TROTZ ALLEM: EIN FEST

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Tricheri)

Frau Gago, Sie sind seit der Entstehung von Ni Una Menos im Jahr 2015 in der Bewegung aktiv. Wie hat sich diese entwickelt und was ist das Neue an diesem Feminismus, der es schafft, hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen?
Die Bewegung ist größer und massiver geworden, aber auch mehr im Mainstream angekommen. Das bedeutet, die Fähigkeit der Femi­nismen, sich mit einer ‚sozialen Konfliktivität’ zu verbinden, ist gewachsen. Soziale Konfliktivität meint die sozialen Probleme, mit denen die Gesellschaft heute konfrontiert ist. Die Parole Ni Una Menos (Keine einzige weniger) hat eine große Reichweite und schafft es, das Problem der Feminizide in die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Rahmen fanden die massenhaften Proteste von 2015 und 2016 statt. Im Oktober 2016 haben wir zum ersten Mal zu einem Frauenstreik aufgerufen. Das war eine Wende, weil wir aus dem Drehbuch ausgebrochen sind. Da wurden wir gefragt: Aber was hat ein Streik mit einem Feminizid zu tun? Mit dem Instrument des Streiks konnten wir sagen: Es reicht mit der Gewalt.
Aber um Gewalt gegen Frauen zu verstehen, muss ein ganzes Muster an Gewalt verstanden werden, das mit der ökonomischen, politischen und sozialen und der repressiven Gewalt des Staates verbunden ist. Wenn wir nicht verstehen, wie die Formen der Ausbeutung, die Kürzungen der Sozialleistungen oder die aktuelle Sozialreform, die die Regierung von Mauricio Macri systematisch vorantreibt, den Alltag beeinflussen, können wir nicht verstehen, warum Frauenkörper zu einem privilegierten Territorium für verschiedene Formen von Gewalt werden.

Wie hat die Bewegung den Alltag von Frauen in Argentinien verändert? Gibt es ein vor und ein nach bzw. während Ni Una Menos?
Heute können wir dem Grauen der Gewalt die Fähigkeit zur Mobilisierung entgegensetzen. Das erzeugt ein Bild, ein Gefühl und eine Erfahrung von kollektiver Kraft auf zwei Ebenen. Es geht um Trauer und Wut, aber auch um Schmerz und um einen Kampf. Trotz allem ist es ein Fest: Dieses ermächtigende Gefühl, gemeinsam auf der Straße zu sein. Dort verurteilen wir die Feminizide, die die größte Stufe der Gewalt darstellen, aber auch die anderen alltäglichen Formen der Gewalt, die mit Familienbeziehungen und zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch mit staatlicher Gewalt zu tun haben.
Dieses Gefühl hat die alltägliche Erfahrung verändert. Dieser massive öffentliche Moment gemeinsamer Stärke kann damit verbunden werden, wie diese Stärke übersetzt wird. Das heißt, wie sie sich in unseren alltäglichen Beziehungen verbindet, sich konkretisiert und materialisiert, in den Formen, die wir haben, um diese Gewalterfahrungen zu erzählen. Und sie, während wir sie erzählen, auch auf bestimmte Weise zu konzeptualisieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass in Argentinien nicht mehr von Verbrechen aus Leidenschaft gesprochen wird. Der Feminizid wird als politisches Verbrechen verstanden.

Die argentinische Frauenbewegung beschäftigt sich heute nicht nur mit explizit feministischen Themen, sondern bezieht Stellung zur aktuellen Regierungspolitik, positioniert sich zum Sozialabbau, staatlicher Repression oder Landkonflikten und ist dadurch heute zur größten oppositionellen Bewegung im Land geworden. Wie habt ihr es geschafft, diese Vielfalt an Themen in die Bewegung aufzunehmen und eine gemeinsame Position dazu zu finden?
Die feministische Bewegung hat es geschafft, eine Vielzahl von Stimmen, Beschwerden und Forderungen in sich zu vereinen und verschiedene Themen auf besondere Art zu artikulieren. Zum Beispiel die Landkonflikte der indigenen Mapuche, die kriminalisiert und verfolgt werden, mit denen feministische Organisationen Bündnisse eingegangen sind. Wir wollen wissen, was diese Aggression und Gewalt gegen Körper und Territorium ausmacht.

Es geht um die Fähigkeit, die aktuelle Sozialreform aus einer feministischen Diagnose heraus zu verstehen, warum sie ganz besonders Frauen betrifft – als vormalige Empfängerinnen von Kindergeld oder von Rentenansprüchen aus unbezahlter oder informeller Arbeit als Hausfrauen oder Hausangestellte. Oder es geht darum, die Gewerkschaften zu hinterfragen und uns dabei mit den Genossinnen zu verbünden, die die vertikalen Strukturen in den Gewerkschaften bekämpfen und sie für interne Demokratisierungsprozesse öffnen wollen. Wir befassen uns mit dem patriarchalen Justizsystem, mit dem Zugang zum Gesundheitssystem und mit den Forderungen der Migrantinnen, die auf die rassistische Politik dieser Regierung hinweisen. Wir haben ein ganzes Geflecht aus Forderungen geknüpft, mehr als nur das, es ist ein Geflecht aus Kämpfen. Was diesen Grad der Politisierung der feministischen Bewegung ermöglicht hat, ist, dass wir aus den Grenzen ausgebrochen sind, aus jener Begrenzung, die uns oft auf eine ‚Gender-Agenda’ limitieren will. Als könnten wir nur über geschlechterspezifische Themen sprechen, die ihre Sprache, ihre Kodes und vor allem ihre Grenzen haben.

Wir haben damit gebrochen und einen sehr langen und arbeitsreichen Prozess öffentlicher Versammlungen angestoßen, in dem der Streik als politischer Prozess entwickelt wurde. Der Streik vom 8. März hat wie ein organisatorischer Horizont für die Vielfalt an Forderungen und Beschwerden und vor allem der verschiedenen Kämpfe funktioniert. Diese verwebte Artikulation untereinander macht aus dieser Bewegung eine absolut politische, radikale, massive und transversale Bewegung.

Angesichts der Größe der Bewegung scheint es fast unmöglich für konservative oder reaktionäre Teile der Gesellschaft, feministische Forderungen zu ignorieren. Wie sind die Reaktio­nen aus diesen Kreisen und wie positio­nieren sich auch gerade konservative Frauen zu den Forderungen der Bewegung?
Es gibt zwei Reaktionen, eine traditionellere aus den konservativen Teilen der Gesellschaft und einen Versuch der neoliberalen Übernahme unserer Forderungen durch die Regierung. Eine starke Diskussion gibt es um die Forderung nach Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung, gegen die konservative Teile der Gesellschaft unter starker Beachtung bestimmter Medien demonstrieren. Das ist eine klare Reaktion auf die Ausmaße, die der Ruf nach Recht auf Schwangerschaftsabbruch mittlerweile in unserem Land angenommen hat. Auch weil diese Forderung das Potenzial hat, verschiedene Debatten über Kirche, Selbstbestimmung der Körper und rassistische und klassistische Dimen­sionen der Abtreibung zu verbinden. Denn auch wenn Abtreibung illegal ist, können Frauen aus Mittel- und Oberschicht in privaten Kliniken sicher ihre Schwangerschaft abbrechen.

Die Reaktion der Regierung ist neoliberal. Es wird versucht, Präsident Macri als jemanden zu inszenieren, der offen für eine feministische Agenda sei. Er hat gesagt: ‚Ich bin ein später Feminist’. Die regierungstreuen Medien haben diesen Versuch der Regierung, die feministische Agenda zu kapern, gefeiert. Präsident Macri hat in einigen Parlamentssitzungen den Mutterschutz und die Lohnungleichheit angesprochen und Gesetzesprojekte eingebracht. Wir finden, das ist eine opportunistische Nutzung unserer Forderungen, die in einem Kontext von Massenentlassungen und totaler Prekarisierung von angestellten und informellen Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen, einer massiven Kürzung von staatlichen Sozialleistungen und der aktuellen Sozialreform zu sehen ist.

Die großen Mobilisierungen zum Frauen*streik am 8. März und anderen Demonstrationen sprühen vor Kampfgeist und Freude und beschwören eine Revolution. Wie geht es weiter?
Durch die Veränderung der sozialen Beziehungen und der Machtbeziehungen, die durch diesen Prozess ständig ausgeübt werden, ist er unumkehrbar geworden. Es ist eine Revolution auf den Straßen, in den Betten, auf den öffentlichen Plätzen und in den Häusern. Die feministische Dynamik hat auch die Schülerinnen eingenommen, heute stellen sie sich einer Bildungsreform entgegen oder machen klar, wie wichtig integrale Sexualkunde ist – ein anderes Projekt, das die Regierung abschaffen will. Am Streik haben auch Kleinbäuerinnen teilgenommen, denn eine ganze Dimension des Feminismus beschäftigt sich mit sozialen und territorialen Konflikten und großen neoextraktivistischen Projekten in der Region.

Wenn dieser umfassende und vielfältige Feminismus sich in Verbindung mit einer wach­senden sozialen Konfliktivität weiterentwickelt, hat er die Fähigkeit, weiterhin eine gemeinsame Ebene hervorzubringen, in der Kämpfe zusammenwachsen, in der es ein konkretes materielles Muster verschiedener verknüpfter Institu­tionen und Initiativen gibt, um Erfahrungen zu artikulieren. Der Feminismus als gemeinsamer Code, der heute eine politische Orga­nisations­­kraft ­in den Stadtvierteln, Gewerk­schaften und Uni­versitäten hervorbringt. Wir sehen auch, dass diese so mächtige und kämpfer­ische Stärke eine schwere Gegenoffensive erlebt.

Seit längerem charakterisieren wir das Problem der Feminizide als den Moment, in dem der Körper der Frau als Feld der Auseinandersetzung und als Kriegsbeute offensichtlich wird. Zum Beispiel die kürzliche Ermordung der brasilianischen Politikerin Marielle Franco, aber auch die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Gavis Moreno in Ecuador oder die Inhaftierung verschiedener indigener Genossinnen, die seit Jahren wegen Rückforderungen ihrer Territorien im Konflikt stehen. Wir beobachten durch die Ermordungen von wichtigen Führungsfrauen ein Aufrüsten der politischen, polizeilichen und kirchlichen Kräfte in diesem Krieg. Es war kein Zufall, dass Marielle Franco eine Frau war, die den Nukleus rassistischer Gewalt, die Militärpolizei in den Favelas, diskutiert hat. Hier in Argentinien passiert das Gleiche mit den Müttern, die die Übergriffe der Polizei auf Kinder und Jugendliche in den Armenvierteln öffentlich machen. Frauen, die die kollektive Kraft nutzen und daraus eine mächtige Stimme machen, werden zum Ziel der Kontraoffensive einer misogynen Reaktion auf diese politische Kraft.

Zwar sind die Verhältnisse in Deutschland anders, aber auch hier müssen wir gegen sexualisierte Gewalt kämpfen. Was können wir von eurer Bewegung lernen?
Nach und nach übersetzen sich die Erfahrungen der Organisierung, der Radikalisierung und der Art und Weise, die soziale Konfliktivität zu verstehen, und finden zueinander. Und gleichzeitig taucht in jedem Ort und jedem Konflikt die Frage auf, was es bedeutet, sich diesen Konflikt in der feministischen Bewegung zu eigen zu machen. Die Hauptaufgabe ist es, die sozialen Konflikte aufzuzeichnen, über Strategien für Bündnisse nachzudenken und ausgehend von diesen konkreten und ungewöhnlichen Allianzen einzugreifen. Ungewöhnlich in dem Sinne, dass ganz verschiedene Akteurinnen und Kräfte miteinander kommunizieren können, sich zusammenfinden und vermischen. Und dann für eine Aktion zu mobilisieren, aus gerade dieser Vielfalt heraus, aus der sich heute die Kraft des Feminismus zusammensetzt.

“DAS POLITISCHE SYSTEM IST GESCHEITERT”

Herr Boulos, Sie sind Nationalkoordinator der Wohnungslosenbewegung MTST und treten zusammen mit der indigenen Aktivistin Sônia Guajarara zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober an. Warum?
Brasilien befindet sich in einer schweren politischen Krise. Die Hoffnungslosigkeit ist groß und die Menschen sehen keine Zukunft für sich und ihre Kinder. Es ist notwendig, unsere Wut in die Politik zu tragen. Wir wollen das, wofür wir auf der Straße gekämpft haben, nun in der Politik umsetzen. Es bedarf grundsätzlicher Veränderungen, da das politische System in Brasilien gescheitert ist. Wir haben keine Angst, den Finger in die Wunde zu legen.

Aber zielen Sie mit ihrer Kandidatur eher darauf ab, die politische Debatte zu beeinflussen oder wirklich zu regieren?
Wir wollen regieren und nicht einfach nur stille Zeugen der politischen Auseinandersetzung sein. Zusammen mit Sônia Guajajara, der PSOL und sozialen Bewegungen kämpfe ich für ein politisches Projekt, das sich lohnen soll.

Die Arbeiterpartei PT hat 12 Jahre regiert, bis sie 2016 durch ein juristisch fragwürdiges Amtsenthebungsverfahren abgesetzt wurde. Die PSOL entstand als Linksabspaltung der Partei (siehe Kasten). Was würden sie im Falle eines Wahlsieges anders machen als die PT?
Es gab Regierungserfahrungen der Linken in Brasilien – mit Fortschritten und Grenzen. Obwohl wir die Fortschritte anerkennen, werden wir nicht aufhören, Kritik zu üben. Diese Regierungen der PT haben nicht die Banken und das Kapital angegriffen. Brasilien ist weiterhin eines der Länder mit der größten Ungleichheit der Welt. Der Oxfam-Bericht vom September 2017 zeigt, dass hier sechs Personen mehr besitzen als 100 Millionen Menschen. Das Steuersystem ist sehr regressiv. Die Armen zahlen proportional mehr als die Reichen. Es gibt keine Steuern auf große Vermögen, die Erbschaftssteuer ist ein Witz. Es ist wie bei Robin Hood – nur andersrum. All dies wurde während der Amtszeiten der PT nicht angetastet. Wir müssen außerdem ein politisches System angreifen, das sich aus Koalitionen mit den reaktionärsten Kräften zusammensetzt. Diese nutzen die Politik lediglich, um Geld zu machen. Wir brauchen also eine umfassende Demokratisierung des politischen Systems. Auch die Medien müssen demokratisiert werden. Daneben kämpfen wir für eine Agrarreform sowie für eine urbane Reform. Kurz gesagt: Es geht darum, Privilegien anzugreifen – denn das ist mit der PT nicht geschehen.

Der Eintritt von Aktivist*innen in die institutionelle Politik wurde in der Vergangenheit immer wieder scharf kritisiert. Sehen Sie, als Koordinator einer sozialen Bewegung, kein Problem darin, nun zu Wahlen anzutreten?
Nein. Seit mehr als 15 Jahren bin ich Aktivist der Wohnungslosenbewegung MTST und wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir es uns nicht mehr leisten können, nur über Wohnraum zu sprechen. Durch die Regierung von Michel Temer verlieren die Brasilianer derzeit historische Rechte. Wir dürfen nicht länger zusehen, wie diese kriminelle Bande das Land führt, brutal das Leben der Mehrheit der Bevölkerung angreift und einfach still sein. Und wir werden unsere Mobilisierung auf der Straße aufrechterhalten. Denn: Es reicht nicht aus, einfach nur Wahlen zu gewinnen – wir kämpfen für ein politisches Projekt.

Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva wurde unlängst in zweiter Instanz verurteilt und kann voraussichtlich nicht zur Wahl antreten. Welche Rolle spielt die PT für ihre Kandidatur?
Die PT ist nicht mehr an der Regierung, mehr als das: Sie hat einen Putsch erlitten. Gegen Lula läuft eine juristische Verfolgung, besser gesagt eine juristische Farce. Dies könnte ihn hinter Gitter bringen, obwohl es keine Beweise gibt. Die Justiz verhält sich wie eine politische Partei, um Lula von den Wahlen auszuschließen. Es ist eine Sache, Differenzen mit der PT zu haben – und die haben wir. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder klar artikuliert. Aber wir werden uns nicht zum Komplizen dieser Justiz machen. Umfragen zeigen, dass der ultrarechte Kandidat Jair Bolsonaro bei den Umfragen für die Wahlen immer weiter zulegt, auch viele Jugendliche aus den armen Randgebieten haben vor, für Bolsonaro zu stimmen. Wir sehen Bolsonaro nicht als Konkurrenten, sondern als Kriminellen. Er hat sich mehrerer Verbrechen schuldig gemacht: Hassverbrechen, Rassismus, Homophobie, Sexismus und Anstiftung zur Gewalt. Kürzlich sagte er, dass wenn er die Wahl gewinne und das organisierte Verbrechen nicht aus Rocinha verschwinde, er die Favela mit Kugeln durchlöchern werde. Im Parlament hat er Folterer der Militärdiktatur geehrt, unter anderem jenen Mann, der die Ex-Präsidentin Dilma Rousseff gefoltert hat. Bolsonaro ist ein Verbrecher, der hinter Gitter gehört und nicht zur Wahl antreten sollte.

Dennoch hat er Chancen auf einen Wahlsieg. Wie wollen sie das verhindern?
Bolsonaro präsentiert sich als Neuheit und als Gegenspieler zum korrupten, politischen Establishment. Allerdings war er selbst die meiste Zeit seiner politischen Karriere Abgeordneter einer der korruptesten Parteien Brasiliens. Die Menschen sind so desillusioniert und hoffnungslos, dass sie dem Diskurs von Bolsonaro ein Echo geben. Wir müssen dieses Bild demaskieren und dafür sorgen, dass die Brasilianer das Vertrauen in die Politik zurückgewinnen – und zwar indem wir Zukunftsperspektiven aufzeigen.

Doch gerade wegen seiner harten Hand gegen das organisierte Verbrechen erfährt Bolsonaro viel Zustimmung. Die Gewalt in Brasilien ist in den vergangenen Monaten explodiert, die Debatte über die öffentliche Sicherheit dürfte den Wahlkampf maßgeblich bestimmen. Wie wird das Thema bei Ihnen diskutiert?
Das Problem der öffentlichen Sicherheit ist groß. Wir müssen die Gewalt effektiv bekämpfen. Als Erstes muss aber verstanden werden, dass die Gewalt untrennbar mit der sozialen Ungleichheit zusammenhängt. Wo es weniger Sozialpolitik und weniger Möglichkeiten gibt, steigt die Gewalt. Das ist kein brasilianisches Phänomen, sondern überall auf der Welt der Fall. Wir diskutieren verschiedene Wege, die Gewalt zu bekämpfen, unter anderem mit Wissenschaftlern und einer Gruppe von antifaschistischen Polizisten.

Wie sehen die aus?
Wir haben einige Vorschläge. Als Erstes darf der Staat nicht länger Initiator der Gewalt sein. Die Polizei arbeitet in Brasilien mit einem Konzept des inneren Feindes – und dieser ist für sie der schwarze Jugendliche aus der Vorstadt. Diese Feindeslogik heizt die Gewalt nur noch weiter an. Wir brauchen eine tiefgehende Reform und Demilitarisierung der Polizei. Zudem muss eine neue Strategie gefunden werden, die öffentliche Sicherheit für alle verspricht. Zweitens, der Krieg gegen die Drogen ist auf der ganzen Welt gescheitert. In Brasilien werden lediglich die kleinen Dealer angegriffen. Es ist ein Krieg gegen die Armen. Die großen Geschäfte bleiben unangetastet. Das hat dazu geführt, dass das organisierte Verbrechen noch viel mächtiger geworden ist. Daher müssen wir Drogen entkriminalisieren – denn das ist der effektivste Weg, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Unser dritter Punkt hat mit einer tief verankerten Kultur der Gewalt in der Gesellschaft zu tun. In Brasilien laufen zur besten Sendezeit Polizeisendungen im Fernsehen. Diese Shows zementieren die Kultur der Gewalt und schaffen ein tief sitzendes Gefühl der Unsicherheit. Unser Nachbar Uruguay hat vor einigen Jahren unter Ex-Präsident José Mujica ein interessantes Experiment gestartet. Die Fernsehsender durften Polizeishows nur noch nach 23 Uhr ausstrahlen. Das Ergebnis war, dass die Gewalt im Land gesunken ist. All dies sind Wege, die wir gehen müssen.

Wie beeinflussen feministische Debatten Ihre Kandidatur?
Die Ungleichheit hat verschiedene Stufen in Brasilien und Frauen stehen immer noch unten. Für die gleiche Arbeit verdienen sie weniger als Männer, auch in der Politik sind Frauen weiterhin extrem unterrepräsentiert. Obwohl sie die Mehrheit in der Bevölkerung sind, stellen sie nur zehn Prozent der Abgeordneten im brasilianischen Parlament. Dies ist Ausdruck einer tief sitzenden Ungleichheit. In Brasilien sterben außerdem jeden Tag vier Frauen an den Komplikationen von im Geheimen durchgeführten und schlecht ausgeführten Abtreibungen. Deshalb fordern wir, dass Frauen endlich über ihren eigenen Körper bestimmen können. Unser Programm ist also ein feministisches Programm. Denn: wer tief greifende Veränderungen umsetzen will, muss diese Debatten als zentral betrachten.

Ihre Parteikollegin Marielle Franco wurde brutal ermordet. Was bedeutet dieser Fall für Sie?
Der Tod von Marielle hat uns alle schwer geschockt. Sie war eine Kämpferin und wichtige Parteikollegin. Der Mord zeigt, wie tief die Wunde in der brasilianischen Demokratie sitzt. Das ist eine Nachricht von der anderen Seite: Sie sind bereit, alles zu tun. Wir müssen die Ermittlungen abwarten, aber es gibt Verdächtige. Marielle hat die Polizeigewalt in Rio de Janeiro öffentlich angeklagt, sich gegen die Militärintervention gestellt (im März übernahm das Militär die Kontrolle über die Sicherheit in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.) und wurde zur Vorsitzenden einer Kommission im Stadtparlament über den Einsatz ernannt. Wir wollen wissen, wer sie ermordet hat und werden keine Ruhe geben, bis wir eine Antwort darauf bekommen. Marielle wird Gerechtigkeit erfahren. Ihr Kampf wird nicht umsonst gewesen sein.

“DAS KINO KANN EINE GESELLSCHAFT HEILEN!”

Las Herederas ist der erste Film aus Paraguay im Wettbewerb der Berlinale. Was bedeutet das für Sie und das paraguayische Kino?
Man kann sagen, dass unser Kino viele Jahre lang unsichtbar war. Paraguay hat lange Zeit seine Filmproduktion vernachlässigt. Wir hatten einen bayerischen Präsidenten, den Diktator Alfredo Stroessner, der 1954 an die Macht gekommen ist und sie 1989 wieder abgegeben hat, als ich 16 Jahre alt war. Stellen Sie sich mal vor, diese ganzen Jahre praktisch ohne Filmproduktion! Das war gravierend und weil es einfach sehr wenig Filme gab, konnten wir natürlich auch nicht auf der Berlinale präsent sein. Deshalb freue ich mich auch, mit einem Film auf der Berlinale vertreten zu sein, der eine soziale Schicht behandelt, die in unserem Kino nicht oft zu sehen ist und die mit einer Reflexion über die Dinge zu tun hat, die mir in meinem Land wichtig erscheinen. Manchmal kommt es mir so vor, dass durch die Festivals, die Filmfonds, selbst durch die Kritiker ein lateinamerikanisches Kino nach ihren Bedürfnissen geformt wird, die manchmal exotisierend sind. Das kann zum Beispiel auch ein zu offensichtlich politisches Kino sein. In diesem Fall habe ich versucht, einen Film hierher zu bringen, der das nicht ist, sondern etwas, von dem ich glaube, dass wir es brauchen.

Foto: Viola Güse

Gab es wirklich gar keine Filmproduktion in Paraguay? Ich frage, weil Diktaturen das Kino ja manchmal für ihre Propaganda verwenden. Wie es zum Beispiel im Dritten Reich mit den Filmen von Leni Riefenstahl der Fall war.
In Paraguay gab es einige Firmen, die offizielle Nachrichtensendungen für das Kino machten. Die produzierten im Auftrag von Franco für die lateinamerikanischen Diktaturen und arbeiten heute alle in Madrid. Es gab 1979 einen einzigen Film, der offiziell in Paraguay produziert wurde (den Kriegsfilm Cerro Cora, Anm. d. Red.). Der Rest ist ein weißer Fleck.

Sprechen wir ein bisschen über das Setting des Films. In Las Herederas sind Männer fast unsichtbar. Wenn die Kamera auf einen Mann schwenkt, wird das Bild unscharf gezoomt. Woher kam die Idee, einen Film zu machen, in dem fast nur Frauen auftreten? Speziell ältere Frauen.
Ich glaube, da gab es viele Gründe. Als ich die Geschichte schreiben musste, habe ich nachgedacht, und die erste Sache, die mir in den Kopf kam, waren die Gespräche von Frauen untereinander. Am meisten erinnerte ich mich an die Echos der Stimmen der Frauen, die ich in meiner Kindheit kennengelernt hatte. Ich glaube, wenn man seinen ersten Film macht, sucht man nach einem sicheren Ort. Ich habe mich für ältere Frauen entschieden, weil es für mich sehr wichtig war, über eine Gesellschaft zu sprechen, die sich ständig selbst reproduziert und deswegen ist die Geschichte so wichtig. Diese Frauen tragen ihre Geschichte in ihren Gesichtern, in ihren Körpern, überall. Genauso wie das alles in den Tapeten des Hauses, in den Möbeln hing. Die vergangene Zeit ist überall präsent, um dieses Gefühl nachzuempfinden, dass wir über etwas Altes, etwas im Verfall, um das sich niemand schert.

Haben Sie diese weibliche Welt aus familiären Erinnerungen rekonstruiert? Ich kann mir vorstellen, dass der Zugang dazu für einen Mann nicht so leicht war.
Das Grundsätzliche habe ich als Kind aufgeschnappt. Viele Dinge habe ich gehört, als ich mich als Kind versteckt und gelauscht habe und ich glaube, dass es das ist, was in meinem Kopf widerhallt. Ich glaube, dass ich das heute nicht mehr hören könnte, dass ich zu dieser Intimität keinen Zugang mehr hätte. Aber es erscheint mir, dass man es Kindern verzeiht, wenn sie da sind, während die Mutter und die Tanten miteinander sprechen… Ich glaube aber auch, dass die Teile der Gesellschaft, in denen man sich untereinander verbündet, in denen der Modus Operandi der Klatsch, der Gossip ist, mein Interesse wecken. Das erscheint mir in einer Gesellschaft wie der, aus der ich komme, von fundamentaler Wichtigkeit.

Und dann das Männerbild. Ich denke, dass Sie sehr oft darauf stoßen werden, wenn Sie über Lateinamerika sprechen. Das sind machistische Gesellschaften dort, in denen erwartet wird, dass der Mann immer alle Antworten kennt. Dass er seiner Sache immer sicher ist, immer alles weiß. Die Frauen können sich aber Fragen stellen. Und mir schien es, dass über die weiblichen Charaktere die beste Herangehensweise wäre, um Fragen zu stellen. Also habe ich mir gesagt: So machen wir das!

Würden Sie ihren Film als feministischen Film bezeichnen?
Nein. Ich glaube, es ist ein humanistischer Film. Weil die Frauen keine feministischen Positionen vertreten, es sind verschiedene Arten von Frauen. Ich weiß nicht, wie Feministinnen oder lesbische Kollektive den Film aufnehmen werden. Das entzieht sich meiner Kontrolle. Aber was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass ich versucht habe, einen Film zu machen, der so humanistisch wie möglich sein sollte.

Der Film behandelt auch das Thema der sozialen Klasse, in diesem Fall der höheren sozialen Klasse. Das bemerkt man zum Beispiel im Verhältnis mit den Hausangestellten. Obwohl sie fast kein Geld mehr hat, möchte Chela, die Protagonistin, nicht auf ein Dienstmädchen verzichten. Wie präsent ist dieser Aspekt in der Gesellschaft in Paraguay?
In Paraguay gibt es eine enorme soziale Ungleichheit. Es ist eine Gesellschaft, in der wir sehr daran gewöhnt sind, dass ein Teil der Bevölkerung immer Diener, Chauffeure, Gärtner hat und der Rest am Existenzminimum lebt. Das erscheint mir sehr wichtig. Während der Entstehung des Films habe ich viel am Universum dieser Frauen gearbeitet und nicht so sehr an der Figur der Hausangestellten. Ich glaube, das ist erst gekommen, als wir diese Schauspielerin kennengelernt haben, die wirklich von Beruf Hausangestellte ist, bei meinem Nachbarn. Sie wohnt tatsächlich direkt neben meinem Haus. Und ausgehend von der Verbindung, die sie mit Chela hat, haben wir begonnen, darüber nachzudenken, ob ein großer Teil dessen, was passiert, daran liegt, dass es keinen Dialog zwischen den sozialen Klassen gibt, dass es da eine Annäherung, ein Gespräch geben müsste, damit die Dinge beginnen, sich zu ändern. Und ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges.

Ein anderes Thema des Films ist die Freiheit, die Chela sich nach und nach erarbeitet. Wenn wir über das Filmemachen in Paraguay reden, wo heute ein ziemlich repressives System an der Macht ist: Wie viel Freiheit gibt es heute für Filmemacher*innen in Paraguay?
Ich glaube, ich möchte hier nicht direkt vom repressiven System sprechen. Denn abgesehen davon, dass wir gerade einen Präsidenten haben, der in Anschuldigungen bezüglich Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Geldwäsche verstrickt ist, glaube ich, dass in Paraguay nicht nur der Staat, sondern das Bürgertum versagt. Es gibt diese romantische Beziehung zwischen der Bourgeoisie und den Diktatoren, die mir als etwas sehr Mächtiges erscheint. Und auf andere Weise besteht sie weiter fort, in diesen neuen Modellen, in denen die Mächtigen nicht mehr Diktatoren sind, sondern Schmuggler, Drogenbosse, andere Formen des Regierens. Für mich ist in diesem Moment, wenn ich von heute spreche, nicht mehr die Repression der Regierung das Schlimmste. Sondern die Unterdrückung durch die Gesellschaft, die viel stärker ist.

In Ihren Filmen sprechen Sie über kontroverse Themen, wie zum Beispiel das Massaker an der Landbevölkerung in Curuguaty. Wie wird das in Paraguay aufgenommen?
Diesem Film, der La voz perdida (Die verlorene Stimme) heißt und in Venezuela den Kurzfilmpreis Horizonte gewonnen hat, scheint mir ein so politischer Film zu sein, dass er dort, wo ich herkomme, als Propaganda aufgefasst wird. Es gibt in Paraguay keine große Offenheit dafür, keinen Wunsch, sich ernsthaft mit den Ereignissen zu befassen. Die Leute begnügen sich damit, die Nachrichten zu lesen. Aber wir wissen natürlich über die Entstehung dieser Nachrichten, die in Wirklichkeit große Manipulationen sind, Bescheid. Ich glaube, in Paraguay wäre dringend ein öffentlicher Fernsehkanal nötig. Ich habe schon einmal an so einem Projekt für öffentliches Fernsehen mitgearbeitet. Weil ich wirklich glaube, dass es wichtig ist, was es hier in Europa gibt: Eine Tradition öffentlicher Fernsehanstalten. In Lateinamerika gibt es das nicht. In Lateinamerika entsteht Kommunikation auf Privatinitiative und ich glaube, das ist sehr gefährlich für unsere Gesellschaft. Denn sie entsteht natürlich manipuliert durch die Interessen der großen Mediengruppen. Deshalb ist es mir sympathisch, dass Sie (Lateinamerika Nachrichten, die Red.) kollektiv organisiert sind. Das ist klug.

Aber auch viel Arbeit.
Die ist es wert.

