SCHULD SIND IMMER DIE TOTEN

Würde für Minenarbeiter – Forderungen nach Gerechtigkeit und der Bergung der Opfer werden seit Jahren gestellt // Foto: Toño Hernández (CC BY-NC 2.0)

Wie sind Sie da­zu ge­kom­men, im Be­reich der Koh­le­mi­nen zu ar­bei­ten?
Seit 1997 ver­tei­di­ge ich die Ar­beits­rechte von Mi­nen­ar­bei­tern. In den er­sten Jah­ren habe ich für eine kirch­li­che Or­ga­ni­sati­on ge­ar­bei­tet, die aus der Tra­di­ti­on der Be­frei­ungs­theo­lo­gie he­r­aus agier­te. Da­mals kämpf­ten wir da­für, dass Ar­beits­rechte welt­weit als Men­schen­rechte an­ge­se­hen wür­den. Als am 19. Fe­bru­ar 2006 die Koh­le­mi­ne von Pas­ta de Con­chos in Coa­hui­la ex­plo­dier­te, wur­den wir dort­hin be­ru­fen. Uns wur­de ge­sagt, dass ein Un­fall pas­siert sei, Ent­schä­di­gun­gen fäl­lig wür­den und die sterbli­chen Über­res­te der Mi­nen­ar­bei­ter an die An­ge­hö­ri­gen der Op­fer über­ge­ben wer­den müss­ten. Schnell wur­de uns klar, dass es kein Un­fall gewe­sen war. Ziel war es nun, die Ver­ant­wort­li­chen für die Ar­beits­ver­hält­nis­se und den Zu­stand der Mine zu be­strafen. Am 25. Fe­bru­ar ver­öf­fent­lich­ten wir einen Be­richt, in dem wir das Un­ter­neh­men an­klag­ten, nicht die nö­ti­gen Sicherheits­maß­nah­men ge­trof­fen zu ha­ben, um das Un­glück zu ver­hin­dern.

Was passierte nach dem Un­glück mit der Mi­ne?
Pas­ta de Con­chos wur­de im Jahr 2007 ge­schlos­sen und die Ret­tungs­ar­bei­ten für die üb­ri­gen 63 ver­schüt­te­ten Mi­nen­ar­bei­ter wur­den ab­ge­bro­chen. Laut An­ga­ben des Un­ter­neh­mens, das da­bei vom Staat Rücken­de­ckung er­hielt, be­fand sich konta­minier­tes Wasser in der Mine und es wur­de be­hauptet, die Ret­tungs­kräf­te wür­den sich da­durch mit He­pa­ti­tis, Tu­ber­ku­lo­se, HIV und ähn­li­chem an­ste­cken. Das Un­ter­neh­men muss von den Ge­sund­heits­zu­stän­den der sich in der Mine be­fin­den­den Per­so­nen gewusst ha­ben. Wenn die­se krank gewe­sen wä­ren, hät­ten sie sie gar nicht erst in die Mine las­sen dür­fen. Aber so ist es im­mer: Sie wa­schen sich die Hän­de rein und Schuld sind die To­ten. Ich konn­te da­mals nicht glau­ben, dass sie die Ret­tungs­ar­bei­ten wirk­lich ab­ge­bro­chen hat­ten, aber noch we­ni­ger, dass der Staat die Grün­de da­für als le­gi­tim er­achtet hat

Wel­che wa­ren Ih­rer Mei­nung nach die wah­ren Grün­de da­für, dass die Ret­tungs­ar­bei­ten ab­ge­bro­chen wur­den?
Rück­bli­ckend sind mir zwei Din­ge auf­ge­fal­len. Er­stens: 2006 öff­ne­te sich der Koh­le­berg­bau ge­gen­über aus­län­di­schen In­ves­ti­tio­nen, be­son­ders aus Ka­na­da. Der Staat hat­te also kein In­ter­es­se dar­an, ein Berg­bau­unter­neh­men zu be­strafen. Bei uns den­ken die Regie­ren­den, dass Gerech­tig­keit die In­ves­toren ver­schreckt. Zweitens: Der Fall von Pas­ta de Con­chos ist der er­ste in der Ge­schich­te des me­xi­ka­ni­schen Koh­le­berg­baus, in dem die For­de­rung nach Be­stra­fung der Ver­ant­wort­li­chen laut gewor­den ist. Bis dato wa­ren in den Koh­le­mi­nen Coa­hui­las seit dem Jahr 1900 schon etwa 3.000 Ar­bei­ter ge­stor­ben und niemals hat­te je­mand die Grün­de da­für hin­ter­fragt oder Gerech­tig­keit ge­for­dert. Wenn Gru­po Mé­xi­co also die sterbli­chen Über­res­te an die Hin­ter­bliebe­nen über­ge­ben hät­te, hät­te das Un­ter­neh­men sei­ne Ver­ant­wort­lich­keit ak­zep­tiert. Mit die­sem Druck kon­fron­tiert, ha­ben sie sich dage­gen ent­schie­den und die An­ge­hö­ri­gen sich selbst über­las­sen. Die Mi­nen­ar­bei­ter, die ur­sprüng­lich mit der Ber­gung be­auf­tragt wor­den wa­ren, füh­len sich bis heu­te schul­dig, die Frus­tra­ti­on und die Wut hält auch bei ih­nen an. Seit dem Gut­achten der In­ter­a­me­ri­ka­ni­schen Men­schen­rechts­kom­missi­on gibt es Auf­schwung in der Regi­on, die dort an­säs­si­gen Mi­nen­ar­bei­ter wol­len die Kör­per un­be­dingt ber­gen.

Was ge­nau be­sagt das Gut­ach­ten der CIDH?
Die CIDH hat den Fall von Pas­ta de Con­chos an­ge­nom­men und fest­ge­stellt, dass nicht nur die Rechte auf Le­ben, kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit der Mi­nen­ar­bei­ter und ju­ris­tischen Schutz der Fa­mi­li­en ver­letzt wur­den, son­dern auch wir­t­schaft­li­che, so­zia­le und kultu­rel­le Rechte. Das Gut­achten der Kom­missi­on be­zieht sich so­wohl auf die Koh­le­mi­nen­ar­bei­ter, als auch auf die Ge­samt­heit der Mi­nen­ar­bei­ter in Me­xi­ko. Ich glau­be, dass nun wich­ti­ge Fort­schrit­te gemacht wer­den. Die neu ent­stan­de­ne Mög­lich­keit der Ber­gung in Pas­ta de Con­chos wird hof­fent­lich da­für sor­gen, dass die gan­ze Welt auf Coa­hui­la schauen wird und dar­auf, was Me­xi­ko, aber auch Ka­na­da und die ex­trak­ti­vis­tischen Un­ter­neh­men im Berg­bau an­stel­len.

Bis heu­te wur­de nie­mand für das Un­glück in Pa­sta de Con­chos be­straft?
Nein. Auch dann, wenn wir auf Kin­der­ar­beit und Ar­bei­ter ohne Ver­siche­rung hin­wei­sen, wird nie­mand be­straft. Die Un­ter­neh­men sa­gen zu mir: „Du kannst stram­peln so viel du willst, ich be­zah­le 170.000 Pe­sos und ma­che weiter wie bis­her.“ So­viel kos­tet ein to­ter Mi­nen­ar­bei­ter. Sie glau­ben, dass es da­mit be­ho­ben ist. Es über­rascht mich, dass im­mer wie­der er­mit­telt wird, doch die Ver­fah­ren ab­ge­bro­chen wer­den, be­vor ein Ur­teil ge­fällt wird. Als Un­ter­neh­men kannst du sa­gen: „Hier ist die Re­para­ti­ons­zah­lung. 170.000 Pe­sos.“

Und das Geld be­kom­men die Fa­mi­li­en?
“Das Geld wird den Rich­tern in Coa­hui­la über­ge­ben, die den Fall dann ohne Ur­teil schlie­ßen. Es ist kei­ne ech­te Straf­tat, Mi­nen­ar­bei­ter zu tö­ten. Es wird als ein Un­fall an­ge­se­hen, ohne Vor­satz. Sie zah­len also für ein ver­se­hent­li­ches Tö­tungs­de­likt. Die Akte wird ge­schlos­sen, dem Un­ter­neh­men wird ver­ge­ben und die Li­zenz kön­nen sie be­hal­ten. Nur wenn wir einen großen Skan­dal dar­aus ma­chen, pas­siert et­was. Wenn es nur um eine tote Per­son geht, pas­siert gar nichts. Das ge­hört zu den per­ver­ses­ten Din­gen auf die­ser Welt.”

Wie wur­de die Or­ga­ni­sa­ti­on Fa­mi­lia Pa­sta de Con­chos ge­grün­det, in der Sie heu­te ar­bei­ten?
Die Or­ga­ni­sati­on hat sich ganz or­ga­nisch und selbst­stän­dig ent­wi­ckelt. Im Jahr der Tra­gö­die be­merk­ten wir, dass der Staat nur die Wit­wen und Wai­sen als Op­fer der Ver­schüt­te­ten ak­zep­tier­te, nicht je­doch die El­tern oder Ge­schwis­ter. Wir gin­gen also in die Fa­mi­li­en hi­n­ein und zähl­ten die di­rek­ten An­ge­hö­ri­gen. Am An­fang hat­ten wir eine Lis­te von 350 Per­so­nen und be­gan­nen, von der Fa­mi­lie Pas­ta de Con­chos zu spre­chen, in der alle Be­trof­fe­nen ein­be­zo­gen wur­den. Da auch in an­de­ren Mi­nen im­mer wie­der Per­so­nen star­ben, wur­den wir zu ei­ner Or­ga­ni­sati­on, die sich auch um an­de­re Fäl­le küm­mer­te.

Wel­che Mi­nen ste­hen heu­te im Fo­kus und wie geht die Or­ga­ni­sa­ti­on vor?
Ich den­ke, dass alle Mi­nen im Fo­kus ste­hen. Die Leu­te der Or­ga­ni­sati­on sind über­all vor Ort. Wir be­nut­zen ein gut funk­tio­nie­ren­des Not­fall­pro­to­koll, aber vor al­lem ar­bei­ten wir an der Prä­ven­ti­on. Das ist der große Bei­trag der Or­ga­ni­sati­on in der Berg­bau­regi­on. Wir be­nach­rich­ti­gen die Fa­mi­li­en und die Berg­bau­ar­bei­ter, wenn wir glau­ben, dass an ei­ner be­stimm­ten Stel­le ein Ri­si­ko be­steht, das töd­li­che Fol­gen ha­ben kann. Seit 2013 ha­ben sich so die To­des­fäl­le um 97 Pro­zent ver­ringert.

Sie wer­den un­ter an­de­rem von pbi in Ih­rer Ar­beit ge­schützt. Was be­deu­tet das für Sie?
Ich wer­de seit Juni 2007 durch Vor­sichts­maß­nah­men ge­schützt, also schon seit ei­nem Zeit­punkt, als der Me­chanis­mus zum Schutz von Men­schen­rechts­ver­tei­di­gern und Jour­na­lis­ten der Regie­rung, von dem ich heu­te auch Teil bin, noch gar nicht exis­tiert hat. Mög­li­cher­wei­se ge­hö­re ich zu den Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin­nen, die am längs­ten ge­schützt wer­den. Die­ser Me­chanis­mus, der un­ter an­de­rem von der EU fi­nanziert wird, er­scheint mir al­ler­dings we­nig sinn­voll, weil sie nicht auf­pas­sen. Ich konn­te be­wei­sen, wer al­les Kam­pa­gnen ge­gen mich fährt und mich be­droht, aber es ist nichts pas­siert. Ich fin­de es ab­surd, dass der Staat mit ei­nem Arm den Koh­le­berg­bau för­dert und mit dem an­de­ren Vor­sichts­maß­nah­men trifft, die den Men­schen­rechts­ver­tei­di­gern hel­fen sol­len, die wie­der­um von den Ent­schei­dun­gen des sel­ben Staa­tes in Be­zug auf den Berg­bau be­trof­fen sind. Pbi be­glei­tet mich schon seit 2014. Das war das Jahr, in dem wir he­r­aus­fan­den, dass vie­le der Un­ter­neh­mer im Koh­le­berg­bau Politiker der da­ma­li­gen Regie­rungs­par­tei PRI wa­ren. Ich kann sa­gen, dass ich dank pbi noch am Le­ben bin. Die Un­ter­neh­men und Politiker füh­len sich von ei­ner in­ter­na­tio­na­len In­stanz be­ob­achtet, die niemals Teil von ih­nen sein wird.

Sie sind bis heu­te am Un­glück­sort von Pa­sta de Con­chos ge­blie­ben. Warum?
Es ist ein häss­li­cher Ort. Als ich an­kam, sag­te ich zu mir selbst: Nicht im Traum wer­de ich hier le­ben. Nun lebe ich seit neun Jah­ren dort. Jetzt ge­fällt es mir sehr gut, vor al­lem we­gen der Leu­te, mit de­nen ich zu­sammen­ar­bei­te. Koh­le­mi­nen­ar­bei­ter ha­ben die Fä­hig­keit, je­den Mo­ment zu ge­nie­ßen, weil sie nicht wissen, ob sie morgen ster­ben wer­den.

