwas wie ein vergangenheitspolitisches Role Model für die Nachbarländer, gab es nach Ende der Diktatur Mitte der 1980er Jahre erst einmal einen spektakulären Prozess gegen sämtliche Junta-Generäle. Zwar wurden später auch hier Schlussstrich-Gesetze verhängt, um die Militärs ruhig zu halten. Die bleierne Zeit der Straflosigkeit aber hatte ein Ende, als die Kirchner-Regierung in den 2000er Jahren den Weg frei machte, um Täter*innen und vor allem Mittäter*innen doch noch den Prozess zu machen – nicht über Sondergesetze und vor ausländischen Tribunalen, sondern in regulären Strafrechtsverfahren vor nationalen Gerichten. Das Wörtchen reconciliación kommt im Vokabular von Opfergruppen oder Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht vor.

Natürlich ist der organisierte Staatsterror wie in Spanien oder Argentinien nicht dasselbe wie das diffuse Terrorregime, das sich in Mexiko mit der Militarisierung der staatlichen „Drogenbekämpfung“ vor über zehn Jahren etabliert hat. Kein monolithischer, krimineller Staat stand dahinter, sondern ein Geflecht aus immer weiter diversifizierten kriminellen Ökonomien und korrupten Staatsbediensteten, von einfachen Polizist*innen bis zur/zum Gouverneur*in. „Makrokriminalität“ nennen die Expert*innen diese Seilschaften, bei vielen Mexikaner*innen läuft es unter narco-estado, Drogenstaat. Korruption, die López Obrador so glühend bekämpfen will, ist tatsächlich das Scharnier, über das sich Teile des Staates mit den Kartellen verflechten. Diese Verflechtung ist kein Relikt der Vergangenheit, wie der Historiker Claudio Lomnitz feststellt, sondern geht paradoxerweise einher mit der Geschichte der politischen Pluralisierung. Denn erst mit dem Niedergang der traditionellen Einkommensquellen in den wirtschaftsliberalen 1990er Jahren verbreitete sich die „Drogenökonomie“ über das gesamte Land und suchte neue politische Interessensvertretungen. Neue und auch alte Parteien buhlten nun vermehrt um die neuen Magnat*innen, die narco-política war geboren.

Dass dieses Geflecht sich derart ungehindert ausbreiten konnte, hat aber auch mit der tief verankerten Kultur der Straflosigkeit zu tun. Schon fü das Massaker an Studierenden im Oktober 1968 wurde kein einziger Verantwortlicher jemals rechtskräftig verurteilt. Heute sind Massaker, Folter und Verschwindenlassen nicht mehr politisch, sondern ökonomisch motiviert, als Waffe im brutalen Konkurrenzkrieg um Märkte, Routen und Territorien. In einem internationalen Straflosigkeits-Index vom März 2018 rangiert Mexiko weltweit an vierter Stelle.

Um diesen Bann zu brechen, täte strafrechtliche Aufarbeitung not. Nicht nur wegen der Gerichtsurteile, sondern weil Rechtsprechung ja auch Rekonstruktion befördert. Und es gilt dringend zu rekonstruieren, wie der narco-estado funktioniert, wie sich die Epidemie systematischer Gewalt im Land ausbreiten konnte, wie sich das katastrophale Staatsversagen erklären lässt.

Die Chancen dazu stehen nicht schlecht: Im neu berufenen Kabinett sind viele als integer und kompetent geltende Köpfe versammelt. Darunter wiederum viele Frauen, wie die künftige Innenministerin Olga Sánchez Cordero, eine ehemalige Verfassungsrichterin, die für das Recht auf Abtreibung und Legalisierung von Marihuana eintritt. Es ist eine neue Garde, überwiegend unverstrickt in das gewachsene mafiöse Geflecht, die sich mit Engagement und Sachkenntnis ans Werk macht. Neu ist auch die Strategie des „Zuhörens“, zu allen möglichen Themen werden derzeit öffentliche Anhörungen und Bürger*innenbefragungen organisiert. So sind im August landesweit „Versöhnungsforen“ angelaufen, zu denen neben Expert*innen auch Gewaltbetroffene, vor allem Angehörige von Massakrierten, Gefolterten und Verschwundenen, geladen sind.

Hier aber tun sich noch gewaltige Gräben auf. Als López Obrador zum Auftakt der Foren erneut für sein Mantra der Versöhnung warb, riefen ihm erzürnte Angehörige die ganz anders lautenden Mantras der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung entgegen: Ni perdón ni olvido, „Kein Vergeben, kein Vergessen“ oder Juicio y castigo,„Gerichtsprozess und Bestrafung“. Wie fremd López Obrador diese Welt zu sein scheint, zeigt seine bizarre Reaktion: „Ich glaube nicht an Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – die befremdliche Gleichsetzung des Verlangens nach Recht und Gerechtigkeit, mit biblischen Rachegelüsten.

Übergangsjustiz lautet nun auch in Mexiko die neue Zauberformel. Gemeint ist ein Bündel von Maßnahmen, die im Übergang von einem Regime zu einem anderen, also von der Diktatur zur Demokratie, vom Bürgerkrieg zum Postkonflikt, bei der Überwältigung der massenhaften Menschenrechtsverletzungen helfen sollen. Dazu gehören juristische Sonderregeln – Amnestie oder auch Strafminderung im Austausch gegen Informationen – und Wahrheitskommissionen, „Wiedergutmachung“ und „Erinnerungskultur“.

Mexiko aber entspricht keinem Übergangsszenario, wie es im Buche steht. Es hat im 20. Jahrhundert keine Militärdiktatur erlebt und keinen deklarierten Bürgerkrieg. Von Postkonflikt kann keine Rede sein, 2017 gilt mit 25.000 Gewaltopfern als das bislang blutigste Jahr in der Terrordekade. So wirkt schon das gutgemeinte Gerede von „historischer Erinnerung“ seltsam fehl am Platz. Bei einer Gewaltkatastrophe in der Gegenwart geht es ja weniger um Vergessen als um Verdrängung, also um die Gewöhnung an den Exzess. So wollen Gewaltbetroffene, etwa Angehörige von Verschwundenen, in der Regel auch nichts von „Entschädigung“ wissen. Der Riss in ihrem Leben ist viel zu frisch, jede Aussicht auf „Wiedergutmachtung“ klingt da obszön. Am wichtigsten ist ihnen, ihre Liebsten wieder zu bekommen, wenn schon nicht lebendig, dann wenigstens die toten Körper. So hätten viele nichts einzuwenden gegen den Deal, dass Täter*innen ihr Wissen über geheime Grabstellen gegen Strafnachlässe preisgeben. Allerdings müssten dazu Mörder*innen und ihre Helfer*innen, wie in Kolumbien ehemalige Paramilitärs oder auch Guerillerxs, erst einmal glaubhaft überführt sein. In Mexiko sind die Gefängnisse voll von Menschen, die ohne Urteil oder nur aufgrund erfolterter Geständnisse hinter Gitter sitzen.

Auch gegen Wahrheitsfindung in Gestalt von Kommissionen ist selbstredend nichts einzuwenden. Nur sollte sie nicht von vorne herein zur juristischen Folgenlosigkeit verdammt sein. Denn das hat es schon einmal gegeben, als – ausgerechnet – der rechtsliberale Präsident Vicente Fox (2000-2006), der als erster eine PRI-Regierung ablöste, eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufklärung der staatlichen Verbrechen der 1960er und 1970er Jahre einrichten ließ. Im Abschlussbericht ist die brutale Repression, samt Geheimgefängnissen, Foltertechniken und Verschwindenlassen, minutiös dokumentiert und im Netz frei zugänglich. Verurteilt wurde dennoch keiner der Verantwortlichen.

Natürlich geht es zunächst einmal um Eindämmung der wuchernden Gewalt. Dazu braucht es neben der dringend anstehenden Demilitarisierung wohl auch Verhandlungen mit Gewaltakteur*innen. Das ist mühsam, Rückschläge sind jederzeit möglich, wie man derzeit in Kolumbien sieht. In Mexiko hat man es nicht mit ehemaligen Guerrillerxs, sondern mit aktiven Kartellchefs zu tun, also mit Massenmörder*innen. Ein fieser Gedanke. Verhandeln aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, ist nicht vergeben. Ein paar Monate hat die neue Truppe noch, bis sie am 1. Dezember ihre Ämter antritt. Es ist zu hoffen, dass das „Zuhören“ Früchte trägt und mit entsprechender Lernbereitschaft einhergeht. Denn auch wenn das Land der institutionalisierten Revolutionär*innen bekannt ist für seine mitunter paradoxe Politik: Sollte ausgerechnet die erste linke Regierung Mexikos den Narco-Staat in Frieden (ruhen) lassen, wäre das eine allzu böse Paradoxie.

ALTES NEU VERPACKT

Ungewisse Aussichten Migrant*innen in Mexiko auf dem Weg nach Norden (Foto: Flickr.com / Peter Haden CC BY 2.0)

Fünf Tage vor seinem historischen Sieg bei den Wahlen vom 1. Juli sprach Andrés Manuel López Obrador (AMLO) zum Abschluss seines monatelangen Wahlkampfs vor 100.000 Menschen im Stadion Azteca in Mexiko-Stadt. Er nutzte den Auftritt, um seine Anhänger*innen ein letztes Mal auf den Wandel einzuschwören, den er und seine Partei Bewegung der nationalen Erneuerung (Morena) dem krisengeschüttelten Land während der Wahlkampagne versprochen hatten. Im Rahmen seines 54-minütigen Diskurses sprach der 64-Jährige auch das für Mexiko so wichtige Thema Migration an: „Wir werden dafür sorgen, dass die Auswanderung eine Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit ist. Wir werden uns darum bemühen, dass jeder Arbeit und Wohlstand am eigenen Herkunftsort finden kann, wo die Familie wohnt und die eigenen Bräuche und die eigene Kultur zuhause ist. Ich wiederhole: wer migrieren will, soll dies aus Neugier und Lust tun, nicht wegen Hunger, Armut oder Unsicherheit“, rief der designierte Präsident der applaudierenden Menschenmenge in dem bis auf den letzten Quadrat­meter gefüllten Fußballstadion zu.

Nicht erst seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump ist es um die Rechte dieser Migrant*innen in den USA schlecht bestellt

Laut der US-Behörde für Volkszählungen leben etwa 11,6 Millionen in Mexiko geborene Menschen in den Vereinigten Staaten. Dazu kommen um die 33,6 Millionen Personen mexikanischer Abstammung. Das heißt, dass so gut wie jede mexikanische Familie Angehörige nördlich des Río Bravo hat. Gleichzeitig ist Mexiko jedes Jahr Transitland für hunderttausende Menschen aus Zentral- und Südamerika. Nicht erst seit Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump ist es um die Rechte dieser Migrant*innen in den USA schlecht bestellt.

Mittlerweile sind mehr als zwei Monate vergangen, seitdem der politische Hoffnungsträger die Präsidentschaftswahlen mit 53,19 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Das heißt, dass das Land nun bereits etwa die Hälfte der sogenannten Transition hinter sich hat, gemeint ist die Übergangszeit, bevor López Obrador und sein Kabinett am 1. Dezember endgültig ihre Ämter übernehmen. Doch die tatsächliche Ablösung der bei der Bevölkerung extrem unbeliebten Regierung des noch amtierenden Staatsoberhaupts Enrique Peña Nieto und der ehemaligen Staatspartei PRI ist nur noch eine Formalität. Längst stellen López Obrador und sein Team die Weichen für die von ihnen ausgerufene „vierte Transformation“ des 124 Millionen Einwohner*innen zählenden Landes. Die soll nach der Unabhängigkeit von 1821, den liberalen Reformen des späten 19. Jahrhunderts und der Revolution von 1910 eine neue Etappe in der mexikanischen Geschichte einläuten.

In diesem Rahmen hat AMLO auch begonnen, seine Wahlkampfversprechen im Bereich Migration zu konkretisieren. Dafür traf sich der künftige Präsident zwei Wochen nach seinem Wahlsieg bereits mit dem US-Außenminister Mike Pompeo und anderen hochrangigen Vertreter*innen der US-Regierung, nachdem Donald Trump ihm schon wenige Stunden nach seinem Wahlerfolg überraschend herzlich gratuliert hatte. „Es ist klar, dass es in letzter Zeit gewisse Probleme zwischen unseren Ländern gegeben hat, aber Präsident Trump ist fest entschlossen, zu einer Verbesserung unserer Beziehungen beizutragen“, beeilte sich Pompeo dann auch den Journalist*innen in Mexiko-Stadt mitzuteilen.

Ein Grund für den überraschend guten bilateralen Start für AMLO dürften auch seine Ideen für die Eindämmung der Migration gen Norden sein, die Trump und seiner migrationsfeindlichen Politik wohl sympathischer sind als das planlose Lavieren von Peña Nieto. In einem Brief an Trump, den AMLO Pompeo übergab, warb der Präsident in spe für eine entwicklungspolitische Herangehensweise an die Migrationsproblematik in der Region. Konkret will AMLO Entwicklungsprojekte in Zusammenarbeit mit den USA und Kanada nicht nur in Mexiko, sondern auch in Zentralamerika stärken, um durch wirtschaftliches Wachstum Migrationsanreize für die lokale Bevölkerung zu vermindern.

Die Formel ‚mehr Wohlstand ist gleich weniger Migration‘ diskutierte López Obrador dann auch Ende August mit Guatemalas Präsident Jimmy Morales bei einem Treffen im südmexikanischen Chiapas. „Wir müssen aufhören, die Migration durch die Militarisierung von Grenzen lösen zu wollen. Vielmehr geht es darum, uns der Migrationsursachen anzunehmen und das heißt vor allem, unseren Bürger*innen bessere Lebens­bedingungen anzubieten, damit sie sich nicht gezwungen sehen zu migrieren“, sagte AMLO bei dem Treffen mit dem Präsidenten des südlichen Nachbarn.

Wie genau diese Entwicklungsoffensive aussehen könnte, zeigt sich bei einem Blick auf die bisherigen Vorschläge von López Obrador für die Entwicklung ländlicher Zonen in Mexiko selbst. So will er im Süden des Landes auf etwa einer Million Hektar Fläche Bäume pflanzen lassen, die zum einen der Holz- und Papierwirtschaft zu Gute kommen und zum anderen den einheimischen Fruchtmarkt stärken sollen. Daneben plant der ehemalige Bürgermeister von Mexiko-Stadt einen „modernen, touristischen und kulturellen Zug“ in mehreren südlichen Staaten, den sogenannten Tren Maya, der die in großen Teilen indigenen Gebiete für den Massentourismus erschließen soll. In diese Reihe von Großprojekten der künftigen Regierung passt auch der geplante Bau von zwei Ölraffinerien im südöstlichen Tabasco und das Abrücken AMLOs von seinem kategorischen „Nein“ zum umstrittenen neuen Hauptstadtflughafen, der trotz erheblicher ökologischer und sozialer Bedenken nach einer Volksbefragung Ende Oktober wohl doch fertiggestellt werden soll.

Während die Unternehmerelite begeistert ist von den Plänen deseigentlich linken López Obrador, kommt aus den sozialen und indigenen Bewegungen Mexikos harsche Kritik

Während die nationale wie internationale Unternehmerelite begeistert ist von den Plänen des im politischen Spektrum eigentlich links angesiedelten López Obrador, kommt aus den sozialen und indigenen Bewegungen Mexikos harsche Kritik. „AMLOs Projekte im Süden Mexikos sind nichts als Plünderung“, hieß es in einer Erklärung der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) Mitte August.

Und tatsächlich wird das Unbehagen in Bezug auf die Infrastrukturprojekte bei vielen Aktivist*innen immer größer. Können die Rechte der indigenen Völker gewahrt bleiben, wenn derartige Vorhaben auf ihrem Territorium realisiert werden? Wird die lokale Bevölkerung am Ende nicht nur als billige Arbeitskraft für die Konzerne herhalten müssen, die die Projekte gemeinsam mit dem öffentlichen Sektor durchführen? Wird all dies nicht zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und gewach­sener Gemeinschaften vor Ort und somit zu vielen neuen Konflikten führen? Und zuletzt: Kann man in Anbetracht all dessen davon ausgehen, dass die Leute aus diesen ohnehin schon marginalisierten Gebieten aufhören, ihr Glück im Norden zu suchen?

Denn auch die Tatsache, dass AMLO trotz anderslautender Ankündigungen im Wahlkampf zunächst weiter auf das Militär und umstrittene Polizeieinheiten im Kampf gegen das organisierte Verbrechen setzen will, lässt Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Demilitarisierungsstrategie in der Migrationspolitik aufkommen. Obwohl Mexikos Regierungen stets als schärfste Kritiker ihres nördlichen Nachbarn auftreten, sobald es um die Verletzung der Rechte von Migrant*innen oder die Militarisierung der Grenze geht, weist das Land keine allzu gute Bilanz vor.

