„ICH GLAUBE, WIR SIND AUF EINEM GUTEN WEG“

Wo steht der Friedensprozess mit der Farc-Guerilla?
Das Abkommen mit der Farc ist nicht nur das Ende eines Krieges und die Abgabe von Waffen. Das Abkommen ist die Weichenstellung für einen sozialen Wandel in Kolumbien. Deswegen ist einerseits der fünfte Punkt, der die politische Partizipation regelt und über den aktuell sehr viel diskutiert wird, wichtig. Aber auch alle anderen Punkte sind entscheidend: Im gleichen Maße, wie etwa die Übergangsjustiz voranschreitet, muss auch die ländliche Entwicklung vorangetrieben werden – denn dort sind die meisten Opfer des Konfliktes. Die Kleinbauern müssen spüren, dass ihnen dieser Frieden etwas bringt. Die demobilisierten Rebellen müssen spüren, dass ihnen der Frieden etwas bringt. Gleichzeitig sehen wir jedoch in allen fünf Punkten des Abkommens wichtige Fortschritte. Der beste Beweis sind die vergangenen Präsidentschaftswahlen: Noch nie waren Wahlen in Kolumbien so friedlich, noch nie hatte ein linker Kandidat eine reale Chance. Bis dato beschäftigte uns bei Wahlen in erster Linie die öffentliche Sicherheit, und erst dann das Wahlergebnis. Sonst gab es rund um die Wahlen stets massive Drohungen, irgendwer hatte irgendwen entführt, irgendwelche illegalen Akteure hatten irgendein Wahllokal besetzt. Dass wir in Frieden wählen konnten und eine demokratische Wahl zwischen zwei entgegengesetzten Politikströmungen hatten, ist der beste Beweis dafür, dass der Friedensprozess voranschreitet.

Der frisch gewählte Präsident Iván Duque kritisiert vor allem die Übergangsjustiz (JEP), die eine weitgehende Amnestie im Austausch für die Aufklärung und Reparation begangener Taten garantieren soll, und die politische Beteiligung ehemaliger Farc-Kommandanten. Was halten Sie von der Kritik?
Es gibt eine Entscheidung des Verfassungsgerichtes, die regelt, wie die politische Beteiligung der ehemaligen Guerilleros aussehen soll. Die Möglichkeit, an der Politik mitzuwirken, ist der direkte Ausgleich dafür, dass die Personen ihre Waffen niederlegen und die Illegalität verlassen. Natürlich ist dieser Vorgang auch an bestimmte Bedingungen geknüpft, etwa die vollständige Aufklärung begangener Taten und die Reparation der Opfer. Die Debatte ist nicht unwichtig, weil die politische Beteiligung für die Anführer der Farc die Essenz des Friedensabkommens ist. Niemand legt seine Waffen nieder, wenn er dann ins Gefängnis kommt. Der Deal war: Die Farc hört auf zu versuchen, die Macht im Staat mit Waffen zu übernehmen, sondern begibt sich stattdessen auf das politische Schlachtfeld der Demokratie.

Was sind die bisherigen Erfolge des Friedensprozesses?
Der geplante Zeitrahmen für die Implementierung des Friedensprozesses beträgt 15 Jahre. Auch wenn wir uns wünschen würden, dass es schneller geht: Wenn wir das geplante Zeitfenster betrachten, kommen wir gut voran. In Punkto Erfolge: Es gibt einen realen Einfluss auf die Menschenrechte. In allen Menschenrechtsverletzungen, die in Kolumbien notorisch sind – Verschwindenlassen, Entführungen, Massaker, die Machtübernahme in Gemeinden – sind die Zahlen heute so niedrig wie noch nie. Es gibt Studien unabhängiger Organisationen die zeigen: Durch den Friedensprozess sind heute etwa 4.000 Menschen am Leben, die ohne den Prozess getötet worden wären. Und das wichtigste ist: Es gibt heute ein Kolumbien, das viel weniger Angst hat als vorher. Wir haben etwas naiv geglaubt, dass wir mit dem Friedensprozess sofort in einen Zustand der Harmonie übergehen würden. Dafür sind die Herausforderungen nach einem 53 Jahre währenden Binnenkonflikt zu groß. Aber ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg.

Was sind die Herausforderungen, vor denen der Friedensprozess aktuell steht?
Es gibt aktuell vor allem punktuelle Schwierigkeiten in einigen Regionen, insbesondere der Pazifikregion und im Catatumbo an der Grenze zu Venezuela. In diesen Gebieten kämpfen verschiedene bewaffnete Akteure um die Vormacht, parallel spielen der Drogenhandel und der illegale Bergbau eine Rolle. Das Ausmaß der Gewalt ist viel niedriger als früher, aber dennoch bedrohen diese Situationen den Friedensprozess. Andererseits: Wenn wir den Verlauf des Prozesses mit Vorgängen in anderen Ländern vergleichen, sind diese Probleme nicht ungewöhnlich. Gerade in einem Land wie Kolumbien, das sehr ungleich ist, wo extremer Reichtum und extreme Armut aufeinander treffen, ist es nicht überraschend, dass uns die Umsetzung des Friedensabkommens vor Herausforderungen dieser Art stellt.

Inwiefern beeinflusst die Wahl von Iván Duque, der als Kritiker des Abkommens bekannt ist und bereits „Korrekturen“ ankündigte, den Friedensprozess?
Unzählige Gesetze wurden bereits verabschiedet, sehr viele Programme laufen bereits – es wäre sehr schwierig, diese Prozesse umzukehren. Ein Regierungswechsel kann diese Dynamiken nicht aufhalten. Einerseits, weil das juristisch gar nicht möglich ist – aber auch, weil es eine sehr aktive Zivilgesellschaft gibt, die sich sehr engagiert für den Prozess einsetzt. Außerdem hat Kolumbien eine Reihe nationaler und internationaler Verpflichtungen zu erfüllen und steht einer internationalen Gemeinschaft gegenüber, die den Friedensprozess deutlich unterstützt. Was mich beruhigt, ist, dass etwa der Kongress, auch wenn eine … sagen wir eher konservative Partei [das Centro Democrático von Álvaro Uribe, Anm.d.Red.] die Mehrheit hat, seit den Wahlen im März einen deutlichen Einsatz für die Opfer des Konfliktes gezeigt hat. Und auch der neue Präsident hat bereits verkündet, sich für die Opfer und die Reintegration der ehemaligen Rebellen einsetzen zu wollen. Ich denke und hoffe, der Friedensprozess wird weitergehen – auch wenn die Prioritäten sich vielleicht verschieben.

Iván Duque hat auch verkündet, die Gespräche mit der ELN-Guerilla aufzukündigen, sofern diese nicht eine Reihe unrealistischer Bedingungen erfüllt…
Zwei Dinge finde ich besonders interessant: Einerseits die Nachricht des Farc-Vorsitzenden Timochenko an Duque, der deutlich erklärt hat, den Prozess mit der neuen Regierung fortsetzen zu wollen und die demokratische Wahl zu akzeptieren. Diese Nachricht hat eine symbolische, aber auch eine politische Macht und sagt deutlich: „Arbeiten wir zusammen!“
Andererseits hat auch die Führung der ELN deutlich gemacht, dass sie die Friedensgespräche fortsetzen wollen. Das ist eine gute Nachricht, denn sie hätten auch das Gegenteil verkünden können. Ich glaube, viele Punkte, die Duque in der Kampagne versprochen hat, wurden eben in der Kampagne versprochen. Wie viel er davon wirklich umsetzen will, wird sich erst in einigen Monaten zeigen. Ich denke, er wird abwarten. Die Gespräche mit der ELN in Havanna gehen gut voran, eine Einigung auf einen Waffenstillstand ist nicht mehr weit entfernt. Die ELN legt viel Wert auf einen Prozess, der die Zivilgesellschaft mit einbezieht – und hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass sie ein Interesse an der Fortführung der Gespräche hat. Und die Verhandlungen sind wichtig: Ein Abkommen mit der ELN ist das, was zum Frieden fehlt. Die Guerilla hat einige ehemalige Einflussgebiete der Farc übernommen und versucht dort, ihre Macht auszubauen. Solange diese Situation nicht geklärt ist, werden einige Teile Kolumbiens keinen Frieden erleben.

Wie erklären Sie sich die Polarisierung in der Bevölkerung insbesondere rund um das Friedensabkommen mit der Farc?
Es gibt fünf Punkte, die zentral sind. Erstens, ein Friedensprozess, der methodisch so angelegt war, dass er weit weg von Kolumbien stattfand und größtenteils geheim ablief. Der Prozess war daher oft sehr weit von der Realität in Kolumbien entfernt – und andersherum. Zweitens, ein sehr langer Konflikt mit entsetzlichen Auswirkungen auf die Menschenrechte. Die Farc sind wesentlich für diese Grausamkeiten verantwortlich. Wir reden von einem Land, in dem die Bevölkerung in den Städten den Konflikt am Fernseher erlebte und die Farc als Hauptkonfliktpartei identifizierte. Ein Kolumbien, das die Realität in dem anderen Kolumbien, in den Konfliktgebieten, nicht kannte und daher nur ein beschränktes Verständnis für den Konflikt als solchen entwickelte. Außerdem sind Fehler passiert: Die Farc haben zwar einige Opfergruppen besucht und ihre Verantwortung ihnen gegenüber anerkannt. Aber Kolumbien hat überzeugendere, eindrücklichere Nachrichten erwartet.
Viertens, das Thema Politik. Der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen begann im Grunde schon vor dem Referendum über den Friedensprozess. Und diese Kampagne war wesentlich für die Spaltung der Gesellschaft verantwortlich.
Außerdem glaube ich, dass sich in den vergangenen 53 Jahren viele Bilder in den Köpfen der Menschen entwickelt haben, die uns voneinander trennen. Die Reichen von den Armen, die Stadt von dem Land. Es ist eine Herausforderung, diese geteilten Welten wieder zu vereinen.

Wie bewerten Sie die Bedrohungen durch paramilitärische Gruppierungen und die Menschenrechtssituation auf dem Land, wo immer wieder Menschenrechtsaktivist*innen ermordet werden?
Der dritte Punkt im Friedensabkommen spricht von den Garantien für die Ausübung der Politik und der Verteidigung der Menschenrechte. Im vergangenen Jahr wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Paramilitarismus für alle Zeiten in Kolumbien verbietet. Das war vor allem ein symbolischer Akt, der die Kontrolle des Staates bestätigt und die Ausübung von Gewalt durch Privatpersonen untersagt. Zusätzlich gibt es einige Mechanismen, die bereits in Betrieb sind. Spezialeinheiten bei Staatsanwaltschaft und Polizei haben bereits deutliche Erfolge bei der Zerschlagung und strafrechtlichen Verfolgung dieser Strukturen erzielt – die sich statistisch belegen lassen. Eine Herausforderung ist der Drogenhandel, der den Konflikt befeuert und ausgelöscht werden muss. Der vierte Punkt des Friedensabkommens, der sich darauf bezieht, bedeutet eine wesentliche Änderung in unserem Kampf gegen Drogen: Wir wollen die Kokapflanzen durch legale Pflanzen ersetzen, was aber ein sehr langsamer Prozess gemeinsam mit den betroffenen Kleinbauern ist. Die Umsetzung und die damit verbundenen Garantien, etwa für Zugangswege und ökonomische Sicherheit, brauchen Zeit. Leider sind illegale Gruppen manchmal schneller und effizienter mit ihren Drohungen. Der Prozess muss daher an einen Punkt kommen, wo wir effizient sind in unserem Kampf gegen den Koka-Anbau und deutlich schneller voranschreiten.

Vor den Wahlen zeigten viele Organisationen der Opfer des Konfliktes sich besorgt über einen möglichen Wahlsieg Duques. Was sagen Sie diesen Opfern?
Dass sie die Hoffnung bewahren sollen. Der Staat wird immer der Staat sein und muss als solcher seine Verpflichtung als Garant der Menschenrechte erfüllen. Durch den Friedensprozess und nationale sowie internationale Abkommen sind wir an einem Punkt, wo der Staat bestimmte Rechte – etwa auf die Wahrheit, Gerechtigkeit, Reparation und Nicht-Wiederholung – garantieren muss. In Institutionen, die mit der Umsetzung des Friedensprozesses betraut sind, gibt es einen großen Willen, eine gute Arbeit zu leisten. Außerdem können wir auf eine Vielzahl von Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen vertrauen, die darauf achten, dass die Regierung ihre Aufgaben erfüllt.

„WIR MÜSSEN AM FRIEDEN FESTHALTEN“

Sie reisen als Menschenrechtlerin durch Europa, um auf die Probleme Ihrer Gemeinden aufmerksam zu machen. Was macht die Situation der Afrokolumbianer*innen in der Region Buenaventura aus?
Wir wohnen auf Grundstücken, die durch Landgewinnung aus dem Meer entstanden sind. Das ist ein Gebiet, das an unsere Wohngegend angrenzt und das wir durch eine traditionelle Praktik des Aufschüttens erobert haben, mithilfe von Bauschutt oder Müll. Das Gebiet macht 60 Prozent der Insel Buenaventura aus, der Ort ist die Kernregion für die Errichtung von Häfen in Buenaventura, 60 Prozent der Insel sind mithilfe der Aufschüttungstechnik entstanden. Es ist Teil unserer Landgüter, die wir nicht nur besetzt, sondern die wir mithilfe unserer Vorfahren mit unseren eigenen Händen gebaut haben. Die Regierung handelt im Sinne der Investoren, denn sie hat vor, diese Landgüter zu räumen. Dafür wird der bewaffnete Konflikt vorgeschoben oder die „Entwicklung“, um in der öffentlichen Politik einen Umsiedlungsprozess der Gemeinden durchzusetzen. Sie sagen, dass wir in einem hochgefährlichen Gebiet leben, nur um uns von dort zu vertreiben und dort mehr Häfen bauen zu können für die internationale Wirtschaft und den internationalen Tourismus. Wir fragen: Wie kann es sein, dass die Wohnstätten von uns schwarzen Gemeinden, die wir dieses Land gewonnen haben, in einer Gefahrenzone liegen, aber gleichzeitig keine Gefahr für Hotels, Infrastruktur und Häfen besteht, die sie in diesem Gebiet entwickeln wollen?

Wie artikuliert sich dieses Problem konkret?
Wir hatten einen Gemeindeführer: Temístocles Machado. Er widmete sein Leben der Denunzierung von Landraub. Er prangerte an, dass unsere Rechte verletzt werden, dass wir Besitzer dieser selbst erbauten Grundstücke sind, die wir durch Landgewinnung errungen haben. Er wurde am 27. Januar dieses Jahres gewaltsam ermordet.
Temísto hatte die meisten historischen Kenntnisse über diesen Streit und seinen Verlauf, er war der Gemeindeführer, der sich am meisten auf landesweiter Ebene bewegte, um öffentlich zu machen, was in Buenaventura passierte. Er dokumentierte alles, um die Erinnerung an die Herrschaftsprozesse zu etablieren.
Dieser Gemeindeführer wurde ermordet. Bei diesem Mord ging es nicht um ihn oder seine Familie, sondern darum, die Gemeinden zu lähmen, die er repräsentierte. Aber wichtig ist, dass wir weitermachen. Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es Leute gab, die danach nicht mehr an Organisationen teilgenommen haben, dass aufgrund dieses Mordes Leute weggezogen sind. Das sind die Strategien, um die Dynamik unserer Verteidigungsorganisationen zu zerlegen. Temístocles ist nur eines von vielen Beispielen.

Warum sind afrokolumbianische Gemeinden angreifbarer als andere?
Wir ethnischen Völker erleben eine doppelte Form der Herrschaft, wir sind in einer doppelten Opferrolle. Zum Einen sind wir Opfer als Kollektiv, als Gemeinde. Neben dem bewaffneten Konflikt und über die extraktivistische Wirt­schafts­­politik hinaus gibt es für uns auch einen strukturellen Aspekt, nämlich den der sozialen Ausgegrenztheit. Zum Anderen sind wir Opfer in Bezug auf unsere Beziehung zu unserem Land, denn jenes Land, auf dem wir leben könnten, wird zerstört. Wir haben als Völker eine sehr enge Beziehung zu unserem Lebens- und Wohnraum. Unser Leben hängt von der Einheit mit unserem Land zusammen. Deshalb sind wir von Landraub auch besonders betroffen. Wenn wir umsiedeln, verlieren wir nicht nur die Möglichkeit, an diesem Ort zu sein, wir verlieren die Möglichkeit unserer alltäglichen kulturellen Praxis. Ich kann nicht in den Bergen fischen. Ich brauche das Meer oder den Fluss.