Vie­le Frau­en im Be­reich des Berg­baus agie­ren als Wit­wen von ver­stor­be­nen Mi­nen­ar­bei­tern. Gibt es auch Frau­en, die in den Mi­nen ar­bei­ten?
Nein, au­ßer mir kom­men kei­ne Frau­en in die Mi­nen hi­n­ein. Die­se Ar­beit war schon frü­her Männer­sa­che und ist es auch heu­te noch. Der Koh­le­berg­bau ist ein un­glaub­lich ma­chis­tisches Me­tier, denn das Ri­si­ko selbst ist mit klas­sisch männ­li­chen At­tri­bu­ten ver­bunden. Für vie­le Männer ist es sehr schwie­rig zu sa­gen, dass sie nicht in die Mine wol­len, weil sie Angst ha­ben. Heu­te ist es so, dass nicht nur die Wit­wen, son­dern auch die Frau­en und Töch­ter von Mi­nen­ar­bei­tern über die Sicherheit in den Mi­nen spre­chen. Wenn sie bei­spiels­wei­se se­hen wie der Va­ter, der kei­ne Ver­siche­rung be­sitzt, ver­letzt aus der Mine kommt, schi­cken sie mir eine Nach­richt. Frau­en ha­ben be­gon­nen, sich tech­ni­sches Wissen an­zu­eig­nen, um fest­zu­stel­len, ob eine Mine ein Sicherheits­ri­si­ko dar­stellt. Dies setzt den Sek­tor enorm un­ter Druck. Mitt­ler­wei­le ist es nor­mal, dass auch die Mi­nen­ar­bei­ter un­ter­ein­an­der und mit ih­ren Fa­mi­li­en über das The­ma Sicherheit spre­chen. Sie ha­ben ver­stan­den, dass sie so oder so in der Mine ar­bei­ten wer­den, aber dass sie Druck aus­üben kön­nen, um ihre Kon­di­tio­nen zu ver­bes­sern.

WIDERSPRÜCHLICHE SIGNALE

Jeden Morgen machen sich Journalist*innen auf den Weg zum größten Platz Mexiko-Stadts. Sie kommen zur täglichen Pressekonferenz des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO), der sogenannten „mañanera“. Ab sieben Uhr informiert der 65-Jährige im Palacio Nacional die Medien über aktuelle Entwicklungen und stellt sich den Fragen und der Kritik. Die Konferenzen dauern meist mehr als eine Stunde und werden live auf YouTube übertragen. Dort werden sie in Gebärdensprache übersetzt und im Sekundentakt von Kommentaren und Smileys begleitet. Keiner der vorherigen Präsidenten hat Vergleichbares getan. Dieser unkonventionelle Umgang mit den Medien ist Teil der versprochenen Transparenz der neuen Regierung.

Laut Umfragen erreicht AMLO in den ersten 100 Tagen eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent

Ein weiterer Vorsatz AMLOs ist, die Bürger*innen mehr in die Entscheidungen der Politik einzubeziehen. So stieß er bereits vor seinem Amtsantritt eine nationale Bürgerbefragung über den umstrittenen Bau des neuen Hauptstadt-Flughafens an. Die Mehrheit der Befragten (69,9 Prozent) lehnte den weiteren Ausbau in Texcoco ab. Tatsächlich wird dieser nun nicht weitergebaut. Auch für ein weiteres aktuelles Großprojekt ließ der Präsident eine Befragung durchführen: Den Tren Maya. Geplant ist, einen Zug für Personenverkehr auf der Halbinsel Yucatán zu bauen. Ein Projekt, dass mit 89,9 Prozent angenommen wurde. Kritiker*innen bemängeln jedoch die Durchführung der Umfrage und es regt sich insbesondere bei den indigenen Gemeinschaften Widerstand, die in der Region leben. Diese sind teilweise im Nationalen Indigenen Kongress (CNI) organisiert, der 2018 die erste indigene Präsidentschaftskandidatin stellte. AMLO hingegen verteidigt die Umsetzung des Projektes Tren Maya.
Neben den morgendlichen Pressemitteilungen und Bürgerbefragungen stärken aber auch die Entscheidung AMLOs, auf Leibwächter*innen zu verzichten (was in einem Land wie Mexiko als geradezu lebensmüde erscheint), oder seine Ankündigung, das Präsidenten-Flugzeug zu verkaufen, seine Popularität. Bei der Bevölkerung kommt dies gut an. Laut Umfragen verschiedener Medien erreichte AMLO nach 100 Tagen Amtszeit eine Zustimmung von mehr als 80 Prozent. Zugleich kritisieren verschiedenen Seiten dies als Symbolpolitik. Denn zu vielen Themen, insbesondere zur dramatischen Lage der Menschenrechte, fehlt es an konkreten Plänen, ganz zu schweigen von deren Umsetzung. Manchmal ist es aber scheinbar auch einfach fehlendes Interesse, wie im Fall der Rechte von Frauen.

In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet

Zu Beginn begeisterte AMLO mit der Aufstellung eines Kabinetts, welches knapp zur Hälfte aus Frauen besteht. Doch aktuell bewerten feministische Organisationen, wie die seit über 30 Jahren bestehende feministische Presseagentur Kommunikation und Information der Frau (CIMAC), die Lage kritisch. AMLOs Pläne, Frauenhäuser zu schließen, sorgten für Protest und seine Aussage – just am Internationalen Frauenkampftag – zum Thema Abtreibung – für Entsetzen: „Ich glaube wir sollten solche Debatten nicht eröffnen. Wir wollen das Land beruhigen.“ Daher gab es auch 2019 am 8. März wütende Proteste. Eine grün-violette Masse an Menschen, vornehmlich weiblich und jung, zog lautstark für das Recht auf eine sichere und legale Abtreibung und gegen die andauernde Gewalt gegen Frauen durch Mexiko-Stadt bis zum Palacio Nacional. Denn die konkrete Lebensgefahr für Frauen bleibt bestehen. Das ist auch der Regierung bewusst, schließlich erwähnte Olga Sánchez Cordero, aktuelle Staatssekretärin und ehemalige Verfassungsrichterin, in ihrer Rede vom 8. März selbst, wie erschreckend die Statistiken sind. In Mexiko werden im Durchschnitt neun Frauen pro Tag ermordet.
Die Statistiken zeigen ebenfalls, dass die neue Regierung unter AMLO der uferlosen Gewalt in Mexiko bisher nichts entgegensetzen kann. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden bereits mehr als 8.000 Tötungsdelikte registriert, wie die Tageszeitung La Jornada berichtet. Davon wurden 244 Fälle als Feminizide eingestuft. Die Zahlen sind damit im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres angestiegen. Auch das Morden an Journalist*innen geht unaufhaltsam weiter. Laut der unabhängigen Organisation artículo 19, welche sich für Pressefreiheit einsetzt, wurden unter AMLOs Regierung bereits vier Journalisten Opfer tödlicher Gewalt. Dagegen sollte die Neugründung einer Nationalgarde Abhilfe schaffen. Nun wurde im April bekannt, dass diese doch keinen zivilen Charakter haben wird, um die bestehende Korruption in Polizei und Militär zu umgehen. Stattdessen soll die neue Nationalgarde dem Brigadegeneral Luis Rodríguez Bucio unterstellt werden, der zuvor eine leitende Stelle beim mexikanischen Geheimdienst CISEN hatte. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Entscheidung stark. Denn eigentlich hatte sich der Präsident für eine Befriedung und Entmilitarisierung des Landes einsetzen wollen.
Die neue Regierung muss jedoch nicht nur auf die ansteigenden Mordraten, sondern auch auf das anhaltende Verschwindenlassen von hunderttausenden Mexikaner*innen reagieren. Ein erster Schritt war, nach der Wahl AMLOs zu Versöhnungsforen einzuladen. Doch der jetzige Sicherheitsminister Alfonso Durazo sorgte bereits vor seinem Amtsantritt für einen Eklat, als er die Angehörigen aufforderte zu vergeben. Später ruderte er zurück: „Wir sagten: ,Vergeben ja, vergessen nein.’ Aber in den Foren haben wir deutlich herausgefunden, dass wir erst Gerechtigkeit garantieren müssen, dass wir die Nichtwiederholung garantieren müssen, dass wir eine Reparation des Schadens garantieren müssen und die Wahrheit für die Opfer. Und dann den Weg für ein Vergeben öffnen können.“ Für den weltweit bekannt gewordenen Fall der 43 Verschwundenen aus Ayotzinapa wird nun eine Menschenrechtskommission eingerichtet. Die Frage, ob dies auch eine juristische Verfolgung der Täter*innen und Vollstreckung eines Urteils beinhaltet, bleibt jedoch auch hier offen (siehe auch LN 538). Das Verhalten der aktuellen Regierung bleibt ambivalent.
Nach langer Passivität hat die Bevölkerung wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung
Ein Wandel lässt sich daher momentan weniger im konkreten politischen Handeln und viel mehr in der kritischen Begleitung der Regierung beobachten. Denn nicht nur die Medien, die innerhalb wie außerhalb der morgendlichen Pressekonferenzen beobachten und berichten, und die NGOs, die sich weiter für die allgemeinen Menschenrechte, die Pressefreiheit und die Rechte der Frauen einsetzen, begleiten wachsam die aktuelle Politik. Die sechstelligen Klickzahlen der inzwischen mehr als 100 YouTube-Videos der morgendlichen präsidialen Pressekonferenzen zeigen, dass nach langer Passivität auch die Bevölkerung selbst wieder Interesse und Erwartungen an die Regierung hat. AMLO und sein Kabinett scheinen noch nicht, wie die vorherigen Regierungen, als korrupt und unverbesserlich abgehakt worden zu sein und es erscheint weiter sinnvoll, Forderungen zu stellen. Mit der Hoffnung, dass diese auch erfüllt werden.

 

DIE STRAFLOSIGKEIT DURCHBRECHEN

Foto: Tobias Lambert


 

Santiago Aguirre
ist Menschenrechtsanwalt und Vizedirektor des renommierten Menschenrechtszentrums Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Centro ProDH). Im Mai wird er dessen Leitung übernehmen. Aguirre ist Mitglied der Wahrheitskommission, die den Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa aufklären soll, die am 26. September 2014 in Iguala auf dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschwunden sind. Die Polizei hatte sie entführt und einem lokalen Drogenkartell übergeben.


 

Seit dem 1. Dezember 2018 hat Mexiko mit Andrés Manuel López Obrador (AMLO) einen Präsidenten, der sich links der Mitte verortet. Welche Erwartungen setzt die Menschenrechtsbewegung in den Regierungswechsel?
López Obrador hat die Wahl am 1. Juli vergangenen Jahres inmitten einer schweren Krise der Menschenrechte gewonnen. Der mexikanische Staat schützt seit jeher die Mächtigen anstatt verwundbarer Gruppen wie Indigene oder Frauen. Doch als der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 den Krieg gegen die Drogen ausrief, kehrten Verbrechen zurück, die wir eher aus den 1970er Jahren kennen. Seit 2006 zählen wir 40.000 Verschwundene in Mexiko. Hinzu kommen ein Anstieg der Folter und Tötungen durch das Militär. Mit der Wahl López Obradors war die Erwartung verbunden, dass dieser strukturelle Reformen einleitet, die die Menschenrechtssituation verbessern.

Auch wenn es für eine fundierte Bilanz noch sehr früh ist: Welche Akzente zeichnen sich in der Menschenrechtspolitik bisher ab?
Positiv ist, dass sich die Regierung einiger der emblematischsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen angenommen und die Opfer um Vergebung gebeten hat. Bei dem zentralen Thema der Verschwundenen hat die Regierung eine neue Politik angekündigt. Dazu zählt die Einrichtung einer Wahrheitskommission im Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Aber es gab auch negative Entwicklungen wie die Gründung der militarisierten Polizei Guardia Nacional.

Beide Kammern des Kongresses haben dem Vorhaben bereits zugestimmt. Welche Kritik haben Sie an der Errichtung der Guardia Nacional?
Diese neue Polizei setzt sich maßgeblich aus den Reihen des Militärs zusammen. Und obwohl der Präsident angekündigt hat, dass die Guardia Nacional Rechenschaft ablegen wird und keine Menschenrechte verletzen soll, stärkt deren Gründung in erster Linie das Militär. Die Erfahrung der letzten 15 Jahre zeigt aber, dass dort, wo die Kompetenzen des Militärs ausgeweitet werden, die Menschenrechtsverletzungen zunehmen.

Wenn es der Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtslage geht, warum stärkt sie dann nicht eine zivile Polizei?
Die Vorgehensweise der Regierung hat die Menschenrechtsbewegung überrascht. Aus der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen gab es einige Vorschläge, wie Sicherheitskräfte umgestaltet werden könnten. Und während der Wahlkampagne hat López Obrador die Menschenrechtsverstöße seitens des Militärs kritisiert und sich dafür eingesetzt, dass das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren soll. Seinen Meinungsumschwung begründet er damit, dass die zivilen Polizeieinheiten vollständig korrumpiert seien. Aber das greift zu kurz, denn auch das Militär hat Korruptionsfälle und Unterwanderung durch die Drogenkartelle vorzuweisen.

Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Regierung ein, die seit 2006 eskalierende Gewalt in den Griff zu bekommen?
Der Präsident hat gesagt, dass er den Krieg gegen die Drogen beenden will. Als erste Maßnahmen erwägt er die Legalisierung einzelner Substanzen und will die Sozialpolitik für Jugendliche ausbauen. Bisher handelt es sich aber nur um Vorschläge, während die Schaffung einer militarisierten Polizei eindeutig in eine andere Richtung geht. Entscheidend wird aber sein, wie Regierung und Justiz mit den zu erwartenden Menschenrechtsverletzungen seitens der Guardia Nacional umgehen werden. Ob diese also tatsächlich Rechenschaft ablegen muss oder Täter aus den Reihen des Militärs wie bisher straffrei davon kommen. Doch solange die USA als zentraler Markt für die Drogen nicht ihre Politik des Prohibitionismus beenden, wird es in Mexiko Gewalt geben.

Für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen ist Mexiko eines der gefährlichsten Länder weltweit. Seit 2012 gibt es für diese Gruppen ein eigenes Schutzprogramm. Wie ist dessen Bilanz?
Aufgrund der hohen Anzahl von Morden an Menschenrechtsverteidigern und Journalisten hat die damalige Regierung unter Enrique Peña Nieto diesen Schutzmechanismus geschaffen. Doch wurden seitdem weiterhin Menschen ermordet, darunter auch mehrere, die bereits unter Schutz standen. Und nicht immer konnten die Betroffenen ihrer Arbeit weiter nachgehen. Auch dieses Jahr ist es bereits zu Aggressionen und Morden gekommen, ohne dass die Regierung darauf bisher ausreichend reagiert hat. Vor allem aufgrund der verbreiteten Straflosigkeit greift der Mechanismus nicht richtig. In den meisten Fällen von Mord oder Bedrohungen wird entweder gar nicht ermittelt oder die Hintermänner bleiben unbehelligt. Die neue Regierung muss das Schutzprogramm stärken und gegen die Straflosigkeit vorgehen.

Bereits am 3. Dezember hat López Obrador das Dekret unterzeichnet, mit dem er eine Wahrheitskommission für den Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa geschaffen hat. Sie selbst nehmen daran als Menschenrechtsanwalt teil. Welche Bedeutung hat die Kommission für Mexiko?
Dass wir in Mexiko heute 40.000 Verschwundene haben, ist eines der zentralen Probleme des Landes. In der Gegenwart gibt es kein Land Lateinamerikas, in dem derart viele Familien vom gewaltsamen Verschwindenlassen betroffen sind. Teilweise suchen diese in ländlichen Regionen eigenhändig nach Massengräbern. Alle Fälle sind wichtig, doch nicht alle zeigen derart deutlich die Strukturen hinter der Straflosigkeit in Mexiko auf, wie der Fall Ayotzinapa. Bei diesem versuchte die Vorgängerregierung bewusst, den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern. Die Familien der 43 verschwundenen Studenten setzten sich vier Jahre lang dafür ein, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie trafen sich mit López Obrador bereits während des Wahlkampfs, dann während der Übergangsperiode im September zum vierjährigen Jahrestag des Verbrechens und Anfang Dezember bei der Schaffung der Wahrheitskommission.

Wie arbeitet die Wahrheitskommission konkret?
Ihr gehören Familien der Opfer, Menschenrechtsorganisationen und Regierungsvertreter an. Seit Januar treffen wir uns monatlich. Auf politischer Ebene soll die Kommission die Hindernisse beseitigen, die einer Aufarbeitung des Falles entgegenstehen. Technische Unterstützung leisten die Vereinten Nationen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Was uns jetzt noch fehlt ist eine Sonderstaatsanwaltschaft, die sich den strafrechtlichen Aspekten des Falls widmet. Es gibt keinen vorgeschriebenen Zeitrahmen, aber wir glauben, dass sich nach einem Jahr zeigen wird, ob es substanzielle Fortschritte gibt oder nicht. Wenn wir es schaffen, die Straflosigkeit zu durchbrechen, wird daraus eine klare Botschaft zur Stärkung der Menschenrechte hervorgehen. Wir könnten dadurch exemplarisch aufzeigen, dass in dem Mexiko, das wir uns wünschen, weder Lügen noch Straflosigkeit toleriert werden. Das käme nicht nur den Familien der Verschwundenen, sondern dem ganzen Land zu Gute.

Bei dem Polizeieinsatz gegen die Studenten aus Ayotzinapa kamen auch G36-Gewehre von Heckler & Koch zum Einsatz. Diese hätten allerdings gar nicht in den betroffenen Bundesstaat Guerrero geliefert werden dürfen, da aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation keine Exportgenehmigung der Bundesregierung vorlag. Das Landgericht Stuttgart verurteilte den schwäbischen Waffenhersteller im Februar deshalb zu einer Strafzahlung von 3,7 Millionen Euro und verhängte Bewährungsstrafen gegen zwei ehemalige Mitarbeiter*innen. Zwei ehemalige Geschäftsführer wurden jedoch freigesprochen (siehe LN 537). Wie bewerten Sie das Urteil?
Der ganze Prozess gegen Heckler & Koch ist ein hoffnungsvolles Beispiel dafür, was die deutsche und mexikanische Zivilgesellschaft sowie kritische Journalisten erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. Denn ansonsten wäre der Fall gar nicht publik geworden. Mir ist bewusst, dass es in Deutschland eine wichtige Debatte darüber gibt, dass möglicherweise mitschuldige Personen freigesprochen wurden. Doch im Gegensatz zu Mexiko war es in Deutschland möglich, den Fall vor Gericht zu bringen, öffentlich darüber zu debattieren und die Opfer sichtbar zu machen. In Mexiko hingegen gibt es nicht einmal Ermittlungen, obwohl korrupte mexikanische Behörden in die illegalen Waffenlieferungen ebenso verstrickt sind.

 

PROJEKTIONSFLÄCHE BORDERLAND

„Die Geschichte der Grenzbeziehung zeigt (…), dass sich in der Betonung des Trennenden in Wirklichkeit schon immer das Wissen um die Unauflösbarkeit dieser Beziehung offenbart hat.“ Der Satz ist die perfekte Definition für das paradoxe Verhältnis zwischen Mexiko und den USA. Wie eng verwoben Geschichte und Gesellschaft der beiden Länder sind, verdeutlicht die deutsch-ecuadorianische Ethnologin Jeanette Erazo Heufelder in ihrem Buch Welcome to Borderland, für das sie nicht nur Essays, Artikel, Verträge und Schriften der letzten 200 Jahre konsultierte, sondern auch zweimal sechs Wochen auf beiden Seiten der Grenze unterwegs war, um mit Menschen vor Ort zu sprechen.

In Borderland schildert sie zunächst die Geschichte der beiden Länder, die zu großen Teilen eins waren, bis Mexiko zwischen 1836 und 1853 mehr als die Hälfte des Landes an die USA verlor. Schon früh war der südliche Nachbar Projektionsfläche für die USA. Gleich ob die Weite und Fremdartigkeit des Landes stilisiert wurde, Pancho Villa und Emiliano Zapata als verruchte Revolutionäre gefürchtet oder die Mexikaner*innen mit sämtlichen denkbaren Vorurteilen bedacht wurden. Während sich die USA abgrenzen wollten, erwachte das mexikanische Nationalgefühl, geschürt durch die Politik, erst im 20. Jahrhundert.

Als weitere Aspekte zeichnet Erazo Heufelder die Gewaltspirale nach, durch die es in Ciudad Juárez aufgrund des neoliberalen Maquiladora-Systems, also Fabriken internationaler Firmen, in denen zumeist Frauen zu Billiglöhnen arbeiten, zu den Feminiziden kam. Auch wie sich der Drogenschmuggel, Kartelle und der verheerende „Krieg gegen die Drogen“ entwickelten und nicht zuletzt, welche Auswirkungen die Finanzkrise von 2008 hatte, beschreibt die Autorin.

So groß das Misstrauen auf beiden Seiten im Laufe der Jahrhunderte wurde (das in den USA sein heutiges Ausmaß erst nach Ende des Kalten Krieges erreichte, als neue Feinde hermussten), so oft arbeiteten die Regierungen zusammen, zum Beispiel bei der Deportation illegaler Einwanderer. Die Beziehung von Mexiko und den USA besteht noch heute in ökonomischem, kulturellem, sozialem und touristischem Austausch, teilweise sogar in gegenseitiger Abhängigkeit von vielen Partnerstädten diesseits wie jenseits der Grenze, wie die Autorin nachweist.

Das Buch erläutert jede Facette der US-amerikanischen Grenzregionen

Borderland gibt komprimiert, aber faktenreich die Geschichte einer Hassliebe wieder. Auch zeigt sie, wie sich die Grenze auf das Leben einer Volksgruppe, die gerne vergessen wird, auswirkt – auf die Native Americans. Ein einziger Kritikpunkt wäre, dass die Autorin sie ohne ersichtlichen Grund in manchen Stelle als „Indianer“ bezeichnet. Jeanette Erazo Heufelder beschreibt mit der Politik sowohl das große Ganze, wie auch persönliche Geschichten der Menschen, für die die Grenze zum Alltag gehört, um dann einen Blick auf Film, Musik und Literatur zu werfen. Welcome to Borderland ist ein großartiges Buch, das gelungen jede Facette der US-mexikanische Grenzregionen erläutert und das Zeug zu einem Standardwerk hat.

Jeanette Erazo Heufelder // Welcome to Borderland // Berenberg Verlag // Deutschland // 25 Euro // 256 Seiten

 

// Perdón, kein Perdón

Es ginge ihm um „Versöhnung“, schrieb der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador in einem Brief an den spanischen König und den Papst. Eine Versöhnung mit der gemeinsamen Geschichte. Diese sei jedoch nur möglich, wenn sich der spanische Staat und der Vatikan für die Massaker an den Aztek*innen und Maya während der Kolonialisierung entschuldigten.

Während vom Vatikan darauf keine öffentliche Reaktion kam, folgte im spanischen Staat eine Welle der Empörung, Geschichtsverdrehung und höhnischer Kommentare. Pablo Casado von der konservativen Oppositionspartei PP machte klar, dass er die „großartige Geschichte Spaniens“ nicht bereuen würde. Bereits zuvor hatte er die spanische Kolonialisierung Lateinamerikas (euphemistisch hinter dem Wort Hispanität versteckt) als die „brillanteste Etappe der Menschheitsgeschichte“ verherrlicht. Aber auch die sozialdemokratische Regierung wies die Aufforderung durch verschiedene Vertreter*innen als „unzeitgemäß“ zurück. Ganz unzeitgemäß dürften die Forderungen jedoch nicht sein, wenn man bedenkt, dass Spanien noch heute von seiner Vergangenheit als Kolonialmacht profitiert. Die angeblich „brilliante“ Geschichte der Hispanität ist viel mehr eine der Vernichtung und Ausbeutung, der Sklaverei und der Plünderung des Kontinents.

Kritisch mit der kolonialen Vergangenheit umzugehen liegt in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft.

López Obrador wiederum beschränkt sich selbst in seinem Streben nach Versöhnung auf Symbolpolitik. In der gleichen Videobotschaft, in der er seine Forderungen gegenüber Krone und Kirche öffentlich machte, räumte er auch ein, sich für die Verbrechen an der indigenen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit Mexikos entschuldigen zu wollen. Das ist zwar ein Novum und in Hinblick auf den Rassismus in Mexiko und die historische Verachtung gegenüber Indigenen seitens weißer Machthaber*innen sogar ein politisches Wagnis. Doch die Politik, die der mexikanische Präsident faktisch betreibt, geht in eine andere Richtung. Es gibt viele Beispiele für neoliberale Mega-Projekte von López Obrador, die indigene Gemeinschaften und ihre Lebensräume direkt negativ beeinflussen. Der sogenannte Tren Maya ist nur eines davon: Um Maya-Stätten im Süden Mexikos zugänglicher für Tourismus aus Cancún zu machen, plant er eine umstrittene Zugstrecke durch indigene Gebiete, in denen schwerwiegende Schäden für die Natur erwartet werden. Befragungen oder Abstimmungen der Bevölkerung dazu wurden bislang nicht nach international verpflichtenden Standards durchgeführt, was dem Tren Maya den Vorwurf einbringt, ein „neokoloniales Entwicklungsprojekt“ zu sein. Tatsächliche Versöhnung sieht anders aus.

Die spanische Selbstgefälligkeit ist indessen eine europäische. Sie ist all den Ländern gemeinsam, die immer noch jede Verantwortung der begangenen Kolonialverbrechen zurückweisen. Auch Deutschland glänzt mit seiner Kunst, betretene Stille zu wahren, wenn es um die Anerkennung des Völkermords an den Nama und Herero im heutigen Namibia geht. Trotz einer offiziellen Entschuldigung im Jahr 2016 weigerte sich die Bundesregierung Klageschriften von deren Vertreter*innen anzunehmen und eine Vertretung zu Gerichtsverhandlungen Anfang 2018 in New York zu senden, so dass die Verhandlungen über Wiedergutmachungen nun schon mehrere Jahre andauern. Bis heute liegen Schädel der damals Ermordeten als Erbstücke in deutschen Haushalten herum, bis heute setzt sich eine Struktur der wirtschaftlichen Unterdrückung fort.

Sich mit der geteilten Geschichte und Geschichtsschreibung auseinanderzusetzen, ist eben nicht aus der Zeit gefallen. Sie gesellschaftlich aufzuarbeiten und nicht zu verklären liegt auch nach 100, 500 oder 600 Jahren noch in der Verantwortung von Politik und Gesellschaft.