Der Großteil der zehntausenden Migrant*innen, die jedes Jahr durch Mexiko ziehen, um in die USA zu gelangen, wird Opfer von Straftaten. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie der Solidaritätsorganisation Redodem sind für mindestens ein Viertel der Übergriffe in Form von Raubüberfällen, Erpressungen, Entführungen oder Vergewaltigungen staatliche Stellen verantwortlich, allen voran das nationale Migrationsinstitut INM. Laut Recherchen der kritischen Wochenzeitschrift Proceso sind die USA auch nicht alleine, wenn es um die unmenschliche Behandlung minderjähriger Migrant*innen und das Trennen von migrierenden Familien geht. Knapp 140.000 Minder­jährige hat das INM seit Anfang 2013 auf dem Weg nach Norden aufgegriffen, 90 Prozent davon wurden sofort und ohne Verfahren abgeschoben. Hinzu kommen meist unmenschliche Bedingungen in Auffanglagern für Migrant*innen, in denen häufig gemeinsam reisende Familien getrennt werden. In einem Bericht des Bürgerrats des Nationalen Migrationsinstituts (CCINM) vom Juli 2017, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die die Arbeit des INM kritisch beobachtet, ist von Willkür, Missbrauch und un­menschlichen Unterbringungsbedingungen in den mexikanischen Auffanglagern die Rede.

Auch Jan Jarab, Menschenrechtsbeauftragter der Vereinten Nationen in Mexiko, findet deutliche Worte für Mexikos Migrationspolitik: „Es gibt einen klaren Widerspruch zwischen der Empörung von Seiten Mexikos über die Politik der Trump-Regierung und der fehlenden Kritik an den selben Vorgehensweisen im eigenen Land.“ Hinzu kommt, dass inzwischen immer mehr lateinamerikanische Migrant*innen den Weg Richtung USA abbrechen und in Mexiko bleiben. Laut Redodem blieben fast ein Drittel aller in 2017 angekommenen Migrant*innen in Mexiko. Dies stellt die mexikanische Gesellschaft vor ganz neue Herausforderungen in puncto Integration und Zusammenleben. Da scheint der Hype um die vom US-Präsidenten so oft und publikumswirksam geforderte Mauer an der Realität vorbeizugehen. „Trumps Mauer zahlen wir Mexikaner bereits. Sie heißt INM und ist das Fundament unserer Migrationspolitik“, meinte dazu kürzlich Jorge Alberto Pérez, Aktivist der Migrant*innenherberge Casa del Migrante im nördlichen Chihuahua.

Daher wirkt es verkürzt, wenn AMLO meint, die Migrationsbewegungen der Region einfach durch massive Infrastrukturprojekte bremsen zu können. Der Wohlstand, den er jetzt mit seiner Entwicklungsoffensive verspricht, sollte auch schon durch den Freihandel Mitte der 1990er Jahre nach Mexiko kommen. Was folgte, waren Riesengewinne für transnationale Konzerne, massive Umweltzerstörung, rasant wachsende Ungleichheit und zahllose soziale Konflikte. Ähnliches ist auch jetzt zu befürchten.

Gleichzeitig fehlt es dem künftigen Präsidenten Mexikos bisher an Ideen, wie kurzfristig die Situation von Migrant*innen aus dem südlichen Lateinamerika in Mexiko verbessert werden kann, die sich jeden Tag massiven Menschenrechtsverletzungen durch Staat und organisiertes Verbrechen ausgesetzt sehen. Dass ausgerechnet der Kandidat, der im Wahlkampf das Ende der neoliberalen Epoche in Mexiko ankündigte, nun mit äußerst unternehmensfreundlichen Projekten Wachstum steigern und Migration eindämmen will, scheint einer der großen Widersprüche zu Beginn dieser neuen Ära in der mexikanischen Geschichte zu sein – und birgt wenig Hoffnung auf Besserung, dafür aber riesiges Konfliktpotenzial.

DER VERSPRECHER

„Die Hoffnung Mexikos“, so lautete Obradors wichtigster Wahlspruch, der auf allen möglichen Werbeträgern zu lesen war. Als selbsternannter Retter in der Not vereint er viele Hoffnungen. Für José, einen Polizisten in Mérida, bedeutet er die Wende für die schlechte Sicherheitslage und Bildung, das Ende von Korruption sowie die Erhöhung der Einkommen. Doch einigen Menschen ist die Hoffnung bereits abhanden gekommen, angesichts der Armut von fast der Hälfte der Bevölkerung, 132 Morden an Politiker*innen im Vorfeld der Wahlen, der offensichtlichen Misswirtschaft und einem wieder erwarteten Wahlbetrug.

Der wegen seiner Initialen oft AMLO genannte linke Politiker strebte bereits zum dritten Mal das höchste Amt seines Landes an. 2006 unterlag er nur sehr knapp gegen Felipe Calderón durch einen mutmaßlichen Wahlbetrug, gegen den Präsidenten, der den verheerenden „Krieg gegen die Drogen“ begann, der bis heute mehr als 200.000 Menschen das Leben kostete und 35.000 Menschen verschwinden ließ. 2012 verlor AMLO gegen den äußerst neoliberalen aktuellen Präsidenten Peña Nieto von der Partei der institutionellen Revolution (PRI) mit knapp sieben Prozent Unterschied. Seine Beharrlichkeit und die Enttäuschungen der vergangenen 12 Jahre haben ihm nun die Präsidentschaft gebracht und aus seiner vor vier Jahren gegründeten Partei Bewegung der Nationalen Erneuerung (Morena) eine ernstzunehmende Alternative zu den Altparteien gemacht. Deren Koalition „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“ mit der Arbeiterpartei PT und der konservativen PES hat zudem eine komfortable Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses. Im Senat wird die Parteienkoalition 68 von 128 Sitzen für die nächsten sechs Jahre innehaben, im Abgeordnetenhaus 307 Sitze von 500 für die nächsten drei Jahre. Wie das Wahlinstitut mitteilte, werden außerdem zu Beginn der Legislaturperiode am 1. September zum ersten Mal mehr Frauen als Männer im Kongress vertreten sein.

Die anderen Präsidentschaftskandidaten schnitten ebenfalls nahe an ihren Umfragewerten vor der Wahl ab. Der konservative Ricardo Anaya von der Koalition zwischen PAN, PRD und Movimiento Ciudadano erhielt 22 Prozent, der neoliberale José Antonio Meade erhielt in der Koalition von PRI, PVEM und Nueva Alianza 16 Prozent, und der Parteiunabhängige Kandidat Calderon nur ein halbes Prozent der Stimmen. Der Wahlausgang bedeutet damit zudem den Beginn einer neuen Rollenverteilung im politischen System. Nachdem die Partei der institutionellen Revolution (PRI) 71 Jahre an der Macht war, übernahm die zweitgrößte Partei der Nationalen Aktion (PAN) von 2000 bis 2012 das Präsidentenamt. Nun gibt es mit Morena eine weitere mehrheitsfähige Partei, die es in der Hand hat, die politischen wie sozialen Verhältnisse zu verändern.

AMLO spricht von einer geordneten Transformation der mexikanischen Republik und beschreibt eine Demokratisierung des Landes, bei der die ärmere und die indigene Bevölkerung besondere Berücksichtigung finden würden. Im Programm wird eine „nación pluricultural“, einer plurikulturellen Nation versprochen.

Auch ein anderes Wirtschaftsmodell steht zur Debatte. Wie AMLO den Freihandelsvertrag mit Kanada und den USA, NAFTA, neu verhandeln will, ist noch ungewiss. Feststeht aber, dass er den mexikanischen Binnenmarkt stärken will. Dazu gehört eine eventuelle Subventionierung der Landwirtschaft, um mit den Produkten der USA konkurrieren zu können – die, ebenfalls subventioniert, oftmals billiger sind als lokal hergestellte Lebensmittel. Auch, was Energie angeht, soll Mexiko unabhängiger werden. Geplant sind eigene Erdölraffinerien, um nicht von teuren Importen abhängig zu sein und die Ölpreise selbst regulieren zu können. Im Programm von Morena ist auch die Rede vom Ende der Privatisierung der ehemals staatseigenen Ölfirma Pemex die Rede. Befürworter*innen sehen darin die Möglichkeit einer Befreiung von kolonialen Abhängigkeiten und Strukturen. Kleine und mittelgroße Unternehmen sollen leichteren Zugang zu Finanzierung bekommen, um den Binnenmarkt anzukurbeln, während große Firmen höhere Steuern zahlen sollen. Medikamente und Nahrungsmittel sollen außerdem von der Mehrwertsteuer befreit werden. Ob diese Wahlversprechen auch wirklich umgesetzt werden, wird sich zeigen. Von links wiederum wird kritisiert, dass AMLOs Wirtschaftsprogramm keine strukturelle Wende für den Neoliberalismus bedeutet.

Tatsächlich äußerten sich auch große Unternehmensverbände wie Bimbo und Salinas, staatliche Wirtschaftskammern und andere Verbände positiv über den Wahlsieg AMLOs. Sie hoffen auf die Einhaltung der Versprechen des designierten Präsidenten zur Investition in die Infrastruktur Mexikos.

Für die Neuverhandlung von NAFTA dürfte es außerdem schwierig werden. In den vergangenen Jahren wurde eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die das neoliberale Projekt juristisch absichern. Obrador wiederholte am Abend seiner Wahl die Ankündigung, Verträge zur staatlichen Auftragsvergabe auf Anomalien, soll heißen auf Korruption, zu überprüfen. Betreffen wird das unter anderem den Bau des neuen internationalen Flughafens von Mexiko-Stadt und die Konzessionen für die Ausbeutung der Erdölfelder.

In der Wahlnacht löste sich die Anspannung auf dem großen Platz in Mexiko-Stadt. „Ja, es war möglich“ und „Es ist eine Ehre für Obrador zu sein“, ruft ihm die Menge entgegen. AMLO macht in dieser Nacht weitreichende Versprechungen. Ab dem Tag der Amtsübernahme am 1. Dezember würden die Pensionen für alte Menschen verdoppelt, eine universelle Rente für Arme und Behinderte würde eingeführt und junge Menschen bekämen das Recht auf ein Studium und auf einen Arbeitsplatz. Auch symbolisch versucht sich Obrador von der politischen Elite zu distanzieren und teilte wiederholt mit, er werde das Präsidentenflugzeug nicht für Auslandsreisen benutzen, sondern wie bisher mit Charterflügen reisen.

Tatsächlich bieten sowohl die Mehrheit im Kongress als auch die Ergebnisse der Gouverneurswahlen die Möglichkeit einer Neuausrichtung mexikanischer Politik. In Mexiko-Stadt gewann Claudia Sheinbaum von Morena die Wahl und wird neue Regierungschefin, zudem gibt es in vier Bundesstaaten (Chiapas, Morelos, Tabasco und Veracruz) Gouverneure der Koalition „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“, die auch den regionalen Einfluss von Morena stärken werden. Allein in Guanajuato und Puebla gewannen Kandidaten der PAN, die PRI konnte nicht einen Gouverneur stellen. In Jalisco gewann der Kandidat für die Partei Bürgerbewegung (Movimiento Ciudadano), welche mit der PRD und PAN koaliert.

Im Vorfeld der umfangreichen Wahlen, die nicht nur den Präsidenten, den Kongress und Gouverneure in neun Bundesstaaten ermittelten, sondern auch tausende weitere Ämter auf regionaler Ebene vergeben, war AMLOs Vorsprung in Umfragen bereits sehr deutlich. Doch die Umfragen waren mit ebenso deutlichen Zweifeln verbunden, denn an einen entsprechenden Wahlausgang glauben konnten viele Mexikaner*innen wie auch internationale Beobachter*innen noch nicht. Zu deutlich waren die Erinnerungen an vergangene Wahldesaster und allseits bekannt die Fähigkeiten der etablierten Parteien wie PRI und PAN, sich die Macht zu sichern. Vereint standen sie gegen Obrador und malten in den Medien Zukunftsbilder in den Farben Venezuelas und Kubas, um der Bevölkerung Angst vor einem bevorstehenden wirtschaftlichen Einbruch sozialistischer Prägung zu machen. Auch westliche Medien griffen das Bild des neuen Chávez auf. Entsprechend nervös reagierten einige auf die Frage nach dem, was auf einen Wahlbetrug folgen könnte. So manche*r hielt eine nationale Bewegung für ebenso denkbar wie die darauf folgende Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, denn die ist seit 1968 und der blutigen Niederschlagung der Studierendenproteste eine wiederkehrende Erfahrung.

Auch lief vieles andere in der Vorbereitung ähnlich wie in vergangenen Wahlperioden. Denn Wahlen bieten für Wähler*innen zwei Möglichkeiten, die in der Zeit danach rar werden können, nämlich Geld und Arbeit. Für eine entsprechende Stimmabgabe an der Wahlurne werden bis zu 500 Pesos (etwa 25 Dollar) bezahlt. Manchmal dient auch die Aussicht auf einen ruhigen Posten im Falle des Sieges der unterstützten Partei als Bezahlung. Sogar die Teilnahme an Demonstrationen für Parteien wird mit ein- oder zweihundert Pesos (5 oder 10 Dollar) pro Person vergütet, wie ein Taxifahrer berichtet, während die Menge in den Farben der PRI in der kleinen Stadt Ticul im Bundesstaat Yucatán vorbeizieht. Derartiger Wahlbetrug und bezahlte Unterstützung einer Partei gehören zum politischen Alltag und dienen den Politiker*innen als probates Mittel zur Steigerung der eigenen Popularität. Wie zum Beweis geht im selben Moment der zur Demonstration gehörende Bürgermeisterkandidat des Ortes, ein Mittvierziger in weißem Hemd und steifem Lächeln, unvermutet und mit ausgestreckter Hand auf den offensichtlich einzigen Ausländer am Rand der Veranstaltung zu, nur um sich aus Prestigegründen irgendwie mit ihm ablichten zu lassen.

Arbeit ist bei Wahlen der andere wichtige Aspekt. Für Unterstützungsnetzwerke werden Angestellte gebraucht, die in den kleineren Städten und Gemeinden an die Türen klopfen, um zu erfahren, ob den Anwohner*innen bereits von einer anderen Partei etwas angeboten wurde, bevor sie Eintritt erhalten. Auch für die Auftragslage kleiner und mittelständischer Unternehmen sind Wahlen hilfreich und Selbstständige in entsprechenden Branchen haben für ein paar Monate ein geregeltes Einkommen. Es werden moderne Wahl-Pop-Songs komponiert, Wahlplakate gedruckt, Werbespots gedreht und viele Fotos für Online-Kampagnen gemacht. Ein sehr professioneller Wahlkampf, für den viel Geld ausgegeben wird und der selbst vor Werbung auf Booten auf dem Meer nicht halt macht. Dieser Wahlkampf war der teuerste in der Geschichte Mexikos mit fast 2,2 Milliarden Pesos, die vom Wahlinstitut INE an Parteien und selbstständige Kandidatinnen (ungefähr 1,2 Milliarden Dollar) ausgezahlt wurden.

Die Onlinezeitung Sin Embargo schreibt ein paar Tage vor der Wahl, dass Wahlbetrug im großen Stil heute quasi nicht mehr möglich wäre. Der Autor argumentiert, dass bis in die 1980er Jahre die Parteien ihre Techniken für den Wahlbetrug derart verfeinert hätten, dass ihnen Journalist*innen schon anschauliche Namen gaben. Beispielsweise stand die „Verrückte Maus“ für eine plötzliche Verlegung des Wahllokals bei einer vermuteten mehrheitlichen Stimmabgabe für die gegnerische Partei, die „Schwangeren Urnen“ waren schon vor der Wahl voll und das „Karussell“ beschrieb Wähler*innen, die ihre Stimme in mehreren Wahllokalen abgaben. Doch seit 1988 gebe es Reformen, so das Argument, die derartige Betrügereien verhindern würden. Die oben beschriebenen Stimmenkäufe und Wahlbeeinflussungen werden nicht geleugnet, aber deren Effizienz im Vergleich angezweifelt.

Morena schien zumindest vor den Wahlen einen Unterschied zu machen. Beispielsweise waren während der dritten Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten in Mérida Anhänger*innen der in Umfragen führenden Partei nur vereinzelt und mit teilweise selbst gebastelten Schildern vor dem Austragungsort zu sehen. Im Kontrast dazu haben Unterstützer*innen des parteilosen und aussichtslosen Präsidnentschaftskandidaten Calderon, alias „Bronco“, mit vielen Fahnen, Plakaten und eigener Samba-Gruppe ein kleines Spektakel veranstaltet. Selbst ein paar Indigene wurden hingefahren, um den Schein breiter Unterstützung zu wahren. „Wir stehen es durch“, lautet sinngemäß deren kurzer Kommentar zur Teilnahme an dem Theater.

Obrador, selbst einmal PRI-Politiker gewesen, konnte sich und seine Partei Morena erfolgreich als Alternative vorstellen. Doch auch Morena ist nicht frei von Kritik, wird in linken Kreisen kritisiert und ist vor internen Konflikten nicht gefeit. Es gibt Berichte, wonach Posten in der Partei an ehemalige Politiker*innen aus den etablierten Parteien vergeben wurden, anstelle treue Parteigänger*innen zu bevorzugen. Zudem beruht die Wahl AMLOs durch gut 30 Millionen Mexikaner*innen nicht nur auf Zustimmung, sondern ebenso auf Wut und Enttäuschung über die ausufernde Gewalt, Korruption, weit verbreitete Armut und soziale Ungleichheit.

Bei dem Treffen zwischen dem gewählten und dem aktuellen Präsidenten Peña Nieto zwei Tage nach der Wahl stellte sich letzterer hinter AMLOs Vorhaben einer geordneten Transformation und versprach, ihn dabei zu unterstützen. Ein Team Obradors wird an den Vorbereitungen für den Wirtschaftsplan für 2019 teilnehmen.