Kommen durch den Erfolg, dass es ein Film aus Paraguay in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, weitere Produktionen aus Paraguay nach? Gibt es eine junge Filmszene, die gerade entsteht?
Ja, es gibt eine neu entstehende, vielseitige paraguayische Filmszene, die verschiedene Aspekte behandelt. Aber ich glaube, dass die Unterstützung jedweder Filmproduktion fehlt. Es ist viel besser, auf der Basis öffentlicher Filmfonds zu arbeiten, die die Wichtigkeit des Kinos für den Aufbau einer Gesellschaft verstehen. In Paraguay gibt es immer diese Diskussion: „Wie kann man ins Kino investieren, wenn man doch die Ausgaben für die Gesundheit verwenden müsste?“ Das ist für mich eine grundlegende Debatte und ich vertrete dabei immer die Position, dass das Kino genauso Verletzungen heilt. Nur auf andere Weise.

Gibt es da Interesse von Seiten der Politik?
Wenig. Momentan laufen wir sogar Gefahr, dass Paraguay aus IberMedia, dem einzigen regionalen Filmförderfonds, dem wir angehören, austritt. Da werden wir dagegen kämpfen.

EINE PERVERSE DREIECKSBEZIEHUNG

Hunderte Familien sind im November aus ihren Gemeinden geflohen, nachdem im Oktober ein Bewohner Chalchihuitáns im Grenz­gebiet zu Chenalhó erschossen wurde. Worum geht es bei diesem Konflikt?
Chalchihuitán und Chenalhó sind zwei Munizipien in Chiapas. Bis zur Landreform 1973 gab es Vereinbarungen über die Grenze zwischen den Gemeinden, die von allen respektiert wurden. Mit der Landreform wurde der Grenzverlauf zwischen den beiden Munizipien jedoch neu geregelt, wonach sich die beiden Munizipien im Grenzgebiet überlappen. So erheben beide Anspruch auf dasselbe Gebiet. Daraus entstand ein Konflikt, der jetzt schon 45 Jahre andauert. Die kritischste Zone, um die gestritten wird, umfasst etwa 265 Hektar. Zwar gab es immer wieder Lösungsversuche, aber es mangelte immer am politischen Willen, die Hintergründe zu klären.

Woran liegt das?
Im Verlauf dieser Geschichte gab es den zapatistischen Aufstand 1994. Im Zuge der Aufstandsbekämpfung zwischen 1994 und 2003 wurden paramilitärische Gruppen geschaffen, also bewaffnete Gruppen, die von der Regierung finanziert, trainiert und geschützt werden. In dieser Zeit gab es eine ganze Serie von Zwangsvertreibungen und Gewalt in dieser Region. Die Erinnerungen daran sind in der Bevölkerung noch immer sehr präsent. Nach 2003 gab es zwar eine politische Veränderung, aber die paramilitärischen Gruppen wurden nie gänzlich untersucht oder entwaffnet.

Und heute agiert das Paramilitär in dem Konflikt um das Grenzgebiet zwischen Chalchihuitán und Chenalhó?
Möglicherweise sind es dieselben Gruppen. Bei den Paramilitärs in den 1990er Jahren lassen sich die Verbindungen zu Militär und Polizei nachweisen. Heute ist das nicht so offensichtlich, deswegen sprechen wir von einer bewaffneten Gruppe. Was man sieht, ist jedoch die Unterstützung durch die Bürgermeisterin Chenalhós Rosa Pérez. Sie deckt die bewaffnete Gruppe, die für die Vertreibungen verantwortlich ist und die Regierung tut nichts dagegen.

Wie agiert diese bewaffnete Gruppe aus Chenalhó?
Sie hat zuerst die Zufahrtsstraße nach Chalchihuitán zerstört, so dass die Menschen nicht hinein oder hinaus konnten. Sie waren einen Monat abgeschottet, der einzige Weg, Hilfe dorthin zu bringen, war eine sehr komplizierte neunstündige Fahrt über eine Schotterstraße. Ab Mitte November wurden die Menschen vertrieben. Wir wissen von 5023 Anwohner*innen, die hauptsächlich aus der Grenzzone zwischen Chalchihuitán und Chenalhó kommen. Diese Familien erinnern die Gewalt der 1990er Jahre und hatten Angst, von der bewaffneten Gruppe umgebracht zu werden, wie bei dem Massaker von Acteal vor zwanzig Jahren, als 45 Menschen brutal von Paramilitärs ermordet wurden. Die Mehrheit floh mit allem, was sie mitnehmen konnte in die Berge, wo sie ihre Lager aufgeschlagen haben. Dort ist es zu dieser Jahreszeit sehr kalt und die Versorgungslage war vor allem am Anfang sehr schlecht. Elf Menschen sind dort an Atemwegserkrankungen und Durchfällen gestorben, die Mehrheit Kinder und ältere Menschen.

Wie hat die mexikanische Bundesregierung auf die Vorkommnisse reagiert?
Die Bundesregierung hat sehr spät reagiert und die Situation zunächst heruntergespielt. Erst wegen des öffentlichen Drucks wurde irgendwann humanitäre Hilfe für die Vertriebenen in den Camps organisiert. In diesem Bereich hat die Regierung noch am meisten geleistet. Gegen die bewaffnete Gruppe konnte sie nichts ausrichten, die ist immer noch da und verbreitet Terror unter der Bevölkerung. Niemand wurde festgenommen, niemand hat diejenigen entwaffnet, die unter der Duldung der drei Regierungsebenen handeln. Obwohl sie sich der Situation bewusst sind, gibt es keine juristischen Ermittlungen und die Straflosigkeit hält an. Weil es sich um indigene Bevölkerung handelt, gibt es Geringschätzung, Diskriminierung und ein Desinteresse, diesen Fall zu verstehen.

Also es gibt auch Waffen in Chalchihuitán?
Darüber gibt es Gerüchte, aber was wir feststellen konnten, ist, dass die strategische, militärische Aggression von Seiten Chenalhós kommt. Wenn es von Seiten Chalchihuitáns eine entsprechende Reaktion mit Waffen gegeben hätte, glauben wir, dass es noch viel mehr Tote gegeben hätte. Es gibt Opfer auf beiden Seiten, auch in Chenalhó wurden mehrere hundert Menschen vertrieben. Diese Familien sind jedoch meist bei Angehörigen untergekommen. Die Vertriebenen aus Chalchihuitán hingegen mussten in die Berge fliehen.

Anfang Januar ist ein Großteil der Vertriebenen in die Gemeinden zurückgekehrt. Wie ist die Situation dort?
Die Rückkehr von 3800 Personen geschah unter Druck der Regierung. Alle, die weiter als einen Kilometer von der Konfliktlinie entfernt leben, sollten zurückkehren. Man sagte ihnen, alles sei unter Kontrolle und sie sollten nach Hause gehen, um sich um ihr Vieh und ihre Ernte zu kümmern. Tatsächlich ist die Situation aber gar nicht unter Kontrolle. Es wird weiterhin geschossen und die Menschen haben Angst. Von den staatlichen Hilfsorganen wird ihnen jedoch vermittelt, dass sie keine weitere humanitäre Hilfe zu erwarten haben. Die Vertreibung fiel in die Erntezeit, sodass viele Familien jetzt mit einer Nahrungsmittelknappheit konfrontiert sind. Viele sind nur zurückgekehrt, um das Mögliche zu retten. Die bewaffnete Gruppe hat ihren Aktionsradius derweil erweitert, sodass nun fünf weitere Gemeinden von nächtlichen Schüssen und Explosionen terrorisiert werden. Die Familien haben schon angekündigt, ebenfalls zu fliehen, sollte sich an dieser Situation nichts ändern. Das wären noch einmal etwa 2.000 Personen, die vertrieben würden.

Warum gibt es ein solches Ausmaß von Gewalt?
Die eine Erklärung ist der Landkonflikt, der durch die mexikanische Regierung geschaffen wurde. Die andere hat mit der Straflosigkeit von mehreren Jahrzehnten zu tun. Die Gruppe aus Chenalhó hat keine Konsequenzen zu befürchten und kann ungehindert lokale Machthaber unterstützen. Eine dritte Erklärung besteht im hohen Aufkommen von Jade in dieser Region. Es ist eine Sorte Jade, die auf dem Weltmarkt sehr hoch gehandelt wird. Da geht es möglicherweise um Interessen von Konzernen, die diesen Teil ausbeuten möchten. Eine weitere Erklärung ist, dass es sich um einen Weg von Narcos in der Region handelt. In der Grenzzone gibt es Drogen- und Waffenhandel. Das haben wir durch Zeugenaussagen belegt.

Und die Regierung hängt so tief mit drin, dass sie nichts dagegen unternimmt?
Seit einigen Jahrzehnten beobachten wir, wie sich die staatlichen Strukturen in Mexiko auflösen. In vielen Regionen gibt es die perverse Dreiecksbeziehung zwischen Regierung, organisierter Kriminalität und Unternehmen. Diese Zusammenarbeit findet im Auftrag lokaler Interessen statt, als auch in Bezug auf Interessen, die mit größeren Projekten, z.B. bei Mega­projekten, in Verbindung stehen. Es gibt direkte Verbindungen zwischen den Parteien, dem organisierten Verbrechen und den Unternehmen. Das sehen wir auf der Mikroebene, zum Beispiel im illegalen Gewerbe, im Bereich der Prostitution oder dem Anbau von Marihuana. Diese Dinge sind heute viel sichtbarer als früher. Mexikos demokratisches System wird nicht stärker, sondern immer weiter korrumpiert und pervertiert und hat Beziehungen zu allen Arten der organisierten Kriminalität: Drogenhandel, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Waffenhandel … Und zu den Unternehmen, die das Geld waschen, was von der Regierung kommt oder durch das organisierten Verbrechen generiert wird. Ayotzinapa ist ein Beispiel für diese Dreiecksbeziehung. Lange war so etwas vor allem im Norden und im Zentrum des Landes sichtbar, aber jetzt können wir solche Vorgänge auch hier im Süden deutlich erkennen und auch beweisen.

Wie sieht das im Fall von Chenalhó und Chalchihuitán aus?
Im Fall von Chenalhó ist klar, dass die bewaffnete Gruppe, die gegen die Bevölkerung von Chalchihuitán vorgeht, im Kontext lokaler Machtkämpfe von der aktuellen Bürgermeisterin Rosa Pérez formiert und mit Waffen ausgestattet wurde und seitdem von ihr geschützt wird. Diese bewaffnete Gruppe steht vermutlich in direkter Verbindung zu einem Drogenkartell der Region. Die Regierung weiß das, unternimmt aber nichts. Und das, obwohl wir es seit Jahren mit einer Reihe von Morden und Vertreibungen durch diese Gruppe von Rosa Pérez zu tun haben. Als der öffentliche Druck im Fall der Vertreibungen größer wurde, wurde eine Sondereinsatztruppe aus Polizei und Militär gegründet. Dreimal hat sie versucht, nach Chenalhó zu kommen, jedes Mal wurde sie von der bewaffneten Gruppe daran gehindert. Die staatlichen Kräfte, die solche Verbrechen bekämpfen sollen, haben hier gar keinen Effekt mehr. Der Konfrontation wird lieber aus dem Weg gegangen und der Rückzug angetreten.

Wie lässt sich der Konflikt sonst lösen?
Wir haben vorgeschlagen, dass die Autoritäten von Chalchihuitán und Chenalhó miteinander in Dialog treten könnten, auch mit ihren traditionellen Autoritäten. Aber nach den gewalttätigen Aktionen von Chenalhó gibt es dafür gerade nicht mehr die Voraussetzungen. Wir fordern, dass während die Regierung die bewaffnete Gruppe nicht auflösen kann, jene Personen verhaftet werden, die auf diese kriminelle Weise die Menschen terrorisieren. Solange das Gebiet in Chenalhó und Chalchihuitán nicht entwaffnet wird, wird die Situation der Angst und Gewalt anhalten und weitere Vertreibungen provozieren.

Gibt es Druck aus dem Ausland?
Keinen, der bisher irgendeine Auswirkung auf das Handeln der Regierung gehabt hätte. Es gab Reaktionen von Solidaritätsnetzwerken aus Spanien und Italien, einige Journalisten aus den USA – aber es ist schwierig, die mediale Mauer zu durchbrechen, denn der Staat berichtet, dass alles bereits unter Kontrolle sei, dass es ausreichend humanitäre Hilfe gäbe, dass Polizei und Militär vor Ort und somit alles in Ordnung sei. Das ist Teil ihres Diskurses, den sie sowohl national als auch international vorbringen. Wir haben versucht, dagegen zu argumentieren, aber das wird dann eher von alternativen Medien berichtet und nicht von den großen, die vom Staat kontrolliert werden.
Es gab aber eine große Beteiligung an den Urgent Actions (Unterschriften-Eilaktionen, Anm. d. Red.) aus verschiedenen Ländern. Und wir glauben, dass das die Regierung schon beunruhigt. Die Reputation Mexikos im Ausland. Solche Aktionen oder Proteste vor den mexikanischen Botschaften können es schaffen, etwas in der mexikanischen Regierung zu bewegen. Immerhin haben wir es geschafft, öffentlich klar zu machen, dass die Situation der Vertriebenen um einiges schlimmer war, als die Regierung es glauben machen wollte. Das hat dazu geführt, dass die humanitäre Hilfe aufgestockt und die Situation der Menschen etwas verbessert wurde. Aber es müssen all die Hintergünde ans Licht, sonst wird sich kaum etwas ändern.

Bei dem Ausmaß der Gewalt und den vielen undurchsichtigen Verstrickungen klingt eine umfassende Aufarbeitung nicht besonders wahrscheinlich …
Beispiele wie Ayotzinapa, wo es es eine große internationale Aufmerksamkeit und sogar eine unabhängige Untersuchungskommission gab, lassen nicht viel Gutes hoffen. Nicht einmal in diesen Fällen reagiert der Staat. Wir denken, dass solche Konflikte trotz der Gewalt und des Schmerzes vielleicht aber zu alternativen Organsationsformen in den Gemeinden führen, um ihre Rechte zu verteidigen. Dass die Menschen von Opfern zu Verteidigern werden und ein anderes Bewusststein für Kämpfe entsteht.

ATTACKEN IM INTERNET

Mit Luchadoras, Kämpferinnen, sind nicht nur Sie und die anderen Mitwirkenden der Plattform gemeint, sondern auch all diejenigen, deren Geschichte Sie erzählen. Wie kam es dazu?
Luchadoras sind für uns all die Frauen, die Tag für Tag für ihre Rechte kämpfen und Widerstand leisten. Damit sind nicht nur Aktivistinnen oder Menschenrechtsverteidigerinnen gemeint, sondern all die, die den Binarismus der Geschlechter sprengen und Frauen ein würdevolles Leben ermöglichen wollen. Die Idee entstand aus dem Wunsch unserer Mitstreiterin Lulú Barrera, von denjenigen Frauen zu erzählen, die in ihren jeweiligen Gemeinden unglaubliche Änderungen hervorgerufen haben, die aber in den mexikanischen Massenmedien nicht repräsentiert wurden. Die Webseite entstand mit dem Ziel, ein Archiv dieser Geschichten aufzubauen.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Die Sektionen der Webseite orientieren sich an den Ideen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika. Im Bereich „Vivas nos queremos“ („Wir wollen uns lebendig“) finden sich Beiträge zu Feminiziden. Wir möchten dabei jedoch nicht die Opferperspektive oder die des Schmerzes einnehmen, sondern die Geschichten aus dem Leben heraus erzählen und sie in Ehren halten. Mich interessiert zudem besonders das Thema Sport. Wir haben beispielsweise die Geschichte von Daniela Velasco aufgegriffen, einer Athletin und paralympischen Medaillenträgerin, um diese aus einer nicht paternalistischen Perspektive zu erzählen, die ihre Stärken und Fähigkeiten hervorhebt. Die Firma Nike hat uns schließlich zu einem Forum eingeladen, auf dem unser Video gezeigt wurde. Sie kannten die Geschichte Danielas zuvor nicht und haben daraufhin entschieden, sie bei den paralympischen Spielen in Japan 2020 zu unterstützen. Für uns ist es toll, dass unsere Arbeit einen solchen Einfluss haben kann.