// Die Redaktion

EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

“Keine ist frei, bis wir es alle sind” Der Frauenkampftag am 8. März in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina Ißbrücker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzespläne der Regierung Modi fand mutmaßlich der größte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage später, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen überhaupt organisieren. Matamoros ist neben den Grenzstädten Ciudad Juárez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, überdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zählen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurückgefahren, weil es durch den Streik zu Lieferengpässen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekären Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein Schlüsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudämmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren über der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde für die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize für Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der Präsident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenüber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die über den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – für Produktivität, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie würden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis würden die Löhne nicht erhöht“ erläutert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (Comité Fronterizo de Obreras) gegenüber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespältig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen Dachverbänden CROM, CROC und CTM organisiert, darüber hinaus gibt es neue unabhängige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil über den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren Funktionär*innen, die Höhe der Gewerkschaftsbeiträge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den Gewerkschaftsbüros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der Erklärung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-Präsident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen würden Tamaupilas in den nächsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfänglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von Räten, unabhängigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven für die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von Staatspräsident López Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzüberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfänglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund für die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen Supermärkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-Abfüllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die Müllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zuständige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. März eine entsprechende Streikankündigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter […] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darüber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natürlich befürchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung führen. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestätigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit über die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und Geschlechterverhältnisse verknüpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefähr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. März diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden über die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um Solidarität von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jüngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel Gutiérrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. März auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und Organisierungsbemühungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand übersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der über die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.

DOCH DIE WAFFEN EXISTIEREN WEITER

Ein enttäuschtes Seufzen geht durch Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts. Soeben hat Frank Maurer, vorsitzender Richter der 13. Großen Wirtschaftskammer, sein Urteil verlesen: zwei Bewährungsstrafen und drei Freisprüche für ehemalige Mitarbeiter*innen des Waffenherstellers Heckler & Koch (H&K). Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 Tausende Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Unruheprovinzen geliefert zu haben ­– ohne die nötigen Exportgenehmigungen. Maurer sieht es als erwiesen an, dass ein ehemaliger Vertriebsleiter sich der banden­­­­mäßigen Ausfuhr von Waffen mit erschlichenen Genehmigungen schuldig gemacht hat. Der Mann bekommt vom Gericht eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten und eine Geldstrafe über 50.000 Euro. Eine Sachbearbeiterin wird wegen Beihilfe zu 17 Monaten auf Bewährung und 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Der Vorsitzende bleibt damit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, Freiheitsstrafen ohne Bewährung zu verhängen. Doch das Seufzen im Gerichtssaal gilt vor allem den Freisprüchen. Besonders pikant ist der für Peter B., früherer Landgerichts-Präsident, der später bei H&K zuständig für Kontakte zu den Behörden war. Verächtliches Gelächter kommt auf, als Maurer die Begründung für den Freispruch verliest: der Ex-Geschäftsführer habe lediglich „Formulierungsvorschläge unterbreitet“, die Indizien würden nicht für eine Verurteilung ausreichen. Darum, was die Mordwerkzeuge in Mexiko angerichtet haben, ging es in dem Prozess nicht. Das stellt Maurer noch einmal klar. Diesen Part haben andere übernommen.

 

Im Namen der Opfer deutscher Waffen Friedensaktivist*innen vor dem Stuttgarter Landgericht (Fotografin: Kerstin Hasenkopf)

Vor dem Gericht machen Friedensaktivist*innen mit einer Mahnwache auf die Opfer der Praktiken von H&K aufmerksam. Wieder. Schon zu Prozessbeginn im Mai 2018 erinnerten sie an den Fall Iguala im September 2014. Damals verschwanden 43 Lehramtsstudent*innen spurlos, nachdem sie von Polizist*innen und Kriminellen angegriffen worden waren, auch mit H&K-Gewehren. Sechs Menschen starben bei dem Angriff. Der Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen sind bis heute ungewiss. Iguala liegt in Guerrero, einem der vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Waffen exportiert werden dürfen. So will es die Bundesregierung – eigentlich.

Die Opfer der Waffen in Mexiko fanden keine Beachtung bei dem Prozess

Die Aktivist*innen in Stuttgart singen kurz vor der Urteilsverkündung von einer Gitarre begleitet Lieder, präsentieren Transparente und entzünden Kerzen. Unter ihnen ist Jürgen Grässlin, der 2010 die Strafanzeige gegen H&K stellte. Carola Hausotter, Koordinatorin der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, verliest einen Brief von Leonel Gutiérrez Solano. Seinem Bruder, einem Studenten der Universität Ayotzinapa, wurde von Polizisten in der Nacht des 26. September 2014 in den Kopf geschossen. Seitdem liegt er im Koma. In dem Brief steht: „Wir wissen, dass die Polizisten des Staates Guerrero, die auf die Studenten schossen und meinen Bruder mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzten, Waffen aus Deutschland besaßen. Es waren Waffen der Firma Heckler & Koch, die sie nie hätten erhalten dürfen.“
Hausotter sagt, dass die Familie gerne am Prozess beteiligt gewesen wäre, das Gericht dies jedoch nicht zugelassen habe. In seinem Brief formuliert Gutiérrez Solano deutlich seine Erwartung, „die Schuldigen“ zu bestrafen und den Opfern und ihren Angehörigen wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – auf die sie nach wie vor warten (siehe LN 533). Das Urteil wenig später erscheint vielen Beobachter*innen sehr milde. Von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ spricht Grässlin. „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“, konstatiert er. Grässlins Anwalt Holger Rothbauer kritisiert die Rolle des Staates: „Mit diesem Urteil ist die gesamte Rüstungsexportkontrolle in diesem Land ad absurdum geführt, weil klar wird, dass Endverbleibserklärungen überhaupt keine sinnvolle Funktion haben und beliebig ausgetauscht und gefälscht werden können, ohne dass die Genehmigungsbehörden irgendetwas prüfen“, sagt er. In den Endverbleibserklärungen steht normalerweise, für welche Region die Waffen bestimmt sind. Das Gericht hat die Endverbleibserklärungen für Waffenexporte nicht als Bestandteil von Waffenexportgenehmigungen von Seiten des deutschen Staates gewertet. Deshalb sind die Waffenlieferungen in die verbotenen Bundesstaaten Mexikos nicht nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, sondern ausschließlich nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar, das weniger harte Strafen vorsieht.

Auch Cristina Valdivia vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit bedauert, dass die Opfer in Mexiko keine Beachtung im Prozess fanden. Außerdem seien keine Menschenrechtsverletzungen verhandelt worden, sondern lediglich Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Trotzdem erkenne sie einen „ersten kleinen Schritt zur Gerechtigkeit“, sagt Hausotter. Sie sei zuversichtlich, dass sich in Mexiko etwas tue. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador hat nach dem Machtwechsel im Dezember 2018 eine neue Wahrheitskommission für Iguala eingesetzt. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Oberndorf wird vom Richterspruch aus Stuttgart empfindlich getroffen. Im Jahr 2017 machte es 13,4 Millionen Euro Verlust, in den ersten neun Monaten 2018 vier Millionen Euro. Das Urteil sieht eine Strafe von 3,7 Millionen Euro vor, der Gegenwert der Waffen, die der Prozess behandelte. Das Geld würde an den deutschen Staat gehen, die Familien von Opfern in Mexiko werden nicht berücksichtigt. H&K findet „die Einziehung des gesamten Kaufpreises nicht nachvollziehbar“. Man habe die Aufklärung „aktiv unterstützt und nachhaltig Konsequenzen gezogen“, teilte die Firma mit. Der Waffenhersteller hat, ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die verurteilten Mitarbeiter*innen Revision eingelegt. Damit geht das Verfahren vor den Bundesgerichtshof.

Der Stuttgarter Prozess ist nicht das einzige Verfahren bei dem gegen einen deutschen Hersteller wegen illegalen Waffenexports nach Lateinamerika geurteilt wird. Auch im Prozess gegen drei Ex-Manager vom in Eckernförde ansässigen Waffenhersteller SIG Sauer vor dem Landgericht Kiel (siehe Kurznachrichten) zeichnen sich Strafen ab. Doch die Waffen existieren auch nach den Urteilen weiter.

 

ERDE UND EMOTIONEN

Foto: © HDPERU


In einer riesigen Lagerhalle verabschiedet sich eine kleine Delegation aus Cusco von ihren Kartoffeln: „Weine nicht, kleine Kartoffel, weine nicht!“, singt Brizaida Siqus mit Tränen in den Augen. Angesichts der Bedrohung der Biodiversität haben die Kleinbäuerin und ihre Kooperative sich auf den weiten Weg nach Norwegen gemacht um alte Kartoffelsorten im Saatgut-Tresor von Svalbard vor dem Aussterben zu bewahren.

© HDPERU

Brizaida ist eine von fünf indigenen Kleinbäuerinnen aus den Gegenden um Cusco und Puno, die die Brüder Álvaro und Diego Sarmiento in ihrem Dokumentarfilm Sembradoras de vida porträtieren. Vor allem der Klimawandel ist bei den fünf Frauen ein großes Thema, denn seine Folgen sind im Hochland der Anden schon jetzt zu spüren. Techniken, mit denen seit Jahrhunderten das Wetter vorhergesagt wurde, greifen nicht mehr, wenn es gar nicht mehr regnet oder der Regen nicht mehr aufhört. Ihre Großmutter habe anhand der Frösche erkannt, wie die Ernte werde, erklärt die Anthropologin Eliana García, die nach dem Studium zur Landwirtschaft zurückgekehrt ist. Jetzt sei sie froh, wenn sie überhaupt einmal einen Frosch sehe. Doch Eliana und die anderen Frauen halten an der traditionellen Landwirtschaft fest. Der Film begleitet die harte Arbeit der Bäuerinnen in wunderschönen Bildern und verlässt selten die Quinoa-, Kartoffel- und Maisfelder. Untermalt von Gitarre und Panflöte sehen wir die fünf Frauen beim Säen und Ernten, bei Opfergaben und dabei, wie sie altes Wissen an ihre Kinder weitergeben. Ein äußerst stimmiger Film, der stets seine Protagonistinnen selbst zu Wort kommen lässt und auch nicht in verkitschende Zurück-zur-Natur-Romantik verfällt.

Dem Kurzfilm La herencia del viento von gleich drei jungen mexikanischen Regisseur*innen hätte es dagegen gut getan, sich ebenso viel Zeit zu lassen. In nur 16 Minuten möchte der Film zu viel zeigen und sagen. Reduktion auf wenige Szenen hätte hier gut getan, denn der liebevolle Umgang des Bauern Juan Zuñija mit Familie und Pflanzen ist wirklich beeindruckend. Für Juan sind Kindererziehung und Landwirtschaft kaum voneinander zu trennen. Die Erde merke, genau wie die Kinder, mit welchen Emotionen man an sie herantrete. Schon seinen kleinsten Kindern bringt der Bauer einen tiefen Respekt vor der Natur bei.

© César Camacho

Es lässt hoffen, dass die Berlinale zwei Filmen Raum gibt, die zeigen, wie wichtig Biodiversität und ein umsichtiger Umgang mit unseren Ressourcen sind. So wird einmal mehr unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie das klimafeindliche Verhalten des globalen Nordens schon jetzt das Leben derjenigen verändert, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen.

 

WENIGER IST MEHR

Foto: © Diana Garay


Ein Junge wohnt mit seinem Vater in einem einfachen Haus, umgeben von Natur. Es regnet durchs Dach und das Haus ist innen ganz leer, nur ein Feuer wärmt die beiden, wenn sie in ihrer löchrigen Kleidung auf dem harten Boden sitzen und sich ein karges Mahl teilen. Die Seele wärmt jedoch nichts, keine persönlichen Gegenstände, kein Spielzeug und auch kein Regal, in die man sie legen könnte. Eines Tages findet der Junge im Wald einen Stuhl – begeistert nimmt er ihn mit nach Hause.

© Germano Saracco

Der Vater möchte dies jedoch nicht und bittet ihn, den Stuhl zurückzubringen. Der Sohn sitzt daraufhin abends traurig in der Ecke, dann bekommt er die Erlaubnis doch. Als der Junge am nächsten Tag den Stuhl holen will, hat sich jedoch etwas Wichtiges verändert, und er muss ihn dort lassen.
In der minimalistischen Fabel El tamaño de las cosas (Die Größe der Dinge) aus Kolumbien möchte uns Regisseur Carlos Felipe Montoya in nur 12 Minuten mit elementaren Fragen konfrontieren, die unter anderem mit dem Begehren von Dingen und allgemeiner der Bedeutung zu tun haben, die wir ihnen beimessen, sowie der sich ändernden Wahrnehmung der Dinge. “Weiß das zu schätzen, was du im Leben hast”, sagt etwa der Vater in einer Szene zu seinem Sohn. Montoya, der bereits zum zweiten Mal mit einem Kurzfilm auf der Berlinale zu Gast ist, gibt den Zuschauer*innen jedoch nicht einfach eine Moral mit auf den Weg. Er möchte, wie er sagt, dass diese nach dem Kinobesuch noch eine Weile über den Film und seine Botschaft nachdenken. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen.