Die Regierung beschuldigt Menschen aus den afrokolumbianischen Gemeinden, Mitglieder von Guerrillas zu sein.
Wir werden übertrieben gerichtlich verfolgt. So ist es zum Beispiel Ende April passiert, mit zwei Gemeindeführerinnen, Mutter und Tochter, aus Tumaco, dem Gebiet von Río Mira an der Pazifikküste. Diese beiden Frauen wurden von der Regierung und durch die nationale Staats­anwaltschaft als Mitglieder der ELN juristisch verfolgt. In den letzten 30 Jahren wurden wir afrokolumbianischen Gemeinden durch die Regierung immer wieder beschuldigt, Mitglieder der FARC zu sein. Heute gibt es keine FARC mehr – offiziell zumindest. Jetzt sind wir also Mitglieder der ELN. Die beiden Frauen wurden juristisch verfolgt, verhört und sofort in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft genommen wie die größten Schwerverbrecher des Landes. Die Geschichte von Tulia, der Mutter, ist aber die: Sie ist eine Frau aus der Gemeinde, die einen Teil ihres Lebens der Kinderfürsorge in Kindertages­stätten gewidmet hat. Im Prozess wurde behauptet, sie habe die Kinder auf eine Mitglied­schaft bei der ELN vorbereiten wollen. Und im Fall von Sára, der Tochter, hieß es, dass Vorsichts­­maßnahmen getroffen werden müssten, um Aktionen der ELN zu verhindern. Sára hat aber nur denunziert und öffentlich gemacht, dass auf ihrem Land Koka angebaut wurde und wie die Dynamik des Drogenhandels das Leben in der Gemeinde zerstört hat. Das alles sind historische Strukturen. Aber wir kennen die Vorgehens­weisen der Regierung schon. Wir hoffen, dass die Justiz Fortschritte macht, und tun alles, was in unserer Macht steht, um zu zeigen, dass Tulia und Sára Gemeinde­führerinnen sind, und dass die Verteidigung von Menschenrechten kein Verbrechen ist.

Welche Rolle habt und hattet ihr als Gemeinden in dem bewaffneten Konflikt wirklich?
In den kritischsten Momenten des bewaffneten Konflikts – in Anwesenheit der FARC – war unsere Rolle als Gemeinden einerseits, dass wir umsiedeln mussten, um uns zu schützen, andererseits Widerstand zu leisten, ebenfalls um uns zu schützen. Wir sahen das als Zwangs­umsied­lung an. Wir haben es geschafft, unser Leben zu verteidigen, aber nicht, unser Leben zu leben. Es gab Organisationen, die bestimmten, wann wir umziehen mussten oder wann es besser war, Widerstand zu leisten oder welcher Teil der Bevölkerung eines von beidem tun sollte. Wenn wir das nicht täten, würden wir nicht mehr existieren. Wir haben keine Alternative. In der aktuellen Situation nach dem Abkommen ist der Konflikt nicht zu Ende, aber man kann nicht leugnen, dass es weniger geworden ist, dass wir ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben.Was ist unsere Rolle jetzt? Wir wollen die Umsetzung des Abkommens. Denn mitten im Krieg mussten wir die Zwangsrekrutierung unserer Gemeinde­mitglieder in die Reihen der Guerillas miterleben. Wir können nicht leugnen, dass es auch freiwillige Teilnahme gab. Aber in der Mehrheit war es erzwungene Teilnahme durch Zwangs­rekrutierung. Weil viel Druck ausgeübt wurde, da es keine Alternativen gab.

Wie gehen die Gemeinden mit diesen Menschen um?
Wir bereiten uns darauf vor, diejenigen wieder aufzunehmen, die eigentlich Teil unserer Gemeinde sind, aber die es irgendwann nicht mehr waren. Weil auch sie verwundet wurden. Und hier gibt es einen langen Prozess des Verständnisses, der neuen Auslegungen, dass diejenigen, die dort waren und jetzt wieder zurück kommen, keine Fremden sind, sie sind Teil unserer Gemeinden. Aber das ist nicht einfach. Es ist einfach zu sagen, aber schwer umzusetzen. Das ist eine Herausforderung bei der Schaffung von Frieden. Wir bereiten uns darauf vor, sie in Empfang zu nehmen, damit unsere Brüder als Teil der Gemeinde von Neuem eine Beziehung zum Zivilleben aufbauen können, damit sie nicht etwas Abgesondertes von uns sind. Einerseits. Dann gibt es den Prozess mit der Regierung: Wie befreien wir sie vom illegalen Anbau, also vom Koka-Anbau? Das hat etwas mit der Dynamik der Regierung zu tun.

Was bedeutet der Wahlausgang für Sie? Von Iván Duque ist zu erwarten, dass Teile des Friedensabkommens rückgängig gemacht werden.
Unsere Positionen sind weiterhin die, die unsere Vorfahren uns gelehrt haben. Um weiterhin Widerstand zu leisten und zu überleben, müssen wir daran festhalten, in unseren Gebieten, die wir seit unseren Ahnen bewohnen und die uns gehören, Frieden zu schaffen. In diesem Sinne ist es egal, welcher Kandidat die Präsidentschaft der kolumbianischen Republik antritt – unsere Rolle besteht darin, weiterhin zum Frieden beizutragen, indem wir aktiv an der Entwicklung von Abkommen teilnehmen und Protagonisten sind. Dazu kommt aber, dass wir weiterhin auf unserem Land ausharren müssen, denn selbst wenn wir im Friedensprozess aktiv an den Abkommen zwischen FARC und Regierung mitwirken, gibt es weitere Kriegsdynamiken in unseren Gebieten und andere Konfliktsituationen; Gewalt, wie eben wirtschaftliche Megaprojekte an den Häfen oder der Abbau von natürlichen Ressourcen.

„ES GIBT AUSREICHEND GRUNDLAGE FÜR WIRKLICHE DEMOKRATIE“

Während der sandinistischen Revolution haben Sie gemeinsam mit Daniel Ortega und Rosario Murillo gegen Somoza gekämpft. Was hat das Paar, das heute in Nicaragua an der Macht ist, mit dem Paar zu tun, das Sie damals kannten?
Gioconda Belli: Wir sehen uns einem Mann gegenüber, der über einen unheimlich langen Zeitraum Macht gehabt hat, der gar nicht mehr weiß, wie er ohne Macht existieren kann. Und einer Frau, die es verstanden hat, diesen Mann an die Macht zu bringen, und die entscheidend daran mitgewirkt hat, die Sandinistische Befreiungsfront neu auf- und darzustellen, an der Hinwendung zum Katholizismus, an der Veränderung der Symbole und Farben. Sie hat den Sandinismus gewissermaßen neu erfunden und zu einer sehr seltsamen Sache gemacht, einer Mischung aus Aberglauben, Religion, Hippie-Romantik, Poesie und Rhetorik. Sie ist eine utopische, messianische Träumerin, die glaubt, sie sei dazu geschaffen, das Volk zu retten, lebt aber in einer Realität, die mit dieser Rhetorik, diesem Narrativ nichts zu tun hat.
Wir haben also eine Kombination zweier sehr komplexer Persönlichkeiten. Und diese Mission, die sie zu haben meinen, das nicaraguanische Volk zu retten, verbindet sich mit einer Art Blindheit, nicht zu sehen, wie dieses Narrativ mit der Wirklichkeit kollidiert. Sicher, die Menschen haben sie beklatscht, ihnen zugestimmt, weil sie von ihnen Wahlgeschenke bekamen, bezahlt mit den Millionen von Dollars, die aus Venezuela kamen und die sie nach eigenem Belieben ausgeben konnten. Wie sonst niemand hatten sie die Möglichkeit, sich eine große Anhängerschaft heranzuziehen und eine Fiktion zu schaffen. Das, was Rosario Murillo mit den so genannten „Lebensbäumen“ aus Metall, den bunten Farben, den instandgesetzten Parks gemacht hat, war größtenteils nichts weiter als Dekoration, Kosmetik. Und sie dekorierte mit dieser grenzenlosen Neigung zur Übertreibung, die ihr eigen ist.

Doch plötzlich klatscht man ihnen nicht mehr Beifall, plötzlich scheinen sie durch die Repression, die sie gegen die Proteste ausgeübt haben, eher wie Feinde des Volkes …
Es kam einfach ein Moment, da funktionierte diese Taktik, die sie über Jahre benutzt hatten, nicht mehr. Es war ja nicht das erste Mal, das sie Repression einsetzten, Proteste niederknüppeln ließen. Ich selbst bin bei früheren Demonstrationen Opfer der Bereitschaftspolizei gewesen. Die jungen Leute, die an der Universidad Centroamericana gegen die Brände im Naturschutzgebiet Indio Maíz protestierten, waren schon früher angegriffen worden. Als am 18. April 2018 die Proteste begannen, waren die Bereitschaftspolizei und die Paramilitärs schon mobilisiert. Wie die Student*innen an jenem Tag zusammengeschlagen wurden, war wirklich schrecklich. Und es geschah am helllichten Tag, nicht wie bei der Besetzung des Sozialversicherungsinstituts vor fünf Jahren, als die Proteste nachts niedergeknüppelt wurden. Diesmal wurde alles gefilmt, und die überall im Netz sichtbare Gewalt brachte die Leute auf die Barrikaden. Am Tag darauf wurden die ersten Student*innen getötet, und die Proteste gingen erst richtig los.

Welchen Eindruck haben Sie von diesen zwei langen Monaten der Proteste?
Zunächst war ich sehr überrascht. Denn obwohl die Übergriffe und Verletzungen der Verfassung und der demokratischen Institutionen durch Daniel Ortega mehr und mehr wurden, herrschte unter der Bevölkerung eine Art Lethargie. Gleichzeitig haben sich viele Menschen bemüht, diese Übergriffe öffentlich zu machen und anzuklagen. Ich zum Beispiel habe mich an einer Gruppe beteiligt, der „Gruppe der 27“, die Pressekonferenzen abhielt, mit den Menschen über das sprach, was in Nicaragua vor sich ging. Was jetzt geschehen ist, haben wir so nicht kommen sehen, doch es braute sich zusammen, bis es zur sozialen Explosion kam. Interessant ist, dass es von der Student*innenschaft ausging, die immer wieder als apathisch kritisiert worden war. Doch waren sie es, die Studierenden, die schließlich handelten.

Man hat den Eindruck, als gäbe es zwei Versionen über Nicaragua: die, die man auf den Straßen sieht, wo die Zivilbevölkerung von der Polizei und den Paramilitärs unterdrückt wird; und die Version, die die Regierung zeichnet, nämlich dass es sich um „kriminelle Banden“ handelt, die den Staat angreifen. Diese beiden Positionen treffen sich jetzt im „Nationalen Dialog“ am Verhandlungstisch. Was erwarten Sie von diesem Dialog?
Was die Situation auf der Straße betrifft, glaube ich tatsächlich, dass es zu einer Verständigung kommen kann. Abgesehen davon glaube ich aber, dass sie sich zu diesem Dialog bereit gefunden haben, um Zeit zu gewinnen. Sie dachten, dieser Aufstand würde bald in sich selbst zusammenbrechen. Aber dass die Proteste andauern und es immer noch Straßensperren gibt, hatten sie nicht erwartet. Und das erwähne ich, weil sie jetzt ihre Position verändert und eine Offensive gestartet haben, alles abzulehnen. Vor einem Monat haben sie noch nicht alles abgelehnt, aber plötzlich rufen sie die Gewerkschaften, die Frente Nacional de Trabajadores (FNT) auf, rufen ihre Leute zusammen, schicken sie in die Stadtviertel, in einer Offensive, die mit dem zweiten Anlauf zum Nationalen Dialog begann. Wir haben die Rede des nicaraguanischen Außenministers bei der Sitzung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gehört, in der er behauptet, es träfe sie keinerlei Schuld, und versucht, ein Feindbild zu konstruieren.

Die Bemühungen der Opposition und der internationalen Organisationen scheinen darauf abzuzielen, dass sich die Situation nicht endlos ausdehnt wie in Venezuela: immer neue Ansätze von Verhandlungen, während die Regierung weiter die Opferrolle spielt, die Repression beibehält und die allgemeine Lage des Landes sich zusehends verschlechtert.
Ich denke, der Unterschied zwischen Venezuela und Nicaragua ist, dass die Venezolaner*innen die Demokratie kennen. Sie wissen, was das ist, verstehen sie. Wir hier nicht. Wir hatten nach 16 Jahren Neoliberalismus gerade angefangen zu verstehen, was Demokratie ist, und dann war mit Daniel Ortega schon wieder Schluss damit. Die Reaktion der Bevölkerung zeigt, dass sie nicht erwartet, dass ihre Probleme im Rahmen der Verfassung, in der Nationalversammlung gelöst werden. Hier sehen die Leute, wenn sie das nicht selbst in die Hand nehmen, dann tut das niemand. Sie glauben nicht an die Legalität, an die Demokratie. Sie möchten Demokratie, doch die demokratischen Instrumente, die es gab, die hat Ortega kassiert, über Bord geworfen. Ortega hat die Verfassung mehrfach verändert, damit sie seinen Zwecken und Vorstellungen entsprach, im Rahmen seines Ziels, die Macht zu erhalten, ohne das Volk zu befragen, unter Ausnutzung einer Nationalversammlung, in der er sich durch einen riesigen Wahlbetrug die absolute Mehrheit von 63% Prozent sicherte. Wie kann irgendjemand einer solchen Verfassung vertrauen? Hier vertrauen die Leute nur auf ihre eigene Kraft, deshalb leisten sie auf diese Weise Ortega Widerstand.

Von außen sieht man Ortega als Vertreter des Sandinismus und den Sandinismus als homogene Kraft. In Nicaragua hingegen wird oft von „Ortegismus“ gesprochen. Was ist der Unterschied zwischen Ortegismus und Sandinismus?
Der Unterschied besteht in der Person, die den Sandinismus repräsentiert, nicht so sehr im Sandinismus selbst. Der Sandinismus war eine Mischung unterschiedlicher politischer Konzepte, die auf die historische Figur Augusto César Sandino zurückgehen, einen Antiimperialisten, der ein System von Kooperativen aufbauen wollte. Sandino war kein Kommunist, hatte aber sozialistische Ideale. Der Sandinismus war wie eine Schublade, in die jeder steckte, was er wollte, entsprechend der eigenen geschichtlichen Interpretation und der jeweiligen politischen Umstände. Als der Sandinismus gegen Somoza kämpfte, war die Identität absolut klar, gegen die Diktatur, antiimperialistisch, für eine gemischte Wirtschaft, in der auch die Privatwirtschaft Platz hatte. Und mit dem nationalisierten Besitz Somozas, 60 Prozent des Landes, konnte eine Wirtschaft im Besitz des Volkes aufgebaut werden.
Der Ortegismus ist etwas anderes. Er hat sich das Erbe des Sandinismus angeeignet, das ihm nicht persönlich gehört. Hat es uns allen, die wir gegen Somoza gekämpft haben, weggenommen und mit seinen eigenen Inhalten gefüllt. Er versucht, ein bisschen die Fehler der 1980er Jahre zu vermeiden, die übertriebenen Enteignungen, die allzu radikalen Projekte. Der Diskurs ist gemäßigt links, doch der Inhalt bleibt neoliberal. Von daher auch das Bündnis mit dem Großkapital.

Der jetzige Bruch der Unternehmer*innen mit Ortega ist ein wichtiges Element bei den aktuellen Veränderungen. Wie kam es dazu, nach einem Jahrzehnt des Bündnisses zwischen der Ortega-Regierung und der Privatwirtschaft?
Man kann nicht sagen, dass die Unternehmer*innen Ortega sehr geschätzt haben. Vielmehr haben sie ihn benutzt, ausgenutzt. Sie haben sich verhalten wie die Goldgräber, haben nach dem gesucht, was Ortega ihnen anbieten konnte, und es sich genommen. Ortega hat sich vom Glanz des Goldes betören lassen und sie sich von ihm, weil er ihnen immer mehr davon versprach. Doch es war eine Sache, Ortega zu benutzen, und eine andere, sich mit ihm zu verbrüdern. Als es zu den Protesten kam, haben die Unternehmer*innen, die alte nicaraguanische Oligarchie, die nie auf Seiten des Sandinismus stand, mit Ortega gebrochen. Als es zum Bruch zwischen Ortega und der Bevölkerung kam, von der die Unternehmer*innen annahmen, sie stünde hinter Ortega, konnten auch sie ihre wahre Haltung gegenüber dem Präsidenten zeigen.