In Mexiko haben große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu Internettechnologien. Inwiefern haben diese die feministischen Bewegungen dennoch beeinflusst?
Globale Bewegungen wie „Me too“ haben uns an den Hashtag „Mi primer acoso“ („meine erste Belästigung“. s. LN 513) in Mexiko und die darauffolgenden landesweiten Demonstrationen erinnert. Die Auswirkungen dieses Hashtags waren unglaublich, Frauen begannen auf Twitter ihre Geschichten zu teilen und ohne diesen wären viele von ihnen vielleicht nicht sicher gewesen, dass das, was der Onkel, der Cousin oder der beste Freund getan hatte Gewalt war – und nicht in Ordnung. Die Geschichten der anderen haben uns die Kraft gegeben, um über die eigenen Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Analyse des Hashtags sagt Schlimmes über unsere Gesellschaft aus. Die meisten Vergehen wurden im Familien- und Bekanntenkreis begangen, und in den meisten Fällen waren die Betroffenen im Kindesalter oder Jugendliche. Dementsprechend war die Demonstration zwei Tage später die größte an der ich jemals teilgenommen habe. Hunderte von Missbrauchsfällen wurden so öffentlich gemacht. Natürlich längst nicht alle, unter anderem weil nicht alle Menschen in Mexiko Zugang zu Twitter haben. Es gibt jedoch Initiativen. Zum Beispiel hat eine Gemeinde in Oaxaca, die bisher vom Telefonnetz ausgeschlossen war, ihr eigenes Netz aufgebaut.

Der Hashtag „Mi primer acoso“ hat jedoch nicht nur gezeigt, dass das Internet sich für die Vernetzung von Frauen eignet, sondern wieder einmal auch, dass es keineswegs ein gewaltfreier Ort ist. Wie unterscheidet sich Gewalt im Netz von anderer Gewalt?
Richtig, bei „Mi primer acoso“ gab es unter jedem Tweet Beleidigungen und Drohungen. Das war für uns jedoch nichts Neues, denn Gewalt im Netz folgt den selben Mechanismen wie jede andere Gewalt. Online und offline sind als Kontinua und keineswegs als getrennte Sphären zu betrachten. Strukturelle Gewalt gegen Frauen und Körper, die nicht in die Norm passen, findet sich im Internet genau so wie in der „realen“ Welt. Im Netz wie im Alltagsleben werden wir sexualisiert, unsere Körper attackiert. Das Netz ist also nur ein Spiegel der Gesellschaft. Der größte Unterschied ist, dass sich die Aggressoren unter dem Schirm der Anonymität schützen. Für uns hat das oft zur Folge, dass wir diese Technologien meiden, die Plattformen verlassen und User blockieren. Das löst allerdings das Problem nicht. Blockierst du einen Aggressor, sprießen hundert neue aus dem Boden. Dies führt manchmal dazu, dass wir die Kontrolle über die Technologien verlieren, da es so viele Kanäle gibt, auf denen du angegriffen werden kannst. Die „Machitrolls“, wie wir sie nennen, sind gut organisiert. Und die Auswirkungen solcher Online-Attacken sind sowohl psychisch als auch physisch spürbar.

Wie können wir uns gegen solche virtuellen Angriffe schützen?
Füttere den Troll nicht. Davon lebt er. Er ernährt sich von deiner Wut, die ihn wachsen lässt. Anstatt zu antworten, sollten wir damit beginnen, die Aggression per Screenshot zu dokumentieren und uns für die Dokumentation ein System zu überlegen. Den Vorfall immer bei der Plattform melden und eine Reaktion ihrerseits fordern. Wir füttern die sozialen Netzwerke mit Informationen und sie machen Millionen mit uns, dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. Schließlich ist es wichtig, dass wir miteinander über die Vorfälle sprechen. Sehr offensichtlich aber ebenso grundlegend ist es, sich lange und alphanumerische Passwörter zu überlegen und diese ständig zu wechseln. Kurzum: Prävention, nicht reagieren, dokumentieren, melden und teilen. So wie wir lernen, uns im Alltag zu verteidigen, lernen wir das auch im Netz. Wir werden uns immer klarer darüber, was Gewalt ist und wie wir damit umgehen können. Die selben Strategien wenden viele Organisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen übrigens gegen Spionageangriffe seitens des Staates an!

Wie reagieren die staatlichen Autoritäten in Mexiko auf Gewalt im Netz?
Unsere staatlichen Organismen sind absolut ineffizient. Der Staat hat beispielsweise begonnen, Sexting (das Senden von Nachrichten mit erotischen Inhalten, Anm. d. Red.) unter Strafe zu stellen. Er erkennt dabei aber nicht, dass das Sexting an sich nicht das Problem ist, sondern die Gewalt, die beispielsweise durch die ohne Einwilligung erfolgte Verbreitung des Materials ausgeübt wird. Deswegen liegt es an den zivilen Organisationen dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen und jede junge Frau – die größte Zielgruppe für Gewalt im Netz – über das nötige Wissen verfügt, sich im virtuellen Raum verteidigen zu können. Das Problem wird nicht verschwinden, aber wenn wir weiterhin über die Gewalt sprechen, uns austauschen und organisieren, Strategien teilen, werden wir immer besser wissen, wie wir auf Angriffe im Netz reagieren können.

Wie funktioniert die Kooperation zwischen feministischen Organisationen und solchen, die für digitale Rechte eintreten?
Die feministische Szene und die digitale Szene sind in Mexiko sehr gut vernetzt. Diesen Januar haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen, die seit vielen Jahren Gewalt dokumentieren, einen Bericht über Gewalt gegen Frauen im Netz präsentiert. Vor allem in Mexiko-Stadt gibt es ein großes und dichtes Netz aus Organisationen die für digitale Rechte eintreten. Und sie kooperieren an vielen Orten eng mit der feministischen Szene, zum Beispiel in der Koalition „Internet es nuestra“ („Internet gehört uns“).

Und alle diese Organisationen lassen sich trotz der verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven aufeinander ein?
Den Luchadoras wird oft gesagt: „Ihr streitet euch ja nie mit irgendwem.“ Uns ist klar, dass es nicht einen einzigen Feminismus gibt. Es gibt nicht nur den, der normalerweise in den Medien repräsentiert wird. Es gibt viele Formen von Feminismus und alle sind wertvoll. Uns geht es eben darum, möglichst alle Kämpfe sichtbar zu machen. Unser aller Ziel ist es doch, diese Welt für Mädchen, Frauen und alle anderen Geschlechter lebenswerter zu machen. Zusammen sind wir stärker und unser Wirken hat größeren Einfluss. Auch bei den Luchadoras gibt es verschiedene Sichtweisen, aber unser gemeinsames Ziel ist es, sexistische Beiträge in den digitalen Medien zu reduzieren und zu sehen, wie Frauen sich letztere zu eigen machen, um ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssen Dialoge fördern, denn Fakt ist, dass wir tagtäglich umgebracht werden. Jede von uns kann eine Feministin sein.

Und die Männer?
Können natürlich auch Feministen sein. Jedes Lebewesen, das an die Gleichheit der Rechte glaubt, kann Feminist sein. Es ist wichtig, dass die Männer uns in unserem Kampf begleiten. Eine Form, dies zu tun, ist zu schweigen, uns zuzuhören und Solidarität zu zeigen, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Dies passiert in Mexiko auch in linken Kreisen ziemlich häufig. Die gesamte Geschichte wurde von Männern erzählt, nun sind sie mit Zuhören dran. Sie sollten unsere Geschichten nicht in Frage stellen, kein Mansplaining betreiben, nicht die Protagonisten unseres Kampfes sein wollen und sich auch verletzlich zeigen können. Das impliziert auch, dass sie die von ihnen selbst ausgeübte Gewalt hinterfragen. Sie müssen herausfinden, wie es in einer Gesellschaft, die sie tagtäglich zum Macho-Dasein auffordert, möglich sein kann, diese Realität zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe ist es wiederum, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und das kann durchaus ein liebevoller, gewaltfreier Prozess sein. Denn uns ist klar, dass dieser Weg auch für sie schwierig sein kann.

Im März kommen Sie zur Ausstellung „Wir sind vernetzt“ nach Berlin. Was erwarten Sie sich vom Austausch mit deutschen Aktivistinnen?
Wir haben viel von den feministischen Bewegungen in anderen Teilen der Welt gelernt und mich interessiert besonders, inwiefern sich die Gewalt im Netz in Deutschland von der in Mexiko unterscheidet und welche Strategien und Organisationsformen existieren. Welche Selbstverteidigungsmethoden kennen sie? Wie können wir uns die Technologien noch besser zu eigen machen? Zudem werde ich einen Workshop mit Jugendlichen durchführen. Ich möchte ihre Kontexte und ihre Perspektiven auf Widerstand kennenlernen. Denn auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist, besonders nicht im Jugendalter: auf irgendeine Art und Weise leisten wir immer Widerstand.

 

„…UND DANN HAT ER MIR IN DEN RÜCKEN GESCHOSSEN“

Foto: David Rojas-Kienzle

Wie kam es zu dem Vorfall im Dezember 2016, bei dem Sie durch die Schüsse eines Polizisten lebensgefährlich verletzt wurden?
Brandon Hernández: Das war an einem Sonntag, dem 18. Dezember. Ich war hinter unserem Haus und habe an einigen Motoren geschraubt. Als ich vor’s Haus gegangen bin, habe ich zwei Polizeiwagen und den weißen Jeep von einem Peñi (Mapudungun für „Bruder“) gesehen. Die Polizist*innen haben eine Personenkontrolle gemacht. Dann kam eine dritte Streife angefahren, ziemlich schnell. Die Polizist*innen sind ausgestiegen und haben meinen kleinen Bruder Isaías, der damals 13 war, überwältigt. Ich hab das alles vom Haus aus gesehen und bin sofort rausgegangen, um zu helfen. Mein Bruder war auf Knien und ein Polizist hatte seinen Revolver auf ihn gerichtet. Ich habe einen der Polizist*innen geschubst, damit sie meinen Bruder loslassen, was sie dann auch gemacht haben. Er hat mich dann am Hals gepackt, seine Waffe auf meine Brust gerichtet und gesagt: „Leg dich auf den Boden, sonst erschieß‘ ich dich!“. Ich habe mich auf den Boden gelegt und sie haben mir die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Der Polizist hat dann seinen Fuß auf meinen Rücken gestellt. Im Polizeiwagen war ein Polizist, den ich kannte, Patricio Vergara. Ich habe zu ihm gesagt: „Don Patricio, die halten mich auf dem Boden fest, machen Sie etwas.“ Er hat nichts gemacht, sich nur weggedreht und gelacht. Ich bin einfach liegengeblieben. Ich merkte, wie der Polizist die Gummigeschosse gegen Kugeln austauschte. Ich habe nach oben geschaut und dann hat er mir in den Rücken geschossen.

Was ist danach passiert?
BH: Mein Vater und einige Nachbar*innen kamen dazu, weil sie den Schuss gehört hatten. Auch Patricio Vergara kam dann und sagte zum Polizisten, der geschossen hatte: „Was machst du denn? Wir hatten alles unter Kontrolle!“ Die anderen Polizist*innen haben ihn dann sofort gepackt und versteckt. Es waren zwischen 15 und 20 Pacos (Slang für Polizist*innen, Anm. d. Red.). Ich lag auf dem Boden und war am Verbluten. Die Nachbar*innen haben einen Krankenwagen gerufen, der aber nicht gekommen ist. Sie haben die Pacos dann davon überzeugt, mich in ihrem Wagen ins Krankenhaus nach Collipulli zu bringen. Dort konnten sie nichts für mich tun, weil sie nicht die nötigen Operationsgeräte hatten. Von Collipulli aus haben sie mich ins Krankenhaus nach Angol gefahren, wo ich das erste Mal operiert wurde. Danach wurde ich nach Temuco gefahren. Ein Arzt hat dort zu meiner Mutter gesagt: „Ich glaube nicht, dass wir ihren Sohn retten können.“ Ich habe aber überlebt, in Temuco wurde ich 18 Mal operiert, die längste OP dauerte acht Stunden.

Warst du bei Bewusstsein?
BH: Nein, in Angol wurde ich unter Narkose gesetzt und bin erst drei Tage später in Temuco aufgewacht. Ich wusste nicht wo ich war und um mich herum war alles voll mit Maschinen. Und die ganze Zeit Operationen. Ich hätte auch im Rollstuhl landen können. Von den 160 Schrotkugeln, die in einer Patrone sind, sind noch 40 in meinem Körper (zeigt auf seinen Bauch).

Es war also reines Glück, dass du überlebt hast?
BH: Reines Glück!

Und war es das erste Mal, dass es Konfrontationen mit der Polizei in der Zone gab?
BH: Die Zone wurde früher „Rote Zone“ genannt. Und es gibt viel Gewalt und Repression gegen Mapuche, auch gegen Kinder. Es ist nicht so, dass es „Terrorismus“ von den Mapuche gegen die Polizei gibt. Es sind die Pacos, die die Gemeinden terrorisieren. Selbst die Kinder! Sie selbst säen den Hass gegen sich. Es wird immer so weiter gehen. Was sich ändern müsste, ist das staatliche Handeln. Aber mit diesem Staat wird das nichts. Deswegen wollen wir, dass das international bekannt wird, nur wenn von woanders Druck kommt, können die Probleme gelöst werden.

Was ist nach den Operationen passiert?
BH: Ich habe angefangen mich zu erholen, wieder zu laufen und ich habe mein letztes Schuljahr angefangen. Jetzt sind wir im Gerichts­verfahren gegen den Polizisten. Er ist schon zwei Mal nicht vor Gericht erschienen, das erste Mal unentschuldigt, das zweite Mal, weil er ein anderes Verfahren hat. Er hat gedroht, seine Frau und seine Tochter umzubringen. Und vor zwei Jahren hat er einem anderen Polizisten in den Arm geschossen. Wir erwarten, dass er sich dem Gericht stellt. Wie kann es sein, dass er weiter in Freiheit lebt? Und er ist immer noch im Dienst! Mal sehen, ob Gerechtigkeit walten wird.

Haben Sie Unterstützung von der Regierung bekommen?
BH: Nein, und wir werden auch nichts erhalten. Wenn das Gerichtsverfahren vorbei ist, werden wir sehen.

Gab es seitens der Behörden schon andere Zeichen?
Ada Huentecol: Der Staat musste 100 Millionen Peso (ca. 135.000 Euro, Anm. d. A.) an das Krankenhaus in Temuco zahlen. Sie wollten meinen Sohn schon nach drei Tagen entlassen. Das haben wir aber verhindert. Wir wollten, dass er das Krankenhaus auf eigenen Beinen verlässt, weil er nichts Falsches gemacht hat. Der Polizeichef der Region Los Ríos hat behauptet, dass Brandons 13-jähriger Bruder Isías die Polizisten mit einem Messer angegriffen hätte. Ein Messer, das nie gefunden wurde! Und auch, dass Brandon die Polizei angegriffen hätte. Allein gegen zehn Polizist*innen! Das sind so absurde und dumme Lügen, dass sie ihnen nicht einmal die Justiz glaubt. Sie haben auch behauptet, ich hätte Polizist*innen im Wald angegriffen. Und das wurde alles in der nationalen Presse veröffentlicht. Im Mercurio, im Diario Austral. Der Innenminister hat uns im Krankenhaus besucht und selbst er hat gesagt, dass es sich um reine Behauptungen handelt, da zu dem Zeitpunkt noch gar nicht ermittelt wurde. Er hat uns Unterstützung versprochen, aber nichts unternommen. Keine Reparationen, nichts. Ich zähle auf die jungen Leute hier und auf den Demonstrationen, die uns unterstützen, die sogar riskieren, für die Sache selbst festgenommen zu werden.