AMLO wird nun zeigen müssen, was er unter der versprochenen Transformation praktisch versteht. Es steht ihm und seiner Partei neben der Exekutive auch die Legislative im Kongress zur Verfügung. Zweifel sind angebracht, ob neben Sozialprogrammen auch tiefgreifende Veränderungen zu erwarten sind. Victor, Kampagnen-Fotograf einer eben gewählten Senatorin für Morena, meint pragmatisch: „Auf jeden Fall werden es spannende sechs Jahre“.

MITGEGANGEN, UM HINZUSEHEN

In Eigenregie geplant und über die Crowdfunding-Plattform Kickstarter finanziert, veröffentlicht Samantha Dietmar hier einen kleinen Ausschnitt aus den über 4.000 Negativen, welche sie während ihres Aufenthaltes sammeln konnte. Das Ergebnis ist eine sehr persönliche, sehr subjektive Arbeit, welche sicherlich auch als Aufarbeitung der eigenen Erfahrungen und Abschluss des Projektes verstanden werden kann.

Der Fotoband zeigt vielschichtige Eindrücke auf dem Weg der „Otra“, der außerparlamentarischen und unbewaffneten Offensive der EZLN, im Vorwahlkampf 2006, durch Chiapas, über Yucatán und Veracruz, Oaxaca und Puebla bis in die Hauptstadt.

Zu sehen sind die Straßen und Menschen des Landes. Gefüllte Bühnen und Publikum wechseln sich ab mit Porträits, Wandbildern und Straßenhändler*innen. Dietmar zeigt das Umfeld der „Otra“, wo sie isst, wo sie schläft, und in welcher Welt sie sich bewegt.

Eingebettet ist die Dokumentation dieser außerparlamentarischen Mobilisation in den größeren Kontext des mexikanischen Wahlkampfs im Jahr 2006, und wird von Fotografien des 4. Weltwasserforum und den „1. Mai“-Demonstrationen in Mexico D.F. ergänzt.

Wie Dietmar schreibt, hat sie in dieser Zeit die Fotografie gelebt, – und versucht dieses Leben fotografisch einzufangen. Die Bilder, durchweg in Schwarz-Weiß und Grautönen gehalten, sind teilweise in Bewegung, leicht verwischt oder unscharf, und nicht immer auf das scheinbar Offensichtliche fokussiert. Durchaus ästhetisch ansprechend zeichnet Dietmar eine Aufnahme des Mexikos, welches ihr auf dieser Reise begegnete und versucht diesen Kontrast in Auswahl und Arrangement der Bilder wieder­zugeben.

Nicht zuletzt ist der Fotoband eine Momentaufnahme der zapatistischen Bewegung zu dieser Zeit. So ist der Delegado Cero – Sub Marcos sehr präsent. Auf Fotos wie auch im hinten angestellten Essay Der Mann hinter der Maske von John Berger. Allerdings gilt es nicht zu vergessen, dass das Gesicht der Zapatistas heute ein anderes ist. Da steht nicht mehr Marcos hoch aufgewachsen, stark und männlich, mit Sturmhaube und Pfeife, als zentrale Figur im Mittelpunkt der Weltaufmerksamkeit. Heute setzten die Zapatistas andere Themenschwerpunkte, wie die Unterstützung der Präsidentschaftskandidatur von Marichuy oder die Organisation des überaus erfolgreichen, internationalen Frauentreffen im März dieses Jahres gezeigt haben.

Auch wenn eine bestimmte Distanz zu den abgebildeten Menschen oft nicht ganz aufgelöst werden kann, zeichnen die Fotos doch ein bleibendes, unaufdringliches Abbild der Lebensrealität und nehmen Menschen ins Bild, welche sonst kaum abgebildet werden. Vielleicht liegt genau darin die Stärke des Buches, denn dies ist immerhin eine zapatistische Praxis. Wo die Otra campaña hinging, um zuzuhören, ging Dietmar mit, um hinzusehen.

(ÜBER-)LEBEN IM TRANSIT BEREICH

In der Debatte über Migration in Lateinamerika liegt der Fokus oft auf Mexiko und der Situation mexikanischer Migrant*innen auf ihrem Weg in die USA. Im vorliegenden Band hingegen wird Mexiko als Transitraum, als Durchgangsstation für Migrant*innen aus mittelamerikanischen Ländern wie Guatemala, Honduras und El Salvador analysiert. Der Sammelband bündelt Aufsätze, in denen unterschiedliche Aspekte der Migration in und durch Mexiko genauer beschrie­ben werden und beleuchtet die Faktoren, die zur Migration führen, Gefahren, denen Trans­­­­­migrant*innen auf ihrem Weg durch Mexiko ausgesetzt sind, aber auch Perspektiven, die manche Menschen unverhofft dort finden.

Der Band ist als Produkt eines Lehrforschungsprojekts der Universitäten Münster und Kassel in Zusammenarbeit mexikanischer und deutscher Autor*innen entstanden und in vier Themenbereiche gegliedert. Im ersten Teil geht es um die strukturellen Gegebenheiten, politischen Entscheidungen und Akteur*innen, die Mexiko zum Transitraum werden lassen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die im zweiten Teil geschilderten persönlichen Erfahrungen einiger Migrant*­innen besser einordnen. Im dritten Teil geht es spezifisch um die Grenzräume an der Süd- und Nordgrenze Mexikos. Zuletzt werden Gruppen von Migrant*innen an der Südgrenze näher betrachtet.

Für diese Grausamkeiten wird es niemals zufriedenstellende Antworten geben

Eine Besonderheit des Buches liegt darin, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und deren eigene „Transit- und Abschiebegeschichten“ abzubilden, wodurch ein vielschichtiges Bild entsteht. Manche entscheiden sich in Mexiko zu bleiben und finden dort ein neues Leben, andere erleiden furchtbare Gewalt. Zudem finden unterschiedliche Formate Eingang in das Buch, wie die Fotos einer Ausstellung über den Weg illegalisierter Migrant*innen gen Norden oder ein Interview mit einem Zentrum für die Begleitung von Migrant*innen. Außerdem werden die Perspektiven unterschiedlicher Gruppen mit ihren jeweiligen Herausforderungen geschildert, beispielsweise aus einer spezifisch weiblichen Sicht oder aus der Erfahrungen Jugendlicher und Indigener heraus.

Die Herausgeber*innen zeigen die Komplexität des Themenfeldes auf, die Wechselwirkungen von Politiken sogenannter Aufnahme- und Entsendeländer in einer globalisierten Welt, in der sich der Transitraum Mexiko nicht ohne den geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontext des gesamten Kontinents verstehen lässt. So wird auf die Bedeutung von Migration in der Politik und die Folgen politischer Entscheidungen für Migrant*innen eingegangen, z.B. mit Fokus auf US-Präsident Trump und seine Politik der Abschottung und Ausweisung. Oder auf das Spannungsfeld Mexikos zwischen der Erfüllung US-amerikanischer Forderungen, bestehender Abhängigkeiten und der erwarteten Solidarität mit den mittelamerikanischen Migrant*innen.

Es werden konkrete Gewalttaten gegen Transmigrant*innen und die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zur Aufklärung aufseiten der mexikanischen Behörden geschildert. Viele Migrant*innen und ihre Familien werden Opfer der Kartelle, die ihr Geschäft in den letzten Jahren auf Erpressung und Menschenhandel ausgedehnt haben. Außerdem kommt es immer wieder zu Massakern und dem massenhaften Verschwinden-Lassen von Menschen auf ihrem Weg durch Mexiko. Für diese Grausamkeiten wird es niemals zufriedenstellende Antworten geben. Einen Erklärungsansatz sieht Herausgeber Hanns Wienold in dem in Mexiko historisch schwach ausgeprägten Gewaltmonopol des Staates.

Wer mehr über die spezifische Situation Mexikos als Durchgangsstation oder ungeplanten Bleibeort erfahren möchte, findet in TRANSIT Mexiko vielfältige persönliche Geschichten, sowie wissenschaftlich fundierte Analysen zu den politischen Umständen.

WASSERLILIEN FÜR DIE KUNST

„Was wir erben“ von Irma Reyes

Das Umweltchaos unserer Gegenwart ist nicht nur ein Dauerbrenner des öffentlichen Diskurses, es gibt auch Orte, an denen das Problem bereits in Angriff genommen wird. Ein Beispiel dafür ist Taller DeLirio Oficios in Mexiko. Die Papiermanufaktur ist in der indigenen Gemeinde Huecorio im Bundesstaat Michoacán angesiedelt. Der See leidet wie die gesamte traditionell auf Fischfang ausgerichtete Region unter den Auswirkungen von intensiver Landwirtschaft sowie Schadstoffen in Haushalts- und Industrieabwässern.

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall

Auf dem See selbst hat sich außerdem – und allen erdenklichen Bekämpfungs­maßnahmen zum Trotz – die Wasserlilie Eicchornia Crassipes so stark vermehrt, dass sie weite Teile seiner Oberfläche bedeckt und eine Bedrohung für Flora, Fauna und Anwohner*innen darstellt: Sie verbraucht viel Wasser und beeinträchtigt nicht nur den Transport im Kanu, sondern auch das Wachstum der Fische, da kein Licht mehr von der Wasseroberfläche an den Seegrund dringt. Ausgerechnet diese ursprünglich aus Brasilien stammende Pflanze verwertet DeLirio als Rohstoff, um per Hand Papier für kunstvolle Bücher, Hefte und Drucke zu fertigen.

„Der See braucht deine Hilfe“ von Francisco Robles

Die Entdeckung gelang durch einen glücklichen Zufall. Denn als sich der Maler Esteban Silva und seine Frau Tania Domínguez vor sechzehn Jahren am Lago Pátzcuaro niederließen, waren sie eigentlich auf der Suche nach einem ruhigen Ort, um sich ihrer künstlerischen Arbeit zu widmen. „Eines Tages brachten wir von unserem Spaziergang am See eine Wasserpflanze mit einer seidig schimmernden Blüte mit nach Hause und sie entpuppte sich als eine ausgezeichnete Faser, um Papier herzustellen“, erzählt Tania. Von 2004 bis 2007 ließ sich das Paar im Kulturzentrum Hawahuatta in Seattle in chinesischen Techniken der Papierherstellung ausbilden, nach seiner Rückkehr nach Huecorio rief es eine mobile Experimentierwerkstatt für Kinder ins Leben. Anschließend gründeten die beiden Kunstschaffenden die Ländliche Produktionsgesellschaft DeLirio und stellte Frauen aus der Gemeinde als Mitarbeiterinnen ein. „Zwei von uns kommen aus Huecorio, zwei aus Pareo, und ich bin von der Insel Urandén. Wir sind alle alleinstehende Frauen und tragen die Verantwortung für unsere Familien. Aber hier haben wir eine Arbeitsmöglichkeit, um unsere Kinder zu versorgen“, berichtet Victoria Francisco Ganoa, während aus dem großen Topf vor ihr Dampf von den kochenden Pflanzen aufsteigt, die tags zuvor gesammelt wurden.

Im Grunde schildert Victoria die typische Situation der Region, die wirtschaftlich weitgehend auf Devisen aus den USA angewiesen ist: Männer und junge Erwerbsfähige emigrieren, zurück bleiben vor allem Kinder, Frauen und alte Menschen. Dabei gilt der Pátzcuaro-See mit 55 Kilometern Küste und sieben Inseln als beliebtestes Tourismusziel im Bundesstaat. Kulturell liegt er im Gebiet der Purépecha und ist Zentrum des berühmten mexikanischen Tags der Toten am 2. November. Aber wie vielerorts in Mexiko leiden die Menschen auch hier unter der alltäglichen Korruption und Gewalt, während ihrem Lebensraum Erosion, Verschmutzung und der sinkende Wasserspiegel des Sees zu schaffen machen. Im kontinuierlichen Kampf um eine gesunde Umwelt dienen Papier und Kunst dazu, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die Problematiken von ungebremstem Raubbau am Wasser, der Erde und den Bergen zu lenken. Die bei DeLirio involvierten Frauen und Familien organisieren und koordinieren alle anfallenden Aufgaben von der Ernte der Wasserlilien über die Organisation und Durchführung von Workshops bis hin zu Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit. In den vergangenen zwei Jahren hat DeLirio insgesamt 120 Workshops in den Gemeinden am Ufer des Pátzcuaro und im Landesinneren des Bundesstaats durchgeführt, um das ökologische Bewusstsein der Bevölkerung zu schärfen. Die Menschen unterstützen das Projekt, in dem sie einen Ausweg aus der sozialen und ökologischen Katastrophe sehen. Die finanziellen Ressourcen dagegen sind ein Hindernis. „Wir haben kein Geld, um die Papeterie und Cafeteria an der Ruta Don Vasco fertig zu bauen und damit unseren Produkten und unserem gemeinschaftlichen Arbeitskonzept einen angemessenen Platz zu geben“, beklagt Tania Domínguez.

„Mein Kampf ist frei“ Javier Ornelas Huerta

Daher nahm sich DeLirio 2016 vor, mehr öffentliche Aufmerksamkeit für die Bedrohung des Sees zu gewinnen und lud 32 Künstler*innen zu einem grafischen Experiment ein: Unter dem Titel „El papel del carte“l (Wortspiel im Spanischen, da papel „Papier“ und „Rolle“ bedeutet und der Titel so zugleich auf den Einsatz des Plakats als auch des Papiers als Material hinweist, um Botschaften zu verbreiten; Anm. der Übs.) entstanden 62 Holzschnitte, in denen die Künstler­*innen jeweils eine Botschaft transportieren.

Mit seinen groben und feinen Strichen zeigt beispielsweise „Lo que heredamos“ („Was wir erben“) von Irma Reyes einen niedergeschlagenen und verängstigten Fischer, der als Ausbeute seines Fangs Skelette aus dem Wasser zieht. Auf „Sin palabras“ („Ohne Worte“) von Jonathan Tapia ist ein Mensch zu sehen, dessen Körper von brennenden, müllverseuchten und verwüsteten Landschaften übersät ist, als trüge er sie als innere Last mit sich herum. „Suficiente para todos siempre“ („Für alle immer genug“) von Berenice Barajas wiederum vermittelt einen Hoffnungsschimmer: Um die Wasserlilie in der Mitte tummeln sich kleine Fische, sowie Axolotl, eine Amphibie aus der Familie der Molche. „Mi lucha es libre“ („Mein Kampf ist frei“) ist auf dem Druck von Javier Ornelas Huerta zu lesen. Über den Worten ist der maskierte Volksheld des mexikanischen Ringkampfes Lucha Libre mit einem mystischen Glorienschein abgebildet, umringt von Axolotl. Sein Kampf ist genauso heilig wie jener der 32 Künstler*innen, die weder Ideologien noch Religionen vertreten, welche Kritik und Dialog untersagen wollen. Sie alle richten sich gegen die mächtigen Kapitalistenstiefel, wie sie auf einem weiteren Bild zu sehen sind, und treten ein für die Landschaft um einen paradiesischen See, der kein Fantasieprodukt ist, sondern das, was er einmal war und wieder werden soll.

„Ohne Worte“ von Jonothan Tapia

Von Januar bis März 2017 lockte El papel del cartel über 15.000 Besucher*innen ins Museum für Zeitgenössische Kunst Alfredo Zalce in Morelia, der Hauptstadt des Bundesstaats Michoacán. Anschließend war die Ausstellung im Jesuitischen Kulturzentrum in der Stadt Pátzcuaro am Ufer des gleichnamigen Sees zu sehen. Viele Besucher*innen hätten sich für die Arbeit hinter der Ausstellung interessiert, berichtet Esteban Silva. SPAGO, ein junges Unternehmer*innenteam aus Italien auf der Suche nach nachhaltigen Projekten in Mexiko und Zentralamerika, führte ein Interview mit ihm, das auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival SiciliAmbiente vorgestellt wurde. Im März 2018 wurden die 62 Holzschnitte in der Galerie Division 9 im kalifornischen Riverside ausgestellt, inzwischen erfolgte eine Einladung nach Oakland, in Los Angeles sollen sie ebenfalls gezeigt werden. Der Koordinator der Ausstellung in den USA, Agustín Equihua Ortiz, freut sich, dass in Riverside bereits einige Abzüge verkauft wurden. „Mit dem Geld wird sich die Manufaktur erweitern und ihre Arbeit fortsetzen können. Sie möchte auch Künstlerresidenzen anbieten und außer der Papeterie ein Internetcafé für Jugendliche eröffnen“, erklärt er.

Gewidmet wurde „El papel del cartel“ dem 2016 verstorbenen Mitglied des Nationalen Indigenen Kongresses Federico Ortiz Arias, der sich für die Rechte der Indigenen in Mexiko auf Leben, Land, Wasser, Gesundheit und Bildung einsetzte. Als er die in Papierbögen verwandelten Wasserlilien sah, hatte Federico den doppelsinnigen Ausspruch el papel del cartel geäußert, um die Künstler*innen bei ihrer Arbeit zu motivieren und angesichts der verzweifelten Lage des Landes auf die Aussagekraft der mexikanischen Grafikkunst zu setzen. Tatsächlich knüpft das Projekt an eine lange Tradition an, die mit Künstler*innen wie José Guadalupe Posada schon im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte. Im 20. Jahrhundert setzten Leopoldo Méndez, Pablo O’Higgins und Luis Arenal Grafiken im Zeichen des Widerstands als Informationsmedium gegen politischen Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit ein.