Im Nationalen Dialog steht der Regierung ein Oppositionsbündnis gegenüber, in dem viele unterschiedliche Interessen vereint sind und das vor der riesigen Herausforderung steht, geeint zu bleiben und sich politisch zu organisieren. Meinen Sie, dass das funktionieren wird?
Dies ist ein Prozess, der in ganz Lateinamerika noch keine Vorläufer hat. Die traditionellen politischen Parteien, die in Wirklichkeit nur Marionetten sind, nur auf dem Papier bestehen, werden verschwinden. Die jungen Leute wollen diese Parteien nicht mehr, sie verlangen horizontale Strukturen, wie das auch an anderen Orten auf der Welt geschieht, wo die traditionellen politischen Parteien nicht mehr den Erwartungen und der Art und Weise entsprechen, wie sich diese neue Generation organisieren will.
Ich denke, es wird etwas ganz Neues entstehen. Hier gibt es viele intelligente, fähige Leute, doch die Herausforderung wird sein, eine Organisationsform zu finden, die vielleicht nicht den Erwartungen und Ansprüchen aller in Nicaragua entspricht, aber doch einer ausreichend starken, einheitlichen Gruppierung, die Wahlen gewinnen und die die Demokratie neu formulieren kann, die wir alle wollen. Eher als bürokratische, institutionelle Demokratie sehe ich sie. Als etwas, das aus dem autonomen Bodensatz entsteht, aus der kommunalen Autonomie, der Autonomie der Universitäten, aus einer ganzen Reihe unterschiedlicher Autonomien auf Bevölkerungsebene, die dem Volk wirkliche, keine angebliche, unechte Macht geben.
Es gab in Nicaragua ja schon ein Gesetz zur Gemeindeautonomie, mit dem Ortega Schluss gemacht hat. Das Gesetz gab den Gemeinden große Selbstbestimmung und hatte begonnen, sehr gut zu funktionieren. Ich denke, man kann dieses Gesetz wieder aktivieren und auf dieser Basis neue Systeme entwickeln.

Meinen Sie, dass die Regierungspartei FSLN als Partei so weiter bestehen kann?
Die FSLN wird weiterbestehen, aber das, was jetzt passiert ist, hat ihr Schicksal besiegelt. Ich habe immer deutlich gemacht, dass ich mich als Sandinistin fühle, wegen dem, was ich als junge Frau gelebt habe, und dem, was der Sandinismus für Nicaragua bedeutete. Damals haben wir viele Fehler gemacht, wir waren hartnäckig überzeugt von der Richtigkeit unserer eigenen Ideen. Doch jetzt sehe ich, wie die Leute die sandinistischen Fahnen verbrennen und es erfüllt mich mit großer Trauer, dass die, die jetzt an der Macht sind, das zerstört haben, was der Sandinismus im Kampf gegen Somoza bedeutete. Ich sehe, wie viel Zorn sich auf den Sandinismus aufgestaut hat, und ich denke, die FSLN wird als Partei immer kleiner werden.

Besteht die Option, dass sich die Opposition bewaffnet?
Vielleicht werden hier und da ein paar Waffen auftauchen. Aber als jemand, die am bewaffneten Kampf dieses Volkes teilgenommen hat, weiß ich, dass es ziemlich kompliziert ist, sich zu bewaffnen. Aber vor allem: Die große Kraft, die wir haben, ist es gerade, dass dies ein ziviler, friedlicher Widerstand ist, niemand wird militärisch ausgebildet, es gibt keine Untergrundzellen. Wir können nur darauf setzen, dass der friedliche Protest Ortega so schwächt, dass es zu einer Lösung kommt. Mit jedem Toten wird seine Position schwächer. Inzwischen sind schon acht Staatsanwälte zurückgetreten, es werden immer mehr Angestellte des öffentlichen Dienstes kündigen. Sie werden immer einsamer werden. Das ist das, was meiner Ansicht nach passieren wird.

Innerhalb der Opposition gibt es mindestens zwei Strömungen: Auf der Straße fordert man den sofortigen Rücktritt Ortegas, andere meinen, es wäre besser, dass Ortega bis zu vorgezogenen Wahlen im Amt bleibt, wahrscheinlich also bis März 2019. Welcher Strömung rechnen Sie sich selbst zu?
Ich meine zwar, dass es mit ihm an der Regierung sehr schwer sein wird, die Wahlen vorzubereiten, doch wird es ebenso schwierig sein, ihn ohne Waffen zum Rücktritt zu zwingen. Acht Monate zivilen Widerstands auf der Straße werden viele Todesopfer fordern. Wenn tatsächlich die UNO, die OAS einbezogen werden und Wahlbeobachtung zugelassen wird, ziehe ich es vor, diesen zivilen Widerstand acht Monate weiterzuführen, unter der Voraussetzung, dass der Oberste Wahlrat nicht wieder mit den Leuten Ortegas besetzt wird. Ich denke nicht, dass der Druck so groß werden wird, dass er vor den Wahlen zurücktreten wird. Vor allem auch deshalb, weil ihn nichts anderes auf der Welt interessiert. Dort, wo er sich befindet, fehlt es ihm an nichts, er hat alles, was er zum Leben braucht, und eine Palastgarde, die ihn schützt. Aber es besteht auch das Risiko, dass sie so weitermachen wie bisher: mit Zynismus, Ablehnung, Falschspiel. Einen einfachen Ausweg wird es nicht geben.

“OHNE SPANNUNG GÄBE ES KEINE DYNAMIK”

Ihre Wähler*innen, viele davon enttäuscht von den früheren Mitte-Links-Regierungen, setzen nun große Hoffnungen in den Frente Amplio. Einige der neuen Abgeordneten des Bündnisses sind jedoch bereits frustriert, weil der Gesetzgebungsprozeß in Chile sehr langsam ist. Läuft der FA Gefahr, die geweckten Erwartungen zu enttäuschen?

Die politischen Institutionen in Chile sind antidemokratisch. Das politische System wurde zum großen Teil in der Militärdiktatur Pinochets geschaffen und seitdem nicht substanziell verändert. Das Wahlsystem wurde geändert, was Kräften wie uns den Einzug ins Parlament ermöglicht hat, aber sehr viele Hürden bleiben und verhindern, dass Mehrheiten sich Gehör verschaffen und entscheiden können. Das führt zu Frustration und Enttäuschung.
Allerdings sind wir überzeugt, dass strukturelle Veränderungen vor allem von den sozialen Bewegungen her kommen, auch wenn sie eine Stimme in den Institutionen brauchen. Wir können den chilenischen Neoliberalismus nicht nur aus dem Parlament heraus überwinden.

Wie sieht denn die Beziehung zwischen dem FA und den sozialen Bewegungen aus, um diese Veränderungen zu erreichen?

Der FA kommt aus diesen Bewegungen. Wir sind Studierende, Aktivisten, Arbeiter und Feministinnen, und diese Diversität wollen wir so gut wie möglich in die Institutionen tragen, ohne die Fehler der chilenischen Linken in der Vergangenheit zu wiederholen, die nach dem Ende der Diktatur die sozialen Organisationen an ihrer Basis oft vor allem unter dem Gesichtspunkt des Klientelismus betrachtet hat. Wir als FA müssen verstehen, dass die sozialen Bewegungen Autonomie brauchen. Unsere Herausforderung ist, wie wir uns mit ihnen verknüpfen und dabei ein institutioneller Orientierungspunkt sein können.

Können Sie uns das an einem konkreten Beispiel erläutern?

Ja, das allererste politische Treffen unserer neuen Parlamentsfraktion ein oder zwei Tage nach der Wahl war mit der Bewegung „No + AFP“, die die Abschaffung des derzeitigen fondsbasierten Rentensystems fordert (siehe LN 507/508). Viele von uns aus dem FA sind Teil dieser Bewegung, zum Teil auch in führenden Funktionen. Weitere Beispiele wären die kontinuierliche Zusammenarbeit mit dem Studierendendachverband Confech oder mit den Gewerkschaften. Abgesehen davon gibt es eine eigene Basisarbeit des FA auf lokaler Ebene. Neben den Mitgliedern beteiligen sich dort auch viele Unabhängige.

Das FA besteht aus vielen Gruppierungen und wurde erst letztes Jahr gegründet. Es gab zuletzt mehrere interne Meinungsverschiedenheiten, beispielweise zur Frage, ob der FA in von der Mitte-Rechts-Regierung einberufenen Kommissionen mitarbeiten soll oder nicht, und sogar handfeste Konflikte zwischen Parteien des FA. Dennoch lehnen einige im Bündnis ein höheres Maß an Koordination ab. Wie sehen Sie diese internen Prozesse, und was bedeuten sie etwa für den Fortschritt in der parlamentarischen Arbeit?

Wie bei jeder neuen Kraft gibt es im FA verschiedene Vorstellungen und Spannungen, die ich für gesund, ja sogar notwendig halte. Ohne Spannung gäbe es auch keine Dynamik und wir wären wie eine der alten Parteien. Wir möchten, dass die einzelnen Gruppierungen im FA Raum und Entfaltungsmöglichkeiten haben. Der FA macht eine andere Art Politik – demokratischer, partizipativer, horizontaler – und das ist immer eine komplexe Herausforderung, weil die Politik dich am Ende zwingt, täglich Entscheidungen zu treffen. Sehr wichtig ist, dass der FA dieses Jahr noch einen Kongreß veranstalten wird, auf dem wir uns mit grundlegenden strategischen Fragen wie etwa der internen Koordination beschäftigen werden.

Welche Bedeutung hat der internationale Austausch für den FA?

Wir müssen einen breiten Dialog aufbauen, denn in unseren globalisierten, verbundenen Gesellschaften sind die Herausforderungen oft sehr ähnlich, aber es gibt keine Rezepte dagegen. Wir pflegen daher Beziehungen zu verschiedenen Parteien und politischen Organisationen, Gewerkschaften, Stiftungen und Bewegungen und bauen neue auf, beispielsweise auch in Deutschland.
Es kommt hinzu, dass wir die Situation einer politisch polarisierten Gesellschaft mit einem herzzerreißenden, unmenschlichen Neoliberalismus auf der einen Seite und einer vielleicht etwas diffusen, aber anti-neoliberalen Alternative auf der anderen Seite nicht nur in Chile sehen, sondern auch anderswo in Lateinamerika, in Spanien mit Podemos, in Frankreich mit La France Insoumise oder in England mit der Bewegung von Corbyn.
Konkret gibt es viele europäische Unternehmen, die unsere Ressourcen, unsere Arbeiter und Arbeiterinnen ausbeuten. Als Arbeiter brauchen wir Kontakt zu den Gewerkschaften, die in diesen Unternehmen aktiv sind. Ich sprach in Berlin gerade über die vermeintliche Robotisierung der Arbeit. Unsere deutschen Partner sagen uns, dass dahinter viele Lügen und falsche Drohungen stecken, um Arbeitsbedingungen zu verschlech­tern, und wir lernen daraus für Chile. Diejenigen im FA, die sich – wie meine Partei, die Freiheitliche Linke – als sozialistisch verstehen, tauschen sich darüber aus, welchen Sozialismus wir anstreben, einen post-extraktivistischen, lernenden Sozialismus.

Welche Rolle will der FA in der Opposition spielen und mit welchen anderen Parteien kann er sich etwa Allianzen vorstellen?

Das oberste Ziel des FA ist es, um jeden Preis zu erreichen, dass der Zyklus der Protestbewegungen in Chile seit dem Jahr 2006 und die Unzufriedenheit mit dem Neoliberalismus nicht beendet werden, sondern bestehen bleiben und wachsen – in Bezug auf Programm, Mobilisierung und Konfliktfähigkeit. Der FA ist heute der einzige Akteur in Chile, der eine Alternative zum neoliberalen Modell aufzeigen kann. Die ehemalige Mitte-Links-Koalition Nueva Mayoría (NM) hat in mehreren Regierungen die Essenz dieses Modells nicht angerührt, in der letzten Bachelet-Regierung hat sie ihre progressive Reformagenda stark betont und trotzdem aus Mangel an politischem Willen und Überzeugung nicht umgesetzt. Wir als FA müssen im Rahmen eines Dialogs und gemeinsamen Vorschlägen diejenigen progressiven Kräfte in der Linken und der NM anführen, die dazu bereit sind.

Welche Prioritäten gibt es für die politische Arbeit in den nächsten vier Jahren?

Zunächst hat jede der Parteien im FA ihre eigenen Prioritäten. Viele von uns denken, dass es in der aktuellen Situation – weder die rechte Regierung, noch die ehemalige NM, noch wir haben eine Parlamentsmehrheit – am wichtigsten ist, demokratische Minimalstandards zu erreichen. Einige Kompetenzen des Verfassungungsgerichts sind zutiefst undemokratisch und unerträglich. Der autoritäre Charakter der Verfassung mit den für viele Gesetze geforderten, sehr hohen, über eine absolute Mehrheit hinausgehenden Zustimmungsquoren muss überwunden werden. Diese Agenda halten wir für umsetzbar, aber nur mit einer großen Anstrengung.
Daneben kämpfen wir für einige spezifische Forderungen wie zum Beispiel das erwähnte „No + AFP“, für das freie Recht auf Wassernutzung (siehe LN 527) oder für die Kontrolle über die Lithium-Vorkommen, allerdings werden sie mit den aktuellen Institutionen schwer umzusetzen sein. Manchmal bestimmen auch die sozialen Entwicklungen die Agenda. Ausgehend von der feministischen Bewegung kämpfen wir etwa für die zentrale Forderung nach einer nicht-sexistischen Erziehung (siehe LN 528).
Die Kommunalwahlen im Jahr 2020 sind wichtig für uns, da die Gemeindeverwaltungen in Chile – wie etwa die von Bürgermeister Jorge Sharp in Valparaíso – zeigen, dass sie das Leben der Menschen in konkreten Punkten verbessern können. Der FA wird also eine starke kommunale Kampagne machen müssen, die hoffentlich in verschiedenen Städten und Gemeinden Erfolg haben wird.
Und wir bereiten uns schon auf die nächsten nationalen Wahlen vor, da der FA das nächste Mal die Regierung stellen muss, das ist für uns sehr klar. Um zu gewinnen, müssen wir eine Vision für Chile anbieten, die so weit weg wie möglich von dem kommerzialisierten, privatisierten, ungleichen, aggressiven, machistischen und patriarchalen Land von heute ist. Ein radikal anderes Gesellschaftsmodell mit sozialen Rechten und Gleichberechtigung der Geschlechter, mit einem für die Bürger und die Bewegungen offenen politischen System. Sonst werden wir scheitern.

 

NETFLIX REVOLUTIONÄR

Was macht Antena Negra aus?

Martina: Antena Negra war von Anfang an ein solidarisches Projekt. Gerade auf dem Land wurden viele Radios von Nachbarn aufgebaut. Da kam dann zum Beispiel jemand und sagte: „Mein Hund Pirulito ist verschwunden. Könnt ihr mir helfen, ihn zu finden?“ Das war auch ein Teil der Community-Radios, die dann zu politischen Projekten wurden. Antena Negra ist auch von Anfang an im Nationalen Netzwerk von Alternativen Medien RNMA gewesen.

 

Wie funktioniert das RNMA?

Martina: Als Netzwerk von Medien aus dem ganzen Land, das sich antibürokratisch, antiautoritär und antikapitalistisch definiert. RNMA hat nie staatliche Werbung akzeptiert. Andere Netzwerke schon. In gemeinsamen Treffen diskutieren wir unsere Beziehungen zum Staat, wie wir weitere Medien aufnehmen können und wie wir uns technisch weiterentwickeln. Ein Treffen im Jahr ist für die Öffentlichkeit, wir Medien organisieren Workshops, um Informationen zu vergesellschaften. Es ist also auch ein Ort politischer Bildung.

Santiago: Unsere Agenda ist die der sozialen Bewegungen und eine Achse des RNMA ist die gute Beziehung zu ihnen. Tatsächlich rufen die uns an und sagen: „Hey, heute passiert dies oder das.“ Sie wissen, dass bei uns das, was sie sagen wollen, so weitergegeben wird, wie sie es sagen wollen. Die Massenmedien wollen vielleicht eher Schlagzeilen oder einen Bericht machen, damit die Person auf der anderen Seite des Bildschirms die interviewte Person hasst. Die sozialen Bewegungen haben das verstanden.

 

Im Jahr 2009 wurde von der Kirchner-Regierung ein progressives Mediengesetz verabschiedet. Hatte das Einfluss auf eure Arbeit?

Martina: Das neue Mediengesetz sah zwar vor, dass 33 Prozent der Sendelizenzen an gemeinnützige Medien vergeben werden sollten. Der Graubereich dessen, was als gemeinnützig gilt, ist aber groß. Zum Beispiel zählen auch die Ford-Stiftung und die Kirche dazu. Dieses Gesetz, das so progressiv erscheint, ist es eigentlich nicht. Außerdem wurden Lizenzen für einzelne Viertel von vielleicht zehn Blöcken vergeben, aber nicht für ganz Buenos Aires.

Santiago: Das Gesetz wurde nicht so umgesetzt, wie es geplant war. Wir vom RNMA haben das von Anfang an kritisiert.

Martina: Außerdem muss man, um eine Lizenz zu bekommen, eine Unmenge an bürokratischem Papierkram erledigen, der nicht nur Geld gekostet hat, sondern auch Dinge, wie einen Vereinsvorsitzenden, ein Mitarbeiterregister etc. verlangt, die Community-Medien nicht haben.