© Diana Garay

Schmerzt in El tamaño de las cosas die Abwesenheit materieller Dinge, so ist es in Los ausentes (Die Abwesenden) aus Mexiko der Tod eines Menschen. Er gibt Anlass zu Überlegungen ganz anderer Art: Der siebenjährige Rafaelito und seine beiden Freunde sollen auf einer Totenwache zur Aufmunterung ein paar traditionelle Huapango-Lieder spielen, jedoch haben sie nur ein Repertoire von drei Stücken. Wie sollen sie reagieren, als die trauernde Witwe am Ende ihrer Darbietung gern noch ein weiteres Stück hören möchte? Sie müssen sich schnell entscheiden.

Der Kurzfilm von José Lomas Hervert erzählt eine einfache, aber sensible Geschichte einiger Menschen ganz unterschiedlichen Alters. Die Kamera zeigt uns auf einfühlsame Weise weinende, aber auch lächelnde Gesichter, wir sehen sowohl Trauer als auch sich entwickelnde Zuneigung. Gesprochen wird dagegen nicht viel, Gestik und Mimik sagen neben der Musik mehr aus als tausend Worte. Zur Unterstützung dieses Fokus ist der Film in Schwarzweiß gedreht. Zurück bleibt nach 17 Minuten ein Mikrokosmos der Gefühle und des Lebens.

El tamaño de las cosas und Los ausentes laufen 2019 in Berlinale Generation (Kplus).

VIELFALT AUF DEN ZWEITEN BLICK

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

Auf der letztjährigen Berlinale waren lateinamerikanische Filme in so hoher Zahl und in nahezu allen Sektionen so erfreulich präsent, dass vielleicht die eine oder andere Erwartung an ihre 69. Ausgabe zu hoch ausfallen musste. Womit aber wohl doch niemand gerechnet hatte: Keine einzige zwischen Tijuana und Ushuaia erzählte Geschichte schaffte es dieses Mal in den Wettbewerb. Nur ein Film des Brasilianers Wagner Moura läuft dort – dieser allerdings außer Konkurrenz. Auch Afrika geht leer aus. Insgesamt sind 16 der 23 ausgewählten Filme Produktionen oder Koproduktionen aus Europa (davon allein 11 aus Deutschland oder Frankreich), drei weitere Filme kommen aus Kanada und den USA. So hat das mediale Aushängeschild der Berlinale dieses Mal leider einen eurozentristischen Beigeschmack, der aus Perspek- tive des globalen Südens enttäuschend ist (übrigens im gleichen Jahr, in dem im Herzen Berlins das wegen mangelnder Sensibilität für die koloniale Geschichte seiner ethnologischen Sammlungen kritisierte Humboldtforum eröffnet werden soll). Spielten hier nach den zahlreichen Auszeichnungen für die cineastischen Beiträge des Subkontinents im letzten Jahr politische Gründe eine Rolle? Wie auch immer, für den Abschied Dieter Kosslicks – der langjährige Direktor verantwortet das Festival nun zum letzten Mal – hätten sich lateinamerikaaffine Kinofans sicher etwas anderes gewünscht.

Breve historia del planeta verde: Eine Trans*frau macht eine außerirdische Begegnung (Foto: Santiago Loza)

Die gute Nachricht: Trotz des Ungleichgewichts im Wettbewerb gibt es mit bis Redaktionsschluss 21 neuen Lang- und elf Kurzfilmen insgesamt viele lateinamerikanische Filme zu sehen. Sie konzentrieren sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sektionen Panorama, Forum und Generation. Dabei ist Brasilien das mit Abstand am meisten gezeigte Land. Während aus Südamerika sonst nur Argentinien, Kolumbien, Peru und Chile als Schauplätze präsent sind, ist mit Costa Rica und Guatemala erfreulicherweise Mittelamerika wieder besser als zuletzt vertreten. Auch die Karibik ist mit Beiträgen aus der Dominikanischen Republik sowie Kuba (nur in ausländischen Produktionen) dabei. Mexiko komplettiert (wenn auch nur in Kurzfilmen) den Länderreigen.

Je sechs Lang- und Kurzfilme aus Lateinamerika wurden von Frauen gedreht. An diesem Punkt kann man zumindest gewisse Bemühungen um ein Gleichgewicht feststellen, auch wenn immer noch Luft nach oben ist. Thematisch gibt es wieder ein breites Spektrum von sehr politischen Themen bis zu Familiengeschichten, von LGBT*-Protagonist*innen zu Evangelikalen, von Stadt zu Land, von filmischen Biografien bis hin zu Geschichten über Aliens. Nur auf den Glamour-Faktor in Form von großen Stars muss dieses Mal verzichtet werden. Eher ist das Gegenteil Programm: Mehrere interessante Debütfilme bekamen eine Chance, dokumentarische Formen bilden einen Schwerpunkt, dazu kommt die erwähnte große Zahl von Kurzfilmen. Hinsehen lohnt sich – spätestens auf den zweiten Blick dürfte für viele etwas dabei sein.

Marighella: Die Geschichte eines Revolutionärs (Foto: © O2 Filmes)

Fast alle lateinamerikanischen Filme feiern dieses Mal auf der Berlinale ihre Weltpremiere, daher können Besprechungen erst ab dem Zeitpunkt der ersten öffentlichen Aufführung veröffentlicht werden. In dieser Ausgabe gibt es deswegen nur einen Überblick.

Im Wettbewerb hält Marighella (BRA) die Fahne des Subkontinents hoch, eine unter dem Eindruck rechter Drohungen gedrehte Filmbiografie über den gleichnamigen brasilianischen Kommunisten und Revolutionär. Walter Moura erzählt die Geschichte jenes Mannes, der als Verfasser des Minihandbuchs des Stadtguerilleros international Einfluss etwa auf die Black Panther oder die RAF hatte und 1969 zur Zeit der Militärdiktatur von der politischen Polizei ermordet wurde.

Mit zehn Beiträgen finden sich die meisten Langfilme in der an gesellschaftlichen Themen orientierten Sektion Panorama, die sich dieses Jahr nach eigenem Bekunden mit „Zeiten des Ausbruchs“ beschäftigt.

Die kapitalismuskritische Dokumentation Estou me guardando para quando o carnaval chegar (BRA) erzählt vom Leben der von der Jeansindustrie abhängigen Menschen in der Stadt Toritama, für die der Karneval die einzige Entspannung ist.

Greta (BRA) zeigt ein queeres, generationenübergreifendes Brasilien. Ein älterer schwuler Krankenpfleger nimmt einen Patienten bei sich auf, während seine Nachbarin, eine erkrankte Trans*frau, Teil der Parallelgesellschaft ist. Um eine andere Trans*frau geht es in Breve historia del planeta verde (ARG/D/BRA/E): Als Tania erfährt, dass ihre Großmutter die letzten Lebensjahre in der liebevollen Gesellschaft eines Aliens verbracht hat, reist sie mit zwei Freund*innen durch das ländliche Argentinien, um die Kreatur an ihren Ursprungsort zurückzubringen. Mit Temblores (GUA/F/LUX) stellt Jayro Bustamante, der 2015 für Ixcanul einen silbernen Bären gewonnen hatte, seinen zweiten Film vor, der vom Coming-Out eines evangelikalen Familienvaters und den Folgen erzählt. Ebenfalls um das evangelikale Milieu geht es in Divino Amor (BRA/URU/CHI/DK/NOR/SWE): Joana, Mitglied in der Sekte dieses Namens, therapiert trennungswillige Paare durch ritualisierte Sexualakte mit ihr und ihrem Mann, ihre Beziehung und ihr Glaube leiden jedoch unter dem unerfüllten Kinderwunsch.

Monos: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen (Foto: Alejandro Landes)

La Arrancada (F) ist ein Porträt der Familie der kubanischen Leistungssportlerin Jenniffer und gleichzeitig das ihres Landes im Wandel. In Los miembros de la familia (ARG) kommen Geheimnisse eines Geschwisterpaares ans Licht, die aufgrund äußerer Umstände in einem verlassenen Haus festsitzen.

Monos (KOL/ARG/NL/D/DK/SWE/URU) befasst sich mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien: Eine Gruppe von acht jungen Rebellen bewacht eine Geisel in den kolumbianischen Bergen, als ein Zwischenfall mit ihrer Kuh eine Überlebensschlacht auslöst.

La fiera y la bestia (DOM/ARG/MEX) erinnert in Form eines traumwandlerischen Spielfilms an den ermordeten dominikanischen Filmemacher Jean-Louis Jorge. Und Joanna Reposi montiert in Lemebel (CHI/KOL) einen hypnotischen Bilderfluss zu ihrem Porträt des 2015 verstorbenen chilenischen Autors, Aktivisten und Performancekünstlers Pedro Lemebel.

Das Forum bleibt gemäß der Maxime „Risiko statt Perfektion“ seiner bekannten Experimentierfreudigkeit treu. In Antonella Sudasassis erstem Spielfilm El despertar de las hormigas (COR/E) geht es um weibliche Sexualität und Selbstbestimmung in einer lateinamerikanischen Gesellschaft. Das Leben der 30-jährigen Isabel orientiert sich an den Erwartungen ihrer Familie, sie beginnt jedoch langsam mehr an sich selbst zu denken. In Camila Freitas Debüt, dem Dokumentarfilm Chão (BRA), kämpfen Landarbeiter*innen mittels politischem Aktivismus für Land und die ökologische Bewirtschaftung der Erde. Lapü (KOL) dreht sich um das Ritual der zweiten Beerdigung bei den Wayuu, das für diese indigene Gruppe aus dem Norden Kolumbiens eine große Bedeutung hat. In Fern von uns (ARG) sehen wir die Geschichte der Wiederannäherung von Ramira an ihre Mutter, ihren dreijährigen Sohn und die Gemeinschaft deutschstämmiger Bauern im argentinischen Regenwald. Auf der anderen Seite der Grenze gibt Marcelo in Querência (BRA/D) in der brasilianischen Pampa nach einem Überfall seinen Job als Cowboy auf und findet als Ansager bei Rodeo-Shows ein neues Leben.

Vom 40-jährigen, HIV-positiven Marcelo aus São Paulo erfahren wir in A rosa azul de Novalis (BRA), dass er ein besonderes Verhältnis zu Büchern hat, insbesondere Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, aus dem er nackt und in ungewöhnlicher Leseposition vorträgt.

Als Bonus wird retrospektiv Nuestra voz de tierra, memoria y futuro aus dem Forums-Jahr 1982 gezeigt. Die Dokumentation des Kampfes eines indigenen Dorfes in Kolumbien um sein Land ist ein eindrückliches Werk des politischen Kinos.

Das Forum expanded steuert noch vier Kurzfilme bei: Fordlandia malaise berichtet von einer Fabrikstadt, die Henry Ford in den 1920ern in den Amazonasurwald bauen ließ, Parsi aus Argentinien schafft ein repetitives, virtuelles Gedicht, Vivir en junio con la lengua afuera ist eine Hommage an den kubanischen Autor und Dissidenten Reinaldo Arenas. Der Inhalt des brasilianischen O ensaio war bis Redaktionsschluss noch unbekannt.

By the Name of Tania: Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus (Foto: © Clin d’oeil Films)

In der Jugendfilm-Sektion Generation gibt es drei Dokumentationen zu sehen. Bei der hochaktuellen Arbeit Espero tua (re)volta (BRA) von Eliza Capai ist der Name Programm. Ausgehend von der sich zuspitzenden Sozialkrise in Brasilien, während der Schüler*innen im Kampf gegen Schulschließungen mehr als tausend öffentliche Gebäude besetzten, zeichnet sie Protestereignisse zwischen 2013 und der Wahl des rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro 2018 nach. By the name of Tania (BE/NL) konfrontiert uns mit dem Schicksal einer jungen Frau aus dem Amazonasgebiet Perus, die bei dem Versuch, der Enge ihres Heimatdorfs zu entkommen, in die Fänge der Zwangsprostitution gerät und dabei ihrer moralischen und physischen Integrität beraubt wird. Baracoa (CH/KOL/USA) gibt vor dem Hintergrund einer Gesellschaft im Wandel Einblicke in den privaten Kosmos einer kindlichen Freundschaft im ländlichen Kuba.

Los Ausentes: Musik für die Toten (Foto: José Lomas Hervert)

Vier Kurzfilme komplettieren das Generation-Programm: In der kolumbianischen Fabel El tamaño de las cosas steht die Größe von Dingen zu Wünschen in Beziehung, das Musiktrio eines mexikanischen Jungen muss in Los ausentes mit nur drei Songs Repertoire eine Totenwache bestreiten, und Mientras las olas handelt von der Bewältigung einer Identitätskrise. Der Inhalt von Los rugidos que alejan la tormenta war bei Redaktionsschluss noch unbekannt (beide Argentinien).

In der Rubrik Kulinarisches Kino sind im Dokumentarfilm Sembradoras de vida (PER) Bäuerinnen im Hochland von Peru zu sehen, die trotz Bedrohungen durch den Klimawandel an alten Traditionen festhalten. Der Kurzfilm La herencia del viento widmet sich der Verbundenheit eines mexikanischen Bauers mit der Natur.

Die Berlinale Shorts warten schließlich noch mit zwei Beiträgen auf: In Héctor erscheint ein geheimnisvolles androgynes Wesen bei Arbeitern in einer chilenischen Fischerbucht, und in Shakti will sich ein argentinischer Mann von seiner Freundin trennen, die ihm zuvorkommt.

 

LYRIK AUS LATEINAMERIKA

 

Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl

Riguichendú ca bacaanda’

Ti doo guipi’ xiñá’
gunaazeni bacaanda’
xti biidxi’
ni caguichendurú’
ndaani’ beeu.