In diesem Sinne ist der wichtigste Erfolg der Papiermanufaktur DeLirio sicherlich die innige Allianz von Handwerker*innen und Künstler*innen, die wegen einer überlebenswichtigen Angelegenheit zusammengefunden haben: zur Rettung des Lago Pátzcuaro sowie der Menschen und Umwelt, die von ihm abhängig sind.

ZIELGERADE MIT HINDERNISSEN

Der noch amtierende Präsident Enrique Peña Nieto von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) wird Mexiko in einem desaströsen Zustand an seine*n Nachfolger*in übergeben. 2017 war mit 25.000 Ermordeten das blutigste Jahr in der jüngeren Geschichte Mexikos. Die Wirtschaft stagniert und Korruption sowie Straflosigkeit sind allgegenwärtig. Das ohnehin traditionelle Misstrauen der Mexikaner*innen in die staatlichen Institutionen ist so groß wie nie. Vor allem die PRI, die Mexiko von 1929 bis 2000 und seit 2012 erneut regiert, wird für die Misere des Landes verantwortlich gemacht. Magere 21 Prozent Zustimmung zu Peña Nietos Politik bei Umfragen im Februar zeugen von der tiefen Unzufriedenheit.
So verwundert es kaum, dass die PRI mit dem neoliberalen Ökonomen José Antonio Meade aus wahltaktischen Gründen kein Parteimitglied für die Präsidentschaft nominiert hat. Meade hatte unter den Präsidenten Felipe Calderón – von der konservativen Partei PAN – und Peña Nieto diverse Ministerämter inne. Inhaltlich steht Meade ebenfalls für Kontinuität. Er plädiert für den forcierten Einsatz des Militärs im Kampf gegen die immer mächtigeren Drogenkartelle. Die Telekommunikations- und Energiesektoren möchte er weiter deregulieren und privatisieren. Auch die Freihandelspolitik unterstützt er bedingungslos. Wie bei den Lokalwahlen im vergangenen Jahr sehen Prognosen eine Halbierung der Stimmanteile der PRI voraus. In Umfragen liegt Meade meist als Drittplatzierter bei im Schnitt 18 Prozent.

Die in der ablaufenden Legislaturperiode größten Oppositionsparteien, die konservative PAN und die linke PRD, haben ein Wahlbündnis geschlossen. Diese Links-Rechts-Allianz kann vor allem als Ausdruck der Krise beider Parteien interpretiert werden. Die einst größte Linkspartei PRD droht nach Korruptionsskandalen und dem Mittragen neoliberaler Reformen auf unter drei Prozent abzustürzen. Auch die PAN verliert kontinuierlich an Zuspruch und ist für viele Mexikaner*innen kaum noch von der PRI zu unterscheiden, weshalb auch ihr eine Halbierung ihrer Stimmanteile auf circa 15 Prozent droht.

Der gemeinsame Kandidat Ricardo Anaya bekleidete schon verschiedene politische Ämter und war zuletzt Vorsitzender der PAN. Zur Armutsbekämpfung möchte Anaya ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Als Mittel der Korruptions­bekämpfung fordert er das Verbot von Bargeld bei behördlichen Transaktionen. Gegenüber den USA verspricht er eine Neudefinition der Beziehung auf Augenhöhe und die Verteidigung der Rechte mexikanischer Migrant*innen. In den letzten Umfragen kommt Anaya im Schnitt auf 25 Prozent, weshalb er der einzige Kandidat ist, der dem Favoriten Andrés Manuel López Obrador (nach seinen Initialen in Mexiko nur AMLO genannt) noch gefährlich werden könnte. Um AMLOs Wahlsieg zu verhindern, hat Meade daher nicht nur der PRI eine Zusammenarbeit angeboten, sondern führt auch einen aggressiven Wahlkampf gegen seinen Konkurrenten. So richtete sich Anaya während der ersten TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten am 22. April an ihn: „Ich respektierte dich, weil du ein wirklicher Gegner des Systems warst.“ Das habe sich jedoch geändert, und er wisse nicht, ob der Grund dafür sein „besessenes Machtstreben“ oder Müdigkeit sei.

AMLO führt schon seit einem Jahr alle Umfragen mit teils 20 Prozent Vorsprung an. Von 2000 bis 2005 war er für die PRD Regierungschef des Hauptstadtbezirks Mexiko-Stadt. Während seiner Amtszeit wurde er durch Sozialprogramme, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Reduzierung der Kriminalitätsrate populär. Nach 2006 und 2012 ist es dieses Jahr sein dritter Anlauf auf das Präsidentenamt. 2014 gründete er die Bewegung zur Nationalen Erneuerung (Movimiento Regeneración Nacional, kurz Morena) als Partei und politische Plattform für seine dritte Präsidentschaftskandidatur. Morena könnte bei den Wahlen knapp 40 Prozent der Stimmen erreichen.

AMLO sieht sich als Gegenentwurf zur Politik von PRI und PAN, welche er als korrupte Herrschaftsinstrumente der „Mafia der Macht“ bezeichnet. Er verspricht ein Ende der Gewalt in Mexiko, indem er den Fokus von der Repression als Mittel der Bekämpfung von Kriminalität und Drogenkartellen auf die Prävention durch Wirtschaftsentwicklung und Armutsbekämpfung verlagern möchte. Bei einem Auftritt vor Studierenden in Monterrey verwies AMLO auf die 18 Millionen in Armut lebenden Jugendlichen in Mexiko: „Wir können uns nicht dem Problem der Sicherheit und Gewalt stellen, ohne uns um die Jugendlichen zu kümmern, ohne ihnen Studien- und Arbeitsmöglichkeiten zu geben.“ Er spricht sich gegen die Privatisierung von Staatseigentum aus und möchte die unter Peña Nieto erfolgte Privatisierung der Ölindustrie rückgängig machen. Im für ihn zur Hauptaufgabe erklärten Kampf gegen Korruption und Straflosigkeit möchte AMLO als eine der ersten Amtshandlungen die Paragrafen streichen, die dem Präsidenten und anderen hohen Amtsträgern Freiheit vor Strafverfolgung garantieren. Doch AMLO ist gerade in der mexikanischen Linken nicht unumstritten. So wird sein Wahlbündnis mit der ultrakonservativen evangelikalen Splitterpartei PES kritisiert, die sich strikt gegen die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe und eine Lockerung der strikten Abtreibungsgesetzgebung ausspricht. Zudem wird ihm Ignoranz gegenüber den Kämpfen der Indigenen vorgeworfen, die sich unter anderem in einer verächtlichen Haltung gegenüber den Zapatist*innen äußere.

Zum ersten Mal dürfen auch unabhängige Kandidat*innen bei den Präsidentschaftswahlen antreten. Nur drei Bewerber*innen erfüllten die anspruchsvollen Anforderungen der mexikanischen Wahlbehörde INE von 866.593 in mindestens 17 Staaten gesammelten Unterschriften, wobei ein Kandidat aufgrund von Unterschriften­fälschungen nicht zur Wahl zugelassen wurde. Die beiden verbleibenden Unabhängigen gelten als chancenlos, könnten jedoch Anaya und Meade wichtige Prozentpunkte streitig machen. Der Law-and-Order-Hardliner Jaime Rodríguez Calderón war bis 2014 Mitglied der PRI. Margarita Zavala ist die Ehefrau des Ex-Präsidenten Felipe Calderón, der 2006 den mexikanischen Drogenkartellen den Krieg erklärte. Zavala war bis 2017 Mitglied der PAN, bis sie sich mit Ricardo Anaya wegen dessen autoritären Führungsstils zerstritt. Die von den Zapatist*innen unterstützte Kandidatin des CNI (Nationalen Indigenen Kongresses), María de Jesús Patricio Martínez, genannt ‚Marichuy‘, verfehlte die Anforderungen klar. Die Menschenrechtlerin ist die erste indigene Frau in der Geschichte Mexikos, die für die Präsidentschaft zu kandidieren versuchte.

Letztlich kann nur die formelle und informelle Macht der herrschenden Eliten den Sieg von Morena und López Obrador verhindern. Wahlauffälligkeiten und Wahlbetrug sind in Mexiko keine Seltenheit. Der mexikanischen Linken und vor allem AMLO ist das Trauma von 2006 in guter Erinnerung. Damals führte er als Kandidat der PRD alle Umfragen vor der Wahl deutlich an. Am Wahlabend wurde jedoch Felipe Calderón als Sieger gekürt, mit einem Abstand von 0,6 Prozent. Dies hatte monatelange Proteste im gesamten Land zur Folge. AMLO und die mexikanische Linke haben dieses Ergebnis bis heute nicht akzeptiert.

“WIR BEREITEN UNS AUF DIE APOKALYPSE VOR”

Im Gespräch Marichuy (rechts), Subcomandante Marcos (mitte) und CIG-Ratsmitglied Lupta Vásquez (links) Foto: Alina Juárez

Wenn am 1.Juli 2018 knapp 90 Millionen Mexikaner*innen aufgerufen sind einen neuen Präsidenten zu wählen, wird die als „Marichuy” bekannte traditionelle Ärztin nicht auf den Wahlzetteln stehen. Maria de Jesus Patricio Martínez, wie sie mit vollem Namen heißt, war im Mai vergangenen Jahres vom Indigenen Regierungsrat (CIG) zu dessen Sprecherin gewählt worden. In den folgenden Monaten wurde sie zum Gesicht der neuesten Kampagne der Bewegungen, welche seit 1996 im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisiert sind und nun versuchten, die Öffnung des mexikanischen Wahlrechts für parteiunabhängige Kandidat*innen zu nutzen. Da der Versuch einer Präsidentschaftskandidatur auf einen Vorschlag der zapatistischen Bewegung zurückgeht stieß er auf viel Verwunderung, weil die Zapatistas und andere antikapitalistisch-indigene Organisationen sich bisher streng von der institutionellen Politik Mexikos abgrenzten. Dennoch organisierten sich im ganzen Land schnell tausende Unterstützer*innen und sammelten überall Unterschriften.

Knapp 870.000 hätten es bis zum 19. Februar werden müssen. Erreicht wurden nur etwas mehr als 280.000. Doch von Anfang an hatte die Bewegung klargestellt, dass es ihnen nicht um die Ergreifung der Macht mittels Wahlen ging, sondern darum „sich in allen Winkeln und Ecken des Landes zu organisieren” und den Parteien und dem System „die Party zu verderben”. Eine Rätin des CIG, Lupita Vásquez aus Chiapas, fasste den Ansatz der Initiative so zusammen: „Wir wollen die Macht nicht. Die Macht ist schon verfault.”

Das Treffen vom 15. bis zum 25. April 2018 zur Auswertung der Kampagne fand auf Einladung der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) in San Cristóbal de las Casas vor dem Hintergrund steigender Unsicherheit und zunehmender Gewalt in Mexiko statt.
Die sechsjährige Amtszeit des amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto ist gekennzeichnet durch eine Eskalation des “Kriegs gegen die Drogen”, der mit mehr als 25.000 Morden im vergangenen Jahr den blutigen Höhepunkt erreichte. Zudem werden gegen den Widerstand breiter Sektoren der Bevölkerung massive Privatisierungsprogramme durchgesetzt und soziale Bewegungen immer offener unterdrückt.
Diese Entwicklungen wurden durch zwei Ereignisse während des Kongresses verdeutlicht. Am 19. April wurde Catarino Márquez, ein Mitglied des Indigenen Regierungsrats, gemeinsam mit einem anderen Aktivisten von bewaffneten Männern im Bundesstaat Jalisco verschleppt. Nachdem Marichuy dies umgehend auf dem Treffen zur Sprache brachte und alle anwesenden mexikanischen Medien Meldungen dazu veröffentlichten, tauchten die beiden Männer am folgenden Tag unversehrt wieder auf.

Zudem kam es am 21. April zu bewaffneten Angriffen auf den Sitz der Organisation „Las Abejas de Acteal“ in der chiapanekischen Gemeinde Chenalhó, die sich für die Rechte der Opfer des Massakers von 1997 einsetzen. Die sechs Angreifer zerstörten ein Haus der Organisation und zerschossen die Straßenbeleuchtung, physisch verletzt wurde niemand.

Vor diesem Hintergrund konstatierte der indigene Aktivist und ebenfalls Mitglied des CIG Carlos González: „Die Völker Mexikos befinden sich in einem der schwierigsten Momente ihrer Geschichte.” Die Fragen, die viele in der Bewegung angesichts dieser Lage beschäftigte, stellte der Sprecher des EZLN Subcomandante Galeano – ehemals Subcomandante Marcos – zu Beginn des Treffens: „Waren es die Anstrengungen der vergangenen Monate wert?” und „Wie weiter?”.

Denn die indigenen Bewegungen trauen keinem der fünf Kandidat*innen für das Präsidentschaftsamt einen Wandel zu. „Es geht bei diesen Wahlen nicht um einen tiefgreifenden Wandel des Systems, sondern lediglich darum, wer den Neoliberalismus in Mexiko verwalten wird,” sagte Luis Hernández Navarro, Journalist der linken Tageszeitung La Jornada. Die Kampagne des CIG „hat das System nicht legitimiert, sondern demaskiert,” erklärte dazu Subcomandante Galeano. Besonders die Tatsache, dass die Kampagne des CIG die einzige Initiative für eine unabhängige Kandidatur war, bei der es nicht zu massiver Fälschung von Unterschriften gekommen war, was sogar das Nationale Wahlinstitut (INE) anerkannte, zeige den “kriminellen Charakter des mexikanischen Wahlsystems”.

Insgesamt zogen die Teilnehmer*innen, zu denen auch Aktivist*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und Intellektuelle zählten, eine positive Bilanz der Kampagne. So hätten sich der CIG und der Indigene Kongress durch die Kampagne und vor allem durch die Reise Marichuys durch 26 mexikanische Bundesstaaten erheblich vergrößert und seine bereits existierenden Strukturen verfestigt.

Doch es gab auch kritische Stimmen. Viele Aktivist*innen beschrieben die Gratwanderung zwischen der institutionellen Logik des Sammelns von Unterschriften und der eigentlichen Idee, die Initiative als Plattfrom zur Organisierung zu nutzen. Andere berichteten von der Schwierigkeit die Kampagne des CIG, die eben nicht auf die Machtergreifung abzielte, einer Gesellschaft zu vermitteln, die Politik mit Korruption und Vetternwirtschaft verbindet und in der zudem Desinformation und Diffamierung sozialer und indigener Bewegungen an der Tagesordnung sind. Die Mixe-Aktivistin Yasnaya Aguilar aus dem Nachbarbundesstaat Oaxaca stellte die Grundausrichtung des CNI in Frage: Seit 1996 fordert er „Nie wieder ein Mexiko ohne uns”. Sie stellte den mexikanischen Nationalismus grundlegend in Frage und plädierte für eine strikt anti-staatliche Ausrichtung der indigenen Bewegungen, für ein „Wir ohne Mexiko”, was sie bereits in den Autonomiebestrebungen der Zapatistas und anderer indigener Völker angedeutet sieht.

Die kommunale und antisystemische Ausrichtung der gesamten Bewegung spiegelt sich schon im weiteren Prozess der Organisation wieder. Anstatt dass der Indigene Regierungsrat etwas verabschiedet, begeben sich die im Indigenen Kongress organisierten Völker in einen langwierigen Auswertungsprozess unter Beteiligung all ihrer Gemeinden sowie in enger Koordinierung mit den verschiedenen Unterstützungsgruppen im ganzen Land. Carlos González vom Regierungsrat stellte in Aussicht, dass dieser Prozess im Oktober abgeschlossen sein wird und der gesamte Kongress dann angesichts der Ergebnisse die nächsten Schritte beschließen wird. „Unser Horizont endet nicht am 1. Juli,” meinte dazu der Subcomandante Galeano. „Denn wir bereiten uns nicht auf eine Wahl, sondern auf die Apokalypse vor.”
Diese Einschätzung war ein wiederkehrendes Thema während des gesamten Kongresses. So hatte der Subcomandante Galeano zuvor schon erklärt, dass sich die zapatistische Bewegung im Kern nicht mehr in der klassischen linken Dichotomie des 20. Jahrhunderts verortet: „Weder Revolution noch Reform – sondern Überleben.” Und bereits der Slogan der Kampagne des CIG deutete diese Analyse an: „Unser Kampf ist für das Leben.”

Denn seit einigen Jahren spielt der „Sturm” (La Tormenta) eine immer wichtigere Rolle in der zapatistischen Weltsicht. Danach führe das Zusammentreffen von ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krisen im 21. Jahrhundert zum zunehmenden Zerfall von Staaten und Gesellschaften und zur Zunahme von Krieg, Landraub und Vertreibung. Dazu kommt laut EZLN und dem Indigenen Kongress der andauernde Vernichtungskrieg gegen die indigenen Völker Mexikos und der Welt, der sich in den vergangenen Jahren durch extraktivistische Prozesse weiter verschärft habe. Die Initiative des CIG sei laut dem Subcomandante Galeano eine Antwort auf die Dringlichkeit der Situation der indigenen Völker Mexikos gewesen, genau wie der Aufstand der EZLN vom 1. Januar 1994 eine Antwort auf die Verzweiflung der Völker Chiapas gewesen sei.