Was erwarten Sie für die Zukunft?
AH: Es geht hier auch um die Rechte von Kindern, vor allem von Kindern aus den Mapuche-Gemeinden. Das macht mich wütend! Sie haben nicht einmal mit Kindern Mitgefühl. Was sollen wir von solchen Autoritäten erwarten? Nichts! Sie kommen in die Gemeinden um zu töten! Ständig sind Polizeihubschrauber, Wasserwerfer und Spezialeinheiten mit Gewehren dort. Sie behaupten, wir seien Terrorist*innen, Verbrecher*innen. Das macht wütend und traurig und glücklich. Glücklich, weil mein Sohn am Leben ist und wütend wegen diesem Staat. Aber wir werden weitermachen!

Denken Sie, dass der Polizist, der Brandon niedergeschossen hat, im Gefängnis landen wird?
BH:Wir werden dafür sorgen, dass er im Knast landet.

Auch angesichts der Erfahrung mit den Mörder*innen der Mapuche-Aktivisten Matías Catrileo und Alex Lemún? Die sind ja auch nie zu Freiheitsstrafen verurteilt worden.
BH: Es gab zwei Tatnachstellungen, die klar belegt haben, was passiert ist. Ich habe die Hoffnung, dass er seine Strafe bekommt. Und wenn nicht, werden wir weiter demonstrieren. Der Staat hofft, dass wir nicht weitermachen, dass wir aufgeben. Aber das wird nicht passieren. Wir werden weiter machen, hier in Santiago.
AH: Wir haben in dem Jahr, seitdem sie meinen Sohn niedergeschossen haben, viel gekämpft. Damit sein Fall bekannter wird, damit er nicht straflos bleibt und vergessen wird. Damit dieser Polizist die Höchststrafe bekommt. Deswegen gehen wir auf die Straße, damit kein Kind mehr verfolgt wird, eingesperrt wird, ermordet wird.

„AN DIE MACHT KOMMEN, UM MACHT ABZUGEBEN“

Glückwunsch zum fantastischen Wahlergebnis!

Vielen Dank! Das war wirklich ein sehr gutes Ergebnis. Auch angesichts der Wahlumfragen. Es ist sehr interessant, dass die Gesellschaft sich so weit abseits der Diskussion in den Medien befindet. Es scheint, dass auf der Straße die Dinge anders gesehen werden als von der Elite der Journalisten oder Kolumnisten.

Wie denken Sie, haben Sie und die FA dieses Wahlergebnis erreicht?

Ich denke, das ist eine gute Frage, aber ich weiß nicht, ob man sie anhand der Wahlen erklären kann. Es gibt in Chile einen relevanten Teil der Bevölkerung, der Alternativen zu den beiden großen Koalitionen sucht. Die denken, dass Chile grundlegende strukturelle Veränderungen braucht. Vor allem seit der Studierendenbewegung 2011 wird der offizielle Diskurs hinterfragt. Nicht nur die Frage, warum Bildung so teuer ist, sondern auch: Warum muss ich mich verschulden? Warum ist die Rente meiner Eltern so niedrig? Dass Wirtschaftswachstum das wichtigste sei. Dass wir die Jaguare Lateinamerikas seien. Die FA taucht als Antwort dieser Entwicklungen in Chile auf. Wir haben es geschafft, aufzunehmen, was in Chile passiert und diesen Gedanken Ausdruck zu geben.

Die FA strebt an, Politik anders zu machen, weder links noch rechts. Dieser Diskurs klingt fast schon nach europäischem Rechtspopulismus.

Wir beschreiben uns selber nicht als weder links noch rechts. Weil ich denke, es ist überall so, dass Leute, die behaupten sie seien weder links noch rechts, eher rechts sind (lacht). Wir sagen, dass die Logik von rechts und links ein bisschen überwunden ist, wobei ich mich als Kandidatin immer als linke Demokratin positioniert habe. Wir von der FA wollten uns für Organisationen öffnen, deren politische Repräsentation diverser ist. Wir haben uns auf Punkte geeinigt, die unabdingbar sind: Die Trennung zwischen Geschäft und Politik, eine Verfassunggebende Versammlung, die Menschenrechte. Wir wollen die Logik von links und rechts nicht überwinden, sondern mit den Leuten darüber reden, wie ihre Rechte respektiert werden und uns öffnen. Jede Gruppe definiert klar, wofür sie steht.

Bei der Wahl waren die Nichtwähler*innen die größte Fraktion, sowohl aus Desinteresse, als auch wegen des Gedankens, dass innerhalb dieses Systems wenig zu erreichen ist. Gleichzeitig gibt es die Erfahrung, dass Parteien, trotz bester Absichten, einmal an der Macht ihre Ideale über Bord werfen. Hat die FA Strategien, um solchen Prozessen entgegenzuwirken?

Wir wollen, dass Chile partizipativer wird. Das ist ein Teufelskreis. Je kleiner die Räume für Partizipation, desto weniger nehmen Leute Teil. Wenn man Räume dafür öffnet, muss man Partizipation aufbauen. Ich habe gelernt, dass die Leute ihre Entscheidungen selber treffen wollen. Man könnte sagen, wir wollen an die Macht kommen, um Macht abzugeben. Chile muss sich dezentralisieren. Wir wollen bindende Plebiszite und eine neue Verfassung, die Räume für diese Partizipation öffnet. Das ist ein Weg, nicht den Kontakt dazu zu verlieren, was außerhalb der Parlamente passiert.

Glauben Sie, dass dieser Wandel innerhalb der Institutionen, die ja von der Militärdiktatur geerbt wurden, erreicht werden kann?

Institutionen sind auch die Personen, die in ihnen vertreten sind. Eine grundlegende Institution, die geändert werden muss, ist die Verfassung. Wir werden in Chile hoffentlich eher früher als später eine Verfassunggebende Versammlung haben, sonst werden wir es bereuen. Um ein Beispiel zu geben: Das aktuelle Rentensystem ist kritisch. Denn in 20 Jahren wird es der Staat sein, der die Verantwortung für hunderttausende Senioren übernehmen muss, denen die Rente nicht zum Überleben reicht. Eine neue Verfassung, ein Wandel, ist also kein Fetisch, sondern etwas, das wir machen müssen!

Die FA hat für den zweiten Wahlgang am 17. Dezember keine Wahlempfehlung für Guillier, den Bewerber der Nueva Mayoría, abgegeben. Warum? Der rechte Piñera ist doch ein viel größeres Übel.

Ich glaube, dass die Leute wissen, was sie wollen. Das muss man kanalisieren und ihnen nicht aufzwingen, was man glaubt, was sie denken. Wir als FA werden niemals den Leuten sagen, was sie wählen sollen oder ihnen unsere Positionen aufdrängen. Die Wählerstimmen haben keinen Eigentümer. Die Wahl ist uns aber nicht egal. Mir ist es nicht egal ob Sebastián Piñera oder Alejandro Guillier gewinnt. Piñera wäre ein Unheil für das Land. Guillier hingegen war zweideutig. Er hat zwar gesagt, dass ihm bestimmte Ideen der FA gefallen würden, muss aber ein Signal senden. Nicht an mich, nicht an die FA, sondern an die Leute, die für uns gestimmt haben. Ich selber werde für Guillier stimmen, das heißt aber nicht, dass wir dazu aufrufen.

Wie wird die politische Arbeit der FA in den nächsten vier Jahren aussehen?

Wir werden so oder so Oppositionsarbeit machen. Wir sind ja auch nicht Teil der Nueva Mayoría. Unser Programm grenzt ein, was die Parlamentarier machen werden. Wenn Guillier gewählt werden und in eine bestimmte Richtung gehen sollte, hat er 21 Abgeordnete die ihn unterstützen werden. Das bringt die Nueva Mayoría in eine andere Position. Wenn sie wirklich was ändern will, hat sie hier ihre Stimmen. Wir werden unserem Programm treu bleiben.

Sebastián Piñera hat ja behauptet, es habe im ersten Wahlgang Wahlfälschung gegeben

Das ist indiskutabel. Die Rechte ist verzweifelt wie noch nie. Indem er die Legalität des Wahlprozesses in Frage gestellt hat, hat er eine Grenze überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Und das, nur um gewählt zu werden! Ein Präsident wie er wäre ein Risiko für Chile!

Sie haben angekündigt, eine feministische Regierung machen zu würden. Was bedeutet das?

Die Hierarchien, die es in Chile, wie in anderen Ländern auch gibt, abzuschaffen. Wir Chileninnen sind Bürgerinnen zweiter Klasse. Als Frau in Chile zu leben ist sehr schwierig, weil wir in eine Rolle gezwängt werden. Ich habe das auch als Kandidatin gemerkt. Was wir sagen können, wie wir es sagen, wie wir aussehen müssen, wie lang unsere Haare sein sollen, was wir studieren, das alles ist fast vorgeschrieben. Und Männern passiert fast das Gleiche. Das ist eine Rebellion gegen diese klar definierten Rollen. Wenn man sich als Feministin erklärt, ist das auch im Interesse der Männer. Ich glaube nicht an diese Rollen.
Wenn ich von einer feministischen Regierung spreche, dann heißt das, mit diesen Hierarchien Schluss zu machen. Und auch Gesetze anzuwenden, die es schon gibt; Frauen vor Gewalt, vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsplatz zu beschützen, weil die bereits vorhandenen Gesetze in dieser Form nichts bringen. Das abgrundtiefe Lohngefälle zu bekämpfen. All das ist eine Form von permanenter Gewalt gegen uns. Eine feministische Regierung macht Politik, die die Verantwortung übernimmt, diese Formen von Hierarchien zu verhindern. Heute wird fast jede Woche eine Frau durch machistische Gewalt umgebracht. Das ist nur wegen dieser alltäglichen Gewalt möglich, die wir mit all ihren Facetten überwinden müssen – auch um ein demokratischeres Land zu werden. Das wäre eine feministische Regierung.

 

„WIR BEKOMMEN DEN FRIEDEN NICHT UMSONST“

Sie haben bis vor kurzem in einer Demobilisierungszone in Mesetas gelebt und arbeiten jetzt als Journalist in Bogotá. Wie haben Sie diesen Übergang erlebt?
Wenn man es von der persönlichen Seite betrachtet, dann war dieser Wechsel von einem militärischen Leben zum zivilen Leben schon sehr extrem, vor allem weil ich sehr jung in die FARC eingetreten bin und in ländlichen Gebieten gewohnt habe. Jetzt zum ersten Mal in einer so großen und komplexen Stadt zu leben, ist eine drastische Veränderung. Man entfernt sich von den Kameraden, man vermisst sie, weil man hier mit seiner Zeit anders umgehen muss. Vorher lebten wir in einer bestimmten Routine, in der jeder seinen Raum hatte, sowohl für die persönliche Weiterentwicklung als auch um ihn mit seinen Kameraden zu teilen. Das ist jetzt schwieriger geworden, weil Arbeit und Studium dazukommen. Im Zuge dieser Reintegration möchte man schnell vorankommen, aber wie man so schön sagt: ‘Wer viel beginnt, zu nichts es bringt.’ Hier in der Stadt musste ich auch lernen, mit den Unterschieden zwischen den sozialen Klassen umzugehen. Zum Beispiel, dass man hier anders mit der Oberschicht spricht, als wir es aus dem ländlichen Kontext gewohnt waren.

Haben Sie im Zusammenhang mit Ihrer Reintegration in die Zivilgesellschaft Zurückweisung erfahren?
In Bogotá wurden FARC-Kämpfer lange als Verbrecher, als Monster stigmatisiert. Trotz des Friedensprozesses glauben viele Menschen immer noch an diese Vorurteile. Wenn wir zum Beispiel irgendwo als NC Noticias auftreten und die Leute dann merken, dass wir Teil der FARC sind, werden wir von einigen abschätzig betrachtet. Manchmal werde ich wütend, wenn wir beschimpft werden, aber ich muss das aushalten, denn so wird es ab jetzt in dieser Gesellschaft sein. Das härteste an dem Übergang in ein ziviles Leben ist für mich die Zurückweisung der Leute und sich dann beruhigen zu müssen und sich immer wieder zu sagen: ‘Es ist nicht die Schuld der Leute, dass sie an diese Vorurteile glauben.’

Im breiteren Kontext des Friedensabkommens wurden Projekte wie NC Noticias realisiert, das „für den Frieden informieren“ will. Wie macht man das?
Wenn wir eine ehrliche Politik wollen, dann brauchen wir ehrliche Medien. Solange es diese nicht gibt, wird es auch keinen Frieden geben. Die Massenmedien zeigen das, was der Staat gerne zeigen möchte. Wenn ein Staat die Medien manipulieren kann, manipuliert er damit auch den Rest der Bevölkerung. Wir verstehen uns nicht als das Propagandaorgan der FARC, auch wenn uns viele so sehen. Viel mehr wollen wir eine neue Perspektive einbringen und, wie auch Gabriel García Márquez schon sagte, die Stimme derer sein, die keine Stimme haben. Wenn die FARC einen Fehler begehen, dann muss darüber auch berichtet werden. Das werden wir tun. Wenn wir mit NC Noticias irgendwohin gehen, wir als Guerillakämpfer, die die Waffen niedergelegt haben, und jetzt stattdessen mit Kameras journalistisch arbeiten, dann stört das sicher manche, vor allem weil wir auch Zugang zu Orten haben, an die andere Medien nicht kommen.

Die Reintegration der ehemaligen Kämpfer*innen birgt viele Herausforderungen, eine davon ist in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Sie haben diesen Schritt mit NC Noticias schon geschafft, was nehmen Sie sich nun für die Zukunft vor?
Meine persönlichen Ziele beschränken sich nicht nur auf NC Noticias. Ich hatte in der FARC eine medizinische Laufbahn, die ich gerne fortsetzen würde. Ich habe mich auf Stipendien für Medizinstudienplätze in Kuba beworben, die extra für Ex-Kämpfer ausgeschrieben wurden, aber leider konnte ich nicht alle Anforderungen erfüllen. Ich konnte meinen Schulabschluss nicht beglaubigen, weil die FARC-Schule, auf der ich war, vom Bildungsministerium nicht anerkannt wird. Diese Hürden erschweren die Integration. Wenn ich mir meine Zukunft ausmale, habe ich viele Ideen. Aber der Übergang ist schwierig, es ist nicht so, dass uns jetzt alle Wege offenstehen. Deshalb denke ich jetzt, dass ich mir diesen persönlichen Luxus vielleicht nicht erlauben kann, ich muss nicht unbedingt Medizin studieren. Ich kann über die Zukunft, ehrlich gesagt, nicht so viel sagen, weil für uns nicht einmal sicher ist, was morgen sein wird.

Was ist sonst gerade wichtig für Sie?
Eine Sache, die mir noch fehlt, ist, meine Familie wiederzusehen. Ich telefoniere zwar mit ihnen, aber das ist nicht dasselbe. Vor zwölf Jahren lebte ich mit meiner ganzen Familie in einem Dorf namens Lejanías, seitdem ist ein Großteil von ihnen nach Barcelona ausgewandert und nur mein Vater ist noch in Kolumbien. An erster Stelle steht für mich, hier mit dem politischen Kampf weiterzumachen und dann ist meine Familie dran. Viele fragen mich, warum ich nicht sofort meine Familie aufsuche, aber für mich hieße das, den Kampf aufzugeben, den ich mit der Guerilla solange geführt habe, und einfach nicht mehr dazu beizutragen. Meine Familie würde mich sicher freudig aufnehmen, aber ich könnte mich dort nicht sinnvoll einbringen, sondern wäre nur ein weiteres hungriges Maul. Deshalb ziehe ich es vor, mich bei der Familie einzusetzen, die mich auch aufgezogen hat und das ist die FARC. Später werde ich dann eine Möglichkeit suchen, meine andere Familie zu finden.