Santiago: Wir mussten einen rechtlich Verantwortlichen benennen und dafür eine Kooperative gründen. Eine Lizenz haben wir trotzdem nicht bekommen, obwohl wir eigentlich alle technischen Voraussetzung erfüllt haben. Wir hatten es dann satt zu warten und haben einfach angefangen, zu senden.

 

Wie sah dann euer Programm aus?

Martina: Es gab eine Literatursendung, eine Mathesendung, Musiksendungen. Das Programm war sehr voll, weil es viele Gruppen gab, die Fernsehen machen wollten. Insgesamt waren es bestimmt 80 Leute, die am Kanal beteiligt waren.

 

Gab es Probleme damit, als Piratensender zu senden?

Santiago: Das Problem mit Frequenzen ist sehr ähnlich wie das mit Wohnraum: Hier gibt es ein Haus – niemand benutzt es. Warum kann der, der kein Haus hat, es nicht besetzen? Das ist die gleiche Situation, nur mit einer Sache die etwas abstrakter ist, der Frequenz.

Martina: Im März 2015 sind wir auf digitale Übertragung umgestiegen. Wir waren nicht mal 40 Minuten auf Sendung, als zwei Techniker von der privaten Sicherheitsfirma Prosegur aufgetaucht sind, die uns dazu aufgefordert haben, den Sender abzuschalten, weil wir ihre Frequenz stören und die Kommunikation mit zehn Banken behindern würden. Das haben wir nicht gemacht. Vier Monate später haben 40 Polizisten den Kanal gestürmt, alles kaputt gemacht und das Übertragungsgerät mitgenommen.

 

Warum die Beschlagnahmung?

Martina: Prosegur hatte uns angezeigt. Strafrechtlich verfolgt wurde dann unser Vorsitzender. Das ist die Form des Staates, uns zu kriminalisieren. Sie verlangen, dass wir eine bestimmte Rechtsform haben, um eine Lizenz zu bekommen. Wer dann am Ende verantwortlich ist, ist aber nicht das Kollektiv, sondern nur ein Vertreter. Damit hat ein bis heute andauernder Strafprozess angefangen.

 

Seitdem könnt ihr nicht mehr senden?

Martina: Wir wurden von Anwälten von der Correpi, einem Antirepressionskollektiv, unterstützt und haben erst das Übertragungsgerät zurückbekommen. Dann wurde uns aber angedroht, dass sie die Leute, gegen die der Prozess läuft, ins Gefängnis stecken würden, wenn wir unser Equipment nicht abgeben würden. Wir haben uns dazu entschlossen, dieser Forderung nachzukommen, um niemanden auszuliefern und seitdem gibt es den Sender so nicht mehr.
Das alles ist während der Regierung von Kirchner passiert. Dass sie den Sender beschlagnahmt haben, war ein Beleg dafür, dass ihre progressive Politik keine war und dass es keine Absicht gab, Community-Medien zu unterstützen.

Santiago: Zumindest nicht die, die der Politik der Regierung nicht nahestanden. Es gab einige Netzwerke, die zu dieser Zeit profitiert haben – jetzt unter Macri aber gar nicht mehr.

 

Stichwort Macri: Merkt ihr als Medienmacher*innen einen Unterschied zur Vorgängerregierung?

Martina: Die neoliberale Politik mit ihren Konsequenzen hat zu starken Protesten geführt und die Repression hat sich mit der Wahl von Macri im Dezember 2015 immer mehr zugespitzt. Einer der großen Unterschiede zwischen der Regierung von Cristina und der von Macri ist, dass es Staatspolitik wird, auf Demonstrationen Leute festzunehmen. Heute ist ein Fokus von Antena Negra mit Videojournalismus auf Demos zu sein und Gegeninformation über soziale Netzwerke zu verbreiten.

 

Seid ihr auch selber von Repression betroffen?

Santiago: Auf der ersten Demonstration für Santiago Maldonado, am 1. September 2017, haben wir live übertragen. Dabei wurden zwei unserer Kollegen festgenommen. Wir gehen immer mindestens zu zweit raus, einer filmt, einer passt auf, macht also Security.
Als sie filmen, wie eine Frau festgenommen wird, nimmt die Polizei die beiden fest, weil sie die Polizisten behindert hätten. Heute schlagen wir uns auch mit dieser Strafanzeige herum.
Unsere Kollegen waren nicht die einzigen, die damals verhaftet wurden. Am gleichen Tag gab es noch 30 weitere Festnahmen. Es wird auf einmal angefangen, neue Straftaten anzuwenden, um Festnahmen zu rechtfertigen. Wie die der „öffentlichen Einschüchterung“, die sich auf Krawall und Anstiftung zum Chaos bezieht.

 

War das vorher anders?

Santiago: Bisher gab es eine „Demo-Kombi“, die verhängt wurde: Straßenblockaden und Angriff und Widerstand gegen Ordnungskräfte. Das sind Ordnungswidrigkeiten, die in Amtsgerichten verhandelt werden. Die „öffentliche Einschüchterung“ ist eine Straftat, die jetzt zusätzlich angewendet wird, damit es in die Zuständigkeit eines Bundesgerichts geht. Dadurch kannst du nun im Gefängnis landen, das hat die Dynamik verändert.

Martina: Das gewaltsame Verschwinden von Santiago war ein Wendepunkt bei den Demonstrationen im Land. Verschwundene sind ein sehr sensibles Thema in der argentinischen Gesellschaft. Es gehen also sehr viele Menschen auf die Straße, von der kirchneristischen Fortschrittsbewegung, über Linksparteien, bis hin zum Anarchismus. Und es gab einen Boom an Verhaftungen.
Santiago: Das gewaltsame Verschwinden von Santiago oder auch die Ermordung von Marielle zeigen, wie sich das kapitalistische Projekt in Lateinamerika in Anschlägen, Morden und Verschwindenlassen niederschlägt.

 

Wie verändert sich seither die Situation in Argentinien?

Martina: Auch die Proteste aufgrund der Rentenreform am 14. Dezember letzten Jahres waren einschneidend, das war auch eine riesige, super heterogene Demo. Polizeigewalt, wie es sie da gab, haben wir bisher noch nicht erlebt. In zwei Wochen gab es 300 Festnahmen. Auch diese Reformen sind ein sensibles Thema in der argentinischen Gesellschaft, da es die gleichen neoliberalen Reformen wie im Jahr 2001 sind. Nicht nur, dass die Renten bis ins Erbärmliche gekürzt werden, es betrifft auch andere Bereiche der Arbeit – Weihnachtsgeld wird gestrichen, Outsourcingpolitiken etc. Nach der fortschrittlichen Regierung des kirchnerismo, die zumindest eigentlich einen Wohlfahrtsstaat machen wollte, gehen wir hin zu einer Situation, die ganz eindeutig rechts ist. Und all das wird getragen von den Leuten selbst, viele Leute haben die Regierung gewählt.

 

Wie ist die Situation der Medien in diesem Szenario?

Martina: Es gab öffentliche Gelder, die für alternative Medienprojekte vergeben wurden, die mit der Macri-Regierung gestrichen wurden. Nun gibt der Staat keine Gelder mehr. Die jetzige Situation ist also super prekär. Alternative Medien konzentrieren sich nun mehr aufs Internet oder auf soziale Netzwerke. Aber auch jetzt mit dem globalen Panorama – Facebook verkauft Daten, Youtube will Geld… Wir sehen ziemlich schwarz.
Santiago: Es werden auch wieder Medien geschlossen. Zuvor gab es in 30 Jahren keine Beschlagnahmungen in Medienanstalten.

 

Hat die Repression Wirkung gezeigt?

Martina: Diese Kämpfe sind sehr anstrengend für die sozialen Bewegungen, weil wir uns alle mehr darauf konzentrieren müssen, unsere Genossen freizubekommen, anstatt weiter kämpfen zu können.

Santiago: Das ist eine klare Schwächungstaktik. Da wir auf einmal andere Aufgaben machen, die wir nicht geplant haben, wie z.B. Leute aus Gefängnissen herauszuholen. Oder mehr arbeiten zu müssen, weil das Geld nicht mehr reicht. Eine der ersten Strategien, die die Regierung Macri angewendet hat, waren Massenentlassungen in verschiedenen Branchen. Das schaffst du gar nicht, über das alles zu berichten. Das ist auch eine Zermürbung, die dich einfach sehr mitnimmt.

 

Wie seht ihr die Zukunft von eurem Projekt?

Santiago: Wir würden total gerne wieder auf Sendung gehen. Aber das bedeutet einen hohen Preis zu zahlen, nicht nur finanziell. Zunächst das verlorene Übertragungsgerät. Aber auch der Kraftakt, zu wissen, dass sie jeden Moment wiederkommen, alles beschlagnahmen und den ganzen Sender kaputt machen können. Alles 24 Stunden bewachen zu müssen, falls die Polizei kommt. Wir wissen nicht, ob wir das schaffen können, vor allem, wenn es dann gar nicht so viele Leute empfangen können.

Martina: Wir sind dabei, eine audiovisuelle Plattform aufzubauen, wo das ganze Material wie auf einer Art revolutionärem Netflix angeschaut werden kann. Unsere Idee ist es, dort Live-Übertragungen zu machen und ein Archiv aus dem Material bereit zu stellen, mit dem wir Fernsehen gemacht haben.

Santiago: Das alles ist Material, das es sonst nirgendwo gibt. Und es auf einer Festplatte zu haben, wo es niemand anschauen kann, bringt ja nichts. Deswegen wollen wir einen Ort schaffen, wo Leute diese Sachen finden können, anstatt Trash-TV zu schauen.

„DIE KLEINEN RÄUME DER FREIHEIT“


Sie werden international oft dafür gefeiert, als weibliche Rapperin in der männerdominierten Hiphop-Szene mitzuhalten. Doch eigentlich geht es in Ihrer Musik und Ihrem Aktivismus um viel mehr. Was sind die Themen, die Sie aktuell beschäftigen?
Feminismus und der Kampf um Frauenrechte sind für mich die zentralen Themen, einfach weil Frausein in Zentralamerika bedeutet, in einem permanenten Krieg zu leben. Ein wichtiges Thema ist aber auch die Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala und ganz Zentralamerika. Nach all den Kriegen, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, muss immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit gestellt werden. Noch immer existieren Diktaturen in Zentralamerika. Letztes Jahr kam in Honduras eine illegitime Regierung durch Wahlbetrug an die Macht und militarisiert weiterhin die Gesellschaft. In Guatemala weiß ich nicht mal, welche Bezeichnung ich für die Regierung wählen möchte. Auch hier handelt es sich um eine illegitime Regierung. Als junger Mensch in El Salvador zu leben, ist praktisch ein Todesurteil, vor allem wenn man zur Hiphop-Szene gehört. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in El Salvador fünf compañeros aus der Hiphop-Szene ermordet. Mein Aktivismus hat viel damit zu tun, über diese Dinge zu sprechen. Über die Situation in Zentralamerika. Und auch über das Überleben. Wir müssen nämlich Tag für Tag sehen, wie wir überleben.

Am 1. April verstarb Ríos Montt, der guatemaltekische Ex-Diktator. Seine Verbrechen blieben damit ungestraft. Was bedeutet das für die guatemaltekische Gesellschaft?
Ich denke nicht, dass sich mit dem Tod von Ríos Montt viel verändert. Momentan stirbt jene politische Klasse, die die Korruption etabliert hat. In Guatemala gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Wie traurig, dass der Tod vor der Gerechtigkeit kommt.“ Doch immer noch halten viele Menschen an der Vorstellung fest, dass diese Männer unsere Retter gewesen seien, weil sie Guatemala vor dem Kommunismus bewahrt hätten. Es gibt vor allem wegen des vergangenen Bürgerkrieges (1960-1996 zwischen der guatemaltekischen Regierung und vier linken Guerillaorganisationen, Anm.d.Red.) starke rechte, militärische und antikommunistische Kräfte in Guatemala. Und es ist besorgniserregend, dass wir nur eine kleine Minderheit sind, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit, für Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit einsetzt.

Was sind in diesem Kontext die konkreten Herausforderungen der feministischen Bewegungen?
Die größte Herausforderung sind die Feminizide. Uns Frauen wird konstant und systematisch das Leben genommen. Außerdem ist es schockierend, wie viele Mädchen sexuellen Missbrauch erleben. Im Durchschnitt sind die Mädchen zwischen sieben und zwölf Jahre alt, wenn sie zum ersten Mal sexuell missbraucht werden. Und das Schlimmste daran ist, dass die meisten Vergewaltigungen im eigenen Zuhause stattfinden. Es ist der Vater, der Bruder, der Cousin, der Großvater und nicht irgendein Verrückter auf der Straße. Mädchen erleben mit sieben die ersten sexuellen Übergriffe und werden mit zehn schwanger. Alle diese Schwangerschaften sind das Resultat von Vergewaltigungen. Guatemala ist ein Land, in dem es keine Sexualerziehung gibt. Wenn man in Guatemala versucht, Aufklärungsmaterial zu verbreiten, hat man direkt mit juristischen Konsequenzen zu rechnen. So Selbstverständliches ist verboten, wie unsere Körper kennenzulernen und uns zu informieren, wie wir uns schützen können. Hier wird uns Frauen das Recht genommen, selbst über unsere Körper zu bestimmen. In El Salvador, Honduras und Nicaragua ist die Situation noch schlechter, es herrscht ein absolutes Abtreibungsverbot. Als Frau ist es schwierig, in einem solchen Umfeld zu überleben, weil ein Krieg gegen uns und unsere Körper geführt wird, von klein auf. In unserer Region Feministin zu sein, bedeutet, sich vielen Gefahren auszusetzen. Und für all diese strukturellen Probleme sind die Staaten verantwortlich.

Trotzdem setzen Sie dieser Gewalt etwas entgegen, indem Sie zum Beispiel Hiphop-Workshops für Frauen geben. Wie kann Hiphop zum Empowerment von Mädchen und Frauen beitragen?
Das Empowerment beginnt in dem Moment, wo du einer Frau einen Zettel und einen Stift in die Hand drückst und sagst: „Erzähl mir von dir.“ Dann entstehen diese kleinen Räume der Freiheit. Die Mädchen und Frauen erzählen ihre Geschichten, teilen ihre Trauer, aber auch ihre Kämpfe und Stärken. Ich gebe in meinen Workshops keinen „Feminismus-Unterricht“, sondern die Frauen empowern sich gegenseitig. Das ist ein Schlüssel des Hiphop. Viele Rapperinnen haben so angefangen, ihre Geschichten zu erzählen, aufzustehen und die Stimme zu erheben.

In Ihrem neuen Album Obsidiana setzen Sie sich unter anderem mit dem feminismo comunitario, dem kommunitären Feminismus, auseinander – ein Konzept, das hier in Europa kaum bekannt ist. Im Song Tzk’at sind Passagen von Lorena Cabnal, der bekannten indigene Feministin aus Guatemala, zu hören. Warum ist es Ihnen wichtig, mit diesem Konzept zu arbeiten?
Das Besondere am feminismo comunitario hier in Zentralamerika ist, dass die bestehenden Kämpfe um Territorien mit der Verteidigung des weiblichen Körpers verbunden werden. Dies ist indigenen Frauen zu verdanken, die seit Langem gemeinsam mit ihren männlichen compañeros im Kampf um Territorien, Land und Flüsse organisiert sind. Sie stießen eine Diskussion darüber an, dass auch die Körper von Frauen einer ständigen Gefahr ausgesetzt sind und ebenso als Territorium des Kampfes angesehen werden müssen. Und sie setzten sich mit der Rolle der Frau in den verschiedenen indigenen Kosmovisionen Zentralamerikas, der Maya, Lenca und Xinca auseinander.
Es wird oft so dargestellt, als sei der Machismo erst durch die Kolonialisierung nach Lateinamerika gebracht worden. Es stimmt zwar, dass Frauen vor der Kolonialisierung nicht das gleiche Ausmaß an Ausbeutung und Unterdrückung erlebten wie danach. Aber dennoch gab es auch in den früheren Gesellschaftsformen Ungleichheit und patriarchale Strukturen. Es ist unglaublich mutig und schwierig, diese Fragen aufzuwerfen, denn es bedeutet, jene Überzeugungen und Traditionen herauszufordern, um deren Erhalt gleichzeitig gekämpft wird. Der feminismo comunitario ist damit ganz anderen Fragen und Realitäten ausgesetzt als westliche Feminismen. Es geht nicht um individuelle Rechte und die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen, sondern ganz grundsätzlich um die Ablehnung kapitalistischer Ausbeutung und des Zwangs zur Entwicklung nach europäischem Vorbild. Die Gemeinden sind ständig mit dem strukturellen Rassismus von Seiten des Staates konfrontiert. Wie können Frauen in diesem Kontext Kritik üben und feministische Forderungen stellen, ohne dass es zur Spaltung der Gemeinschaft führt? Auch darin unterscheidet sich der feminismo comunitario von westlichen Feminismen, die Ziele können nämlich nur gemeinsam mit der ganzen Gemeinschaft erreicht werden.