Angesichts dieser Herausforderungen verändert sich auch die zapatistische Bewegung. Der Subcomandante Galeano sprach dabei zum Beispiel von einem „Marichuy-Effekt”, der vor allem junge Frauen innerhalb der verschiedenen Organisationen verstärkt inspiriert und motiviert habe, sich einzubringen und patriarchale Strukturen auch innerhalb der Bewegung anzugreifen. Eine erste sichtbare Konsequenz davon war das erste internationale Frauentreffen, bei dem die Zapatistinnen zum diesjährigen Frauenkampftag im März drei Tage lang mehrere tausend Frauen aus aller Welt zum gemeinsamen Austausch einluden (s. LN 526). Unter anderen waren Frauen aus dem Standing Rock Widerstand aus den USA anwesend, eine indigene Widerstandsbewegung gegen eine Ölpipeline. Zudem deutete die Kommandantur der EZLN während des Treffens einen Generationswechsel an, der sich vor allem in der Aufnahme von vielen jungen Zapatistas in die politischen Gremien der Organisation zeigt.

Gleichzeitig hält der Zapatismus an seiner Doppelstrategie fest, bei der auf der einen Seite der Aufbau der Autonomie und Selbstverwaltung in den zapatistischen Gebieten Chiapas steht und auf der anderen der ständige Austausch mit anderen Bewegungen, etwa im Rahmen des CNI oder dem EZLN-Unterstützungsnetzwerk „La Sexta”, und der ständigen Intervention in aktuelle soziale Konflikte in Mexiko.
Dabei hat allerdings die Mobilisierungsfähigkeit der Zapatistas über den engeren Unterstützer*innenkreis erheblich abgenommen, etwa im Vergleich zur „Anderen Kampagne” im Jahr 2006. Das hat einerseits mit massiven Verleumdungskampagnen seitens aller institutionellen politischen Akteure und mit dem unverändert starken Rassismus gegen Indigene in Mexiko zu tun. Andererseits hat die Bewegung ihren Leuchtturmcharakter als „erste Revolution des 21. Jahrhunderts“ verloren und ist für viele Mexikaner*innen zu einer Sache des vergangenen Jahrtausends geworden.

Dennoch bleibt die Unterstützung der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft für die zapatistische Bewegung essenziell. Symbolisch hierfür steht die Aufnahme des Soziologen und langjährigen Wegbegleiters der EZLN Pablo González Casanova als erstes nicht-indigenes Mitglied in das höchste zapatistische Gremium, das Revolutionäre Klandestine Indigene Komitee (CCRI). Der 96-jährige Intellektuelle war seit den ersten Tagen des Aufstands ein wichtiger Fürsprecher der Bewegung und steht damit für die enge Verbindung der EZLN mit zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Der Kampf zur Selbstverteidigung der Indigenen dauert bereits fünfhundert Jahre an und wird noch Generationen andauern. Auf die Zukunft der Bewegungen angesprochen, meinte Marichuy: „Es kommt, was kommt. Wir können nicht denken, dass wir schon etwas erreicht hätten, sondern müssen die Arbeiten verstärken, die wir ohnehin leisten. Es gibt noch viel zu tun.”

KOSMOPOLIT PAR EXCELLENCE

Kurioserweise lernte ich ihn zunächst als Übersetzer kennen. Ich kann wohl behaupten, dass von allen Wörtern, die ich in Joseph Conrads Herz der Finsternis las, kein einziges von Conrad, sondern alle von Pitol stammten, mit Ausnahme der Eigennamen. Auch Tschechow und Andrzejewski lernte ich durch seine Stimme kennen. Jahre später sollte die Universität von Veracruz eine Reihe mit Sergio Pitols Übersetzungen von Autoren wie Witold Gombrowicz, Kazimierz Brandys oder Tibor Déry herausgeben. Dass ihre Werke in Mexiko gelesen wurden, ist Pitol zu verdanken – dem Kosmopoliten par excellence: Geboren in Puebla und aufgewachsen in Veracruz, zog er zum Studium der Rechtswissenschaften nach Mexiko-Stadt. Doch da es ihn drängte, in den Städten seiner Lieblingsschriftsteller zu leben, ließ er sich in verschiedenen Ländern nieder, arbeitete als freier Übersetzer, Kulturattaché und Botschafter. In seinen immer kurzweiligen Seminaren zur russischen und zentraleuropäischen Literatur war eine tiefe Leidenschaft für die erzählerischen Ausdrucksformen zu spüren, für meisterlich gesponnene Handlungsstränge.

An der Universität las ich viele seiner Essays und Erzählungen. Mich jetzt in Lob darüber zu ergehen, wäre ein Verstoß gegen die Ehrlichkeit: Manchmal spielt mein Gedächtnis gegen mich. Was jedoch die zehn Jahre überstanden hat, seit ich aus Xalapa weggezogen bin, ist eine Datei mit El mago de Viena („Der Zauberer aus Wien“, nicht ins Deutsche übersetzt; Anm. der Red.). Dank einer mit Pitol befreundeten Dozentin lasen wir das unveröffentlichte Buch wie eine Exklusiv-Nachricht. Im Gegensatz zur üblichen Universitätslektüre – Literaturklassiker und Standardwerke der Hispanistik – saß ich zum ersten Mal vor einem lebendigen, einem genialen Text, der in den Nullerjahren in eben der Stadt geschrieben worden war, in der ich wohnte, und der sich direkt an mich richtete. Ein schwindelerregender Erzählfluss in meiner eigenen Sprache, eine Kritik der „dummen Literatur“, die Verlage als gut anpreisen, die aber eigentlich platte Unterhaltung ist. Mit diesem Werk beschloss Pit ol seine autobiographische Trilogie, zu der auch Die Kunst der Flucht und Die Reise gehören. Ein Jahr später wurde ihm der Premio Cervantes verliehen.
Als ich von seinem Tod erfuhr, rief ich mir die Zeit an der Universität in Erinnerung: Warum hatte ich, anstelle meine Scheu zu überwinden, den merkwürdigen Plan einer zufälligen Begegnung im Morgengrauen ausgeheckt? Da ich nicht in die Vergangenheit zurückkehren konnte, kehrte ich zu seiner Literatur zurück. Ich las Die göttliche Schnepfe und vergewisserte mich seines einzigartigen Humors. Seine Sprach- und Erzählkunst wird nicht nur mein schlechtes Gedächtnis und die „dumme Literatur“ überleben, sondern einen Teil des weltliterarischen Schatzes bilden.

MÄNNERFREIE ZONE

Revolutionärinnen Die Zapatistas kämpfen seit Beginn ihres Aufstandes für die Rechte indigener Frauen (Foto: Hazel Zamorra/CIMAC)

Die Einladung war überraschend und in knappen Worten gehalten auf der Webseite der Zapa­tistas erschienen. „Wenn du keine Angst vor dem schlechten System hast, das uns ausbeutet, unterdrückt, beraubt und verachtet, oder wenn du Angst hast, sie aber kontrollierst, dann laden wir dich herzlich ein”, schrieben die compañeras. „Und wenn du ein Mann bist, kannst du gleich wieder aufhören zu lesen, denn du bist nicht eingeladen”.

In ihrer Radikalität haben die zapatistischen Frauen die Sympati­sant*innen aus der Stadt nicht das erste Mal überrascht. Schon 1994, gleich zu Beginn des Aufstands der EZLN (Nationale Zapatistische Befreiungsarmee), veröffentlichten die Zapatist­*innen das „Revo­lu­tio­­näre Gesetz der Frauen”, das die indigenen Frauen in vielen Sitzungen durchgesetzt hatten. Es beinhaltet unter anderem die Forderung, dass die Frauen selbst entscheiden sollten, wen sie heiraten und wie viele Kinder sie haben wollten. Das war in den indigenen Gemeinschaften, in denen Frauen teilweise noch nicht einmal das öffentliche Wort erteilt wurde, im wahrsten Sinne des Wortes revolutionär.

In dieser Tradition verstanden sich auch die Gastgeberinnen, die sich monatelang lokal und über die Grenzen der caracoles, der autonomen Bezirke, hinweg auf das Treffen im März vorbereitet hatten. Dass sie allerdings solch durchschlagenden Erfolg haben und mehr als 5.000 Teilnehmerinnen von außerhalb anreisen würden, damit hatten sie selbst nicht gerechnet. „Lasst es euch nicht noch einmal einfallen, eine Null wegzulassen!”, ermahnte Alejandra aus dem Caracol Realidad in ihrer Abschlussrede, denn angemeldet hatten sich nur 650 Frauen. Es spricht für die Organisation der zapatistischen Frauen, die gemäß ihrer Ideologie immer in Gemeinschaft gestemmt wurde, dass keine Teilnehmerin ohne Essen blieb und immer genug Wasser für Duschen und Klos da war.

An das Schlange stehen mussten sich die Gäste allerdings von Beginn an gewöhnen – das ging schon vor dem großen, gusseisernen Tor los, welches von vermummten Soldatinnen der EZLN bewacht wurde. Sie kontrollierten peinlich genau die Akkreditierungen der Eingeladenen. Männern war der Eintritt ab diesem Punkt verboten. Hinter dem Tor standen Zapatistinnen in Grüpp­­chen versprengt und schwatzten den Besucherinnen freundlich all ihre Gepäckstücke, Zelte und Schlafsäcke ab, um sie dann zum auserkorenen Schlafplatz zu tragen. Nicht nur auf den grünen Hügeln der Umgebung hatten sie Willkommenstransparente gemalt, sondern auch die zahlreichen murales, die farbenfrohen Wand­bilder, mit feministischen Motiven erneuert.

“Wir sind alle verschieden. Aber die Gewalt, die sich in diesem Land gegen Frauen richtet, eint uns.”

Der Takt des Festivals wurde von den Indigenen vorgegeben: Viele Feministinnen aus der Stadt waren erst mit dem letzten Bus um drei Uhr morgens angerollt, wurden am ersten Tag aber um sechs Uhr morgens von Bassklängen geweckt. Die vierköpfige Band Dignidad y Resistencia (Würde und Widerstand) stimmte zünftige rancheras (traditionelle Lieder) an, bis sich unter die zahlreichen Sturmhauben auf dem Sportplatz auch die ersten Besucherinnen aus anderen mexikanischen Bundesstaaten wie Michoacán und Sonora, sowie international aus Argentinien, Guatemala, Frankreich und anderen Ländern mischten.

Dann folgte die erste Lektion in militärischer Disziplin. Die Eröffnungsveranstaltung zog sich bis zum Mittag und die Zapatistinnen waren die einzigen, die es – noch dazu unter ihren Sturm­hauben – in der brütenden Hitze bis dahin aushielten, während die Feministinnen aus der Stadt sich alle in den Schatten flüchteten.

Kommandantin Erika von der EZLN erklärte, wie das Treffen in den Bergen von Chiapas zustande gekommen war. Einerseits wollten die Zapatistinnen damit die Kandidatur von Patricio Martínez, auch Mari­chuy genannt, unterstützen, zum anderen ein Signal gegen Gewalt gegen Frauen setzen. Denn, so Erika, „wir sind alle verschieden. Aber die Gewalt, die sich in diesem Land gegen Frauen richtet, eint uns. Egal ob Wissenschaftlerin, Ärztin, Künstlerin oder Lehrerin.”

Bis zum Ende des Tages hatten die Gastgeber­innen auch noch mehrere Theaterstücke auf­geführt und ein weiteres Konzert gegeben und Teilnehmerinnen wie Katharina Theissing aus Münster tief beeindruckt: „Es ist so krass, was sie auf die Beine gestellt haben!”

So wie Katharina sind viele Ausländerinnen gekommen, die vorher schon in Mexiko waren oder den Besuch des Festivals mit einer Reise verbunden haben. Die Argentinierinnen gehen keinen Schritt ohne ihre Thermoskannen und Matebecher. Eine Gruppe indigener Kak’chikel aus Guatemala zeigt, wie sie Blusen weben. Und viele Hippies haben am Rand des Sportplatzes Decken ausgelegt, auf denen sie selbstgemachten Schmuck anbieten.

Männer müssen draußen bleiben Frauen aus aller Welt sind willkommen (Foto: Sonja Gerth)

Dann gibt es noch die Workshops und Dar­bie­tungen, über 350 an zwei Tagen. So informieren die Mütter von Verschwundenen und Opfern von Feminiziden über ihren Kampf gegen die Straf­losigkeit. „Die Staatsanwaltschaft will unsere Akte in diesem Jahr schließen”, berichtet Hilda Hernández, die Mutter eines der Verschwun­denen von Ayotzinapa. „Dabei ist bisher noch keiner ihrer Körper gefunden worden! Dass die 43 auf einer Müllhalde ver­brannt worden sein sollen, ist eine Lüge, und es müssen erst ausländische Experten kommen, um das zu beweisen!” „Ayotzi vive!”, Ayotzinapa lebt, ruft eine Frau aus dem Publikum, und „La lucha sigue”, der Kampf geht weiter, antworten automatisch die Frauen in der Mitte.

Vielen im Publikum kommen die Tränen, als sie die Geschichten der Mütter von ermordeten Frauen hören. So wie die von Aracely Osorio, der Mutter von Lesvy Berlín, die im vergangenen Jahr auf dem Campus der Universität UNAM in Mexiko-Stadt ermordet wurde, mutmaßlich von ihrem Freund. Sie war mit dem Kabel einer öffentlichen Telefonzelle erwürgt worden. „Trotzdem hat uns die Polizei mitgeteilt, dass es sich um einen Selbstmord handelt und deswegen nicht weiter ermittelt wird.” Erst nach einer Pressekampagne wurde die Akte wieder geöffnet und der Freund ins Visier genommen, von dem Videobilder aus der Nähe des Tatorts auftauchten. In Mexiko werden nach Angaben der UN sieben Frauen am Tag ermordet, weil sie Frauen sind. Die Straflosigkeit liegt bei 99 Prozent.

“Jede von uns nimmt einen kleinen Funken Kampfgeist mit nach Hause, darum geht es ja.”

Aracely Osorio fühlt sich, wie viele der Mütter von Verschwundenen oder Mordopfern, politisch Marichuy verbunden. Das Vertrauen in den Staat, die „schlechte Regierung” wie die Zapatistinnen sagen, haben sie längst verloren. Marichuy ist ebenfalls auf dem Festival, ergreift aber nicht das Wort, schließlich sei sie nur Gast der Zapa-tistinnen, wie es heißt. Sie und viele der concejalas, der Mitglieder im indigenen Regie­rungs­rat CIG, besuchen wie andere einfach die Workshops, auch wenn sie stets von einer Traube Bewunderinnen verfolgt werden. Eine der anwesenden concejalas ist Bettina Cruz Velásquez, sie repräsentiert im CIG die Binni’zaa (Zapoteken). Die zapatistischen Frauen sind für sie ein Vorbild: „Mit dem Umbruch durch die zapatistische Bewegung hat sich auch die Art und Weise radikal geändert, in der sich die Frauen einbringen. Hier durften die indigenen Frauen ja noch nicht mal auf dem selben Bürgersteig gehen wie ein Weißer. Und heute sind es Rebellinen, Kämpfer­innen, Frauen die sich gegen die Herrschaft derjenigen auflehnen, die ihre Arbeitskraft ausbeuten. Und auch gegen die Rollenverteilung, die der Kapitalismus ihnen auferlegt hat. Das ist wichtig, und wir dürfen dabei sein, zuschauen was sie machen und daraus lernen.”

Marichuys Kandidatur war im Februar geschei­tert. Sie hatte nur rund ein Drittel der vom Wahlinstitut geforderten 866.593 Stimmen für von Parteien unabhängige Kandidat*innen sammeln können und wird daher am 1. Juli nicht auf dem Wahlzettel stehen. Dennoch ist der CIG zuversichtlich, dass die Stimme des Protests künftig lauter sein wird. „Schauen Sie sich dieses großartige Frauen­treffen an! Meiner Ansicht nach haben wir schon vieles erreicht. Auch Gleichgesinnte aus dem Ausland wollen jetzt wissen, wie unser Programm aussieht. Jede von uns nimmt einen kleinen Funken Kampfgeist mit nach Hause, darum geht es ja. Wenn wir uns organisieren, können wir die schlechte Regierung bekämpfen, und dann wird es auch Veränderung geben”, meint Maricela Mejía, Repräsentantin der indigenen Otomí im CIG.

In Rock und Sturnhaube Zapatisstinnen beim Fußballspiel mit den internationalen Gästen (Foto: Hazel Zampora/CIMAC)

Der Widerstand gegen Minen und Wasser­kraftwerke, der Kampf um Land und natürliche Ressourcen sind einige der Themen, die verstärkt in den hunderten Workshops vertreten sind. Dennoch spiegelt sich darin auch die Vielfalt der Teilnehmerinnen wider, die diese anbieten: Es geht von der feministischen Bewegung in Frankreich, afrikanischem Tanz, der Entdeckung des Körpers und einem Lachworkshop bis zu weiblichen Gottheiten und libertären Gebär­müttern. In den Worten der Zapatistinnen: „seltsame Dinge”. Mit Begeisterung stürzen sich aber auch Volleyballerinnen, Basket- und Fussballer­innen in ihre Turniere, sprinten in der Mittagshitze durch das Sägemehl in Richtung Tor. So mancher Ball landet dabei auf einem der Zelte, die aus Platzmangel bis an die Außenlinie herangebaut worden sind.