Sie waren 15 Jahre lang Teil einer politisch-militärischen Organisation. Ist Ihnen nach der Waffenabgabe je in den Sinn gekommen, aus der Bewegung auszutreten?
Ich wurde gefragt, ob ich in der politischen Bewegung bleiben und weitermachen will. Viele sind gegangen, das kann man nicht verneinen oder verstecken. Viele Guerillakämpfer haben sich entschieden auszusteigen, nicht unbedingt aus der Bewegung an sich, aber aus der Gemeinschaft. Ich glaube aber, wenn wir diese Gemeinschaft verlieren, dann sind wir verloren. Das, was die FARC über all die Jahre erhalten hat, war die Disziplin und dieser Gemeinschaftssinn. Unsere Bewegung wird viele Hürden überwinden müssen, doch wir müssen all diese Erfahrungen gemeinsam machen, um dorthin zu kommen, wo wir sein wollen.

Warum haben sich diese Guerillakämpfer*innen dazu entschieden, aus der FARC auszusteigen?
Wir haben diesen Frieden nicht mit Freunden geschlossen. Dies ist ein Friedensprozess zwischen Feinden. Der Feind, mit dem wir in den Dialog getreten sind, hat eine dunkle und schmutzige Geschichte, wenn es um Abkommen mit anderen politischen Bewegungen geht. Das zeigen die Beispiele früherer Verhandlungen, etwa mit der Patriotischen Union (UP) und der Guerillabewegung des 19. April (M19). Auch mit den FARC gab es bereits vier oder fünf Verhandlungsversuche. Unsere größte Angst ist daher, betrogen zu werden, dass dieser Prozess abbricht. Wir wissen, dass es eine politische Strömung in Kolumbien gibt, die mit diesem Friedensprozess nicht einverstanden ist. Uns muss klar sein, dass es in diesem Prozess viele Tote geben wird, dass wir den Frieden nicht umsonst bekommen. Wir sind darauf vorbereitet, dass wir in jedem Moment sterben könnten. Und sollten wir umgebracht werden, dann wird der Kampf weitergehen und ich hoffe einfach, dass die Toten nicht umsonst gestorben sind.

Sehen Sie Probleme bei der Implementierung des Friedensabkommens?
Wir wissen zum Beispiel, dass der Paramilitarismus noch aktiv ist. Daran kann man sehen, dass das Abkommen nicht eingehalten wurde, weil die paramilitärischen Strukturen und Verbindungen innerhalb des Staates immer noch nicht bekämpft wurden. Ein anderer Aspekt sind die Vereinbarungen bezüglich Lebensmitteln und Unterhalt, die eigentlich jedem Ex-Kämpfer zustehen und die entweder verzögert oder gar nicht ausgezahlt wurden. Es gibt jedoch schon manche Zonen, in denen die FARC-Kämpfer ohne Unterstützung der Regierung umfassende Agrikulturprojekte aufgezogen haben. Leider werden diesen Projekten oft Steine in den Weg gelegt.

Der Friedensprozess hat auch in Deutschland viel Aufmerksamkeit bekommen. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die internationale Öffentlichkeit für den Postkonflikt?
Hier in Kolumbien wollen sie einen zum Schweigen bringen, weil sie uns kennen, aber in anderen Ländern kennen sie uns sicherlich nicht, und es wäre gut, wenn sie von unseren Schwierigkeiten erfahren würden. Deshalb lade ich alle, vor allem auch die ausländischen Medien dazu ein, die Implementierung der Verträge in Kolumbien genau zu verfolgen, und wenn die FARC sie nicht erfüllt, dann sollen sie darüber transparent berichten. Wenn wir es sind, die versagt haben, dann soll es die ganze Welt wissen. Aber es wäre eben wichtig, dass sie die Wahrheit sagen und dass sie nicht einfach berichten, dass die Implementierung gut voranschreitet, nur weil die kolumbianische Regierung das so sagt. Wir fürchten uns nicht davor, dass Menschen aus anderen Ländern kommen und erfahren, was wirklich passiert ist mit dem Friedensprozess in Kolumbien. Wir haben unseren Willen bereits bewiesen und wir werden das auch weiterhin tun.

 

 

„DIE WELT WIRD VON WIDERSPRÜCHEN BEWEGT“

Verônica Ferreira, vor genau 18 Monaten – also direkt nach der Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff durch den Senat – habe ich Sie das erste Mal interviewt (siehe LN 505/506) und nach der feministischen Analyse des Parlamentsputsches gefragt. Wie schätzen Sie die politische Situation in Brasilien heute ein?

Verônica Ferreira: Unsere Analyse des patriarchalen Charakters dieses Putsches hat sich bestätigt. Die öffentliche Politik für Frauen wurde völlig aufgelöst, ebenso wie die öffentliche Politik für LGTB und für die Gleichstellung der Schwarzen Bevölkerung. Es gibt eine sehr starke Präsenz der fundamentalistischen Sektoren in dieser Regierung sowie eine Offensive der fundamentalistischen religiösen Kräfte, in der Regierung wie im Parlament, um die Rechte der Frauen zu zerstören. Dies schließt die Leitung der äußerst reduzierten Frauenpolitik innerhalb des Ministeriums für Menschenrechte mit ein: Fátima Pelaes ist eine konservative Fundamentalistin, die sogar schon Gottesdienste innerhalb des Ministeriums abgehalten hat.

Was ist das Ziel dieser Politik?

VF: Die fundamentalistischen Kräfte in Brasilien sind mit ultra-neoliberalen Sektoren verbunden. Wir erleben eine absolute Verwüstung, nicht nur der Sozialpolitik, sondern auch des Ausverkaufs der natürlichen Reichtümer Brasiliens. Im November wurden mehrere halbstaatliche Unternehmen, darunter Petrobras, in großen Teilen zum Verkauf angeboten. Hinzu kommen die „Arbeitsreformen“, die schwarze Frauen besonders treffen, weil sie deren unsichere Arbeitsbedingungen praktisch institutionalisieren. Und die Rentenreform, die die Beitragsdauer drastisch erhöht.
Die Gesamtheit dieser Maßnahmen bestärkt unsere Analyse: Die Machtübernahme hat das Ziel, die öffentlichen Gelder, die Ressourcen des Staates, komplett zu übernehmen. Sich die natürlichen Reichtümer des Landes anzueignen und sie an das Finanzkapital und das ausländische Kapital zu übertragen.
Diese konservative Allianz hat ihre Macht konsolidiert und ihr Programm der Verwüstung des Landes etabliert. Dieses Programm hat die Wahlen 2014 verloren und wurde 2016 durch den Putsch dem Land trotzdem aufgezwungen. Die Geschwindigkeit der Verwüstung ist sehr groß. Diese Geschwindigkeit macht den Widerstand viel schwieriger.
Im Augenblick schöpfen wir Atem, um die Kraft der Mobilisierung wiederzugewinnen. Denn es ist nicht einfach, den Widerstand gegen diese Folge von Niederlagen aufrecht zu erhalten. Aber wir leisten Widerstand!
Analba Teixeira: Was in Brasilien passiert, hat die konservative Bewegung sehr gestärkt. Wir sehen den Rassismus wachsen, er existierte selbstverständlich bereits zuvor, aber die Akzeptanz wächst, die die Leute heute dem Rassismus entgegenbringen. Oder der Gewalt gegen Frauen. Der Homophobie. Seit 2016 wurde dies sehr viel stärker.

Kürzlich wurde aus konservativen Kreisen eine Unterschriftenaktion initiiert, mit der ein öffentlicher Auftritt der US-amerikanischen Feministin Judith Butler verhindert werden sollte. Wie hat die Frauenbewegung reagiert?

AT: Wenn so etwas passiert, dann reagieren die feministischen Kollektive und Bewegungen sofort, schreiben Protestbriefe, veröffentlichen Stellungnahmen und so weiter. Die sozialen Netzwerke sind dabei eine große Hilfe. Aber es sind so viele Sachen in letzter Zeit geschehen, eine nach der anderen, dass es schwierig ist, nicht den Überblick zu verlieren. Unsere aktuelle Strategie ist eine Massenmobilisierung zum 25. November, denn das Abtreibungsrecht soll verschärft und auch Abtreibungen nach einer Vergewaltigung kriminalisiert werden. Das steht im Moment im Mittelpunkt unserer Proteste auf der Straße, damit wir nicht nur Feuerwehr spielen.

Wogegen richtete sich der jüngste Protest der Frauenbewegung?

AT: Bei unserer vergangenen Aktion stand ebenfalls das Thema „Abtreibung“ im Mittelpunkt. Der 28. September ist der internationale Tag für die Legalisierung der Abtreibung und unsere dreitägige Aktion richtete sich an die brasilianische Gesellschaft, nicht an den Kongress. Wir waren von Mitternacht des 26. September bis Mitternacht des 27. September, also 24 Stunden, online: Alle 30 Minuten sprach eine andere Frau live über Abtreibung. Insgesamt hat die Aktion mehr als eine Million Klicks erhalten.
VF: An der Aktion „Sprechen wir über Abtreibung“ haben sich mehr als 100 Kollektive beteiligt, aus verschiedenen Bewegungen, aus Brasilien, aus Lateinamerika, aber auch aus Frankreich. Wir haben verschiedene Aspekte thematisiert, wie zum Beispiel das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung oder die Situation in Uruguay, wo nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs Ärzte einen Gewis­sens­­konflikt geltend machen. Oder die Situation von Minderjährigen in Frankreich und wie sie Zugang zu dieser medizinischen Leistung erhalten können. Je mehr Kollektive sich beteiligen, desto einfacher ist es, den Algorithmus von Facebook zu knacken und so mehr Leute zu erreichen. Das ist umso wichtiger, weil für dieses Thema die öffentlichen Diskussionsräume stark eingeschränkt sind. Das Internet hat eine enorm wichtige Rolle, um öffentlich feministische Debatten über Themen zu führen, die durch die Präsenz des Konservativismus und der fundamentalistischen Offensive beiseite geschoben werden.
Heute sind Abtreibungen viel klandestiner als sie es früher waren. Im Alltag wird nicht mehr darüber gesprochen, eine Frau, die darüber spricht, wird sehr schnell kriminalisiert. Es ist schwieriger, solidarisch zu sein. Der Konservativismus ist im Parlament präsent, in den Gesetzesvorlagen, aber er wirkt auch sehr stark in den Alltag hinein.

“Vergewaltigung ist ein Verbrechen, Abtreibung ein Recht” Protest gegen die neuen Abtreibungsgesetze (Foto: Midia NINJA CC BY-NC-SA 2.0)

Es gab ja in jüngster Zeit sehr konkrete Versuche auch den Alltag zu bestimmen, sei es die Petition gegen eine Ausstellung im renommierten Museum für Moderne Kunst (MAM) in São Paulo oder die schon erwähnte Unterschriftenliste gegen den Vortrag von Judith Butler, welche Strategien stecken dahinter?

VF: Was in Bezug auf den Vortrag von Judith Butler und der Ausstellung im MAM passiert ist, zeigt die Strategien dieser rechten Gruppen, speziell der so genannten Bewegung des Freien Brasiliens, der MBL, ganz deutlich. Diese Bewegung hat sich 2013 gegründet, in einem andauernden Dialog mit der konservativen Jugend. Sie haben eine Strategie, ständig unbewiesene Informationen als Tatsachen zu präsentieren, die dann allgemein geglaubt werden: Es gibt diese Ausstellung im MAM, sie initiieren eine Unterschriftenliste, um die Ausstellung zu beenden, was ein großes Echo in der Öffentlichkeit und in den konservativen Sektoren der brasilianischen Gesellschaft hervorruft. Dies sind Gruppen, die an einen Konservativismus appellieren, der bereits existiert. Und den sie so mit großer Geschwindigkeit weiter befördern. Mit dem Vortrag von Judith Butler war es genau dasselbe.
AT: Was auch interessant ist: Judith Butler war vor zwei bis drei Jahren schon einmal in Brasilien und es gab keine vergleichbare Reaktion. Sie hat in Salvador einen Vortrag gehalten. Und dieses Mal gab es diese Welle, mit 200.000 Unterschriften.
VF: Es ist ja nicht so, dass die brasilianische Gesellschaft in den letzten zwei Jahren viel konservativer geworden wäre, sie ist sehr konservativ. Was es gibt, sind Sektoren, die sehr gut organisiert sind, die an diesen Konservatismus anknüpfen und dadurch selbst stärker werden. Und dies in einem gesellschaftlichen Umfeld, das für sie günstig ist. Darauf müssen wir reagieren und eine Antwort finden, die diese Strategien der Rechten mit einbezieht.

Es ist sicher schwierig, in dieser Situation nicht die Hoffnung zu verlieren, was tun Sie gegen die Entmutigung?

AT: Für mich persönlich ist es wichtig, dort zu sein, wo Frauen sich widersetzen. Ich bin in die Quilombos (vor rund 150 Jahren von geflohenen Sklav*innen gegründete Siedlungen, Anm. der Red.) gereist und wenn ich den Widerstand der Frauen in den Quilombos sehe, dann gibt mir das Hoffnung. Das sind lokale Kämpfe, aber mit sehr viel Kraft. Diese Widerstandsräume stärken uns. Als nächstes reisen wir zur feministischen Konferenz der Frauen in Lateinamerika und der Karibik, dem EFLAC. Wir werden dort sehr viele Frauen sein, sehr viele feministische Aktivistinnen. Das ist auch so ein stärkender Moment, denn diese konservative Welle gibt es in ganz Lateinamerika, eigentlich sogar in der ganzen Welt.
Für uns als Bewegung ist es außerdem wichtig, die Erfolge unserer Aktionen deutlich zu machen, auch wenn sie noch so klein sind. Denn wenn es gar keine Erfolge gibt, dann führt das zu Verzweiflung. Es gibt Frauen in der Bewegung, die sagen, dass die Proteste auf der Straße nichts nutzen, vor allem wenn gleichzeitig Temer das nächste Dekret unterzeichnet, das direkt gegen uns gerichtet ist. Aber ich denke, dass der Protest auf der Straße unverzichtbar ist. Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren erfolgreich die Proteste auf der Straße genutzt, um zumindest der Gesellschaft zu sagen, was gerade passiert. Weil viele Leute das gar nicht wissen, gar keine Idee davon haben. Nicht einmal, wenn es sie direkt betrifft, wie die Arbeitsreformen.

VF: Ich glaube, es gibt drei Dinge, die unsere Hoffnung nähren. Fest im Widerstand zu stehen, diesen mit anderen Subjekten, anderen Kollektiven, mit anderen Frauen aufzubauen, das motiviert uns. Es ist ein schwieriger Moment, ein Moment des Verlustes der Rechte, die wir erobert hatten. Und die Kräfteverhältnisse zwischen der Rechten und der Frauenbewegung als Teil der Linken sind im Moment sehr ungleich. Aber es ist wichtig, den Widerstand am Leben zu erhalten und unsere Politik gemeinsam mit neuen Subjekten zu konstruieren, die vorher weniger sichtbar waren.
Zweitens gibt es im Widerstand viele neue Gesichter. Wenn wir an den Widerstand gegen die Diktatur zurückdenken, dann entstand dieser vor allem aus der städtischen Mittelklasse und aus der Landbewegung, die von den progressiven Teilen der Kirche organisiert wurde. Dieser Widerstand war viel homogener. Heute gibt es eine Pluralität von Subjekten und gleichzeitig gibt es neue Widersprüche in der brasilianischen Gesellschaft. Denn wer hat bisher vor allem protestiert? Es waren die Frauen, die Bewegung für das Recht auf Wohnen, die Jugend in der Peripherie, die LGBT-Jugend und die ganzen Studierenden, die Hochschulen und Schulen besetzt haben. Es ist wichtig, permanent zu handeln, sich zusammenzuschließen, zu vernetzen. Auch das nährt unsere Hoffnung.
Das dritte ist die historische Perspektive. Wir müssen strategisch denken: Dies ist ein historischer Moment, ein Moment der Niederlage. Die Frauenbewegung hatte immer eine autonome, kritische Analyse des Entwicklungsmodells der sogenannten progressiven Regierungen und hat die Widersprüche dieses Modells deutlich aufgezeigt. Wir haben bereits gesehen, dass sich diese Politik erschöpfen würde und dies ist der Moment, in dem das eingetreten ist. Aber wir haben unseren Eliten nie vertraut. Wir wussten, dass sie früher oder später das Boot verlassen würden und die ganzen autoritären und gegen Menschenrechte gerichteten Tendenzen aufbrechen würden, ebenso gegen den Staat wie gegen die sozialen Beziehungen. Wir haben eine absolut individualistische Mittelschicht, die nur an sich selbst denkt.
Das ist ein sehr herausfordernder Moment, in dem wir unsere Strategien und unsere Organisierung überdenken müssen. Denn es gibt auch eine Erschöpfung unserer Praktiken als organisierter Bewegung. Es gab ein gewisses Günstlingswesen während der progressiven Regierungen. Kritischere und eher autonome Sektoren waren isolierter, weniger gut vernetzt. Heute wollen sich alle gegen die rechten Kräfte vernetzen. Das ist eine große Herausforderung. Denn es gibt die Sektoren der Linken, die sich mehr auf den Staat bezogen haben, es gab die eher autonomen Sektoren und es gibt die neuen Sektoren, voller Widerstandskraft, aber gleichzeitig voller Misstrauen gegenüber den organisierten Formen von Widerstand. Es ist ein Moment, der gleichzeitig voller Potential und voller Herausforderungen steckt. Denn die Frage ist: Woraus konstruieren wir die heutige Linke in Brasilien? Diese Frage steht im Raum – aber immerhin steht sie im Raum. Ich glaube ja, dass die Welt von Widersprüchen bewegt wird. Wenn ich das nicht glauben würde, dann wäre ich heute nicht da, wo ich bin, voller Kampfeslust.