Welche Verbindung haben Sie zu den Kämpfen dieser indigenen Frauen?
Ich bin selbst nicht Teil der Kämpfe des feminismo comunitario, da ich nicht auf indigenem Territorium lebe. Ich bin Ladina, so bezeichnet man Menschen, die nicht indigen sind, und komme aus der Stadt, wo ich mit vielen Privilegien aufgewachsen bin. Zum Beispiel hatte ich Zugang zur höheren Bildung und wurde in meinem eigenen Land nie diskriminiert. Meine Verbindung zu den indigenen Aktivistinnen ist, dass ich unglaublich viel von ihnen lernen kann. Es ist eine Herausforderung für uns Ladinas, die Kämpfe indigener Frauen sichtbar zu machen und sie zu unterstützen, ohne dabei das Wort an uns zu reißen, ohne unsere Bedürfnisse über ihre zu stellen. Die indigenen Frauen Guatemalas sind die Gruppe, die am stärksten diskriminiert wird. Daher versuche ich, die Plattformen zu nutzen, zu denen ich Zugang habe, um ihre Themen aufzugreifen.

Gibt es für Sie auch eine Verbindung zwischen den Kämpfen hier in Europa und Ihrem Aktivismus in Zentralamerika?
Nicht wirklich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass unsere Realitäten sehr unterschiedlich sind. Hier in Europa geht es viel um Begriffe und politische Korrektheit und das erschwert manchmal das Verständnis für den Kontext, aus dem ich komme, der komplex und sehr konfliktiv ist. Ich erinnere mich an einen Vortrag, den ich in Spanien gehalten habe. In dem Moment, als es darum ging, dass der weiße Feminismus nicht den Bedürfnissen aller Frauen auf der Welt gerecht wird, rasteten die weißen Frauen total aus. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass alle Bücher, die sie gelesen hatten, nichts wert sein sollten. Aber darum geht es gar nicht. Natürlich haben diese Bücher ihren Wert in dem Kontext, in dem sie geschrieben wurden. Aber nicht alles steht in Büchern. Es ist sehr europäisch, dem rationalen Wissen mehr Bedeutung zuzuschreiben als den Alltagserfahrungen der Frauen um uns herum. Manchmal bringt es mehr, sich zusammenzusetzen, einander zuzuhören und Erfahrungen zu teilen. Auch das ist sehr feministisch.

POLITISCHES MARMELADENBROT


Ihr habt euer neues Album Bordeliko genannt. Was heißt das für euch?
Saïdou: Bordeliko steht für das Durcheinander. Wir als Band verstehen uns als kleines Chaos: Unser Alltag, unsere Art zu arbeiten und zu leben, all das ist manchmal ziemlich verrückt und durcheinander. Wenn wir das Chaos nennen, ist das nicht negativ gemeint. In dem Begriff steckt Ironie, aber vor allem Liebe für das, was wir tun. Schließlich ist auch unsere Band ein wunderbares Durcheinander.

Ist das Durcheinander manchmal kompliziert?
Saïdou: Ja, aber nur für die Leute, die von außen auf unsere Musik gucken. Im modernen Musik-Business wollen sie dir ein Etikett geben und dich in eine Schublade stecken, damit sie deine Musik groß verkaufen können. Mit uns geht das nicht, das ist manchmal auch schwer.
Benjamin: Genau. Wenn Leute zum Beispiel fragen: Was für Musik macht ihr eigentlich?
Saïdou: Dann wissen wir am Ende selbst nicht wirklich, was wir machen.

Ihr kommt teilweise von verschiedenen Kontinenten, eure Musik passt aber überraschend gut zusammen. Wie schafft ihr das?
Benjamin: Das ist viel Arbeit. Aber Arbeit, die Spaß macht und die wir gern machen. Durch unsere unterschiedlichen Identitäten und Lebenswege ergeben sich unglaublich viele Möglich­keiten für die Musik. Ich bin in Chile mit Cumbia aufgewachsen. Die anderen spielen Akkordeon und Trompete, waren z.B. auf dem Balkan unterwegs. In unseren Rhythmen finden sich aber auch Salsa, Guaguancó und Timba wieder. Und das alles mischt sich dann mit der modernen Musik, die vor allem Saïdou mitbringt und die auch in manchen Beats zu hören ist. Unsere Musik ist nicht nur international, sie mischt auch Traditionelles mit Modernem.
Saïdou: Unser Stil basiert auf der Ausdrucksfreiheit jedes Einzelnen von uns. Das ist eine der Identitäten von Sidi Wacho. Ich sage immer, wenn wir untereinander gerecht sein wollen, müssen wir vor allem ehrlich sein. Wir lernen beim Zusammenarbeiten, miteinander und unseren verschiedenen Stilen umzugehen. Als Band sind wir ein kleiner Spiegel dieser Erde, die sich genauso ausbalancieren muss.

Versteht ihr euch als politische Band?
Saïdou: Nein. Und es stört mich, wenn Leute das sagen. Wir machen keine politische Musik, es ist nur so, dass der Großteil der modernen Musik so bedeutungsleer ist. Aber ich fühle mich im Kontrast nicht politisch, sondern ganz normal. Denn ein normaler Musiker sollte von seinem Leben und den Ungerechtigkeiten darin erzählen. Deswegen muss man nicht extra betonen, dass Musik politisch ist. Jede Musik sollte es sein.
Benjamin: Das finde ich auch. Im Großteil der Musik, die wir hören, wird nichts gesagt. Für die Musikproduktion bedeutet das, dass alles schnell und einfach geht. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber der Großteil der modernen Musik wird produziert wie Fastfood. Wir sagen dazu Wegwerfmusik. Das ist genau das, was wir nicht machen wollen. Wir als Musiker sehen uns als Angestellte der Kunst. Und solche wie wir werden nie große Stars. Abgesehen davon finde ich aber, dass wir über alles Musik machen können: Das fängt bei ganz banalen Dingen wie einem Marmeladenbrot an.

Kann ein Lied über ein Marmeladenbrot auch politisch sein?
Saïdou: Theoretisch ja. Manchmal ist es politisch, das Licht auf ein neues Thema zu werfen. Genauso politisch kann es aber sein, ein Licht wieder auszuknipsen.

Wie entscheidet ihr, welches Licht ihr an- oder ausschaltet?
Saïdou: Wir sind eine sehr internationale Band: Benjamin ist Chilene, unser Percussionist kommt aus Peru. Ich bin als Sohn algerischer Eltern in Frankreich aufgewachsen. Unser Akkordeonist und unser Trompeter haben Eltern aus Italien, Frankreich und Katalonien. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es eine gemeinsame Grundausrichtung innerhalb der Band gibt. Wir teilen eine Perspektive des geografischen und politischen Südens und denken aus klar antikolonialer und antiimperialistischer Perspektive. Wenn das einmal geklärt ist, ist es sehr leicht, auch zusammen Musik zu machen. Das Album haben wir in weniger als drei Monaten produziert.
Benjamin: Meistens fällt es uns sehr leicht, uns für ein Thema zu entscheiden und loszutexten. Vor der Produktion waren wir ein Jahr lang unterwegs. Wenn wir dann produzieren, schließen wir uns ein und lassen alles aus uns raus, was wir in der Zeit gesammelt und verarbeitet haben.

Ihr spielt den Sommer über auf Festivals in ganz Europa. Spielt der Ort für euch eine Rolle?
Benjamin: Überall auf der Welt gibt es Unterdrücker und Unterdrückte. Wir wollen an jedem Ort für die spielen, denen es nicht so gut geht. Deswegen ist das neue Album auch so fröhlich. Wenn wir unterwegs sind wird mir immer wieder klar, dass Menschen weltweit leiden oder irgendwann einmal gelitten haben. Wie beispielsweise die Menschen in Chile unter Pinochet. Momente des Leids verbinden, Momente der Freude aber auch.
Saïdou: Wir alle brauchen Spaß, um unseren Kopf freizumachen. Und wie geht das? Mit wem? Bestimmt nicht, indem wir den erstbesten kommerziellen Fernsehsender anschalten.

Wie dann?
Saïdou: Als Künstler können wir das anderen und uns selbst ermöglichen. Musik ist ein Teil der populären Bildung. Mit Musik können wir uns von der Arbeit, der Routine und dem Stress erholen, den Kopf freimachen und den Körper entspannen. Die Kunst im Allgemeinen hat diese Kraft. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, dass wir auch ohne Konsum Spaß haben und Kunst genießen können. Wir leben in einer Konsum- und Klassengesellschaft. Nachdem wir gegen diese Strukturen protestiert haben, gehen wir zusammen tanzen und feiern.

Saïdou: Ja. Der neoliberale Prozess, der in Frankreich wie in so vielen Ländern stattfindet, nimmt immer mehr Bereiche unseres Lebens ein. Viele ärmere Menschen glauben zum Beispiel, dass Uber ihnen eine gute Möglichkeit bieten kann, Geld zu verdienen. Genauso funktioniert der Liberalismus. Am Ende ist es genau umgekehrt: Die Armut bleibt erhalten. Viele junge Menschen haben in Frankreich Macron gewählt, weil er ihnen Freiheit versprochen hat. Hier geht es aber nicht um Freiheit (libertad), hier geht es um Liberalismus (liberalismo). Diese beiden Dinge kann man nicht gleichsetzen.
Benjamin: Ich finde vor allem die Denkweisen besorgniserregend, die hinter diesen Wahlergebnissen stecken. In Chile, aber auch in Frankreich, kehren viele Menschen in bestimmte Denkmuster zurück. Es geht nur um das Haben, um das Besitzen, um den Gewinn. Das ist ein globales Problem, wir sehen es in Lateinamerika genauso wie in Europa. Das macht mich traurig. Gleichzeitig sehe ich viele Dinge, die mir Freude bereiten: Optimismus und gemeinsamer Widerstand gegen kapitalistische und neoliberale Positionen, der sich beispielsweise in Form von Graffitis und Demonstrationen äußert. Daran sehe ich, dass auch andere Menschen anders denken. Genau die möchten wir unterstützen. Und sei es, indem wir nur nach einer Demonstration unsere Musik spielen.

ANDINE MYTHOLOGIE IN METALROCK VERPACKT


Die Band Curare // Fotos: Curare

Was genau ist CURARE und wie entstand die Idee, ein musikalisches Projekt zu starten, das so unterschiedliche Klänge vermischt?
Juan Pablo Rosales: Mit CURARE versuchen wir, eine Untergattung des weltweit verbreiteten Folk-Metals zu entwerfen, die wir Andinen Folk-Metal nennen. Traditionell werden im Rock oder Metal folkloristische Elemente aus Europa mit Bezug zu den westeuropäischen Kelten oder anderen alten osteuropäischen Kulturen verwendet. Wir jedoch setzen dem unsere eigenen kulturellen und musikalischen Referenzen entgegen. Wir tragen unsere Mythologien in die heutige Zeit und verpacken sie in einen Musikstil, der uns gefällt – den Metal.

Was sind eure musikalischen Einflüsse?
David Rosales: Mein Bruder und ich kommen aus einer Musikerfamilie, in der viel traditionelle Musik wie etwa sanjuanitos, pasacalles, valses oder pasillos gespielt wurde. Wir fühlten, dass wir diese musikalische Prägung ausdrücken mussten, aber eben über Rockmusik. Grundsätzlich gibt es zwei Ereignisse, die unser musikalisches Leben bereits in der frühen Kindheit beeinflusst haben: Zum einen, dass uns unsere Mutter auf ein Konzert von Inti Illimani mitnahm, den großen Vorbildern der lateinamerikanischen Folklore. Erst durch Bands wie Inti Illimani widmete man sich in den sechziger Jahren wieder der lateinamerikanischen Musik und nutzte sie als Ausdrucksmittel linker Sozialkritik. Das zweite Ereignis war dann, als wir mit 10 Jahren The Wall von Pink Floyd sahen. Auf der einen Seite ist unser Einfluss also der Rock aus Europa und auf der anderen die Fülle traditioneller Musik aus den Anden. Augen öffnend war dann Bands wie Sepultura aus Brasilien zu hören: Es gab also auch Latino Metal! Das inspirierte auch uns dazu, eine Musik mit eigener Identität zu machen.

Bevor ihr eure Musik Andinen Folk-Metal nanntet, bezeichnetet ihr euch als ecuadorianische Longo Metal Band. Was ist Longo Metal und woher kommt das Wort Longo?
Eduardo Cando: Wir wurden sehr oft gefragt, was das eigentlich für eine Musik ist, die wir da machen. Es war gar nicht so sehr unser eigener Anspruch, dem einen Namen zu geben, sondern vielmehr das ständige Nachfragen der Leute. In einem Gespräch, halb ernst, halb im Scherz, kamen wir dann auf longo weil dieses Konzept im Kichwa die Zeit der Jugend und des Aufwachsens definiert. Unsere Musik richtete sich an die die Jugend, also nannten wir sie Longo Metal. Gleichzeitig hatten wir den Wunsch, die Nutzung des Wortes longo, das in der offiziellen Kultur der weißen Mestizo-Gesellschaft einen verächtlichen Beigeschmack hat, umzudeuten. Und zwar mit genau dieser Idee, das Andine wieder sichtbar zu machen, das in unserer eigenen sozialen, personellen und individuellen Überzeugung als Mestizen steckt. Daher also Longo Metal. Mittlerweile nutzen wir aber mehr den breiteren Begriff des ecuadorianischen Anden-Metals, denn das Konzept des Longo Metal ist lokal begrenzt.

Was hat es mit dem Titel eurer letzten CD Revive Esperanza (Die Hoffnung wiederbeleben) auf sich?
Juan Pablo Rosales: Revive Esperanza ist der letzte Teil unseres Erstlingswerkes, einer Trilogie: Comando Urbano, Radical Acción, Revive Esperanza. Zusammen ergeben die Anfangs­buchstaben CURARE. Das haben wir uns damals 2001, 2002 so ausgedacht und es war mehr oder weniger unser Plan. Comando Urbano (in etwa Stadtkommando, Anm. d. Übers.) ist sozusagen eine hippere Art uns selbst zu bezeichnen, denn gemeinsam sind wir wie ein kleines Komitee, das versucht etwas irgendwie Aufständisches zu machen. Heutzutage geben alle ihren Bands Namen in Awa oder Shuar [indigene Sprachen der Region, Anm. d. Übers.] oder mixen Samples ecuadorianischer Musik in ihre Lieder. Das ist eine super Entwicklung, denn als wir 2001 mit dieser Art der Musik anfingen, wurden wir dafür schief angeguckt. Viele Künstler betrachteten den Rückbezug auf die indigenen Klänge und Kultur eher mit Verachtung. Angesagt waren Jazz oder klassische Musik. In der zeitgenössischen Musik orientierte man sich generell sehr an allem Ausländischen, der Reichtum der lateinamerikanischen Symbole musste erst wieder entdeckt werden. Mittlerweile ist es normal, auf diese Symbole zurückzugreifen, alle machen das. In unserer Generation, vor 16 Jahren, war es noch eine Radical Acción, solche Musik zu machen. Und der Begriff „radikal“ geht auf das Wort Wurzel zurück, auf das Verwurzelt-Sein, die eigenen Wurzeln zu sehen und Wurzeln zu schlagen. Revive Esperanza ist nun der letzte Teil davon. Es ist eine grüne CD mit grünem Cover und Rücken. Wir wollten damit die Bedeutung des Urwalds hervorheben und betonen, dass in der Natur unsere Hoffnung fürs Überleben liegt. Wie können wir uns respektvoll nachhaltigeren Weltsichten annähern, wie sie die indigenen Völker Amerikas haben? Wie können wir lernen, weniger zu konsumieren? Ich glaube, dass es glücklicherweise immer mehr Leute gibt, die sich darum bemühen, weniger materielle und mehr spirituelle Reichtümer anzuhäufen. Das ist auch unser Anspruch.