Sinaira aus Oventic sitzt am Eingang hinter dem Tisch, an dem Beschwerden hinterlassen werden können. „Es ist beeindruckend, die tausenden Frauen zu sehen, die gekommen sind”, sagt sie, und erzählt von den Vorbereitungen. „Als die Männer gehört haben, dass wir das Treffen alleine machen wollen, haben sie gesagt, macht ruhig! Und wir haben gedacht, mal gucken wie weit wir kommen. Es ist ja so, dass wir gehört haben, dass viele Frauen leiden. Und keiner sagt ihnen, wie das Leiden auszuhalten ist. Deshalb haben wir gesagt, wir machen das Treffen, damit sie ein bisschen frei sein können von den Männern.” Zwischendurch wird sie von ihrer compañera Esmeralda auf Tzotzil ergänzt, die zu schüchtern ist, um ein Interview zu geben.

Noch immer sprechen viele indígenas in der Region nur ihre eigene Sprache, wie Tzeltal, Tojolabal und andere – ein Grund, warum sie zum Beispiel im Gesundheitswesen immer noch starker Diskriminierung ausgesetzt sind. Viele jüngere Zapatistas beherrschen Spanisch jedoch fließend, und auch in den Workshops proto­kollieren sie, die überwiegend die autonomen Schulen bis zur sechsten Klasse besucht haben, in sauberer Schrift mit. Die Texte, die zu Beginn und zum Abschluss vorgetragen werden, und die gemeinsam von Vertreterinnen der fünf Bezirke verfasst wurden, sind poetisch und kämpferisch. Alejandra, eine junge Frau aus dem Caracol Realidad, liest die Abschiedsrede vor. „Wenn jemand euch hinterher fragt, was die Ergebnisse des Treffens sind, dann sagt: ‘Wir haben ver­einbart, am Leben zu bleiben und zu kämpfen’, was haltet ihr von diesem Vorschlag? Denn was wirklich nötig ist, ist dass nie wieder eine Frau auf der Welt, egal welche Hautfarbe sie hat, welche Größe, welches Alter, welche Sprache sie spricht, aus welcher Kultur sie kommt, Angst haben muss. Seid ihr ein­ver­standen?” Da recken die Feministinnen aus aller Welt die Fäuste in die Höhe und schreien mit Tränen in den Augen: „Ja!”

GEDENKEN IN ACTEAL

Am Abend des 5. Januars wurde José Vázquez Entzín am Ende einer angespannten Versammlung in seinem Dorf Los Chorros im Hochland von Chiapas festgenommen und ins Gemeindegefängnis gesteckt. Sein vermeintliches Vergehen: Ein von ihm bestellter Laster mit einer Sandladung hatte Schlamm aufgeworfen in seinem Viertel, so dass die Wege schwer passierbar wurden. Tatsächlich war dieser Vorwurf nur ein Vorwand. José ist Mitglied der Organisation Las Abejas (dt. die Bienen) und nimmt aus Überzeugung nicht an Sozialprogrammen der Regierung teil, im Gegensatz zu den meisten Menschen in seinem Dorf. Seine Weigerung, sich an Gemeindediensten zu beteiligen, die mit den Programmen verbunden sind, führte seit 2015 dazu, dass sich die Stimmung in seiner Gemeinde gegen ihn richtete, ihm Strom und Wasser abgestellt wurden. Hinter diesem jüngsten Vorfall in einem fast drei Jahre andauernden Konflikt verbirgt sich eine Geschichte, die eigentlich schon vor über zwei Jahrzehnten ihren Anfang nahm.

Als Antwort auf den Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) am 1. Januar 1994 im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas initiierte die mexikanische Regierung unter Präsident Ernesto Zedillo (1994-2000) eine Aufstandsbekämpfungsstrategie, die von Beobachter*innen des Konflikts als Krieg niederer Intensität bezeichnet wurde. Zentraler Teil der Strategie war die Gründung, Finanzierung, Bewaffnung und Unterstützung paramilitärischer Gruppen, die ab 1995 zapatistische Gemeinden einschüchterten, bedrohten, vertrieben oder ihre Bewohner*innen ermordeten. Auch andere Organisationen wurden Zielscheibe dieser Gruppen, weil sie sich weigerten, mit ihnen zu kooperieren oder ihnen Geld für den Kauf von Waffen zu geben. Zu diesen von paramilitärischer Gewalt betroffenen Organisationen gehörten Las Abejas, eine 1992 von Tsotsiles und Tseltales ins Leben gerufene Organisation im Hochland von Chiapas, die sich für die Rechte der indigenen Gemeinden einsetzt. Es waren Mitglieder der Abejas, die am 22. Dezember 1997 Opfer des Massakers von Acteal wurden, als Paramilitärs über sechs Stunden lang in dem indigenen Dorf um sich schossen und 45 Menschen ermordeten, darunter vor allem Frauen und Kinder. Der damalige Bischof des Bistums San Cristóbal de Las Casas, Samuel Ruiz García, sprach bei der Bestattung kurz nach dem Massaker vom „traurigsten Weihnachten“, das er je erlebt hatte.

Seit dem Massaker von Acteal kämpfen die Abejas für Gerechtigkeit. Es wurden 87 Personen als Täter verurteilt, von denen seit 2009 nach und nach fast alle wegen Verfahrensfehlern in ihren Prozessen wieder freigelassen wurden. Die geistigen Urheber des Massakers wurden bis heute nicht angeklagt, geschweige denn verurteilt. Für die Abejas zählen dazu die Verantwortlichen der Aufstandsbekämpfungsstrategie, also der damalige Präsident Ernesto Zedillo, sein Innenminister Emilio Chuayffet, Verteidigungsminister Enrique Cervantes Aguirre sowie der Kommandeur der VII. Militärregion, zu der Chiapas gehört, General Mario Renán Castillo, als Zuständiger für die Umsetzung der Strategie. Da den Abejas bewusst ist, dass von mexikanischen Gerichten keine Gerechtigkeit ausgehen wird, gehört die Erinnerung an das Massaker zu den zentralen Bestandteilen einer anderen Gerechtigkeit, die von den betroffenen Gemeinden ausgeht. Es ist ein Kampf gegen das Vergessen, der auch dabei helfen soll zu verhindern, dass sich Vorfälle wie das Massaker wiederholen. Diese mahnenden Stimmen sind weiterhin wichtig, denn Konflikte und gewaltsame Vertreibungen wie in Chalchihuitán im November 2017 (LN 524) zeigen, dass die Verantwortlichen auf den verschiedenen Regierungsebenen gravierende Menschenrechtsverletzungen weiterhin in Kauf nehmen.

Die Geschichte hinter dem Konflikt nahm vor über zwei Jahrzehnten ihren Anfang.

Am 22. Dezember 2017 wurde der 20. Jahrestag des Massakers begangen. Über tausend Menschen aus verschiedenen chiapanekischen Gemeinden, anderen Teilen des Landes und der Welt nahmen an der Gedenkfeier teil. Die Abejas hoben in ihrer Erklärung anlässlich des Jahrestags hervor, dass es vor allem Frauen und Kinder waren, die dem Massaker zum Opfer fielen: „[…] wir werden die schwangeren Frauen nicht vergessen, denen der Mutterleib aufgeschnitten wurde, um ihnen die Säuglinge zu entreißen, mit der Botschaft, das Leben im Keim ersticken zu wollen“. Wie in anderen Stellungnahmen der Organisation wurde auch diesmal Bezug auf die aktuelle Situation in Mexiko genommen. Deutlich kritisierten die Abejas, dass die Regierung von Präsident Peña Nieto kurz zuvor „ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet hat, damit die Armee nun ‚legal‘ schwere Menschenrechtsverletzungen begehen kann. […] Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes zur Inneren Sicherheit unterstreicht die schlechte Regierung ihren Krieg zur Ausrottung der indigenen und nicht-indigenen Gemeinden, so wie sie es in Acteal gemacht haben“.

„Mehr und mehr Tote, als Auswirkung dieser Kultur der Gewalt, einer Kultur des Massakers, wo ganze Familien aus ihren Häuser fliehen vor der Bedrohung durch bewaffnete Gruppen“, so beschrieb das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die aktuelle Situation in seiner Pressemitteilung zum Jahrestag des Massakers von Acteal. „Es ist das Erbe der Militarisierung, des Paramilitarismus und der Aufstandsbekämpfung, die in Chiapas weiterhin andauert“. Frayba vertritt die Abejas juristisch vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, wo ein Verfahren gegen den mexikanischen Staat wegen der in Acteal begangenen Gräueltaten läuft. Ziel ist es, über diese internationale Instanz Gerechtigkeit für die Überlebenden und Angehörigen der Opfer zu erreichen. Ein zentraler Punkt für die Abejas und Frayba ist dabei die Feststellung, dass das Massaker Folge der Aufstandsbekämpfungsstrategie des mexikanischen Staates gegen die EZLN und mit ihr sympathisierende Organisationen war, und nicht, wie von der mexikanischen Regierung dargestellt, die Eskalation eines Disputs zwischen indigenen Gemeinden. Doch die Mühlen des Interamerikanischen Systems mahlen langsam und noch ist nicht abzusehen, welche Entscheidung die Kommission fällen wird. So bleibt den Abejas und Frayba vor allem das öffentliche Erinnern und Mahnen, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie in Acteal nicht wiederholen dürfen.

In Vorbereitung auf die Gedenkfeier zum 20. Jahrestag des Massakers und anlässlich der Gründung der Abejas vor 25 Jahren hatte die Organisation mit Unterstützung von Frayba Mitte März 2017 die Kampagne „Acteal: Raíz, Memoria y Esperanza“ („Acteal: Wurzel, Erinnerung und Hoffnung“) gestartet. Ein Ziel dieser Kampagne war es, in den Medien Aufmerksamkeit zu erzeugen und daran zu erinnern, dass den Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer auch 20 Jahre später noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Zum anderen ging es für die Abejas darum, die Organisation durch Besuche in den verschiedenen Gemeinden ihrer Mitglieder zu stärken. Guadalupe Moshán Álvarez, die als Anwältin bei Frayba an der Durchführung der Kampagne beteiligt war, betonte gegenüber LN die Wichtigkeit dieser nach innen gerichteten Aktivitäten: „Es ging bei diesen Treffen in den Gemeinden auch darum, das Wissen über die Geschichte der Organisation, über die Geschehnisse an jenem 22. Dezember 1997 an die Jüngeren weiterzugeben und sie einzubinden in die Organisation“. Die Abejas erklärten, die Kampagne hätte sie „viele Dinge erkennen lassen, sowohl Fehler als auch Erfolge in unserer langen Geschichte von 25 Jahren. Wir sind dankbar und froh darüber, so viele Leute zu kennen, die ein gutes Herz haben und der Gerechtigkeit und dem Frieden verpflichtet sind. Wir danken für all die Zeichen der Unterstützung im Laufe der Kampagne“.

Vor der CIDH läuft ein Verfahren gegen Mexiko wegen der in Acteal begangenen Gräueltaten.

Im Vergleich zu früheren Gedenken, bei denen oft ausschließlich die Männer der Organisation durch die Zeremonie führten, war es dieses Mal eine Frau, die den zentralen Beitrag hielt. Hierbei handelte es sich um Guadalupe Vázquez Luna, die am 22. Dezember vor 20 Jahren fast ihre gesamte Familie verloren hatte. Doch es dürfte nicht allein ihre Eigenschaft als Überlebende des Massakers gewesen sein, die die Organisation zu diesem Schritt bewegt hatte. Denn Vázquez Luna wurde von den Abejas und anderen Organisationen als Vertreterin der Tsotsil-Region in den Indigenen Regierungsrat entsandt, den der Nationale Indigene Kongress im Mai 2017 gebildet hatte. Hatte sie anfangs noch mit dieser Rolle gezaudert, zeigte sich im Verlauf der Zeit und insbesondere seit der Rundreise der indigenen Präsidentschaftskandidatin Marichuy in Chiapas im Oktober und November vergangenen Jahres (LN 523) eine andere Guadalupe Vázquez, die ohne Scheu ans Mikrofon trat und das Publikum durch ihre spürbare Begeisterung für das Anliegen des Nationalen Indigenen Regierungsrates (CIG) mitzureißen verstand.

Vazquéz Luna gehörte auch zu einer Gruppe von Frauen, die sich am 9. Januar 2018 auf den Weg nach Los Chorros machten. Zu jenem Zeitpunkt waren neben José noch acht weitere Männer der Abejas inhaftiert worden, als sie José besuchten, um ihn in der Haft moralisch zu unterstützen. Der Pilgermarsch der Frauen sowie wachsender öffentlicher Druck verschiedener Organisationen auf die Regierung von Chiapas und die lokalen Behörden führte schließlich dazu, dass die Männer am Abend des 9. Januar freigelassen wurden. In einer Mitteilung bedankten sich die Abejas für die Unterstützung, die zur Freilassung geführt hatte. Sie erklärten aber auch, dass trotz der Freilassung „der Ursprung des Problems nicht gelöst ist. […] Wir hoffen, dass die Gemeindevertreter ihre Bereitschaft zum Dialog bestätigen, um diesen seit 2015 schwelenden Konflikt aufgrund politischer und sozialer Differenzen zwischen unseren Mitgliedern der Abejas und den Bewohner*innen der besagten Gemeinde wirklich und definitiv zu lösen“.

TRADITION ALS WAFFE

Moisés Martínez rührt ein letztes Mal um. Vorsichtig tunkt er mehrere Bündel Seidenfäden in die dunkelrote Flüssigkeit, die in großen Emaille-Töpfen auf dem Gasherd kocht, und wechselt ein paar Worte auf Zapoteco mit Estela Zárate. Hinter der offenen Tür zeichnen sich die Berge der Sierra Norte von Oaxaca ab. „Wir können anfangen“, ruft Estela den anderen Mitgliedern der Kooperative zu, die in der Werkstatt Fäden spinnen und verknoten. Im nächsten Moment drängen sich alle um die Kochtöpfe, um die Seidenknäul in dem Sud aus zerstoßenen Cochenille-Läusen mit Winterestragon und Indigo zu färben. Ist die Seide ausgewrungen, getrocknet und aufgespult, wird sich Estela den Hüftwebstuhl umschnallen und die Fäden zu bunten rebozos (Tüchern) und huipuiles (weiten Blusen) weben.

Fotos: Sarah Weis

Estela und Moisés gehören den Kooperativen Bienhi und Wen Do Sed an, die sich mit dem Ziel organisiert haben, die traditionelle Seidenherstellung in den Nachbardörfern San Pedro und San Miguel Cajonos zu retten. Das Wissen, wie man die Seidenraupen züchtet und wie man aus deren Puppen die wertvollen Seidenfäden gewinnt, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Kein leichtes Unterfangen, denn wie in vielen ländlichen Gebieten Oaxacas sind auch San Pedro und San Miguel Cajonos davon betroffen, dass die jungen Leute in die Großstädte Mexikos oder der USA ziehen, um dort ein besseres Auskommen zu finden.

Kunsthandwerk hat in Mexiko eine lange Tradition. Das enorme Wissen über Färbe- und Webtechniken ist vor allem in indigenen Gemeinden verwurzelt. Doch die Arbeit, die hinter der kunsthandwerklichen Produktion steckt, wird oft als folkloristisch abgetan und kaum wertgeschätzt, was dazu führt, dass die meisten indigenen Produzent*innen ihre Ware zu Spottpreisen verkaufen müssen. Die Kunsthandwerker*innen selbst werden im von postkolonialen Strukturen geprägten Mexiko stigmatisiert. Das liegt daran, dass Kunsthandwerk als etwas Indigenes gesehen wird. Tourismusprogramme werben zwar gerne mit der kulturellen Vielfalt Mexikos, doch indigene Gruppen sind immer noch betroffen von Rassismus und gehören zu den Ärmsten der Bevölkerung. Über die Hälfte aller Kunsthand-werker*innen in Mexiko verdiente 2011 weniger als den zu dem Zeitpunkt gültigen Mindestlohn (umgerechnet etwa drei Euro pro Tag), besagt die Studie „Kunsthandwerk in Mexiko“ des Centro de Estudios Sociales y de Opinión Pública.

“Der servicio comunitario ist das beste System, um Korruption zu verhindern.”

„Viele sehen in uns nur jemanden, der am Arsch ist, der kein Geld hat“, erzählt David Villanueva, Gründer der Kooperative Huizache. „Viele Kunsthandwerker sagen deshalb zu ihren Kindern: Werde Ingenieur, Architekt, alles nur nicht Kunsthandwerker.“ Wir sitzen in den Verkaufsräumen von Huizache, die zwischen bunten, flachen Kolonialhäusern mitten im Zentrum von Oaxaca-Stadt liegen, etwa drei Autostunden entfernt von San Miguel Cajonos. Obwohl es Winter ist, brennt die Sonne im Gesicht, der Himmel ist glasklar und blau. Im Laden türmen sich alebrijes (bunte Fantasiefiguren), Krüge aus schwarzem Ton und kunstvoll gewebte rebozos. Die meisten der 70 Kunsthandwerker*innen von Huizache leben in comunidades, indigenen Gemeinden, und kommen nur zum Verkauf in die Stadt. Gemeinsam wollen sie ihre Produkte besser vermarkten und das Bild von Kunsthandwerker*innen und ihrer Arbeit verändern.

Selbstorganisation ist eine wichtige Waffe, um sich gegen Armut zu wehren und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Im Bundesstaat Oaxaca schließen sich deshalb immer mehr Kunsthandwerker*innen zu Kooperativen zusammen. Der Vorteil der Arbeit in der Kooperative ist, dass die Mitglieder nicht darauf angewiesen sind, ihre Produkte zu lächerlichen Preisen an Zwischenhändler*innen zu verkaufen. Ohne die Kooperativen bliebe ihnen nichts anderes übrig. „In Huizache sind wir alle Partner“, sagt Concepción Guzmán, Präsidentin von Huizache. „Das ermöglicht, dass 70 Prozent des Verkaufspreises direkt an die Kunsthandwerker gehen.“ Zudem profitieren die Mitglieder vom Austausch von Wissen und Erfahrungen untereinander.