 

EIN ANDERES KONZEPT DES LEBENS

Kurz nach dem Mord an Berta Cáceres verteidigte der Weltbankpräsident Jim Yong Kim in Bezug auf Staudammprojekte das Recht auf Energie und Arbeit gegenüber dem Recht auf Land. Was würden Sie dieser Idee von „Entwicklung“ entgegensetzen?

Dieser Entwicklungsdiskurs basiert auf der Ausbeutung der Umwelt und hat schreckliche soziale Folgen. Den derzeitigen Funktionären der Weltbank ist vielleicht unbekannt, dass die Weltbank im Jahr 2000 den Bericht der Weltkommission für Staudämme finanziert hat. Das Resultat war für sie so schrecklich, dass sie den Bericht lieber verheimlichten. Durch die 45.000 großen Staudämme, die bis zum Jahr 2000 gebaut wurden, mussten 40 bis 80 Millionen Menschen umziehen. Außerdem sind tausende Hektar Wald und Mangroven verschwunden und die Bevölkerung ist nicht reicher, sondern ärmer geworden. Die Wasserkraftwerke haben 30 Prozent weniger Energie produziert als vorhergesagt, sodass sich die afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten mit den Staudammbauten verschuldet haben. So lässt sich der wachsende Widerstand erklären, der sich nicht nur in Lateinamerika, sondern in vielen Ländern des Südens, gegen das uns verkaufte Entwicklungsmodell richtet. Sie wollen uns weismachen, dass mit den Staudämmen Arbeitsplätze geschaffen werden, aber das stimmt nicht. Sie sagen, die Gemeinden würden elektrischen Strom erhalten, aber es gibt Gemeinden, die vor 40 Jahren umgesiedelt wurden und immer noch keinen Strom und kein Wasser haben, geschweige denn entschädigt wurden. Vor allem wird die Energie für weitere Megaprojekte gebraucht. Die Bergbauprojekte, die in Lateinamerika angeschoben werden, verbrauchen gigantische Mengen an Strom und Wasser, das dient als Rechtfertigung für die Staudämme.

Sind Ihnen Beispiele aus Honduras bekannt, bei denen die Energie aus einem Megaprojekt für den Bergbau oder eine andere Industrie genutzt wird?

In Honduras haben viele Menschen kein Trinkwasser und keinen Strom. Im Zuge des Staatsstreichs 2009 wurden viele Konzessionen für den Bau von Staudämmen und Minen vergeben. Dieser Prozess beinhaltet die Erkundung des Gebietes, bevor eine Mine oder ein Staudamm dann wirklich gebaut werden. In dieser Zeit müssen die Unternehmen ihre Finanzierung und den Grundbesitz sicherstellen. Das ist es, was die Leute derzeit in Honduras erleben: Gemeinden werden für den Bau von Wasserkraftwerken vertrieben. Der öffentliche Diskurs bleibt jedoch, dass ein Projekt wie Agua Zarca Elektrizität in die indigenen Gemeinden bringe. Und warum ist das bislang nicht geschehen?

Es gibt Gemeinden, die sich als frei von Bergbau erklärt haben. Haben diese Gemeinden bereits ihr eigenes Modell des „Guten Lebens”, des „Buen Vivir“?

Genau darüber hatte ich mit Berta angesichts der Welle von Konzessionen, die ja alle nach Grundbesitz verlangen, gesprochen. In Mexiko wurden 45.000 Bergbaukonzessionen vergeben, was 25 Millionen Hektar und damit der halben Landesfläche entspricht. In Guatemala sind es 30 Prozent, in Honduras ist man noch in der Konzessionsvergabe. Wir haben darüber gesprochen, dass wir immer erst reagieren, wenn wir bereits die Auswirkungen spüren. Aber wir bemerken nicht, dass das Projekt schon fünf Jahre früher begonnen hat. Das bedeutet, dass es auf Unternehmensseite bereits starke Interessen gibt und Millionen von Dollar oder Euro investiert worden sind: in die Erkundung, in Bestechungsgelder, in Verträge mit Transportunternehmen. Das Unternehmen wird das Projekt nicht mehr einfach so aufgeben. Statt direkten Widerstand zu leisten, sollten wir vorbeugen, indem wir von bergbaufreie und staudammenfreie Territorien schaffen. Wenn die Gemeinden reflektieren und analysieren, welche Ressourcen bei ihnen vorhanden sind, merken sie, dass diese früher oder später konzessioniert werden. Und wenn die Unternehmen einmal da sind, wird es sehr schwer, sie wieder loszuwerden. Das impliziert Mobilisierung, Repression, Tote, Gefängnis, all das, was wir tausendfach erlebt haben. Schützen wir unser Territorium also vorher!

Was heißt das konkret?

Bei den Treffen mit dem Lateinamerikanischen Netzwerk gegen Staudämme oder der Mesoamerikanischen Bewegung gegen Extraktivismus und Bergbau tauschen wir Erfahrungen aus und begeben uns an die Orte konkreter Bergbauprojekte. Wir sprechen mit den Betroffenen. So beginnen wir, Bewusstsein für Widerstand und Prävention zu schaffen. Aber das Problem bleibt immer: Was ist die Alternative, die wir uns wünschen, wenn wir nicht auf diese Weise Wasser und Energie haben wollen? Wir denken zumeist, dass das Problem technischer Natur ist, dass wir also nur die Energiequelle wechseln müssen. Die Bergbauunternehmen versichern daher, dass sie grünen Bergbau betreiben. In jedem Fall roden sie tausende Hektar Wald, weil sie immer noch Tagebau betreiben. Sie benutzen trotzdem eine Million Liter Wasser pro Stunde und 15 Tonnen Zyanid am Tag. Wenn die Leute an Krebs sterben, was ist grün an der Sache? Nun, die Maschinen werden nicht mit Benzin oder Diesel betrieben, sondern mit Biotreibstoffen.
Es geht daher nicht darum, die Energiequelle zu wechseln, um das Gleiche zu tun wie vorher. Das Problem ist politischer Art. Beispielsweise ist nicht die Windkraft problematisch, sondern die Verteilung. Baut man einen riesigen, zentralisierten Windpark oder gewinnen wir die Energie auf unseren eigenen Dächern? Dezentrale Lösungen werden vielfach bestraft. In Spanien gibt es eine Steuer auf Solarenergie. In Arizona ist es verboten, Regenwasser aufzufangen und zu nutzen, das Wasser muss bei den Wasserbetrieben gekauft werden. Das Problem ist auch, wie man mit den verschiedenen Ressourcen Energie erzeugt, ob man beispielsweise einen riesigen Stausee baut, und damit tausende Hektar Land überflutet und die Bevölkerung vertreibt. Nur weil Wasser „natürlich“ ist, wird diese Energie als grün und sauber angesehen. Das Schmutzige daran ist aber, wie die Dinge vonstattengehen.
Wenn wir nach Alternativen suchen, wollen wir immer, dass uns die Gemeinden die Lösung präsentieren. Es gibt keine globale Lösung. Jede Region muss zunächst herausfinden, was ihr politisches Problem ist, und nicht, was ihr technisches Problem ist. Wir müssen uns fragen, welche Art von Projekt wir aufbauen wollen, und dann erst, welche Art von Energie wir dafür brauchen. Und das nicht nur bei der Erzeugung von Strom, sondern auch bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln.

Stehen beispielsweise Kaffeekooperativen für die Vision einer anderen ökonomischen Basis? Dabei geht es ja darum, im solidarischen Handel einen gerechten Preis zu erzielen.

Wir tauschen nur die Feldfrucht aus, aber die Logik bleibt gleich. In einigen Gemeinden wird bereits diskutiert, ob das Problem mit dem Palmöls ist, dass sie dir viel oder wenig zahlen, oder ob es das System an sich ist. Genauso beim Kaffee oder beim Mais oder jeder anderen Monokultur. Eine andere Logik wäre es zu sagen: Lasst uns nicht nach außen denken! Es gibt schon fantastische Erfahrungen, wie in Kolumbien, und in Chiapas versuchen wir nun, Ähnliches umzusetzen. Wir werden für uns, für den Eigenbedarf produzieren. Als erstes müssen wir den Anbau diversifizieren und die Biodiversität erhöhen. Dann beginnt man Kriterien zu entwickeln, wie man ein agrarökologisches Projekt aufzieht, in dem keine Chemikalien eingesetzt werden und eine Vielzahl von Nahrungsmitteln erzeugt werden, die wiederum auf einem lokalen Markt verteilt werden. Das ist eine andere Herangehensweise als die, an die wir gewöhnt sind, nämlich die der Spezialisierung, der Monokulturen und des Exports. Dazu gehört auch der Kaffee. Wenn wir in Chiapas einen guten Preis erzielen, liegt es vielleicht daran, dass die Indigenen in Vietnam, in Brasilien oder in Guatemala von einem Hurrikan betroffen waren. Wir freuen uns, weil wir bessere Preise erzielen, aber auf wessen Kosten?

Sie wollen auf ein anderes Konzept von Entwicklung hinaus …

Ein anderes Konzept des Lebens, weil der Begriff Entwicklung aus dem Diskurs der Unternehmen und der Staaten stammt. Diese unendliche Entwicklung ist nicht nachhaltig, wir können damit nicht weitermachen. Das Bild ist zwar abgedroschen, aber wenn wir die gleiche Entwicklung für alle wollen, brauchen wir fünf Planeten. Deswegen hat man das Konzept des “Buen Vivir”, des “Guten Lebens”, entwickelt. Aber wie erhält es einen politischen Inhalt? Ich habe keine Ahnung, was das Gute Leben ist. Das Konzept muss erst entwickelt werden. In den indigenen Gemeinden von Chiapas gibt es das Lekil Kuxlejal, ein Konzept, unter dem die Indigenen eine gesunde Umwelt verstehen, die sich im Gleichgewicht befindet: Leben, Wasser, ausreichend Nahrungsmittel und dass es allen gut geht. Andere, in Oaxaca, sprechen von Kommunalität „comunalidad“, andere davon, eine gemeinsame Einheit, die „comun unidad“ aufzubauen. In jeder Region beginnen Menschen neue Konzepte zu entwickeln oder wiederzuentdecken, die nicht diesem Begriff der linearen, kapitalistischen Entwicklung entsprechen. Grundlegend erscheint mir dabei die Tatsache, dass es nicht um ein Konzept geht, das global angewendet wird. In jeder Region folgt es den eigenen Erfahrungen und Bräuchen. Und ich glaube, es gibt viele Arten glücklich zu sein. Es gibt viele Formen, das gute Leben aufzubauen.

 

 

„THEATER ANIMIERT ZUR DISKUSSION“

Warum haben Sie ein Stück über Jorge Mateluna gemacht?

Jorge Mateluna war während der Militärdiktatur in der Guerilla Frente Patriótico Manuel Rodríguez aktiv. Wir hatten seine Erfahrung des Kampfes gegen die Diktatur in unserem Stück „Escuela“ integriert, und er hat an dem Stück mitgewirkt. Während wir es an verschiedenen Orten aufführten, erfuhren wir, dass Jorge als einer der Verdächtigen eines Bankraubs verhaftet worden war.
Wir waren alle völlig schockiert aber gleichzeitig wussten wir, dass er unschuldig war. Ein Freund von uns war dem korrupten Rechtssystem zum Opfer gefallen.

Sie glauben, dass der eigentliche Grund für Matelunas Inhaftierung seine Teilnahme am bewaffneten Widerstand während der Militärdiktatur ist. Wie argumentieren Sie?

Die vermeintlichen Beweise für seine Schuld am Bankraub sind sehr schwammig. Zum Beispiel war er während des Bankraubs weit entfernt von seinem Wohnort. Er hat dafür zwar eine Begründung angegeben, aber der Richter hat ihm nicht geglaubt. Auf solchen Nichtigkeiten beruht seine Verurteilung. Angeblich wurde er während des Verbrechens von Polizisten gesehen, die ihn eine drei Kilometer lange Strecke verfolgt hätten, was kaum zu beweisen ist und aufgrund der schmalen, teils gesperrten Straßen, durch welche die Verfolgungsjagd stattgefunden haben soll, auch schwer vorstellbar ist. Die Polizisten haben sich im Laufe des Verfahrens zudem gegenseitig widersprochen. Wir sind der Meinung, dass es eine enge Kollaboration zwischen Polizisten, Richtern und Staatsanwälten stattgefunden hat. Letztendlich wollen sie alle Mateluna zurück ins Gefängnis bringen. Sie sehen es als ihre Pflicht, ihn wieder einzusperren, da er vor zwölf Jahren dank einer Begnadigung frei gelassen wurde. Hinter der Festnahme steckt eine klare Absicht.

Was kann unter solchen Umständen überhaupt noch für ihn getan werden?

Es laufen mittlerweile Prozesse gegen die Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben. Ein angeblicher Videobeweis wurde im Prozess disqualifiziert. Auch Fotos von der Kleidung, die Mateluna angeblich während der Flucht abgeworfen hatte, stellten sich als Montage heraus. Wir wollen, dass dies berücksichtigt wird, wenn der Prozess wieder eröffnet wird.

Mateluna war bereits zuvor im Gefängnis, da er während der Diktatur einer bewaffneten Widerstandsgruppe angehörte. Legitimieren Sie den bewaffneten Widerstand, indem sie in diesem Fall seine Verteidigung ergreifen?

Jorge war Teil einer Guerillagruppe, die mit Waffen gegen die Diktatur gekämpft hat. Während so einer Diktatur, ist der bewaffnete Kampf völlig berechtigt, denn die Regierung hat das Land unterdrückt und besetzt. Heutzutage ist institutionelle Gewalt noch immer ein Teil unserer Kultur. Nehmen wir beispielsweise den riesigen Konflikt mit dem Volk der Mapuche im Süden Chiles, die für die Rückgewinnung ihrer Gebiete kämpfen. Dieser Konflikt wird mittlerweile mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt durchzogen, die mit aller Macht gegen die Mapuche eingesetzt wird. Ja, wir haben heutzutage freie Wahlen. Aber in die staatlichen Institutionen besteht zu Recht kein Vertrauen. Die Mapuche entwickeln also ihre eigenen Selbstverteidigungsmechanismen. Es ist nicht so, dass freie Wahlen diesen Zustand verändern – so einfach ist es nicht.

Der bewaffnete Kampf und seine Legitimität sind also immer vom politischen Kontext abhängig?

Ja. Nach dem Ende des europäischen Faschismus wurden diejenigen zu Helden erklärt, die – auch mit Waffengewalt – Widerstand geleistet hatten. In Chile war es anders. Diese Menschen wurden vertrieben, zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Und das passiert heute auch mit Jorge Mateluna. Er ist kein Einzelfall. Politische Verfolgung, ungerechte und korrupte Entscheidungen zum Schaden vieler, sind allgegenwärtig.