Bandmitglieder: Juan Pablo Rosales (Guitarre und Gesang), David Rosales (Schlagzeug und Gesang), Eduardo Cando (andine Blasinstrumente), Federico Rossi (Bass)

Momentan stellt der Bergbau in Ecuador und auf dem ganzen Kontinent ein großes ökologisches, soziales und politisches Problem dar. Von der Regierung wird dies aber immer noch unter dem Deckmantel des Fortschritts schöngeredet. Glaubt ihr, dass die Musik helfen kann, in diesem Kontext ein soziales Bewusstsein zu schaffen?
Juan Pablo Rosales: Mit Musik erreicht man die intimsten Seiten des Menschen, den Geist und damit den Ort der Ideen und Gedanken. Musik ist grundlegend für jede Art des sozialen Wandels. Oft sind visionäre Künstler die Vordenkenden einer neuen Gesellschaft und Realität. Erst danach kommt es zu sozialen oder strukturellen Veränderungen. Wir versuchen mit unserer Musik solch ein utopisches Denken zu ermöglichen. Ich glaube, dass es Rockmusik deshalb nie in den Mainstream geschafft hat. Es ist nicht im Interesse der Musikindustrie, einen Bewusstseinswandel zu unterstützen, denn sie sind auf Konsumenten angewiesen. Wir hoffen jedoch darauf, dass das Unrecht und die Gier, die auch hinter extraktivistischen Projekten steckt, irgendwann ein Ende haben. Und dass wir dann in einer Welt leben, in der es nicht mehr eine solch große Kluft zwischen jenen gibt, die alles haben und jenen, die an Hunger leiden. Nebst der menschlichen Erfahrung bedarf es dafür auch eines spirituellen Bewusstseins.

David Rosales: Es gibt eine Geschichte über die Aufstände der Indigenen im Amazonas: Als sie eine spanische Siedlung einnahmen, erhitzten sie Gold und sagten zum Ranghöchsten in der Kolonie: „Hier, trink und sieh, wie gut du davon leben kannst“, und sie gaben ihm das geschmolzene Gold. Und als wir uns mit der Band mit dem Pfeilgift Curare beschäftigten, stellten wir fest, dass die erste Person, die an den Wirkungen starb, einer der Geographen von Christoph Columbus war.

„MEXIKANISIERUNG DER SICHERHEITSLAGE“

Statt Liberalisierung des Waffengesetzes Feuerwaffen zu Stahlschrott (Foto: Agência Brasil CC BY 2.0)

Viele brasilianische Städte durchleben derzeit eine Welle der Gewalt. Wie erklären Sie das?
Als Erstes muss gesagt werden: Was momentan in Brasilien passiert, ist keine neue Tendenz. In den vergangenen 30 Jahren ist die Gewalt stetig angestiegen. Das zeigt sich vor allem am Zuwachs der Mordrate. Was neu ist, ist die extreme Gewalt in den Gefängnissen. Wir haben lange die Ursachen erforscht, sind jedoch zu keinem Konsens gekommen. Aber: Es ist sehr wahrscheinlich, dass das sozioökonomische Profil Brasiliens Einfluss auf die Gewalt hat. Brasilien ist eine reiche Nation mit einer sehr hohen Anzahl von Armen. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Was die Gewalt zudem stark angetrieben hat, ist die Politik der Masseninhaftierung. Arme Viertel werden von der Polizei belagert und Jugendliche, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, landen im Gefängnis. Viele schließen sich erst dort dem organisierten Verbrechen an. Die aktuelle Sicherheitspolitik stärkt die Präsenz der Kartelle und heizt ihre Kämpfe um die Vorherrschaft sogar noch an.

Welche Rolle spielen die Veränderungen des organisierten Verbrechens?
Es gibt eine neue Ökonomie des Verbrechens vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man kann von einer Globalisierung sprechen, die fast alle Kontinente betrifft. Brasilien hat eine riesige Grenze und es haben sich verschiedene Profile des organisierten Verbrechens entlang dieser Grenze entwickelt. Das macht die Situation sehr kompliziert. Meine These ist: Das organisierte Verbrechen hat sich verändert, aber das brasilianische Strafsystem ist das Gleiche geblieben.

Im Norden und Nordosten explodiert die Gewalt. In São Paulo geht die Mordrate zurück. Warum?
Die Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro sind in den Norden und Nordosten expandiert. Sie sind immer aktiver in den Grenzregionen und kämpfen um die Kontrolle von Territorien. Was dort derzeit passiert, ist in São Paulo bereits vor Jahren geschehen: Das PCC (Erstes Hauptstadt-kommando, Anm. d. Red.) erkämpfte sich in den 1990er Jahren zuerst das Monopol in den Gefängnissen. Bald überschritt das Kartell die Gefängnismauern und heute kontrolliert es einen Großteil der armen Stadtteile von São Paulo. Das PCC hat dort fast die absolute Macht und hat Regeln des Zusammenlebens etabliert: So darf man beispielsweise nicht mehr ohne ihre Autorisierung töten. Deshalb ist es mittlerweile in São Paulo relativ ruhig geworden. Einige Menschen sagen sogar, dass das PCC in ihren Vierteln den Frieden gebracht habe. Diese Stärke bedeutet auch, dass es sich beim PCC nicht nur um eine einfache Gruppe von Kriminellen handelt, die man kontrollieren könnte. Es würde vielleicht zu weit gehen, bereits von Strukturen wie bei der italienischen Mafia zu sprechen, aber es hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. Wenn man sich ihre im Zuge von Ermittlungen veröffentlichte Buchhaltung anschaut, sieht man, dass das keine Amateure sind.

Ist Brasilien auf dem besten Weg dahin, ein „Narcostaat“ wie Mexiko zu werden?
Nein, ich denke, bis jetzt gibt es dafür noch keine Anzeichen. In Brasilien ist die Präsenz des organisierten Verbrechens im Staat noch relativ gering. Es ist noch kein Szenario, in dem der Staat komplett die Kontrolle über die Sicherheit verloren hat. Die Geschichte von Staaten wie Mexiko ist ganz anders. Brasilien ist noch nicht bei diesem Szenario angelangt. Aber man sollte nicht denken, dass sich das nicht bald ändern könnte. Studien von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeigen, dass Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen existieren. Es gibt eine starke Tendenz des Kontrollverlusts und die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage.

Der Staat reagiert mit einer Politik der harten Hand. Immer mehr Polizist*innen werden eingesetzt, der Kongress diskutiert im Moment die Liberalisierung der Waffengesetze, neue Gefägnisse sollen gebaut werden. Lassen sich auf diese Weise die Probleme lösen?
Auf keinen Fall. Wenn man immer mehr Jugendliche ins Gefängnis wirft, sorgt man dafür, dass der Gewaltmechanismus angetrieben wird. Und mit Gewalt wird man den Rachekreislauf nur weiter in Gang setzen. Das wird noch mehr Opfer zur Folge haben.

„WIR MÜSSEN UNORDNUNG SCHAFFEN“

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, wo es Glauben an den Staat und die Gesetze gibt. Dinge, bei denen sich meiner Meinung nach erwiesen hat, dass sie nicht ans Ziel führen, weder hier noch dort! Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staats-gründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe. Die Staaten stehen daher außerhalb dessen, was sie regieren.

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen, sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sich sehr an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionellen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanische und indigene Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht. Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibung und ich glaube, das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat, weil Frauen gezwungen werden, ein Stück Fleisch in sich zu tragen, das sie nicht möchten. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf 6 Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

In Ihren Abhandlungen schreiben Sie, dass Patriarchismus dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: In einem primordialen Moment gibt es demnach eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Und die Frau, das Weibchen, begeht dann einen Fehler, ist ungehorsam, auf diverse Art und Weisen: Sie kümmert sich nicht richtig um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut… Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.

In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ transformieren, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht und Gesetze braucht, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.

Das ist aber optimististisch, oder? Denn das heißt ja, dass das Beste uns noch bevorsteht.
Ja, ein bisschen. Entweder, wir schaffen es aus dieser patriarchalen Frühzeit der Menschheit heraus oder unsere Spezies wird verschwinden. Aber mein Denken ist nicht utopisch im Sinne eines utopischen Autoritarismus. Utopien können nämlich sehr autoritär sein. Das dekoloniale Denken geht von dem aus, was existiert, und nicht von einer Idee einer Gesellschaft, die von einem bärtigen Deutschen entworfen wurde (lacht laut). Nicht von einem „so sollte es sein“, das es nicht gibt. Das, wovon wir reden, gibt es wirklich. Natürlich hat es viele Mängel, die korrigiert werden müssen.

Wie wird in indigenen Gemeinschaften zum Beispiel der Gender-Binarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarismus abgeschafft.

Diesen Binarismus bekämpfen auch westliche LGTBI*. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen oder Klassen.

In Ihren Abhandlungen sagen Sie: Statt einer Politisierung des Häuslichen braucht es eine Verhäuslichung des Politischen.
Wir könnten Knoten sein in einem Faden der Erinnerung, die durch den Prozess des Kolonialismus sehr angegriffen wurde. Das heißt, zurückfinden zu Formen, in denen Frauen kollektive Probleme lösten. Domestizierung würde dann heißen, dass Das Andere seine Art zu sein durchsetzt.

Und so kann man den Binarismus überwinden?
Ich glaube schon. Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Zuerst müssen wir Unordnung schaffen. Wir müssen Unordnung schaffen.

TRAVESTIS: EINE POLITISCHE IDENTITÄT

Wie wir uns selbst nennen: Travestis in Lateinamerika
Ich wünsche mir, dass dies dazu beiträgt, ein Gedächtnis des lateinamerikanischen Travestismo aufzubauen. Ich glaube, wir haben Geschichte zu erzählen und Geschichte zu schreiben. Und zwar eigene Erfahrungen aus der ersten Person, um sie den Diskursen entgegenzusetzen, die über uns verbreitet werden. […]

In den 90er Jahren, als wir Travestis begonnen haben, in der Öffentlichkeit laut zu werden und uns zu organisieren, haben wir entschieden, dass wir unsere kollektive Energie zuerst auf die Umdeutung des Begriffs Travesti konzentrieren mussten, der bis dahin sowohl für andere als auch für uns selbst negativ besetzt war. Er wurde und wird immer noch als Synonym für aidskrank, diebisch, skandalös, infiziert und ausge-grenzt verwendet. Wir haben uns entschieden, dem Wort Travesti neue Bedeutungen zu geben und es mit Kampf, Widerstand, Würde und Freude zu verbinden.

Uns Travestis ist es wichtig, die politischen Bedeutungen des Wortes Travesti zum Ausdruck zu bringen. Es bestimmt Subjekte – uns –, die wir in verschiedenen Momenten und Orten Gegnerinnen und Gegnern die Stirn bieten, den Fundamentalistinnen und Fundamentalisten, den Autoritären, den Ausbeuterinnen und Ausbeutern und den Verteidigerinnen und Verteidigern des Patriarchats und der Heteronormativität. […]
Wir konstruieren unsere Identität, indem wir die Bedeutung, die die dominante Kultur den Genitalien verleiht, infrage stellen. Die Gesellschaft sieht auf die Genitalien und daraus ergeben sich Erwartungen hinsichtlich der Identität, der Fähigkeiten, der sozialen Position, der Sexualität und der Moral eines jeden Menschen. Es wird davon ausgegangen, dass zu einem Körper mit einem Penis eine maskuline und zu einem Körper mit einer Vagina eine feminine Subjektivität gehört. Der Travestismo bricht mit dieser in westlichen Gesellschaften hegemonialen binären Logik, die diejenigen unterdrückt, die sich dagegen wehren, sich den Kategorien „Mann“ und „Frau“ unterzuordnen. […]

Travestis in Lateinamerika: Wie wir leben
Unser Travestismo ist ein Phänomen, das sich vom nordamerikanischen und europäischen Transgenderismus unterscheidet. […] Das Wort Transgenderismus ist in theoretischen Arbeiten der US-amerikanischen Wissenschaft entstanden. Im Gegensatz dazu stammt der Begriff Travesti in Lateinamerika zunächst aus der Medizin und wurde sich von Travestis selbst angeeignet, neu ausgearbeitet und verkörpert, um sich selbst so zu benennen. Das ist der Begriff, in dem wir uns wiedererkennen und den wir uns ausgesucht haben, um uns als Rechtssubjekte zu konstruieren.

Dieser Prozess der Aneignung des Travestismo als Ort, von dem aus wir unsere Stimmen erheben und unsere Forderungen aufstellen, bestimmt einen politischen Kampf. […] Der Travestismo als verkörperte Identität überwindet die Politik der binären Körperlichkeit und der dichotomen Logik von Sexualität-Geschlecht.

Hier in Lateinamerika hat sich der Travestismo über die politische Mobilisierung und Diskussion mit anderen subalternen Subjekten einen eigenen Raum geschaffen. […] Es ist nicht möglich, Identitätskonstruktion von Lebensbedingungen in unseren Gesellschaften zu trennen. Unsere Lebensbedingungen sind gekennzeichnet durch den Ausschluss aus dem formellen Bildungssystem und Arbeitsmarkt. Innerhalb dieser Szenarien ist Prostitution die einzige Einnahmequelle, die am weitesten verbreitete Überlebensstrategie und einer der sehr wenigen Orte, in der die Travesti-Identität als Möglichkeit, in der Welt zu existieren, anerkannt wird. […]

In Lateinamerika und Argentinien wird der Travestismo oft in jungen Jahren angenommen. In einer Gesellschaft, die Travesti-Identitäten kriminalisiert, führt diese Situation häufig zum Verlust des Zuhauses, der familiären Bindungen und dem Ausschluss aus der Schule. […]

In den Lebenswegen von vielen von uns ist die Erfahrung der Entwurzelung mit der Annahme unserer Identität verbunden. […] Auch die Erfahrung des Todes und insbesondere der Verlust von Freundinnen und Bekannten ist für lateinamerikanische Travestis im Unterschied zu privilegierten Gruppen nichts Außergewöhnliches, sondern eine alltägliche Erfahrung. Die geringe Lebenserwartung begleitet die Mehrheit von uns. Es fehlen Generationen von älteren Travestis und die jüngeren kennen keine Erwachsenen, die ihnen helfen, einen Zeitpunkt kommen zu sehen, der über die unmittelbare Gegenwart hinausgeht oder eine Dimension zu erahnen, die die Individualität übersteigt. Der massive Verlust von compañeras hat Einfluss auf eine fehlende kollektive Erzählung, eine fehlende gemeinschaftliche Erinnerung, die uns ermöglichen würde, uns in der Zukunft zu projizieren.

Über Sittenverstöße, Polizeiverordnungen, Verhaltenskodexe und den öffentlichen Raum (für einige und einige wenige)
Die Kriminalisierung der Travesti-Identität findet zudem durch die Kontrolle bestimmter Bevölkerungsgruppen statt, die der Staat durch Polizeiverordnungen, Sittenverstöße, Verhaltenskodexe durchführt. Diese verfassungswidrigen Regulierungen sind dazu da, bestimmte soziale Gruppen polizeilich zu verfolgen und ihren Zugang zum öffentlichen Raum zu begrenzen: Travestis, Sexarbeiterinnen, cartoneras und cartoneros (Papiersammler*innen), piqueteras und piqueteros (Mitglieder der Arbeitslosenbewegung) und Straßenhändlerinnen und Straßenhändler.

Auf diese Weise wird unser Aufenthalt und unsere Bewegung eingeschränkt und für Travestis ist diese Begrenzung des Öffentlichen besonders schwerwiegend, da die Straße eine der wenigen Ressourcen ist, die wir als Kollektiv haben. Wir haben weder Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu eigenem Wohnraum und die Straße ist daher ein sehr relevanter Raum in unserem Alltag.

Es ist nicht unser Wunsch, soziale Anerkennung zu erreichen, sondern die Hierarchien, die über die Identitäten und die Subjekte verfügen wollen, die wir uns als Schwarze, Nutten, Palästinenserinnen, Revolutionärinnen, Indigene, Dicke, Inhaftierte, Drogensüchtige, Exhibistionistinnen, Piqueteras, Villeras (Slumbewohnerinnen), Lesben, Frauen und Transen bekennen, niederzureißen. Auch wenn wir keine Möglichkeit haben, ein Kind zu gebären, haben wir trotzdem den Mut und die Wut, die notwendig sind, um eine andere Geschichte hervorzubringen.

MENSCHLICHKEIT IM TIEFEN SINNE

Wir haben eine Rede von Lohana Berkins zum Travestismo als politische Identität abgedruckt. Können Sie nochmal sagen, was für Sie den argentinischen Travestismo ausmacht?
Unser Begriff Travesti unterscheidet sich von anderen Transgenderbewegungen im Bewusstsein und in der Komplexität, mit der wir uns selbst sehen. Wir sehen uns nicht aus einer Genderperspektive, ohne uns vorher aus der Klassenperspektive betrachtet zu haben. Die Trans- und Travesti-Community in Argentinien ist stark durch strukturelle und symbolische Armut geprägt. Wir beziehen uns in unserem Transgenderismus auf Subjektivität mit klarem eigenen Gehalt. Wir sind eine radikal andere Option der Identität. Wir wollen gar nicht in die Kategorien von Mann und Frau passen. Das ist eine Halluzination der Heterosexualität, dass wir euch imitieren wollen. Wir wollen weder Mann noch Frau sein, da beide ein gescheitertes Dasein haben.
Wir sehen Mann und Frau als systemisches Paar: Es ist nicht allein das Patriarchat und die Männer, es sind Männer und Frauen, die an dieser Gesellschaft, wie wir sie heute haben, schuld sind. Um diese Gesellschaft so derart scheitern zu lassen, haben sich Männer der Unterdrückung bedient. Aber Frauen sind mitverantwortlich, sie sind notwendig in diesem systemischen Paar. Sie tragen immer noch dazu bei, dass das Ganze erhalten bleibt. Bedauerlicherweise müssen sie anfangen, darüber nachzudenken.