Damit die Kooperative funktioniert, leistet jeder einen Dienst für die Gemeinschaft. Zum Beispiel beim Verkauf im Laden. Bezahlt wird nur die Büroarbeit. „Der servicio comunitario“, meint Fidel Salazar, ebenfalls Gründer der Kooperative, „ist das beste System, um Korruption zu verhindern.“ Während er spricht, hüpft Davids vierjährige Tochter von einem zu anderen. „Am schwierigsten ist es, die Leute zu organisieren, weil es so unterschiedliche Arten und Weisen gibt, die Welt zu sehen“, sagt Concepción. „Wir gehören 16 verschiedenen ethnischen Gruppen an. Die Älteste in Huizache ist 70, der Jüngste 23 Jahre alt. Deshalb ist Disziplin sehr wichtig.“

Wenn jemand krank wird, legen alle zusammen. Theoretisch garantiert das mexikanische Gesundheitssystem zwar Hilfe für alle Bürger*innen, in der Praxis ist das System korrupt und nicht in der Lage, die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Insbesondere in ländlichen Gebieten mangelt es an Ärzt*innen und Krankenhäusern. Es ist in Mexiko üblich, dass das soziale Netzwerk auffängt, was das öffentliche Sozialsystem nicht leistet.

„Wie wir uns organisieren, hat viel damit zu tun, wer wir sind”, erzählt Concepción. „Jeder gibt etwas dazu. Diese Art der gemeinschaftlichen Arbeit kommt aus den comunidades. Es ist unsere traditionelle Art, uns zu organisieren. Über 60 Prozent der Oaxaqueños leben in Gemeinden, die in indigenen Systemen organisiert sind.“ Huizache geht es nicht nur um die Vermarktung der Produkte, sondern auch darum, indigene Lebensformen und Strukturen zu stärken. Edgardo Villanueva, Gründer von Huizache, erklärt: „Das Wichtige ist nicht Huizache, sondern die Solidarität, die dahintersteckt: Die Werte unserer Vorfahren. Das macht uns zu Feinden von staatlichen Funktionären und Gewerkschaften. Die wollen ungebildete Kunsthandwerker, die weinen und um Hilfe betteln, keine autonomen Kunsthandwerker, wie wir es sind.“

„Huizache ist ein Beispiel dafür, wie man durch Organisation Macht erlangen kann“, sagt Dulce Martínez, die uns zu Huizache begleitet hat. Sie arbeitet als Direktorin von Fábrica Social, einem Projekt, das das Ziel hat, Kunsthandwerkerinnen zu empowern und deren Produkte zu fairen Preisen zu vermarkten. Sie fügt hinzu: „Der Regierung ist es lieber, wenn Indigene arm sind, dann können sie ihr Stimmrecht und ihr Land kaufen und sie als billige Arbeitskräfte benutzen. Deshalb versucht die Regierung solche Kooperativen zu schwächen.“ Herausforderungen gibt es für die Mitglieder von Huizache genug.

„In den comunidades gibt es viele Probleme“, erzählt Edgardo, „zum Beispiel der weit verbreitete Alkoholismus.“ Auch Sexismus ist ein Problem. „Oft sprechen wir nur von dem Partner und vergessen dabei die Frauen. Daran müssen wir arbeiten“, sagt David.

Einen Traum haben die Mitglieder von Huizache: Eine Hochschule für Kunsthandwerk gründen. In der sollen nicht nur traditionelle Tech-niken vermittelt werden, sondern auch indigene Philosophien. Schon jetzt veranstaltet die Kooperative regelmäßig Workshops und kulturelle Veranstaltungen, wie Konzerte oaxaqueñischer Musik und Lesungen zapotekischer Märchen. Es ist ein Weg, indigenes Wissen, das unsichtbar gemacht wurde, ins Blickfeld zu rücken. „Auch deshalb“, betont David, „ist die Kooperative eine politische Haltung, ein friedlicher ziviler Widerstand gegen die Regierungspolitik“.

Nicht immer ist es einfach, indigene Formen des Zusammenlebens mit dem Verkauf von Produkten zu vereinbaren. Zu unterschiedlich sind die Systeme, die aufeinander prallen. „Manchmal können wir Bestellungen nicht rechtzeitig liefern, weil wir zuerst unseren sozialen Verpflichtungen in der Gemeinde nachkommen müssen. Die Käufer verstehen das nicht“, erzählt Jesús Sosa auf dem Weg zu seiner Werkstatt. Er webt Teppiche, seit er acht Jahre alt war und arbeitet in dem Projekt Bi Yuu. Dort produzieren mehrere Familien von Kunsthandwerker*innen gemeinsam mit einer Designerin großformatige Teppiche und arbeiten an der Verknüpfung von traditionellen Techniken mit innovativen Mustern. Jesús lebt in Teotitlán del Valle, knapp eine Stunde von Oaxaca-Stadt entfernt. An den aus Lehmziegeln gebauten Häusern des Dorfes hängen Schilder mit handgeschriebenen Buchstaben: „Teppiche und Tischdecken zum Verkauf.“ Die Sonne blendet, Gras verdorrt am Straßenrand, ein Wandgemälde wirbt für Recycling von Müll. Plastiktüten sind hier auf dem Markt verboten.

Das zapotekisch geprägte Teotitlán ist eines der reicheren Kunsthandwerker*innen-Dörfer. Diverse Reiseanbieter bieten geführte Touren durch die Werkstätten der Kunsthand­werker*innen an und Tourist*innen kommen oft hierher, um Souvenirs zu erwerben. Davon profitieren aber längst nicht alle, denn der Zwischenhandel hat Verträge mit Tourismus-Guides, die die Urlaubenden direkt vom Hotel abholen und zu den größten Teppich-Herstellern bringen, mit denen sie kooperieren. Zu den kleineren Werkstätten kommen dadurch viel weniger Interessierte.

Die Werkstatt von Jesús liegt ein Stück außerhalb des Dorfes. Der Webstuhl, mit dem die Familie in monatelanger Handarbeit kunstvolle Teppiche knüpft, wurde vom Schreiner des Dorfes gezimmert. Jede gewebte Faser wird mit natürlichen Farbstoffen aus der Region gefärbt. Um die komplexen geometrischen Muster zu weben, braucht es viel mathematischen Verstand. In der Werkstatt gibt es selbstgemachten atole, ein typisches Maisgetränk, und süßes Brot. Von der Decke baumeln nopales, Kaktusblätter, gebraten eine beliebte Beilage. Hühner gackern im Hof. Die meisten können hier nicht allein vom Kunsthandwerk leben, sondern betreiben nebenbei auch Landwirtschaft oder verkaufen atole.


In Zeiten von Fast Fashion und Wegwerfmode wird Qualität von vielen Käufer*innen nicht wertgeschätzt. Mit der Massenproduktion von Textilien durch internationale Unternehmen können die Kunsthandwerker*innen nur schwer konkurrieren. „Damit das Wissen nicht verloren geht, ist es wichtig zu kommunizieren, wie viel Arbeit im Kunsthandwerk steckt“, meint Ana Paula Fuentes, ehemalige Direktorin des Textil-Museums in Oaxaca, und streicht über das Rautenmuster des Teppichs, der auf dem Webstuhl aufgespannt ist. „Wir werden H&M und Walmart nicht kleinkriegen“, sagt sie, „aber wir können ein alternatives Modell schaffen.“ Ein Problem sei auch, dass es kein Copyright für die traditionellen Muster gibt. „Große Unternehmen wie Zara oder Suburbia, aber auch Modedesigner, die von außerhalb kommen, kopieren indigene Muster, benutzen sie in ihren Kollektionen und machen viel Geld damit“, erläutert Ana Paula. Das Kunsthandwerk hat davon nichts.

Staatliche Fördergelder lehnen viele ab, da sie unabhängig bleiben wollen. Dulce von Fábrica Social nimmt noch einen Schluck aus ihrem Becher mit atole. Sie meint, dass es dennoch wichtig sei, auch für diese Gelder zu kämpfen: „Die Gelder gehören den Bürgern, nicht den Politikern.“ Es gibt zwar zahlreiche Förderprogramme, wie z.B. von FONART, dem Nationalen Fonds zur Förderung des Kunsthandwerks, doch Korruption ist ein enormes Problem. Zudem sind die Programme auf sehr kurze Zeitspannen begrenzt.

Um Fördermittel zu beantragen, müssen zahlreiche bürokratische Hürden überwunden werden. Jesús erzählt, dass das Wirtschafts­sekretariat unter anderem einen Nachweis über das private Grundeigentum fordert. „In Teotitlán gehört das gesamte Land der Gemeinde. Das wird aber nicht anerkannt“, sagt er. In manchen Gemeinden sprechen die Kunsthandwerker*innen gar kein Spanisch, die Sprache, in der die Anträge verfasst werden müssen. „Dann müssen die Frauen jemanden dafür bezahlen, dass er übersetzt. Oder sie schulden dem Übersetzer einen Gefallen. Sowas kann leicht genutzt werden, um bei Wahlen Stimmen zu kaufen“, meint Dulce.

In Teotitlán spielen zapotekische Strukturen für das gesellschaftliche Leben eine wichtige Rolle. Jesús arbeitet neben seinem Beruf als Weber zurzeit auch in der policía comunitaria, der Gemeindepolizei. „Jeder aus dem Dorf muss einen servicio comunitario leisten“, erzählt er, „meine Schicht dauert zwei Jahre. Danach habe ich drei Jahre Pause. Dann übernehme ich ein anderes Amt.“ Der servicio comunitario wird nicht bezahlt, sondern ist Teil der indigenen Dorforganisation. Etwa 35 verschiedene Ämter gibt es, zum Beispiel bei der Trinkwasserversorgung oder im Gesundheitswesen. Wer welches Amt übernimmt, entscheidet die Gemeindeversammlung, der gegenüber sich auch die Gemeindepolizei verantworten muss.

“Die staatlichen Funktionäre wollen ungebildete Kunsthandwerker, die um Hilfe betteln.”

Die staatlichen Institutionen in Oaxaca tolerieren die Selbstorganisation der indigenen Gemeinden im Rahmen der sogenannten usos y costumbres (Sitten und Gebräuche), die in dem Bundesstaat einen verfassungsrechtlichen Status haben. In 417 der 520 Gemeinden in Oaxaca werden die Amtsträger nach den usos y costumbres bestimmt (siehe LN 504). „Traditionelle Formen der Organisation werden in comunidades wie Teotitlán als Waffe gegen die Regierung eingesetzt, um Autonomie zu erlangen“, erklärt Dulce. Je besser die indigenen Gemeinden organisiert sind, desto schwieriger hat es auch der Drogenhandel in die Gemeinden einzuziehen. „Der ist ein großes Problem für die comunidades, weil er deren Zusammenhalt schwächt“, sagt Ana Paula vom Textilmuseum und fügt hinzu: “Teotitlán ist eines der wenigen Dörfer, in die es der Drogenhandel noch nicht geschafft hat. Das liegt daran, dass die Gemeinde sehr gut organisiert ist.“

Doch die traditionelle Organisation in Teotitlán hat auch ihre Schattenseiten, denn lange Zeit waren Frauen von bestimmten Bereichen ausgeschlossen. So dürfen Frauen in Teotitlán zum Beispiel erst seit kurzer Zeit servicios comunitarios übernehmen. „Der servicio gibt der Person einen Wert innerhalb der Gemeinde“, erklärt Josefina Jiménez, Gründerin der Kooperative Mujeres que tejen (Frauen, die weben). „Die Männer wollten das deshalb nicht.“ Wie San Miguel Cajonos ist auch Teotitlán davon betroffen, dass viele junge Männer in die USA migrieren. Oft bleiben die Frauen mit den Kindern zurück. „Das hat die Rolle der Frau verändert“, meint Josefina. „Vorher hatten wir keine Stimme, wir durften nicht an Gemeindeversammlungen teilnehmen. Deshalb mussten wir uns organisieren.“

Anders als in den meisten Kunsthandwerker*innen-Gemeinden in Mexiko, wo in der Regel nur die Frauen weben, war dies in Teotitlán traditionellerweise den Männern vorbehalten. Um das zu ändern, schloss sich Josefina mit weiteren alleinerziehenden Frauen 1992 zu der Kooperative Mujeres que tejen zusammen. Gemeinsam widersetzten sie sich den Konventionen: Sie setzten sich an den Webstuhl und begannen, ihre Produkte selbst zu verkaufen. Mittlerweile hat die Kooperative für die Designs ihrer Teppiche schon mehrere Preise gewonnen. „Wir mussten gegen unsere eigenen Familien kämpfen“, erzählt Josefina. „Sie dachten, dass wir das nicht können. Aber wir haben es ihnen gezeigt. Jetzt haben wir eine Stimme.“

Wir sind zurück in San Miguel Cajonos. Draußen zieht Nebel über den bewaldeten Berghängen auf und verschluckt das Dorf innerhalb weniger Minuten. Langsam wird es dunkel. Noch brennt Licht in der Werkstatt von Bienhi, dem Herzen der Kooperative. An quer durch den Raum gespannten Wäscheleinen trocknet rotes, lila, grünes und blau getupftes Seidengarn. Drei Mal im Jahr schlüpfen hier die Seidenraupen, die sich ausschließlich von Maulbeerblättern ernähren. Die Kooperative hat es geschafft, auch die junge Generation für das traditionelle Handwerk zu begeistern. Brenda und Marcos Zárate, beide Anfang Zwanzig, wollen hier bleiben und das Erbe ihrer Familie fortführen. Bevor sie die Tür der Werkstatt für heute hinter sich schließen, wollen sie noch die Muster entwerfen, die sie morgen weben werden.

*Die Reportage entstand im Rahmen der Recherche für das Projekt Doó Nhoo – Hilos Cruzados, einer Kooperation von Kunsthandwerker*innen und Designerinnen für Nachhaltigkeit und Innovation.

DIEBE OHNE MOTIV

Der Weihnachtsmann kommt nicht in diesem Jahr zu Familie Núñez. Denn der Großvater, der den Job immer für die Kinder übernommen hat, ist kürzlich verstorben. Und Juan (Gael García Bernal), einziger männlicher Spross und deshalb von der Familie wie selbstverständlich zur Nachfolge auserkoren, hat darauf so überhaupt keine Lust („Vielleicht gehe ich als Quetzalcoatl, das ist wenigstens ein mexikanischer Gott“) und ohnehin ganz andere Pläne. Denn aus Gründen, die er selbst nicht so recht erklären kann, will er an diesem Heiligabend mit seinem Freund Wilson (Leonardo Ortizgris) das anthropologische Museum in Mexiko City ausrauben. Vielleicht aus Abenteuerlust, vielleicht aus Rebellion gegen seine Familie, in der er als Nichtsnutz und enfant terrible gilt, vielleicht auch weil die Sicherheitsvorkehrungen so lächerlich sind, dass er es versuchen will, bevor es jemand anderes tut. Der Raub der spektakulärsten Stücke gelingt und schafft doch mehr Probleme als den beiden Amateurdieben lieb ist. Denn am nächsten Tag sind sie in ganz Mexiko zur Fahndung ausgeschrieben und werden als Schänder des nationalen Erbes von der öffentlichen Meinung an den Pranger gestellt. Also so schnell wie möglich weg mit der heißen Ware, doch auch das gestaltet sich bei weitem nicht so einfach, wie Juan es sich in seinen recht kühnen Träumen vorgestellt hat.

Alonso Ruizpalacios (Güeros) beginnt seinen Film als klassisches Buddy-Movie, mit denen Gael García Bernal (z.B. Y Tu Mamá También) sich ja auch schon des Öfteren erfolgreich versucht hat. Sein dort kongenialer Partner Diego Luna kann ihm zwar diesmal weder im Film noch als Jurymitglied der Berlinale (wie letztes Jahr) helfen. Die Fahrten von Juan und Wilson durch pittoreske mexikanische Landschaften und ihr oft recht zielloses Herumvagabundieren zwischen Partys und dem Ernst des Lebens entbehren aber nicht eines gewissen Wiedererkennungseffekts. Trotzdem funktioniert der Film bis zur Hälfte als atmosphärisch dichtes Roadmovie recht gut, auch weil des Öfteren Fragen der ethischen Verträglichkeit von Archäologie zur Sprache kommen. Danach verliert sich Regisseur Ruizpalacios aber leider in fragwürdigen stilistischen Experimenten und billigen Latino-Klischees, die den Film wohl massentauglich machen sollen, ihm aber dadurch komplett die Dynamik nehmen. Dass Museo sich nur sehr locker an die historischen Fakten hält, ist dabei noch das kleinste Problem. Dass aber bis zum Schluss nicht klar wird, was die eigentlichen Motive der Täter waren, schon ein größeres. Denn genau darin hätte ja die Chance einer Adaption im Vergleich zu einer historisch korrekten Wiedergabe der Fakten bestanden: Den Tätern ein Motiv und somit den Charakteren ein viel schärferes Profil geben zu können. Ein wenig mehr Abweichen von den sicheren, massentauglichen Pfaden hätte dem Film gerade gegen Ende hin gutgetan. So bleibt von Museo am Ende nicht viel mehr als ein handwerklich weitgehend ordentlich inszeniertes Popcorn-Movies mit einigen gelungenen Lachern übrig. Der Berlinale-Jury hat der Film aber offensichtlich sehr gut gefallen. Museo lief im Wettbewerb des Festivals und erhielt den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.