Ne za xti’ gueela’
gunda bitiee’ beeu
ra dxá’ má beleguí.

Germinan los sueños

Un cordón umbilical rojo
atrapó el sueño
de una semilla
que germina
en el vientre de la luna.

Con nubes de noche
alcancé a trazar lunas
en el país de las estrellas.

Keimende Träume

Eine rote Nabelschnur
fing sich den Traum
eines Samenkorns
das im Schoß
der Mondin keimt.

Mit Nachtwolken
zeichnete ich Monde
im Sternenland.

 

KARAWANE DER HOFFNUNG

Grenzen überwinden Migrant*innen aus El Salvador an der Grenze von Tecún Umán in Guatemala (Foto: Caroline Narr)

Tagelang hatten Tausende Menschen auf der Brücke ausgeharrt, die die guatemaltekische Grenzstadt Tecún Umán mit Ciudad Hidalgo in Mexiko verbindet. Unter der sengenden Sonne hatte die Migrant*innenkarawane darauf gewartet, dass Mexiko die Grenze für sie öffnen würde. Am vierten Tag blieb sie weiterhin geschlossen – trotzdem war die Karawane da schon längst auf der anderen Seite und hatte ihren Weg gen Norden fortgesetzt. Statt auf das Einverständnis der Migrationsbehörden zu warten, haben sich die mehr als 5000 Migrant*innen einfach am Fuß der Brücke auf kleinen Flößen aus Holz und Gummireifen über den Fluss Suchiate übersetzen lassen. Nun warten rund 1000 von ihnen dicht gedrängt unter dem großen Pavillon auf dem zentralen Platz von Ciudad Hidalgo an der Südgrenze Mexikos. In zehn langen Reihen haben sich die Männer, Frauen und Kinder aufgestellt.

„Wer Ärger macht, den greifen wir uns raus“

Es ist schon Nachmittag: Als eine der letzten Gruppen der langen Karawane wollen sie endlich loslaufen. Aber alles muss seine Ordnung haben. „Wer Ärger macht, den greifen wir uns raus und übergeben ihn gleich der Grenzpolizei“, sagt Javier, ein stämmiger Mann mit dunklen Locken. „Das kommt manchmal vor, und wir wollen ja friedlich weitermarschieren.“ Ruhig und geordnet setzt sich der Zug in Bewegung und biegt auf die Landstraße nach Norden ein.

Wie die meisten Menschen, die mitlaufen, kommt auch Javier aus Honduras. Die Karawane ist ein Exodus der Ausgestoßenen. Denn in dem mittelamerikanischen Land gibt es keine Zukunft für sie. „Wir haben uns auf den Weg gemacht, weil wir ein besseres Leben wollen“, sagt er. Das konnte ihm Honduras, eines der ärmsten Länder Lateinamerikas und eines mit den höchsten Gewaltraten der Welt, nicht bieten. „Ich war Tagelöhner. Manchmal hatte ich einen Job, meistens aber nicht“, sagt Javier. „Deshalb habe ich mich entschieden zu gehen.“ Das war Mitte Oktober.

Am Anfang waren sie nur ein paar hundert. Mittlerweile sind es längst mehr als 5000 Menschen, die Richtung Norden marschieren – ruhig, friedlich, und alle mit einem Ziel: sie wollen in die USA. Guatemala hat sie schon durchgewunken, und auch die mexikanischen Behörden scheinen sich ihnen nicht mehr in den Weg zu stellen. Sie marschieren einfach weiter – zu ihrer eigenen Überraschung, und zum Ärger von US-Präsident Donald Trump, der damit gedroht hat, das Militär zu schicken, sollte die Karawane jemals die US-Grenze erreichen.

Drei Reihen hinter Javier läuft Joselyn, eine kleine Frau mit ernstem Blick. Sie hat ihr erst elf Monate altes Baby mit auf die beschwerliche Reise genommen. „Wir laufen hier alle gemeinsam und helfen uns gegenseitig“, sagt sie und deutet auf Javier, der ihre kleine Tochter im Arm hält. Auch die 28 Jahre alte Joselyn hofft auf ein besseres Leben in den USA. „Ich bin vor der Arbeitslosigkeit und Gewalt in Honduras geflüchtet“, sagt sie. „Und wenn man dann doch eine Arbeit hat, dann reicht die kaum zum Überleben.“

Kriminalität und Gewalt, fehlende Jobs, ein Leben ohne Hoffnung: Es sind immer wieder die gleichen Gründe, die die Menschen dazu bewogen haben, sich der Karawane anzuschließen. Und es ist ein Akt der Selbstermächtigung, weil die Migrant*innen nicht auf geheimen Wegen versuchen, in die USA einzureisen, sondern selbstbewusst ihr Recht auf Asyl einfordern. Dass sie dabei auch auf Hürden stoßen, scheint sie in ihrem Vorhaben nur zu bestärken.

„Kriminalität und Gewalt, fehlende Jobs, ein Leben ohne Hoffnung“

Während die erste Karawane sich noch auf kleinen Flößen über den Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko übersetzen ließ, um mexikanisches Territorium zu betreten, haben die folgenden Karawanen den Suchiate zu Fuß durchquert. Es ist ein beeindruckendes Bild: Eine Gruppe von mehreren Tausend Menschen, die durch das Wasser geht, um ihrem Traum von einem besseren Leben ein paar Schritte näherzukommen. Für Mauricio Ituarte ist das eher ein Albtraum: „Die Migranten müssen geordnet über die Brücke nach Mexiko einreisen, damit sie hier Asyl beantragen können“, sagt der grauhaarige Mann, der als mexikanischer Konsul in der guatemaltekischen Grenzstadt Tecún Umán arbeitet. „Das ist die einzige Möglichkeit für sie, legal ins Land zu kommen, denn es gibt in Mexiko kein Recht auf eine freie Durchreise für Migranten.“

De facto haben die Migrant*innen derzeit freie Durchreise, denn die mexikanische Polizei hat die Karawane bisher nicht aufgehalten. Die Polizist*innen stehen vielmehr freundlich lächelnd am Straßenrand und geben den Migrant*innen freies Geleit. Am Anfang hatte das noch ganz anders ausgesehen. An der Grenze waren mexikanische Sicherheitskräfte mit Tränengas gegen die Migrant*innen vorgegangen, die tagelang auf der engen Brücke zwischen Guatemala und Mexiko ausharrten.

Gerüchte über Abschiebungen nach legaler Einreise

„Die Menschen aus der Karawane befinden sich illegal in Mexiko“, sagt Konsul Ituarte. „Sie können jederzeit von den Migrationsbehörden aufgegriffen und in ihr Heimatland abgeschoben werden.“ Genau das ist aber auch die Angst, die die Menschen überhaupt erst dazu gebracht hat, die Grenze zwischen Guatemala und Mexiko auf eigene Faust zu überqueren, statt über die reguläre Grenze einzureisen. Denn immer wieder gibt es Gerüchte über die Männer, Frauen und Kinder, denen die mexikanischen Behörden das Tor öffneten und einen regulären Grenzübertritt ermöglichten. Sie sollen, so erzählen es sich die Menschen in der Karawane, längst wieder nach Honduras abgeschoben worden sein. Handfeste Beweise gibt es dafür allerdings nicht, und alles deutet darauf hin, dass die Menschen, die in Mexiko Asyl beantragt haben, in Herbergen in Chiapas untergebracht worden sind.

Als die erste Karawane nach ihrem Grenzübertritt von Guatemala nach Mexiko weiter in die Kleinstadt Huixtla etwas nördlich von Tapachula zieht, stellt ihnen die Gemeinde ein großes, eingezäuntes Sportareal am Rande der Kleinstadt zur Verfügung. Aber am späten Abend sind die meisten trotzdem wieder dicht gedrängt auf dem Zócalo, dem zentralen Platz der Stadt. Sie nehmen lieber den Regen und die Enge in Kauf, solange sie nicht das Gefühl haben, eingesperrt zu sein. Chancenlos und den Verhältnissen ausgeliefert – dieses Gefühl kennen sie aus ihrer Heimat Honduras schließlich gut genug.

Die Angst vor der Abschiebung ist allgegenwärtig

Der Salvadorianer Alberto hat sich für den legalen Weg entschieden. Er ist nicht mit der Karawane durch den Fluss gegangen, sondern regulär über die Grenze nach Mexiko eingereist – und hat dort seinen Antrag auf Asyl gestellt. Ein paar Tage hat er in einem Auffanglager in Tapachula verbracht, nun sucht er zusammen mit anderen Migrant*innen nach einer Wohnung und einem Job in der Umgebung, um den Ausgang des Asylverfahrens abzuwarten. „Wir werden hier gut behandelt“, sagt Alberto. „Ich glaube, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“

Doch die große Mehrheit der Migrant*innen träumt von einem neuen Leben in den USA – und nicht im Nachbarland Mexiko, das zwar wirtschaftlich stabiler ist als seine südlichen Nachbarn, aber ein ähnliches Gewaltproblem hat wie Guatemala, El Salvador und Honduras.
Drei Wochen nach ihrem Aufbruch in Honduras sind die ersten Migrant*innen in Mexiko-Stadt angekommen, wo die Kommune riesige weiße Zelte in einem Sportstadion aufgestellt hat, um die mehr als 5000 Menschen unterzubringen. Drei Tage später sind nicht nur die Zelte, sondern auch die Zuschauerränge des Stadions gefüllt – dicht an dicht liegen die Menschen auf Isomatten, Pappkartons oder auf dem nackten Boden.

Hier, in der mexikanischen Hauptstadt, werden die Migrant*innen mit offenen Armen empfangen. Zahllose Freiwillige sind damit beschäftigt, Lebensmittel- und Kleiderspenden zu verteilen. Mittags spielt eine Mariachi-Band, die Migrant*innen dürfen sich kostenlos mit dem öffentlichen Nahverkehr durch Mexiko-Stadt bewegen.

In Mexiko-Stadt ist auch der Honduraner Bartolo Fuentes – der Mann, dem die honduranische Regierung vorwirft, die Migranten-Karawane organisiert zu haben. Fuentes, Journalist und früherer Abgeordneter der Oppositions-Partei Libre, bestreitet das. Er habe lediglich einige Whatsapp- und Facebook-Gruppen zusammengebracht, die schon den Wunsch hatten, in die USA zu migrieren. „Wenn man bedenkt, wie die Situation in Honduras ist, dann sind 5000 Menschen noch sehr wenig für eine solche Karawane“, sagt Fuentes.

Vor einer möglichen Eskalation der Situation bei ihrer Ankunft an der Grenze zu den USA scheint sich in der Karawane bisher niemand wirklich zu fürchten. Zu groß ist die Euphorie darüber, ohne größere Probleme bis in die mexikanische Hauptstadt vorgedrungen zu sein. Nun scheint alles möglich. Dass die Gründe für ihre Flucht – extreme Armut, Arbeitslosigkeit, selbst die Gewalt durch die Jugendbanden – in den USA nicht als Asylgrund anerkannt sind, tritt dabei in den Hintergrund. „Bei den vergangenen Wahlen vor einem Jahr hat die USA den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández unterstützt, obwohl dieser per Wahlbetrug im Amt bestätigt wurde“, sagt die 28-jährige Yamalí aus San Pedro Sula, die schon von Beginn an in der Karawane mitläuft. „Nun muss Trump die Konsequenzen tragen – und uns in sein Land hineinlassen.“ Die Migrant*innen in Mexiko-Stadt mögen müde sein und erschöpft nach dreieinhalb Wochen anstrengender Reise mit der Karawane, doch ihre Hoffnung auf ein besseres Leben ist ungebrochen.

PRÄSENZ ZEIGEN

Aldo presente! Leonel Gutiérrez Solana und Sofía de Robina in Stuttgart (Foto: ECCHR)

Es sei der größte Strafprozess im Kleinwaffenbereich, so Rechtsanwalt und Friedensaktivist Holger Rothbauer. Den Angeklagten werden mehr als ein Dutzend gewerbs- und bandenmäßige Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Außenhandelsgesetz vorgeworfen. Sie und ein in Mexiko wohnhafter Komplize waren mit dafür verantwortlich, dass in Deutschland hergestellte Sturmgewehre des Typs G36 in mexikanische Konfliktgebiete gelangten.

Mexikanische Behörden sind ebenso wie Politiker*innen und Militärangehörige in Geschäfte der organisierten Kriminalität verwickelt. Das Untersuchungsergebnis der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft lässt aber auch vier Jahre nach dem Geschehen dutzende Fragen offen. Unter anderem die große Frage nach dem Verbleib der 43 verschleppten Studenten. In der Kleinstadt Iguala im Bundesstaat Guerrerohatten hatten im Jahr 2014 Polizist*innen und Kriminelle das Feuer aus mindestens sieben Sturmgewehren der Marke Heckler & Koch, hergestellt im süddeutschen Oberndorf, eröffnet. (siehe LN 491, 497).

Nun hat sich Leonel, der Bruder des seitdem im Koma liegenden Aldo Gutiérrez Solana, im September auf den Weg nach Deutschland gemacht. Die Richter und Angeklagten in Stuttgart sollen durch seine Anwesenheit mit dem Schicksal seines Bruders konfrontiert werden. Über seine Erfahrungen spricht Gutiérrez Solana bei einer anschließenden Podiumsdiskussion in Berlin. Es sei wichtig gewesen, am Gericht zu erscheinen, obwohl die Familie nicht als Nebenklägerin zugelassen worden ist. Seine Anwesenheit sei wie ein „atmosphärischer Einschlag“ im Gerichtssaal gewesen, bewertet der Jurist Christian Schliemann vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) den Besuch von Gutiérrez Solana und der Menschenrechtlerin Sofía de Robina vor Gericht.