Wird das nicht in der Frauenbewegung getan?
Der Feminismus ist eine notwendige Kritik, aber eine Kritik, die nicht die Veränderungen schafft, die die Welt braucht. Und das, was der Feminismus macht, um das Bestehende zu erhalten, macht er besonders gut. Jeden Tag erhält er das Patriarchat, den Kapitalismus und den Machismus, der heute weltweit die Gesellschaft ausmacht.
Die Wahlmöglichkeit der Frauenbewegung bleibt die der Frau, zu entscheiden, dass sie eine Frau sein will. Wir kommen nicht umhin, zuzugeben, dass der Ort der Frau vom Patriarchat und vom Mann konstruiert wurde. Der Mann definiert und er erlaubt, ob dieser Ort sich verändern kann oder nicht. Er erlaubt oder erlaubt nicht, dass heute für ,Ni una menos’ protestiert wird, er erlaubt heute, dass unsere Schwarze Bevölkerung nicht mehr verschleppt und versklavt wird und ob sich Bedingungen ändern.
Dass aber heute in meinem Land immer noch Menschen umgebracht werden, geschieht aufgrund eines systemischen Paars aus dominierendem Mann und funktionaler Frau. Und sogar die Frauen, der Feminismus und die Bewegungen, die aus der weiblichen Subjektivität heraus etwas schaffen wollen, sind immer noch zwingend notwendige Komplizinnen dieses systemischen Paars. Und solange, wie sie sich nicht aus dieser Illusion der obligatorischen Heterosexualität befreien, tun sie so, als ob sie keine Verantwortung dafür tragen würden, funktional für und mitschuldig an einem System zu sein, das tötet.

Können Sie genauer erklären, inwiefern die obligatorische Heterosexualität gescheitert ist und Tod produziert?
Das ist so offensichtlich, dass ich nicht weiß, was ich euch daran noch erklären soll. Ich könnte euch von religiösen Bewegungen erzählen, ganz beispielhaft von der katholischen Kirche mit ihrer Geschichte der Hexenverbrennungen und der Inquisition, Verbrechen, für die sie sich nie entschuldigt hat. Der Mittlere Osten ist ein permanenter Kriegsherd, der Imperialismus produziert immer weitere Tote. Und es regiert der Heterosexismus, um Kinder zu bekommen, ohne dass es irgendjemanden interessiert, ob diese Kinder auf dem Müll landen. Wir sehen nur zerstörte Kindheiten. Wir sehen die Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung – Benetton kommt und kauft ein Stück Land und lässt Hunderte Mapuche umbringen; Wichis werden vertrieben, weil neues Soja angebaut werden muss, die Menschen werden mit Glyphosat vergiftet. Die heterosexuelle Welt definiert sich also über das Scheitern und den Tod. Die Diktaturen in Lateinamerika, die 30 000 Verschwundenen in Argentinien, die weiteren in der heutigen Demokratie – all diese Toten! Die Frauenmorde in Mexiko, die Kinder in der Produktion, bei den Paramilitärs der Drogenkartelle…
Die Heterosexualität ordnet die Welt auf diese Art und Weise. Wir verstehen nicht, dass wir euch, die Heterosexualität, Patriarchat und Kapitalismus aufrechterhalten, immer noch erklären müssen, dass ihr versagt habt und sehenden Auges Tod produziert.

Was sind unsere Möglichkeiten, die kulturell besetzten Machtbeziehungen zwischen Mann und Frau und die damit verknüpften konstruierten Identitäten zu ändern?
Der Mann ist heute Herr des Hauses und ihm gehört die Hegemonie. Egal ob das daher kommt, weil er Kapitalist, Patriarch oder Imperialist ist. Und er sagt: ‚Du bist Frau, du bist Travesti, du bist eine Schwuchtel, du bist homosexuell, du bist indigen, du bist, du bist, du bist.’ Und er definiert uns. Er definiert sich nicht selbst. Wir, der Rest der entwerteten Subjekte, definieren diesen Mann. Die überwältigende Mehrheit akzeptiert ihre sekundäre Rolle. Wenn wir Travestis davon sprechen, trans zu sein, geht es um eine politische Position, da wir dieses systemische Paar verlassen.
Auch heterosexuelle Männer und Frauen, schwule Männer und lesbische Frauen können trans sein, hinsichtlich einer neuen Kondition, die eindeutig politisch ist. Das bedeutet, sich nicht in diesem Binom und nicht in diesen alleinigen Kategorien von Mann und Frau zu denken – die außerdem von jeglicher Seite völlig widerlegt sind, auch von der Natur. Weil wir alle aus der Natur kommen, wir sind Intersexuelle, wir sind Lesben, Schwule, Heterosexuelle oder was auch immer. Außerdem handelt es sich um Konstrukte, in denen wir sehr viel mehr aufgrund der Unterdrückung, als aufgrund der Natur festgefahren sind. Der Gebrauch des Wortes Natur wird für Unruhe sorgen, da die Rechte es benutzt, um zu definieren, was natürlich ist. Oder es wird gesagt, dass Gott befiehlt, Mann oder Frau zu sein. Das ist eine völlige Lüge. Der natürliche Charakter des Menschen ist es, sich selbst und die Welt um ihn herum zu verändern, zu transformieren. Wir sind natürlicherweise kulturelle Wesen.

Was ist der politische Ansatz des Travestismo?
Unser Travestismo ist ein politischer Diskurs, wir berufen uns ganz klar auf die Menschenrechte. Wir sind Subjekte ohne jegliche Verhandlungsmacht. Aus dieser ,Unmacht‘ heraus verhandeln wir. Warum müssen wir immer noch fordern, das wir nicht gesteinigt, nicht umgebracht, nicht verhaftet, nicht verfolgt werden? Wenn das doch etwas Wesentliches des Menschlichen ist? Warum müssen wir darüber diskutieren, dass ich aufgrund meiner Geschlechter-identität nicht diskriminiert werden darf, dass mir keine Rechte verwehrt werden dürfen?
Aufgrund dieser schlimmen Erfahrungen tut es uns weh, dass der Feminismus so lange braucht, um klarzukriegen, ob Travestis nun Feministinnen sein können oder nicht, ob sie bei den Frauentreffen dabei sein können oder nicht. Es tut uns weh, dass viele emanzipatorische Bewegungen nicht den Anstand haben, die Türen nicht vor uns zu verschließen. Die Travesti-Bewegung in Argentinien bringt das Konzept ,Trans’ als politische Möglichkeit vor, wo alle hineinpassen, die aus dem obligatorischen Heterosexismus entflohen sind. Für mich ist ,Trans‘ ganz klar die Möglichkeit einer politischen Identität. Wie andere sagen würden rechts, links, demokratisch, republikanisch oder wie auch immer. All diese Politik ist alt und abgelaufen und hat ihr Scheitern in der Realität gezeigt.

Ihr sucht nach einer „anderen Art Weiblichkeit“. Wie soll die aussehen?
Wir gehen in einem radikalen Sinn in Richtung Weiblichkeit. Aber eine Weiblichkeit, die sich mächtig anfühlt und die sich nicht gemäß dem vorherrschenden Paradigma konstruieren muss. Nicht diese frauliche Weiblichkeit, hübsch sein zu müssen. Oder hässlich, dick, tätowiert zu sein, um intelligent sein zu können. Wir sind, wie wir sind. Jede will sein, wie sie sein will und in diesem Sein-Wollen, gebe ich dem Männlichen keinen Deut Macht. Ich bin mit Penis geboren und mit dem Bewusstsein erzogen worden, dass mein Phallus meine Macht bedeutet. Die Situation der Unmacht entsteht nicht dadurch, mich der Identifikation mit dem Maskulinen verweigert zu haben. Ich streite nicht ab, dass es Gewalt gibt, aber ich akzeptiere es nicht, abgewertet zu werden. Es gibt immer noch Frauen, die das zulassen.
Wir ertragen die Gewalt, aber trotzdem sind wir uns unseres Wertes absolut bewusst. Deswegen werden wir nicht unsere Träume und unsere Wünsche zurückstellen. Wir verhandeln nichts. Wir sind in der Welt und wir gehen nach vorne. Die männliche und weibliche Welt will uns auf die Straße setzen, uns umbringen, uns angreifen, uns Entwicklungsmöglichkeiten nehmen – ok. Das ist euer Ding. Ich bin das, was ich in dieser völlig gescheiterten und gewalttätigen Welt sein kann, die von Männern und Frauen in ihrem dichotomen heterosexistischen Paradigma geschaffen wurde. Diese Welt hat nichts mit Menschlichkeit im tieferen Sinne zu tun.
Diese andere Weiblichkeit, die wir suchen, wäre eine wirklich starke Weiblichkeit. Mit der Kraft des absoluten Wissens, das sein zu können, was wir sein wollen, ohne das Männliche zu imitieren. Das wäre, eine menschliche Margaret Thatcher zu sein, eine menschliche Condoleeza Rice, Merkel und CFK (Cristina Fernández de Kirchner) – welche politische Person auch immer. Und dabei absolut kohärent mit dem, was wir sind.

Was ist euer Gegenentwurf für hegemoniale Identitäten und Beziehungen?
So etwas wie das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Erst als die Kinder in ihrer Unbedarftheit sagen, dass der Kaiser nichts anhat, merken plötzlich alle, dass sie von den Schneidern belogen worden sind. Sehr intelligent übrigens. Unser Gegenentwurf will die Gewalt sichtbar machen, die in dieser Welt Schritt für Schritt produziert wird.
Es wird überall gemordet, aktiv, indem mit Kriegsmaschinerie losgezogen wird, oder passiv, indem in Rindfleisch für wenige investiert wird, statt in Nahrungsmittel für alle. Wir erlauben, dass Kinder verhungern, dass es Sextourismus gibt und Vertreter der UNO und Militärs verschiedener Länder unsere Kinder prostituieren, wir erlauben Gewalt in Häusern, Schulen, Medien. Wir erlauben, dass die Gewalt sich in jedem Augenblick produziert und reproduziert. Wir ignorieren, dass es unser Ziel in der Welt ist, uns, Subjekte und Gesellschaften mit Vertrauen zu reproduzieren. Diese sollten frei von Gewalt, Armut und Demütigung sein. Das ist das, was das heterosexuelle, kapitalistische und patriarchale System produziert, mit dem wir alle so beschäftigt sind.

Was sind deine Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft?
Ich würde mir so wünschen, dass die Kinder, die in diese Welt kommen, in eine Welt kommen, in der alle Unterschiede in einer Umarmung aufgenommen werden können. Die Differenz zu radikalisieren und in dieser Differenz zu verstehen, dass die juristische, soziale, politische und wirtschaftliche Gleichheit radikal und intrinsisch notwendig ist. Da können wir eine Utopie erschaffen, in der wir eine Politik der Menschlichkeit im tieferen Sinne schaffen. Wo niemand seinen Körper, seine sexuellen Praktiken oder seine Formen, Beziehungen zu führen, ins Spiel bringen muss. In der wir uns einfach auf wirklich demokratische Weise neu erfinden.

SANFTER ÜBERGANG

Raúl Castro ist nach zehn Jahren Präsidentschaft abgetreten. Was hat er bewegt?
Als Raúl an die Macht kam, ersetzte er Fidel Castro, den unumstrittenen historischen Führer der Revolution, jemanden, der das Land ein halbes Jahrhundert lang geführt hat. Durch die schwere Erkrankung Fidels kam er 2008 zufällig an die Macht. Trotzdem musste die Machtübergabe so normal wie möglich geschehen, ohne die Regierungsfähigkeit einzuschränken. Einen ruhigen Übergang hinbekommen zu haben, ist Raúls Leistung. Nun leitet er einen neuerlichen Übergang hin zu einer neuen Führung, auf eine Art und Weise, dass sie von der Bevölkerung als normal angesehen wird, ohne Brüche. Das ist die erste Leistung.

Und sonst?
Die zweite Leistung: Während der Interimspräsidentschaft, noch im Jahr 2007, befragte Raúl die Bevölkerung: Kritik und Vorschläge dienten ihm als Basis für das, was er von da an beförderte: vor allem ökonomische Reformen sowie ein Paket von Deregulierungen, wie die Migrationsreform zur Reisefreiheit. Vor allem von 2008 bis 2010 war der Diskurs Raúls ein reformistischer: Es müsse Reformen geben. Er übte Kritik an den Problemen und nannte die Dinge beim Namen. 2010 wurden die ersten Ideen formuliert, es fand eine breite öffentliche Debatte über die Vorschläge statt. Im April 2011 dann tagte der VI. Parteikongress, der über die Vorschläge abstimmen ließ und Leitlinien aufstellte, die anschließend von der Nationalversammlung verabschiedet wurden und sich damit in ein Programm des Staates verwandelten. Die Leitlinien bilden seitdem den Rahmen für die Wirtschaftspolitik.

Mit welchen realen Auswirkungen?
Dieser Prozess zog zunächst Nutzen aus der Verbesserung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA, die Raúl Castro durch seine (Annäherungs-)Politik erreichte. Die US-Blockade besteht zwar weiter fort, aber unter Obama wurden einige Aspekte aufgeweicht.
Zuletzt aber haben sich die globalen Rahmenbedingungen wieder verschlechtert: Trump löste Obama ab und die USA kehrten zu einer Rhetorik zurück, die an die 1960er erinnert. Das vorteilhafte Panorama verschwindet und könnte sich noch weiter verschlechtern. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas und der Siegeszug der Rechten in Ländern wie Brasilien oder Argentinien.

Wie wirkt sich das auf Kubas Reformkurs aus?
Das führt dazu, dass die internen Programme unter Druck geraten und die Reformen verlangsamen. Raúls Nachfolger erben also eine schwierige Situation. Raúl aber hat eine “sanfte” Transition erreicht; und ein Ambiente von Reformprogrammen hinterlassen, die die nachfolgende Regierung nicht erst anstoßen muss, sondern auf die sie aufbauen kann. Die politische Führung ist daran interessiert, den Übergang ohne Spannungen durchzuführen. Ich für meinen Teil glaube, dass alles mit beträchtlicher Ruhe über die Bühne gehen wird. Wenn Raúl Parteichef bleiben wird, besitzt er Kraft seines Amtes zudem das Instrument, um mögliche Differenzen zu schlichten.

Welche Differenzen meinen Sie?
Wenn in einer Führungsposition ein 86-Jähriger durch einen Endfünfziger ersetzt wird, hast Du bildlich gesprochen zwei Generationen dazwischen aus dem Spiel genommen. Jemand, der vielleicht Minister ist und 70 Jahre alt, denkt, dass er jetzt aufsteigen müsste und plötzlich wird ihm gesagt: Deine Karriere ist vorbei. Man kann sich ein gewisses Nichteinverstandensein bis hin zu Widerstand ausmalen.

Den Titel Ihres Buches La evolución del poder en la Revolución Cubana (Die Evolution der Macht in der Kubanischen Revolution) aufgreifend: Wie hat sich die Macht in Kuba seit dem Amtsantritt von Raúl Castro im Jahr 2008 entwickelt?
Die Idee, dass die Macht evolutioniert, definiert sich nicht nur über die Persönlichkeiten, die bestimmte Führungspositionen besetzen. Es ist die Idee, dass die Macht als Fähigkeit das Verhalten der Gesellschaft zu bestimmen, sich durch Institutionen ausdrückt, die auftauchen und sich verändern, durch soziale Akteure, die die Machtpositionen besetzen. Gleichzeitig gibt es eine ökonomische Macht. Sie hat die Fähigkeit, Macht auszuüben über und ausgehend von der Wirtschaft. Es gibt ferner die Macht, die von und über die Zivilgesellschaft ausgeübt wird, und letztlich auch eine sogenannte ideologisch-kulturelle Macht. Macht hat also verschiedene Dimen­sionen: institutionell, politisch, wirtschaftlich, zivil, ideologisch-kulturell.
Im Fall Raúl Castros, abgesehen von seinen Machtpositionen als Staatschef, Chef der Kommunistischen Partei, Chef des Ministerrates, und über die historischen Meriten als Kämpfer der Revolution hinaus, besitzt er ebenso wie Fidel – und das erscheint mir sehr wichtig – die Fähigkeit, die Differenzen im Schoß der politischen Klasse zu schlichten._

Ihre Hypothese ist: Die Konsolidierung und Reproduktion der Revolution über die Zeit war möglich wegen des außergewöhnlichen Charakters der politischen Macht und der Hegemonie der sozialen Macht. Nun wird vor allem die soziale Macht herausgefordert durch Forderungen nach wirtschaftlichem Aufschwung und auf dem kulturellen Feld durch die globale Unterhaltungsindustrie, die auch in Kuba an Boden gewinnt, oder?
Ja. Aber die Ressourcen der Macht der Revolution sind weiterhin in Takt. Es existiert immer noch kein interner Herausforderer für diese Macht. Die Hauptherausforderung, der sich diese Macht gegenübersieht, ist es zu erreichen, den mehrheitlichen Konsens in der Bevölkerung beizubehalten. Im Verlauf des vergangenen halben Jahrhunderts hat dieser Konsens, der einmal bei 97 Prozent lag, augenscheinlich abge­nommen, einige Studien gaben ihm zuletzt aber noch 70 Prozent. Es ist weiterhin ein enormer mehrheitlicher Konsens. Ich glaube, dieser mehrheitliche Konsens wird fortbestehen, hat aber zwei fundamentale Bedrohungen: die ökonomische Krise seit 25 Jahren. Auch wenn wir sie überlebt haben, wurde der Lebensstandard nicht wieder hergestellt. Die Wirtschaft muss wachsen, um die Situation der Bevölkerung zu verbessern: Basiskonsum, Gesundheit, Bildung sind gesichert, aber es gibt andere Forderungen und Erwartungen der Bevölkerung, die nicht erfüllt werden können, ohne dass sich die Wirtschaft erholt. Deshalb ist das Thema Wirtschaft politisch entscheidend.