EINE PERVERSE DREIECKSBEZIEHUNG

Hunderte Familien sind im November aus ihren Gemeinden geflohen, nachdem im Oktober ein Bewohner Chalchihuitáns im Grenz­gebiet zu Chenalhó erschossen wurde. Worum geht es bei diesem Konflikt?
Chalchihuitán und Chenalhó sind zwei Munizipien in Chiapas. Bis zur Landreform 1973 gab es Vereinbarungen über die Grenze zwischen den Gemeinden, die von allen respektiert wurden. Mit der Landreform wurde der Grenzverlauf zwischen den beiden Munizipien jedoch neu geregelt, wonach sich die beiden Munizipien im Grenzgebiet überlappen. So erheben beide Anspruch auf dasselbe Gebiet. Daraus entstand ein Konflikt, der jetzt schon 45 Jahre andauert. Die kritischste Zone, um die gestritten wird, umfasst etwa 265 Hektar. Zwar gab es immer wieder Lösungsversuche, aber es mangelte immer am politischen Willen, die Hintergründe zu klären.

Woran liegt das?
Im Verlauf dieser Geschichte gab es den zapatistischen Aufstand 1994. Im Zuge der Aufstandsbekämpfung zwischen 1994 und 2003 wurden paramilitärische Gruppen geschaffen, also bewaffnete Gruppen, die von der Regierung finanziert, trainiert und geschützt werden. In dieser Zeit gab es eine ganze Serie von Zwangsvertreibungen und Gewalt in dieser Region. Die Erinnerungen daran sind in der Bevölkerung noch immer sehr präsent. Nach 2003 gab es zwar eine politische Veränderung, aber die paramilitärischen Gruppen wurden nie gänzlich untersucht oder entwaffnet.

Und heute agiert das Paramilitär in dem Konflikt um das Grenzgebiet zwischen Chalchihuitán und Chenalhó?
Möglicherweise sind es dieselben Gruppen. Bei den Paramilitärs in den 1990er Jahren lassen sich die Verbindungen zu Militär und Polizei nachweisen. Heute ist das nicht so offensichtlich, deswegen sprechen wir von einer bewaffneten Gruppe. Was man sieht, ist jedoch die Unterstützung durch die Bürgermeisterin Chenalhós Rosa Pérez. Sie deckt die bewaffnete Gruppe, die für die Vertreibungen verantwortlich ist und die Regierung tut nichts dagegen.

Wie agiert diese bewaffnete Gruppe aus Chenalhó?
Sie hat zuerst die Zufahrtsstraße nach Chalchihuitán zerstört, so dass die Menschen nicht hinein oder hinaus konnten. Sie waren einen Monat abgeschottet, der einzige Weg, Hilfe dorthin zu bringen, war eine sehr komplizierte neunstündige Fahrt über eine Schotterstraße. Ab Mitte November wurden die Menschen vertrieben. Wir wissen von 5023 Anwohner*innen, die hauptsächlich aus der Grenzzone zwischen Chalchihuitán und Chenalhó kommen. Diese Familien erinnern die Gewalt der 1990er Jahre und hatten Angst, von der bewaffneten Gruppe umgebracht zu werden, wie bei dem Massaker von Acteal vor zwanzig Jahren, als 45 Menschen brutal von Paramilitärs ermordet wurden. Die Mehrheit floh mit allem, was sie mitnehmen konnte in die Berge, wo sie ihre Lager aufgeschlagen haben. Dort ist es zu dieser Jahreszeit sehr kalt und die Versorgungslage war vor allem am Anfang sehr schlecht. Elf Menschen sind dort an Atemwegserkrankungen und Durchfällen gestorben, die Mehrheit Kinder und ältere Menschen.

Wie hat die mexikanische Bundesregierung auf die Vorkommnisse reagiert?
Die Bundesregierung hat sehr spät reagiert und die Situation zunächst heruntergespielt. Erst wegen des öffentlichen Drucks wurde irgendwann humanitäre Hilfe für die Vertriebenen in den Camps organisiert. In diesem Bereich hat die Regierung noch am meisten geleistet. Gegen die bewaffnete Gruppe konnte sie nichts ausrichten, die ist immer noch da und verbreitet Terror unter der Bevölkerung. Niemand wurde festgenommen, niemand hat diejenigen entwaffnet, die unter der Duldung der drei Regierungsebenen handeln. Obwohl sie sich der Situation bewusst sind, gibt es keine juristischen Ermittlungen und die Straflosigkeit hält an. Weil es sich um indigene Bevölkerung handelt, gibt es Geringschätzung, Diskriminierung und ein Desinteresse, diesen Fall zu verstehen.

Also es gibt auch Waffen in Chalchihuitán?
Darüber gibt es Gerüchte, aber was wir feststellen konnten, ist, dass die strategische, militärische Aggression von Seiten Chenalhós kommt. Wenn es von Seiten Chalchihuitáns eine entsprechende Reaktion mit Waffen gegeben hätte, glauben wir, dass es noch viel mehr Tote gegeben hätte. Es gibt Opfer auf beiden Seiten, auch in Chenalhó wurden mehrere hundert Menschen vertrieben. Diese Familien sind jedoch meist bei Angehörigen untergekommen. Die Vertriebenen aus Chalchihuitán hingegen mussten in die Berge fliehen.

Anfang Januar ist ein Großteil der Vertriebenen in die Gemeinden zurückgekehrt. Wie ist die Situation dort?
Die Rückkehr von 3800 Personen geschah unter Druck der Regierung. Alle, die weiter als einen Kilometer von der Konfliktlinie entfernt leben, sollten zurückkehren. Man sagte ihnen, alles sei unter Kontrolle und sie sollten nach Hause gehen, um sich um ihr Vieh und ihre Ernte zu kümmern. Tatsächlich ist die Situation aber gar nicht unter Kontrolle. Es wird weiterhin geschossen und die Menschen haben Angst. Von den staatlichen Hilfsorganen wird ihnen jedoch vermittelt, dass sie keine weitere humanitäre Hilfe zu erwarten haben. Die Vertreibung fiel in die Erntezeit, sodass viele Familien jetzt mit einer Nahrungsmittelknappheit konfrontiert sind. Viele sind nur zurückgekehrt, um das Mögliche zu retten. Die bewaffnete Gruppe hat ihren Aktionsradius derweil erweitert, sodass nun fünf weitere Gemeinden von nächtlichen Schüssen und Explosionen terrorisiert werden. Die Familien haben schon angekündigt, ebenfalls zu fliehen, sollte sich an dieser Situation nichts ändern. Das wären noch einmal etwa 2.000 Personen, die vertrieben würden.

Warum gibt es ein solches Ausmaß von Gewalt?
Die eine Erklärung ist der Landkonflikt, der durch die mexikanische Regierung geschaffen wurde. Die andere hat mit der Straflosigkeit von mehreren Jahrzehnten zu tun. Die Gruppe aus Chenalhó hat keine Konsequenzen zu befürchten und kann ungehindert lokale Machthaber unterstützen. Eine dritte Erklärung besteht im hohen Aufkommen von Jade in dieser Region. Es ist eine Sorte Jade, die auf dem Weltmarkt sehr hoch gehandelt wird. Da geht es möglicherweise um Interessen von Konzernen, die diesen Teil ausbeuten möchten. Eine weitere Erklärung ist, dass es sich um einen Weg von Narcos in der Region handelt. In der Grenzzone gibt es Drogen- und Waffenhandel. Das haben wir durch Zeugenaussagen belegt.

Und die Regierung hängt so tief mit drin, dass sie nichts dagegen unternimmt?
Seit einigen Jahrzehnten beobachten wir, wie sich die staatlichen Strukturen in Mexiko auflösen. In vielen Regionen gibt es die perverse Dreiecksbeziehung zwischen Regierung, organisierter Kriminalität und Unternehmen. Diese Zusammenarbeit findet im Auftrag lokaler Interessen statt, als auch in Bezug auf Interessen, die mit größeren Projekten, z.B. bei Mega­projekten, in Verbindung stehen. Es gibt direkte Verbindungen zwischen den Parteien, dem organisierten Verbrechen und den Unternehmen. Das sehen wir auf der Mikroebene, zum Beispiel im illegalen Gewerbe, im Bereich der Prostitution oder dem Anbau von Marihuana. Diese Dinge sind heute viel sichtbarer als früher. Mexikos demokratisches System wird nicht stärker, sondern immer weiter korrumpiert und pervertiert und hat Beziehungen zu allen Arten der organisierten Kriminalität: Drogenhandel, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Waffenhandel … Und zu den Unternehmen, die das Geld waschen, was von der Regierung kommt oder durch das organisierten Verbrechen generiert wird. Ayotzinapa ist ein Beispiel für diese Dreiecksbeziehung. Lange war so etwas vor allem im Norden und im Zentrum des Landes sichtbar, aber jetzt können wir solche Vorgänge auch hier im Süden deutlich erkennen und auch beweisen.

Wie sieht das im Fall von Chenalhó und Chalchihuitán aus?
Im Fall von Chenalhó ist klar, dass die bewaffnete Gruppe, die gegen die Bevölkerung von Chalchihuitán vorgeht, im Kontext lokaler Machtkämpfe von der aktuellen Bürgermeisterin Rosa Pérez formiert und mit Waffen ausgestattet wurde und seitdem von ihr geschützt wird. Diese bewaffnete Gruppe steht vermutlich in direkter Verbindung zu einem Drogenkartell der Region. Die Regierung weiß das, unternimmt aber nichts. Und das, obwohl wir es seit Jahren mit einer Reihe von Morden und Vertreibungen durch diese Gruppe von Rosa Pérez zu tun haben. Als der öffentliche Druck im Fall der Vertreibungen größer wurde, wurde eine Sondereinsatztruppe aus Polizei und Militär gegründet. Dreimal hat sie versucht, nach Chenalhó zu kommen, jedes Mal wurde sie von der bewaffneten Gruppe daran gehindert. Die staatlichen Kräfte, die solche Verbrechen bekämpfen sollen, haben hier gar keinen Effekt mehr. Der Konfrontation wird lieber aus dem Weg gegangen und der Rückzug angetreten.

Wie lässt sich der Konflikt sonst lösen?
Wir haben vorgeschlagen, dass die Autoritäten von Chalchihuitán und Chenalhó miteinander in Dialog treten könnten, auch mit ihren traditionellen Autoritäten. Aber nach den gewalttätigen Aktionen von Chenalhó gibt es dafür gerade nicht mehr die Voraussetzungen. Wir fordern, dass während die Regierung die bewaffnete Gruppe nicht auflösen kann, jene Personen verhaftet werden, die auf diese kriminelle Weise die Menschen terrorisieren. Solange das Gebiet in Chenalhó und Chalchihuitán nicht entwaffnet wird, wird die Situation der Angst und Gewalt anhalten und weitere Vertreibungen provozieren.

Gibt es Druck aus dem Ausland?
Keinen, der bisher irgendeine Auswirkung auf das Handeln der Regierung gehabt hätte. Es gab Reaktionen von Solidaritätsnetzwerken aus Spanien und Italien, einige Journalisten aus den USA – aber es ist schwierig, die mediale Mauer zu durchbrechen, denn der Staat berichtet, dass alles bereits unter Kontrolle sei, dass es ausreichend humanitäre Hilfe gäbe, dass Polizei und Militär vor Ort und somit alles in Ordnung sei. Das ist Teil ihres Diskurses, den sie sowohl national als auch international vorbringen. Wir haben versucht, dagegen zu argumentieren, aber das wird dann eher von alternativen Medien berichtet und nicht von den großen, die vom Staat kontrolliert werden.
Es gab aber eine große Beteiligung an den Urgent Actions (Unterschriften-Eilaktionen, Anm. d. Red.) aus verschiedenen Ländern. Und wir glauben, dass das die Regierung schon beunruhigt. Die Reputation Mexikos im Ausland. Solche Aktionen oder Proteste vor den mexikanischen Botschaften können es schaffen, etwas in der mexikanischen Regierung zu bewegen. Immerhin haben wir es geschafft, öffentlich klar zu machen, dass die Situation der Vertriebenen um einiges schlimmer war, als die Regierung es glauben machen wollte. Das hat dazu geführt, dass die humanitäre Hilfe aufgestockt und die Situation der Menschen etwas verbessert wurde. Aber es müssen all die Hintergünde ans Licht, sonst wird sich kaum etwas ändern.

Bei dem Ausmaß der Gewalt und den vielen undurchsichtigen Verstrickungen klingt eine umfassende Aufarbeitung nicht besonders wahrscheinlich …
Beispiele wie Ayotzinapa, wo es es eine große internationale Aufmerksamkeit und sogar eine unabhängige Untersuchungskommission gab, lassen nicht viel Gutes hoffen. Nicht einmal in diesen Fällen reagiert der Staat. Wir denken, dass solche Konflikte trotz der Gewalt und des Schmerzes vielleicht aber zu alternativen Organsationsformen in den Gemeinden führen, um ihre Rechte zu verteidigen. Dass die Menschen von Opfern zu Verteidigern werden und ein anderes Bewusststein für Kämpfe entsteht.

ENDZEITSTIMMUNG IM GEISTERDORF

Juan Rulfos einziger Roman wurde in den 61 Jahren seit seinem Erscheinen vielfach rezipiert: mehrere Verfilmungen, eine davon nach einem Drehbuch von Carlos Fuentes, ein kathedralenfüllender Haufen Sekundärliteratur, unzählige Doktorarbeiten. Eigentlich, so müsste man denken, kann über ein so dünnes Büchlein unmöglich noch mehr gesagt werden. Und dennoch: In Mexiko werden Neuauflagen mit Vorworten Intellektueller und auch die Doktorarbeiten immer noch wie am Fließband produziert.

Rulfo, geboren 1917 in Sayula im mexikanischen Bundesstaat Jalisco, gestorben 1986 in Mexiko-Stadt, hat zu Lebzeiten nicht mehr als knappe 300 Seiten Text an Verlage geschickt, von denen jede einzelne jedoch umso bemerkenswerter ist. Pedro Páramo ist einer der ersten Romane der künstlerischen Strömung des Magischen Realismus, der auf der einen Seite kategorischer Imperativ war, der die Literatur des lateinamerikanischen Kontinents auf der Weltbühne zu jahrzehntelangem Exotismus und Lokalkolorit verdonnerte, und andererseits Werke wie Pedro Páramo hervorbrachte, das so gar nicht farbenfroh ist und welches Gabriel García Márquez nach eigener Aussage auswendig aufsagen konnte. Pedro Páramo ist, schlicht gesagt, Anfang und zugleich Kulmination dessen, was die Essenz eben jenes berühmt-berüchtigten Magischen Realismus ausmacht: Es scheint, als würden Worte nicht ausreichen, um dieses Buch zu beschreiben, und trotzdem wird dies immer wieder versucht.

Die einzelnen, nicht unbedingt chronologisch angeordneten Fragmente des Romans handeln von dem Aufenthalt des Protagonisten Juan Preciado in Comala, dem Dorf in dem seine Mutter einst lebte und in dem sich laut dieser auch Juans Vater, der Großgrundbesitzer Pedro Páramo aufhält. Comala, ein verwahrlostes und verlassenes Dorf, an dem die mexikanische Revolution scheinbar spurlos vorbeigerauscht ist und das von der monstruös großen Hacienda Pedro Páramos, der Media Luna, eingekesselt ist, „liegt auf glühender Erde, geradewegs am Eingang zur Hölle“. Pedro Páramo selber ist „der wandelnde Groll“. Es dauert nicht lange bis Juan bemerkt, dass die wenigen Menschen, die Comala noch bevölkern, tot sind, als Geister umherwandeln, und sich dennoch mit denselben Problemen herumschlagen wie zu Lebzeiten: mit der Boshaftigkeit Pedro Páramos, der selbst zwar längst verstorben, doch auch im Tode noch Tyrann. Comala ist ein Dorf voller Klagen, ein Ort, der die Leser*innen trotz der flimmernden Hitze immer wieder erschaudern lässt. Es ist außerdem Schauplatz einer der wohl eindrucksvollsten Szenen der Weltliteratur: die Dialoge zwischen Juan und den Toten Comalas sind Ausdruck einer tief sitzenden Verzweiflung und erfahrenen Ungerechtigkeit, die über das Leben selbst hinausgehen und eins zu eins auf Kontexte des 21. Jahrhunderts übertragbar sind.

Übersetzt wurde Pedro Páramo in mehr als dreißig Sprachen, ins Deutsche zunächst im Jahr 1958 von Mariana Frenk-Westheim, einer gebürtigen Hamburgerin mit sephardischen Wurzeln, die 1930 ins mexikanische Exil emigrierte und zu einer der wichtigsten Übersetzerinnen Mexikos avancierte. Trotz der Popularität innerhalb Lateinamerikas hat es einige Jahrzehnte gedauert, bis die deutsche Übersetzung neu aufgelegt wurde. Die neueste deutsche Ausgabe ist 2010 im Suhrkamp Verlag erschienen und wurde von Dagmar Ploetz neu übersetzt. Was hier natürlich nicht fehlen darf: das Nachwort von García Márquez, dem größten Fan Rulfos.

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