Angesprochen auf ihre Erwartungen in Hinblick auf den bevorstehenden Regierungswechsel in Mexiko äußert Sofía de Robina vom mexikanischen Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez A.C. die Hoffnung, dass die von Andrés Manuel López Obrador angekündigte Wahrheitskommission endlich Licht ins Dunkel des Falles bringt und ihre Arbeit endlich Aufwind erhält. Das Thema müsse den verantwortlichen Waffenkonzernen und politischen Gremien solange angekreidet werden, bis sich die Kontrolle von Rüstungsexporten ändere. Nur so könne garantiert werden, dass sich die Ereignisse von Iguala nicht wiederholten. Eine gerichtliche Entscheidung im Fall der ehemaligen Angestellten von Heckler & Koch wird in Stuttgart für den 25. Oktober erwartet.

HANDELSABKOMMEN NEU AUFGELEGT

Hüben und Drüben Was wird aus den Wirtschaftsbeziehungen zwischen Mexiko und USA? (Foto: Rey Perezoso CC BY-SA 2.0)

Donald Trump ist entschlossen die wirtschaftliche und militärische Dominanz der Vereinigten Staaten wieder herzustellen. In Bezug auf den internationalen Handel bedeut das die Revision von Handelsverträgen zur Durchsetzung nationaler Interessen. Während seines Wahlkampfes im Jahr 2016 versprach Trump die Kündigung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) und nannte es „den schlechtesten Deal aller Zeiten“.

Im November werden die Vereinigten Staaten Parlamentswahlen abhalten. Damit die republikanische Partei die legislative Mehrheit im Kongress nicht verliert, muss Trump den Wähler*­innen überzeugende Ergebnisse vorlegen. Die Wahl des linken Kandidaten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) zum neuen Präsidenten Mexikos hat US-Firmen dazu motiviert, auf den Abschluss der Verhandlungen mit dem – ideologisch verwandten – Team d  er noch amtierenden mexikanischen Regierung zu drängen. Beides führte dazu, dass die mexikanische Regierung von Peña Nieto und die Regierung der Vereinigten Staaten bereits Ende August ein neues Handelsabkommen abgeschlossen haben. Diesem ist in der Nacht zum 1. Oktober nun auch Kanada beigetreten. Nun heißt es USA-Mexiko-Kanada-Abkommen, kurz USMCA.

Nach mehr als einem Jahr Verhandlungen verkündete Trump im August aus dem Weißen Haus, „das größte Handelsabkommen aller Zeiten“ erreicht zu haben. Auf der Pressekonferenz wies er darauf hin, dass der Namen NAFTA verschwinden soll: „Wir werden den Namen loswerden, er hat eine schlechte Konnotation für uns, weil den Vereinigten Staaten seit vielen Jahren durch NAFTA schwer geschadet wurde. Wir sollten es das Handelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko nennen.“

Bilaterales Handelsverständnis, Rückkehr zur US-Hegemonie

In der neuen Vereinbarung wurde das Interesse des US-Präsidenten deutlich, die Beziehungen zu Mexiko durch bilaterale Verträge fortzuführen. Das würde es den Vereinigten Staaten ermöglichen, ihre dominante Position zu konsolidieren. Wie Senatorin Padierna von der Linkspartei Morena sagte: „Die von den Vereinigten Staaten unterzeichneten bilateralen Abkommen sollten ihre Hegemonie vor anderen Ländern bekräftigen.“ Dies ist scheinbar die aktuelle Strategie der US-Handelspolitik, welche die mexikanischen Handelsbeauftragten akzeptieren mussten, um die Unsicherheit angesichts der Drohungen einer Kündigung von NAFTA zu beenden. Der mexikanische Außenminister Videgaray behauptete: „Die Ungewissheit bezieht sich nicht mehr darauf, ob es Freihandel geben wird oder nicht, jetzt ist die Ungewissheit, ob der Deal trilateral oder bilateral wird.“ Selbstverständlich ist für Peña Nietos Regierungsvertreter*innen die Unterordnung gegenüber den Vereinigten Staaten kein großes Problem. Seit 1988 hat seine Partei, die PRI, im Bündnis mit der Mitte-Rechts-Partei PAN, das neoliberale Programm in Mexiko umgesetzt und damit dem globalen Norden einen Teil der Autonomie des Staates überlassen.

Während der dreizehnmonatigen Verhandlungen war Mexiko durch die Handelsdelegation von Präsident Peña Nieto vertreten, die von Außenminister Videgaray und Wirtschaftsminister Guajardo koordiniert wurde. Guajardo führte bereits die Neuverhandlung des Handelsabkommens mit der Europäischen Union, die Verhandlungen für die TPP (Trans-Pazifische Partnerschaft) und die neue Version TPP-1 (mit den verbliebenen elf TPP-Mitglieder ohne die Vereinigten Staaten) durch. In der letzten Phase der bilateralen Verhandlungen war jedoch auch ein Handelsbeauftragter von AMLO anwesend, Jesus Seade.

Arbeitsrechte und Energiesouveränität, ein möglicher Fortschritt

Bislang ist relativ wenig über das neue Abkommen bekannt, zum Teil weil die Verhandlungen mit Kanada weitergeführt werden sollen. Die wenigen Themen, die von der Presse veröffentlicht wurden, handeln hauptsächlich von der Auslaufklausel des Abkommens und von der Automobilindustrie. Darüber hinaus wurde in einigen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass Änderungen am ursprünglich vorgeschlagenen Energiekapitel vorgenommen wurden.

In Bezug auf die zeitliche Wirksamkeit wissen wir, dass Trump darauf bestanden hatte, die „Sunset-Klausel“ einzuführen. Es handelt sich dabei um eine Maßnahme, die eine Neuverhandlung oder andernfalls die Beendigung des Handelsvertrags alle fünf Jahre erzwingt. Dem hat das mexikanische Team bis zuletzt mit dem Argument widersprochen, dass diese Klausel langfristige Investitionen behindern würde. Schließlich wurde eine Revision des Vertrags alle sechs Jahre vereinbart und eine Gültigkeit von 16 Jahren, welche verlängert werden kann.

In Bezug auf die Produktion und den Automobilhandel müssen derzeit im NAFTA 62,5 Prozent aus nordamerikanischer Fertigung stammen, damit Autos zollfrei exportiert werden können. In dem neuen Abkommen müssen Autos eine regionale Produktion von 75 Prozent haben. Ein weiterer Aspekt der Vereinbarung besagt, dass zwischen 40 und 45 Prozent jedes Exportautos von Arbeitnehmern*innen mit Gehältern von nicht weniger als 16 US-Dollar pro Stunde produziert werden müssen. Wird den Arbeiter*innen weniger bezahlt, entstehen Zollgebühren von 2,5 Prozent. Da die Überausbeutung der Arbeitskräfte, also deren Entlohnung unter dem Wert ihrer Arbeitskraft, einer der komparativen Vorteile Lateinamerikas gewesen ist, wird es für transnationale Automobilkonzerne höchstwahrscheinlich profitabler sein, einen solchen Tarif zu bezahlen, als die Löhne für die Arbeiter*innen zu erhöhen.

In den Vereinbarungen über die Automobilindustrie hat sich Mexiko jedoch verpflichtet, die Arbeitsrechte zu stärken und die ILO-Konvention 98 über freie Gewerkschaften und Tarifverhandlungen zu ratifizieren. „Unabhängige mexikanische Gewerkschaften und internationale Gewerkschaftsverbände kämpfen bereits seit Jahrzehnten gegen die Verletzungen internationaler Arbeitsnormen in Mexiko. Die vielen Verstöße gegen die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Tarifverhandlungen standen dabei bisher im Mittelpunkt. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Mexiko von den acht Kernarbeitsnormen der ILO die sehr bedeutsame Konvention 98 über das Recht auf Tarifverhandlungen bisher nicht ratifizierte.“ Dies stellte bereits eine Studie des FDCL (Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile und Lateinamerika) über die Neuverhandlung des EU-Handelsabkommens mit Mexiko fest. Diese systematischen Verletzungen haben die Existenz von „Arbeitgeberschutzverträgen” normalisiert. Diese werden von Gewerkschaften hinter dem Rücken der Beschäftigten mit dem Unternehmen geschlossen. Sie dienen in der Praxis als komparativer Vorteil gegenüber anderen peripheren Ländern und sollen Investitionen fördern.

Die Regelungen zum Investor-Staat-Schiedsverfahren wurden geändert

Im Zusammenhang mit dem neuen Abkommen ratifizierte die legislative Mehrheit der linken Partei Morena im Kongress am 20. September die ILO-Konvention 98. Gesetzgeber*innen der Partei Morena erklärten, dass die Ratifizierung des Abkommens „die Arbeitgeberschutzverträge beendet“, wie die Wochenzeitung Proceso schreibt. Die Herausforderung für die neue linke Regierung wird es sein, die Erfüllung dieser Arbeitsnormen zu garantieren und nicht wie frühere Regierungen ratifizierte Menschenrechtskonventionen Lippenbekenntnisse bleiben zu lassen.

Nach Berichten von Proceso waren die Vereinbarungen zum Energiekapitel die zuletzt getroffenen. Die Verhandlungen dazu wurden jedoch nicht von Vertreter*innen der derzeitigen Regierung von Peña Nieto geführt, sondern zwischen dem US-Handelsbeauftragten Lighthizer und dem Handelsbeauftragten der künftigen Regierung von AMLO. Das Ergebnis besteht darin, den Umfang des Investor-Staat-Schiedsverfahrens in Energiefragen zu verringern und die Entscheidungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen. Laut den Dokumenten von Proceso werden die transnationalen Konzerne vor Enteignung geschützt, aber wenn ein Konzern „aus bestimmten Gründen die Vereinbarung nicht einhält, hat der Staat das unwiderrufliche Recht, den Vertrag zu kündigen“.

Das Wall Street Journal bestätigt anscheinend die von Proceso veröffentlichten Informationen, es weist in einem Leitartikel vom 28. August darauf hin, dass das neue bilaterale Abkommen den Schutz der Investorenrechte bei der Öl-, Gas- und Stromerzeugung zurückgesetzt habe. Bei dem neuen Abkommen werden sie nur vor physischer Enteignung geschützt, können aber den Staat im Falle einer gerechtfertigten Kündigung eines Vertrags oder wegen Verfassungsänderungen nicht mehr wegen indirekter Enteignung verklagen.

Bisher wurden keine Informationen offiziell bestätigt. Der gewählte Präsident AMLO erklärte jedoch, dass in den Verhandlungen des neuen Handelsabkommens mit den Vereinigten Staaten „unsere Souveränität in Energieangelegenheiten gewahrt sei. Mexiko behält sich das Recht vor, seine Verfassung und seine Gesetze in Energiefragen zu reformieren, und es wurde festgestellt, dass das Öl und die natürlichen Ressourcen des Landes unserem Land gehören. Das wurde im Vertragsentwurf, im Abkommen sehr deutlich festgestellt“, berichtet die Tageszeitung Jornada.

Die künftige Wirtschaftsministerin des AMLO-Kabinetts Graciela Márquez Colín, die den derzeitigen Minister Guajardo ersetzen wird, äußerte sich zur Einstellung der neuen Regierung Mexikos gegenüber Handelsabkommen: „Freihandelsabkommen sollten nicht die Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung für Mexiko sein, diese Vision war einer der Fehler der Vergangenheit“, berichtet Jornada.

Aktuell ist es Trump gelungen, eines seiner Kampagnenziele zu erreichen. Er hat NAFTA gekündigt – beziehungsweise den Namen geändert – und dadurch den angeblich unlauteren Wettbewerb gegenüber amerikanischer Arbeiter*innen aufgrund niedriger Löhne beendet. So zumindest wird er es in der nächsten Wahlperiode seiner Basis darstellen. Peña Nieto versuchte sich hauptsächlich an der Eindämmung der Wechselkurs­schwankungen und der Marktunsicherheit. AMLO seinerseits scheint die mexikanische Vereinbarung zur Ratifizierung des ILO-Konvention 98 zur Bekämpfung von Arbeitgeberschutzverträgen genutzt zu haben. Deren Umsetzung wird eine große Herausforderung für Luisa María Alcalde, der künftigen Arbeitsministerin der AMLO-Regierung. Darüber hinaus deutet alles darauf hin, dass der linke Politiker gegenüber den transnationalen Konzernen im Energiesektor einen kleinen Handlungsspielraum erobert hat. Die neue mexikanische Regierung scheint entschlossen, die Autonomie des Staates, angesichts asymmetrischer Kräfteverhältnis zwischen dem Norden und dem globalen Süden, gänzlich wiederherzustellen.

UNKLARES PROFIL

John Ackermann ist Juraprofessor, Kolumnist und enger Berater des neuen Präsidenten (Foto: Aline Juárez Contreras)

Seit dem Wahlsieg im Juli konzentriert sich die Medienberichterstattung im In- und Ausland vor allem auf den zukünftigen Präsidenten AMLO. Die Wahl gewann er allerdings nicht alleine, sondern mit der von ihm 2014 gegründeten Partei Morena. Wie wichtig ist diese Plattform?