Auch weil der Wohlstand nicht mehr von Generation zu Generation wächst, oder?
Ja. Man kann sagen, die Revolution befindet sich in der siebten Generation. Die ersten drei lebten jeweils besser als ihre Eltern, die vierte gleich wie ihre Eltern und die fünfte und sechste schlechter als ihre Eltern, und die siebte läuft Gefahr, nicht viel besser als ihre Eltern zu leben. Diese Generationen sehen ihre Erwartungen frustriert. Die Tatsache, dass ein Dritte-Welt-Land jedes Kind in die Schule schickt, erscheint ihnen als etwas Natürliches; der Aufwand dafür aber ist enorm. Kuba gibt fast 70 Prozent seines Staatshaushalts für Sozialleistungen aus. Die jüngsten drei Generationen sind mit den sozialen Errungenschaften wie Bildung und Gesundheit als Selbstverständlichkeit aufgewachsen. Sie wollen mehr Konsum, Internet, Reisen – legitime Forderungen. Das Problem liegt bei der Revolution, diese Forderungen zu erfüllen.

Die Anspruchshaltung der Bevölkerung wird zum Problem für die Revolution?
Die Bevölkerung hat ihre Fähigkeit, Opfer zu bringen, wiederholt bewiesen. Die neuen Generationen stehen also vor diesem ökonomischen Problem, das gleichzeitig ein politisches Problem ist. Sie fühlen sich nicht ausreichend repräsentiert. Die politische Führung ist überaltert; die Mittzwanziger bis Mittdreißiger schauen nach oben und wer da an der Macht ist, sind ihre Großeltern. Sie fragen sich also: Was habe ich mit diesem Haus zu tun? Und was ist die Antwort? Entweder steige ich im Haus auf oder ich verlasse das Haus. Wir erleben beide Reaktionen. Es erscheint jedes Mal schwieriger, alle Generationen in das Projekt der Revolution zu integrieren. Man kann sagen, dieser mehrheitliche Konsens im Land nimmt mit jeder Generation ab.

Liegt darin nicht der Keim für die Formierung einer Oppositionsbewegung?
Theoretisch vielleicht, das Kuriose aber ist: Diese Abnahme des Konsens verwandelt sich nicht in politische Opposition, sondern in politische Anomie oder anders gesagt: Was geht mich das Ganze an? Es gibt also weiterhin den mehrheitlichen Konsens, aber der passive Teil dieses Konsens wird proportional immer größer. Zur Lösung der Probleme brauchst du aber nicht nur einen Mehrheitskonsens, sondern einen aktiven Mehrheitskonsens, neue Formen der Beteiligung. Die zu schaffen, ist neben dem Thema Wirtschaft entscheidend.

 

MIT MILITÄR GEGEN UMWELTSCHUTZ

Die Region Bajo Aguán ist seit Jahren wegen eines Landkonflikts militarisiert. Was hat sich seit den Wahlen im November 2017 geändert?
Viele Kooperativen landloser Kleinbauern und -bäuerinnen haben ihren Widerstand gegen das Regime von Juan Orlando Hernández und dessen Wiederwahl in Form von Landrückgewinnungen deutlich gemacht. So kam es Ende des Jahres 2017 zu einer erneuten Welle von Besetzungen von Fincas, die die Firma Dinant unrechtmäßig nutzt. Dinant gehört zum Firmen­imperium einer der bedeutendsten Familien der honduranischen Oligarchie, Facussé. Einige dieser Landrückgewinnungen wurden vom Militär und der Militärpolizei gewaltsam geräumt, andere leben mit der ständigen Angst vor Räumung. In der Zeit der Proteste nach den Wahlen war die Region extrem militarisiert.

Es gab Tote. Wie rechtfertigt sich die Politik?
Mit Unterstützung der US-Botschaft richtete die Generalstaatsanwaltschaft eine Einheit zur Untersuchung der durch Gewalt verursachten Toten (UMVIBA) ein. Wir haben den Eindruck, dass die Einheit eher geschaffen wurde, um die Unternehmen und deren private Sicherheitskräfte, das Militär und die Polizei zu entlasten und ihr Image reinzuwaschen. Die UMVIBA führt sehr stark den Diskurs, dass die Mehrzahl der Toten durch interne Konflikte unter den Bauern- und Bäuerinnenbewegungen verursacht wurden und versucht in dieser Richtung zu untersuchen und zu ermitteln. Sie sind nicht neutral. Zudem werden die Untersuchungen sehr schnell und oberflächlich durchgeführt. Die Bewegungen und Organisationen haben kein Vertrauen in diese Institution.

Im Aguán-Tal kämpfen Kleinbäuerinnen und -bauern nicht nur um verlorenes Land, sie wehren sich auch gegen Bergbau. Worum geht es?
Im Landkreis Tocoa wurden bisher 34 Bergbaukonzessionen vergeben. Es handelt sich hierbei um Konzessionen für metallischen und nicht-metallischen Bergbau. Allerdings zählt der Abbau von Eisenoxid als nicht-metallisch, obwohl klar ist, dass es hierbei um Eisengewinnung geht. Unternehmen mit Konzessionen für nicht-metallischen Bergbau zahlen weniger Steuern als für metallischen Bergbau. Die Vergabe der Konzessionen war nicht transparent. Wir von COPA versuchen auf legalem Wege herauszubekommen, wie die Vergabe verlief und wir wollen auch die Umweltgutachten zu jeder Konzession sehen. Diese sind den Gemeinden nicht bekannt. Viele Gemeinden haben ihre Zustimmung zum Bergbau nicht gegeben. Der Sektor San Pedro beispielsweise umfasst 13 Gemeinden, die alle ihr Wasser aus dem Fluss San Pedro beziehen. Mit dem Bergbau wird die Wasserquelle verschmutzt. Deshalb haben sich die Gemeinden in einer Gemeindeversammlung gegen den Bergbau ausgesprochen. Dennoch ist auch dieser Sektor von Bergbau bedroht.

Die Gemeinden und Organisationen, wie COPA, die sich gegen Bergbau aussprechen, sind stark bedroht. Von wem gehen diese Bedrohungen aus und wie wirkt sich das auf die Gemeinden und ihre Arbeit aus?
Die Situation ist komplex. Etliche Gemeinden gehörten zum Einflussbereich von großen Drogenkartellen. Das Kartell Los Cachiros war direkt im Bergbaugeschäft mit circa zehn Konzessionen und in einer Gemeinde, in der wir arbeiten, tätig. Die Konzessionen wurden nach dem Auffliegen des Kartells nicht für illegal erklärt, sondern sind auf intransparente Weise an andere Unternehmen gegangen. Wir möchten herausbekommen, an welche Unternehmen, aber das ist nicht immer einfach.
In La Ceibita ist die Arbeit für uns besonders gefährlich. Hier hat das Unternehmen Inversiones Los Pinares die Konzession. Dieses Unternehmen gehört Lenir Pérez und Ana Facussé. Ana Facussé ist die Tochter des verstorbenen Miguel Facussé, der einer der Hauptverursacher des Landkonfliktes im Bajo Aguán ist. Wie viele weitere Konzessionen diese Firma besitzt, die erst im vergangenen Jahr den Namen gewechselt hat, wissen wir nicht genau.
Viele Auftragsmörder haben sich von den Bergbaugesellschaften anheuern lassen und agieren mit den gleichen Methoden, nun aber als private Sicherheitsunternehmen für Bergbaugesellschaften. Das heißt, dass sowohl die Bergbau­gegner und -gegnerinnen in den Gemeinden als auch wir sehr vorsichtig agieren müssen. Das sind jedoch nicht die einzigen, die unsere Arbeit behindern und uns und die Gemeinden bedrohen.

Wer sind die anderen Akteur*innen?
Einer der wichtigsten Befürworter des Bergbaus ist der aktuelle Bürgermeister Adán Fúnez von der Partei Libre. Er und der Kongressabgeordnete der Nationalen Partei, Oscar Nájero, haben starkes Interesse am Bergbau. Sie sind mitverantwortlich für die Intransparenz bei der Konzessionsvergabe. Von Angestellten des Rathauses gehen Bedrohungen gegen die Gemeinden und uns aus. Da wir auf der einen Seite Aufklärungsarbeit in den Gemeinden zu den Folgen des Bergbaus machen und andererseits auf legalem Weg die Konzessionsvergabe transparent machen möchten, haben wir sowohl die Unternehmen als auch den Bürgermeister gegen uns.

Was sind die größten Herausforderungen in der Arbeit in einer so konfliktreichen Region?
Eine unserer größten Herausforderungen ist die starke Zersplitterung in den Bauern- und Bäuerinnenbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Der Staat betreibt die Spaltung bewusst, mit falschen Versprechungen, der Korrumpierung führender Persönlichkeiten, sowie mit Bedrohung, Einschüchterung und Morden.
Das größte Problem allerdings ist die ungeklärte Landfrage. Die staatliche Institution, die für die Landvergabe zuständig ist, das Nationale Agrarinstitut (INA), hat seit dem Putsch seine Arbeit enorm eingeschränkt. Sie unterstützen landlose Bauern und Bäuerinnen nicht bei der Gründung von Kooperativen und dem Landerwerb.
Während vom Landkonflikt nur die landlosen Bauern und Bäuerinnen betroffen sind, ist vom Bergbau die ganze Bevölkerung im Aguán-Tal betroffen. Die vom Bergbau verursachten Umweltverschmutzungen werden wir alle spüren. Deshalb ist unsere Arbeit in diesem Bereich wichtig

FLAMMENDES ZEITZEUGNIS

Wie sehen Sie La Hora de los Hornos heute, 50 Jahre nach der Filmpremiere?
Ich sehe ihn als großes historisches, soziopolitisches Gemälde seiner Zeit. Wir wollten keinen Dokumentarfilm mit Archivaufnahmen oder kommentierten Zeugenaussagen machen, sondern einen meinungsstarken Essayfilm. Er sollte Zeugnis über die neokoloniale Situation und die tagtägliche Gewalt ablegen, die man in den 1960er Jahren in Argentinien und im Großteil Lateinamerikas erlebte. So entstand die Erzählstruktur, die Unterteilung in Kapitel und Teilstücke, mit Zitaten von anderen Intellektuellen und Persönlichkeiten auf der Leinwand oder mit zitierten Sequenzen aus anderen Filmen. Was den politischen Aspekt betrifft, muss man den Diskurs aus den Umständen heraus betrachten, wie sie damals auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aussahen. Fast der komplette Kontinent wurde von Militärdiktaturen oder abhängigen Demokratien regiert. Wir sahen keine Möglichkeit, eine Veränderung innerhalb der bestehenden Institutionen herbeizuführen, weil diese durch die pro-nordamerikanischen Diktaturen aufgelöst worden waren. Es gab keine freien Wahlen, Zensur und Repression waren sehr heftig, und in den Gefängnissen gab es tausende politische Gefangene. Heute wäre es undenkbar, einen bewaffneten Kampf anzugehen, um die Regierung zu übernehmen, weil die Rechtsstaatlichkeit und die Wahlabläufe funktionieren – mal gut, mal schlecht.

Warum ein Film in mehreren Teilen?
La Hora de los Hornos ist in drei Teile unterteilt, aus operativen Gesichtspunkten und wegen seiner Publikumsausrichtung. Ich erinnere mich, dass Godard mich 1969 in Paris fragte, ob es nicht ein Widerspruch sei, den Film in Kinos zu zeigen. Ich antwortete ihm, dass wir das sogar im Fernsehen machen würden, weil in unserem Land eine totale Zensur herrsche und wir Gegenöffentlichkeit schaffen wollten. Der zweite Teil, die Chronik des Peronismus / Chronik des Widerstands gegen den Putsch und die Diktatur der „Gorillas“ [Anti-Peronisten, Anm. d. Red.], war eine historische Aufzeichnung von 30 Jahren Kämpfen der unteren Klassen gegen die oligarchischen Diktaturen, die auf Perón folgten.

Foto: Cinesur S.A.

An wen richtete sich der Film?Der erste Teil von La Hora de los Hornos war eine filmische Anklageschrift und sollte über alle verfügbaren Wege vertrieben werden.
Der zweite Teil war dazu gedacht, ihn den historischen Protagonisten des Films selbst zu zeigen, und sein Ziel war es, geheime Kooperationen zu fördern, um den politischen Kampf zu intensivieren. Dieser Teil war als ein Akt der Reflexion konzipiert: Der Film wurde in der Mitte unterbrochen und ein Plakat kündigte eine nun folgende Diskussion an. Die epische Bedeutung von La Hora de los Hornos bestand nicht nur darin, den Film als Aktion des Widerstandes gegen die Diktatur von General Ongania zu zeigen, sondern auch die Entwicklung von etwas Neuem, Unbekannten zu fördern. Es ging darum, ein paralleles, geheimes Filmvorführungssystem zu schaffen, das alle Organisationen der Arbeiter und Studierenden sowie des politischen Widerstands umfasste. Wir haben einmal bis zu 63 Filmvorführungsgruppen verschiedener Organisationen gezählt.
Der dritte Teil bestand aus der Reflexion über verschiedene Möglichkeiten des Kampfes, um die Diktatur zu stürzen. Es ist ein offener und unvollendeter Film, weil er mit weiteren Notizen, Briefen und Zeitzeugenaussagen vervollständigt werden müsste.

Wie führten Sie die Arbeit, die mit La Hora de los Hornos begann, dann weiter?
Der zweite Film, den ich gedreht habe – La Hora war mein erster – war Los Hijos de Fierro (Fierros Söhne), eine Paraphrase des großen epischen Gaucho-Gedichtes Martín Fierro von José Hernández von 1872, das Teil des argentinischen Nationalepos ist.
Darin verlassen 1945 die Arbeiter der industriellen Vororte von Buenos Aires die Fabriken und besetzen das Zentrum der Oligarchenstadt. Sie fordern die Befreiung ihres Anführers, des Oberst Juan Perón, der von der Militärführung verhaftet worden war. Viele sagen, dass das mein bester Film sei. Sein Vertrieb war eingeschränkt, weil ich von der menschenverachtenden Diktatur verfolgt wurde. Ich musste 1976 das Land verlassen, und erst im März 1984 konnte der Film uraufgeführt werden. Mehrere der Protagonisten waren ermordet worden. Der Schmerz und die Notwendigkeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen, waren so groß, dass wir nicht das große Publikum bekamen, das wir erwarteten. 2002 begann ich angesichts der neuen großen Krise und der Hungersnot in Argentinien eine Art neue Saga im Stil von La Hora de los Hornos. Ich durchquerte mit der Kamera das Land und so entstanden nach und nach mehrere Filme. Der erste war Memoria del Saqueo (Chronik einer Plünderung) und der letzte hatte gerade in diesem Jahr seine Weltpremiere auf der Berlinale: Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die vergifteten Dörfer).

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Was ich mir mit meinen 82 Jahren am meisten wünsche, ist die Realisierung von zwei oder drei Spielfilmen, von denen ich schon lange träume. Das Problem dabei sind die knapper werdende Zeit und der Mangel an Produzenten. Meine früheren Filme wollte niemand produzieren, und ich musste die doppelte Last schultern, sie gleichzeitig zu produzieren und zu drehen. Heute könnte ich das nicht mehr machen. Nicht nur, weil ich die Mittel dafür nicht habe, sondern auch, weil mich das umbringen würde. Während des Films Sur (Süden) hatte ich meinen ersten Herzinfarkt, bei La Nube (Der letzte Vorhang) den zweiten. Deshalb hoffe ich, dass jemand auftaucht, der einen dieser Filme produzieren möchte.

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