Auf jeden Fall identifizieren sich die Leute mit AMLO, aber natürlich stimmen sie nicht nur für einen Politiker, sondern auch für eine Partei. Und Morena hat neben dem Präsidentschaftsamt beide Kammern des Parlaments und vier Gouverneursposten auf regionaler Ebene gewonnen. Am 1. Juli haben die Leute nicht nur die Person López Obrador, sondern die Idee eines anderen, eines möglichen Mexiko gewählt, die er verkörpert. Und dabei hat Morena, als eine Partei neuen Typs, eine große Rolle gespielt.

Was meinen Sie mit „Partei neuen Typs“?

Morena entstand als Antwort auf die gescheiterte neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre und reiht sich damit in die lange Reihe von progressiven Gruppierungen in Lateinamerika ein, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Wir in Mexiko sind einfach sehr spät dran, dennoch gehört Morena zu diesem Zyklus der linken Transformationen. Morena steht für das Scheitern des neoliberalen Wirtschaftsmodells und das Versagen der etablierten Parteien. Dazu zählt auch der Kollaps der alten sozialdemokratischen Parteien. In Mexiko ist das mit der Partei der demokratischen Revolution (PRD) passiert, für die AMLO 2006 noch antrat und die jetzt nach den Wahlen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Die linke Leerstelle im Parteiensystem hat Morena besetzt.

Was hat die sozialdemokratische PRD falsch gemacht?

Morena wurde notwendig, weil die PRD sich auf Initiative des noch amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto nach dessen Wahlsieg 2012 mit den herrschenden konservativen Eliten verbündete. Im sogenannten Pakt für Mexiko wurde die PRD in das Herrschaftsbündnis zwischen der ehemaligen Staatspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) und der konservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) eingebunden und trug in den Folgejahren alle neoliberalen und repressiven Reformen mit. Ein Verrat an der Linken.
Angesichts dessen wurde Morena von einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die bereits 2011 entstanden war, um AMLOs Wahlkampf zu unterstützen, zur neuen linken Partei aufgebaut. Die progressiven Teile der PRD schlossen sich diesem neuen Projekt schnell an, vor allem die, die stark in den sozialen Bewegungen verankert sind. Und auch für viele Millenials wurde Morena aufgrund der Authentizität und den Möglichkeiten zum Mitmachen attraktiv, was sich bei den Wahlen in den riesigen Erfolgen Morenas bei jungen Wähler*innen gezeigt hat.

Wenn Morena erst durch den Pakt der PRI mit der Rechten möglich wurde, warum hat sich AMLO dann selbst, bereits während des Wahlkampfes, dafür eingesetzt, möglichst viele konservative Politiker*innen aus PRI und PAN in sein politisches Projekt zu integrieren?

Das ist äußerst komplex. Auf der einen Seite muss man das Ganze als Versuch betrachten, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Das ist nichts Neues und in der derzeitigen Situation Mexikos auch unbedingt notwendig. Zudem versuchen frisch gewählte Präsidenten in Mexiko immer, ihre politischen Rivalen in ihr Regierungsprojekt zu integrieren. Der Unterschied zum Pakt von Mexiko von Peña Nieto ist, dass AMLO eben schon vor den Wahlen mit offenen Karten gespielt hat, um eine Regierung der nationalen Einheit zu forcieren. Allerdings schließt er sich eben nicht den Neoliberalen und den Konservativen an, sondern die sich ihm – und genau da liegt der Unterschied. Zudem hat AMLO dies alles mit extremem sozialen Rückhalt gemacht. Viele Leute vertrauen da seiner Einschätzung.

Wofür stehen die Partei Morena und der künftige Präsident dann konkret?

Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Morena ist ein plurales Gemisch verschiedener Positionen. Um das zu verstehen, muss man nur die Siegesrede von AMLO am Wahlabend im Hotel Sheraton mit seiner Rede im Stadion Azteca vergleichen, die er wenige Tage vor dem Wahltag hielt. Bei zweiterer verortete er sich klar links und setzte seine Kandidatur in eine lange Reihe sozialer Kämpfe seit der mexikanischen Revolution von 1910. Ein paar Tage später gewinnt er die Wahl und nutzt seine Siegesrede, um eine Nachricht an die Banken und den Finanzsektor zu senden, wonach diese durch seine Präsidentschaft nichts zu befürchten hätten. Er trägt also diesen Widerspruch in sich. Er ist pro-Business, aber aus einer links-nationalistischen Grundhaltung heraus.

Angesichts dieser ideologischen Beliebigkeit des künftigen Kabinetts, in dem viele ehemalige Politiker*innen der PRI und der PAN vertreten sind: Muss Morena da als Korrektiv von links auf AMLO einwirken?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen Regierung und Partei. Und je offener die Regierung nach rechts wird, umso mehr muss Morena als Gegengewicht dazu agieren.

Kann das gelingen? Morena ist bisher ja nicht gerade mit einer lebendigen internen Debattenkultur aufgefallen. Der Fokus lag doch eher darauf, die Wahlen zu gewinnen und AMLO in den Präsidentenpalast zu hieven.

Die Partei als solche ist wie ein Kind, das erst vier Jahre alt ist und plötzlich einen Schwertransporter steuern muss. Es scheint zunächst unmöglich, aber wie kann es trotzdem gelingen? Die erste Möglichkeit wäre schlicht und einfach zu sagen: „Lassen wir einfach die weiter fahren, die das Ding auch die vergangenen Jahre schon gesteuert haben, die wissen schon, was sie tun.“ Dann wird Morena eine ganz „moderne“ und „institutionelle“ Partei und alles bleibt beim Alten. Die zweite Option ist, dass Morena zu einem Konglomerat beliebiger politischer Kräfte wird, dass AMLO zu Dienste steht. Die dritte und einzig sinnvolle Lösung für das Problem ist, aus Morena eine wirkliche Massenpartei mit partizipativen Strukturen und einer demokratischen Kultur zu machen. Darauf hoffe ich. Ob das gelingen kann? Ich weiß es nicht.

Schwierig dürfte es auf jeden Fall werden. Denn es gibt viele Stimmen, die davor warnen, dass Morena nach dem überwältigenden Wahlerfolg und der daraus resultierenden enormen Machtfülle anfällig für Korruption und Klientelismus sein könnte. Besteht die Gefahr, dass Morena in die gleichen Muster wie die Vorgängerregierungen verfällt?

Ja, diese Gefahr besteht zweifelsohne. Durch den Wahlsieg gibt es jetzt viel Geld und unzählige Posten in der Partei. Und in den vergangenen Monaten haben sich eben viele Leute aus anderen politischen Lagern der Partei angeschlossen, weil sie wussten, dass AMLO die Wahl gewinnen würde. Und viele von denen wollen weitermachen wie bisher.
Daher hat sich eine Gruppe von linken Intellektuellen um den Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II und den Historiker Enrique Dussel zusammengefunden, zu der auch ich gehöre, die eine Parteischule aufbauen will, in der Mitglieder von Morena politisch ausgebildet werden sollen, um die partizipative Komponente der Partei zu stärken. Damit soll vor allem auch die interne Debattenkultur gestärkt werden. Bisher gab es noch keine einzige nennenswerte innerparteiliche Auseinandersetzung. Gleichzeitig gibt es den Wunsch von vielen Aktiven, sich einzubringen und Strategien und Aktionen auch kontrovers zu diskutieren. Das soll ermöglicht werden, jedoch ohne Chaos zu kreieren. Uns geht es darum, eine demokratische Kultur zu etablieren, durch die der Transformationsprozess von unten mitgestaltet werden kann.

Dennoch gab es schon den ersten vermeintlichen Skandal für Morena. Zwei Wochen nach der Wahl verhängte das Nationale Wahlinstitut (INE) eine Millionenstrafe gegen Morena, weil die Partei mutmaßlich einen Fonds für Edrbebenopfer als illegale Parteienfinanzierung genutzt haben soll. Der erste Schritt in Richtung korrupte Staatspartei?

Nein, auf gar keinen Fall. Diese Strafe ist schlicht und ergreifend die Rache des Systems. Im elfköpfigen Gremium, das die Strafe ausgesprochen hat, sitzen mehrere Personen, die einen öffentlich gehegten Hass auf AMLO haben. Sie wollten ihm einfach die Party verderben. Diese angeblich illegale Parteienfinanzierung wollten sie im Falle eines knappen Wahlausgangs dazu nutzen, um seinen Wahlsieg zu annullieren. Allerdings gewann er so klar, dass sie das nicht machen konnten. Also entschieden sie sich dafür diese Situation auszunutzen, um ihm eins reinzuwürgen. Das Geld, das von Parteimitgliedern und auch von AMLO für den Fonds gespendet wurde, kam einzig und allein den Erdbebenopfern zu Gute. Morena hat das Recht, als Partei auch humanitäre Hilfe zu organisieren.

Wurde das aber nicht vielleicht genutzt, um von vom Erdbeben betroffenen Menschen im Austausch für Hilfsleistungen Stimmen für Morena und AMLO zu verlangen?

Das ist nicht passiert und das wirft das INE Morena auch gar nicht vor. Es geht nur darum, dass der Fonds nicht beim INE angemeldet wurde und das Geld bar ausgezahlt wurde. Dabei müssen Parteien gar keine Fonds anmelden, die nicht ihrer Finanzierung dienen. Und die Auszahlungen in bar haben einfach damit zu tun, dass viele der Erdbebenopfer ohnehin schon sehr arm und marginalisiert sind und daher keine Bankkonten haben. Es wurden jedoch alle Auszahlungen registriert, was wohl nicht passiert wäre, wenn man das Geld eigentlich heimlich für Wahlkampf- und Parteizwecke hätte verwenden wollen. Das INE hat nicht einmal seine Untersuchungen vernünftig abgeschlossen. Sie haben einfach gewartet, bis sie irgendetwas fabrizieren konnten und es dann der Presse zugespielt, um einen fiktiven Skandal zu verursachen.

Die Zapatist*innen stehen der künftigen Regierung AMLOs genauso unversöhnlich gegenüber wie den vorherigen. Und mit der unabhängigen Kandidatur von Marichuy stellte sich der Indigene Nationalkongress (CNI) klar gegen AMLOs Regierungsprojekt. Kann man da von einer linken Opposition sprechen?

Zunächst einmal ist die zapatistische Bewegung national von sehr geringer Bedeutung. Vielleicht haben sie international noch mehr Anhänger*innen, hier in Mexiko sind sie jedenfalls trotz ihrer wichtigen Impulse der 1990er-Jahre keine wichtige Stimme der Linken mehr. Gleichzeitig sind die indigenen Kämpfe um Autonomie und für den Erhalt der Umwelt lebendiger denn je. Allerdings haben aus meiner Sicht die meisten organisierten indigenen Gruppen für AMLO gestimmt und stehen seinem Projekt positiv gegenüber. In Oaxaca etwa, dem Bundesstaat mit der höchsten Quote indigener Bevölkerung, hat AMLO haushoch gewonnen. Daher glaube ich, kann man für den Moment noch nicht von einer wirklichen linken Opposition gegen die künftige Regierung sprechen. Die kann aber entstehen, je nachdem wie die Dinge nach AMLOs Amtsantritt laufen.

Wird es nicht spätestens bei der Umsetzung von AMLOs ehrgeizigen Infrastrukturprojekten, von denen viele indigene Territorien betreffen, zu Konflikten zwischen seiner Regierung und den indigenen Bewegungen kommen?

Da wird es wohl zu Widersprüchen kommen. Es kann gut sein, dass AMLOs Versprechen an Mexikos Unternehmerklasse irgendwann mit seinen Verpflichtungen gegenüber der indigenen Bevölkerung kollidieren. Allerdings sollen solche Projekte an Tischen ausgehandelt werden, an denen alle drei Gruppen Platz und eine Stimme haben: der öffentliche, der private und der soziale Sektor.
Auf jeden Fall werden diese Projekte eine Art Bewährungsprobe. Aber ich denke nicht, dass ein großer Knall dabei unvermeidlich ist. Diese organisierten Gruppen sind zwar oft sehr radikal, allerdings auch sehr pragmatisch. Sollte es Vorteile für die von ihnen vertretene lokale Bevölkerung geben, werden sie auf jeden Fall Interesse an Verhandlungen mit der Regierung haben. Zudem hat AMLO ein sensibles Gespür für solche Situationen. Es wird zwar nicht leicht, aber ich denke, dass zumeist das Gefühl überwiegen wird, dass wir alle im selben Boot sitzen und das Beste für Mexiko wollen.

Bei aller Ungewissheit, was die nächsten sechs Jahre bringen werden, die Wahl von AMLO war historisch. Was ist für Sie das Wichtigste an diesem Wandel?

Mexiko wird ab dem 1. Dezember einen Präsidenten haben, der der Bevölkerung zuhört. Das ist ein radikaler Wandel und schon allein deshalb war der Wahlsieg von AMLO und Morena ein Meilenstein. Endlich werden wir eine Regierung haben, die sich nicht mehr blind den Interessen von Washington und internationaler Geldgeber unterwirft. Viele von uns hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. In ganz Lateinamerika kamen linke Regierungen an die Macht und nur hier sollte das nie passieren? Jetzt haben wir eine historische Möglichkeit, die wir ergreifen sollten.

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