Sie selbst machen Theaterstücke und keinen bewaffneten Widerstand. Was kann Kunst bewirken?

Wenn die Institutionen versagen, dann bleibt uns Theater. Die Justiz hat ihre Aufgabe nicht erfüllt, deshalb machen wir diese Aufklärungsarbeit. Das bringt die Leute zusammen und mobilisiert sie. Natürlich hat Theater keine Lösung für alles, aber es schafft Gemeinschaft und animiert zur Diskussion. In unserem Fall gibt es nun eine Kampagne zu dem Thema.
Wir haben uns außerdem mehrmals mit Politikern, mit Kongressmitgliedern und mit der Menschenrechtskommission sowie mit Künstlern und Organisationen der Zivilgesellschaft getroffen. Das hat den Prozess und den ganzen Fall in Bewegung gebracht und Öffentlichkeit geschaffen. Würden die drei Polizisten, die falsche Aussagen abgelegt haben, verurteilt, könnte der Oberste Gerichtshof Matelunas Prozess wieder komplett neu eröffnen. Wir haben politische Unterstützung, aber aufgrund der Gewaltenteilung muss die Judikative den Prozess unabhängig durchführen.

Inwiefern trägt Ihr Stück auch zu einer alternativen Geschichtsschreibung bei?

Die Menschen, die gegen die Militärdiktatur Widerstand geleistet haben, wurden aus der Geschichte gelöscht. Sie wurden als Schandfleck angesehen. Ihr Kampf wurde nicht nur verschwiegen, sondern sie selbst haben ihre Vergangenheit geheimgehalten. Sie haben sich aus der Geschichte getilgt. Deshalb treten die Aktivisten in meinem Stück mit Masken auf: Es gibt diese Idee, dass man sich selbst unsichtbar machen muss und sich versteckt. Einerseits, weil man seine Niederlage nicht preisgeben möchte – die Niederlage der Revolution. Aber auch, weil es gefährlich ist, diese Vergangenheit zu erzählen. Dann passiert dir dasselbe, was Jorge Mateluna passiert ist. Erinnerungskultur ist daher umso nötiger. Es ist gefährlich, eine solche Geschichtsschreibung in die Hand zu nehmen. Aber gleichzeitig ist es die einzige Form, die diesen Kampf in einen neuen Kontext setzt: Nur so können die Menschen, die gekämpft haben, in einem neuen Licht gesehen werden. So wie meinetwegen Nelson Mandela gesehen wird: Sein Kampf wurde erkannt. Das machte ihn zum Präsidenten und verhalf ihm zum Friedensnobelpreis. Alles hängt also von der Geschichtsschreibung ab. Und dazu möchte ich mit meinen Stücken einen Beitrag leisten.

MIT MUSIK BEWUSSTSEIN SCHAFFEN

Was hat euch dazu motiviert, zu eurem fünfzehnjährigen Jubiläum ein Best-Of Album aufzunehmen?
Unser Hauptmotiv ist, dass heute kaum noch Alben erscheinen. Alle veröffentlichen nur noch Singles. Deshalb haben wir uns entschieden, alle unsere Klassiker neu aufzunehmen, denn viele kennen diese gar nicht mehr. Wir wollten die Klassiker mit Gastmusiker aufnehmen, die für uns sehr wichtig sind, und drei neue Lieder auf dieser CD veröffentlichen. Das ist unsere Art und Weise, wie wir die Romantik der Veröffentlichung von Alben beibehalten. Heute werden ja kaum noch komplette CDs gehört werden. So haben wir einen Mix aus der alten und neuen Schule gemacht. Wir sind super zufrieden mit diesem Projekt. Die neuen Versionen unserer Klassiker haben die Lieder wirklich auf ein anderes Niveau gehoben.

Ihr habt euren Stil in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Welche musikalischen Einflüsse haben euch zu den neuen Liedern und den neuen Versionen eurer Klassiker inspiriert?
Einflüsse … Also, zuerst einmal war das Che Sudaka selbst. Denn wir haben eigentlich ganz viele Coverversionen unserer eigenen Lieder gemacht, die wir mit unsere „Mákina Punk” dem aktuellen Stil der Band angepasst haben. Dabei zählten wir auf die Zusammenarbeit mit den Leuten von Massilia Sound System aus Frankreich, auf die Zusammenarbeit mit Grupo Chontaduro aus Barcelona. Das sind Kolumbianer, die Trommeln spielen. Es war also ein Mix aus Folk, Elektronik und Rock. Alle Leute, die mitgearbeitet haben, waren eine Inspiration: Manu Chao, Dr. Ring Ding, Amparo, BNegão aus Brasilien – sie alle waren große Einflüsse für dieses Album. Auch Facundo Cabral, der auf der CD mit ein paar Wortbeiträgen erscheint, ist so etwas wie unsere spirituelle Referenz, wenn wir Musik machen. All die, die uns hierher gebracht haben, sind eigentlich auch unsere heutige Referenz.

Wie habt ihr mit den anderen Künstler*innen zusammengearbeitet?
Wir kennen die schon seit vielen Jahren und wir hatten Glück, dass sie gerade Zeit hatten, mitzuarbeiten. Das Resultat ist dann sehr schön geworden. Die meiste Zusammenarbeit ist aus einer räumlichen Distanz entstanden – moderne Technik machts möglich – BNegão und Amparo sind in unser Studio gekommen, und es war toll, sie dort zu empfangen. Die CD wurde komplett in unserem eigenen Studio Cavernícola Records aufgenommen und gemischt. Sergio, unser Akkordeonspieler, hat sie produziert. Mit Manu, Dr. Ring Ding, Hugo Lobo und anderen war es eine Zusammenarbeit aus der Ferne. Sie waren zwar nicht hier, aber trotzdem waren wir uns nahe und bestimmt werden wir uns bald treffen und diese Dinge persönlich teilen.

Welchen Beitrag kann die Musik deiner Meinung nach leisten, um ein Bewusstsein für politischen Themen zu schaffen?
Wir glauben, dass die Musik eine unglaubliche Kraft hat, und darauf setzen wir. Die Musik hatte für uns schon immer die Aufgabe, Bewusstsein zu schaffen. Unser ganzes Leben lang, seit wir angefangen haben, Musik zu hören, hat sie uns geprägt. Wenn du größer wirst, verstehst du auch ein bisschen besser, was dir die Musik eigentlich sagen will. Aber sie war schon immer eine Schulung des Bewusstseins. Zum Beispiel im Fall von Bob Marley hat uns seine Musik schon immer gefallen, aber wir kannten seine Aussagen nicht, da wir kein Englisch sprachen. Als wir seine Texte dann verstehen konnten, sagten wir: Klar, dass sie uns gefallen hat! Darauf beziehen wir uns ein bisschen, um zu sagen, was wir sagen und zu singen, was wir singen, und zum Beispiel in Deutschland zu spielen. Uns ist klar, dass die Menschen vielleicht nicht verstehen, was wir sagen. Aber sie werden es vielleicht in einem anderen Moment verstehen. Sie bekommen das Gefühl, dass gerade etwas passiert.

In den vergangenen Jahren hattet ihr die Möglichkeit, nach Lateinamerika zurückzukehren und dort Musik zu machen. Wie war diese Erfahrung für dich?
Das war wirklich aufregend. Vor allem die Tatsache, dass die Leute nicht nur das verstehen, was das deutsche oder französische Publikum zum Beispiel versteht, sondern auch die Nachricht dahinter. Vielleicht verstehen sie diese Nachricht nicht einmal in Spanien, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen wie wir. In Lateinamerika dagegen wissen alle, was wir sagen wollen. Denn wir kommen von dort und unsere Worte sprechen die Sprache Lateinamerikas. Von Mexiko bis Ushuaya in Argentinien, nicht wahr? In Lateinamerika werden wir verstanden, wir teilen alle eine Geschichte. Wenn man mal darüber nachdenkt, dann ist die Geschichte Lateinamerika doch eins. Abgesehen von ein paar Unterschieden haben wir alle das Gleiche erlebt. Unsere Nachricht kommt dort also ungefiltert an. Und das kam auch zu uns zurück, denn wenn du auf einer Bühne stehst und etwas kreierst, kommt das wie eine Welle wieder zu dir. Und es war sehr gewaltig, was uns da erreichte. Das hat uns viel Kraft gegeben, nach Europa zurückzukehren und zu versuchen, so etwas auch hier zu erreichen. In jüngster Zeit entsteht so eine Stimmung auch hier immer mehr, und das haben wir unserer Rückkehr nach Lateinamerika zu verdanken.

Vor fünfzehn Jahren habt ihr als Band angefangen, auf der Straße zu spielen. Heute reist ihr um die ganze Welt und gebt Konzerte – wie haben euch diese Anfänge als Straßenmusiker geprägt? Was ist davon übrig geblieben?
Um darauf zurückzukommen, was uns beeinflusst hat: Es gab ein Lied von Facundo Cabral, in dem er sagt „Kein Genie geht verloren, ich trage alles bei mir”. Wir haben nichts verloren, alles begleitet uns. Was sich vielleicht etwas verändert hat, ist die Gegenwart von Che Sudaka, denn wir sind an immer mehr verschiedenen Orten und unsere Nachricht erreicht immer mehr Menschen, die kommen, um uns zu sehe, und die etwas von uns erwarten. Aber der Geist der Straße hält uns als unabhängige Band auf den Beinen, obwohl es manchmal schwierig ist, weil du ein bisschen mehr arbeiten musst als wenn dir jemand sagt, was zu tun ist. Aber das erlaubt dir erstens, zu sagen, was dir in den Sinn kommt und was du fühlst, und zweitens ist da der Stolz, die Dinge auf eine – naja- sagen wir, natürliche Art zu machen. Man wird so etwas wie der Bauer der Musik, der früh aufsteht, um die Samen zu einzupflanzen und der aufsteht, um sie zu ernten. Alles braucht seine Zeit. Wenn wir also nie auf der Straße gespielt hätten, dann hätten wir dieses Bewusstsein nicht. Glücklicherweise begann es alles genau so.

Wie erlebst du, vor allem in deinem persönlichen Kontext als argentinischer Migrant in Barcelona, den Unabhängigkeitsprozess in Katalonien?
Ehrlich gesagt, ist uns die Unabhängigkeit des Individuums wichtiger als die Unabhängigkeit eines Landes, egal von welchem. Denn wenn das Individuum nicht unabhängig ist, kann es auch wenig für den Rest machen. Wenn die Unabhängigkeit eines Landes eine positive Veränderung zur Selbstverwaltung beitragen kann, ist sie herzlich willkommen. Ich weiß aber nicht, wie es wäre, wenn das hier passiert. Deshalb kann man in diesem Fall nicht von außen urteilen, denn wir leben zwar hier, aber mit kühlem Kopf. Wir ergreifen nicht Partei – wir können gar nicht Partei ergreifen! Denn du hast einen Freund, der hat die eine Meinung, und ein anderer hat eine andere. Was machst du da also? Kämpfst du den einen Tag mit einem und den anderen Tag mit dem anderen? Oder du versuchst, einfach menschlich zu sein und die Kompromisse zwischen den Menschen zu fördern.

Und was meinst du, was in Zukunft mit Menschen passieren könnte, deren Aufenthaltstitel unsicher ist und die keine Dokumente haben?
Die Leute ohne Papiere werden weiterhin ohne Papiere sein. Denn die Veränderungen, die auf Regierungsebene passieren, passieren nicht auf der Straße. Da wird dann einfach eine Verfügung in Brüssel erlassen, oft auch im Auftrag großer, multinationaler Unternehmen. Deshalb glaube ich, dass wir da gar nicht viel machen können. Wenn wir da etwas beitragen könnten, würden wir das ohne zu zweifeln tun. Aber im Moment glauben wir, dass wir nur positives Denken zum Geist der Einheit aller Menschen beitragen können. Egal, welche Flagge sie tragen. Aber, ehrlich gesagt, glauben wir nicht an Flaggen.

AUF DEM RÜCKEN DER BESTIE

Was ist exakt 1,58 Meter lang und schwarz weiß? Nein, es handelt sich nicht um ein südamerikanisches Tier, das sich in den Wäldern des Amazonas tummelt – es ist eine Besonderheit ganz anderer Art. Von einem Buch soll hier die Rede sein.
Beinahe mystisch mutet das in schwarzes Leinen gebundene Buch an. Öffnet man es, faltet sich ein exakt 1,58 Meter langes Wimmelbild und ein Text auf der linken Seite wie eine Ziehharmonika auseinander. Zu sehen sind kleine Männer und Frauen, die auf dem Feld arbeiten. Tiere zwischen Bäumen und kleine Häuser, die sich aneinander reihen. Weiter unten ein Zug, Zäune, Hunde, Polizeiautos und Menschen, die sich vor bewaffneten Männern verstecken. Es sind Flüchtende, die nicht sicher sein können, was sie auf der anderen Seite erwartet.
Jedes Jahr treten viele Mexikaner*innen eine gefährliche Reise an: Die Überquerung der Grenze zu den USA. Diesem Thema widmen sich José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro in ihrem Buch Migrar. Weggehen. Der Erste sprachlich, der Zweite in Zeichnungen.
Auf beiden Ebenen nehmen sie ihre Leser*innen mit auf die gefährliche Reise eines Jungen, der gemeinsam mit seiner Mutter nach Los Angeles flüchtet. Sie sind auf der Suche nach dem Vater, der schon früher dorthin gegangen war und plötzlich aufhörte, Geld in das kleine mexikanische Heimatdorf zu schicken. Die Flucht gestaltet sich nicht einfach: Sie müssen auf den Rücken der Bestie springen, wie sie den Zug Richtung USA in Mexiko oft nennen. Außerdem gibt es Hunde, die nach ihnen schnappen und dunkle Erdlöcher, in denen sie sich verstecken müssen.
Das Buch ist ein Meisterwerk auf beiden Ebenen. Auf der einen Seite ist da der junge Ich-Erzähler, der klug und kindlich zugleich seine Erlebnisse und Ängste schildert. Auf der anderen Seite gibt es die Zeichnung, die aus der Vogelperspektive die Geschichte vieler flüchtender Menschen zeigt. Der Illustrator José Martínez Pedro schafft es, altaztekischen Zeichenstil mit aktueller Thematik zu verbinden und schafft damit ein einzigartiges Werk.

 

Vom Feldbauern zum Preisträger

Interview mit dem Kleinbauern und Buchillustratoren Javier Martínez Pedro

Warum haben Sie sich dazu entschieden, das Buch Migrar zu illustrieren?
Der Verlag lud mich dazu ein, dieses Buch zu machen. José Manuel Mateo stellte seinen Text zur Verfügung, in dem er über einen Jungen schreibt, der aus Mexiko in die USA flieht.
Sie leben in dem kleinen Dorf Xalitla in Mexiko. Wie kam der Verlag auf Sie ?
Der Sohn der Verlegerin kannte mich, da ich für ihn Zeichnungen gemacht hatte. Daher kam es, dass sie mich dazu einlud, eine Zeichnung zum Thema Migration anzufertigen. Natürlich spielte José Manuel Mateo eine Rolle, da sein Text ja die Basis für meine Zeichnungen war. Mir gefiel an der Idee vor allem, dass ich selbst Teile der Geschichte Migrar erlebt habe: Ich machte mich auch auf den Weg in die USA und überquerte die Grenze. Ich denke, mir ist das Buch einigermaßen gut gelungen. Das liegt bestimmt daran, dass in meinen Zeichnungen etwas von meinem Leben steckt.

Sie leben zum Teil vom Verkauf Ihrer Zeichnungen. Welche Themen stellen Sie dar?
Die Traditionen meines Dorfes. Dort widmen sich die Leute der Erde: Wir säen, wir ernten die Früchte, pflanzen Kürbisse und Wassermelonen. Die Hochzeiten, zum Beispiel, sind in meinem Dorf etwas ganz Besonderes. Die Menschen heiraten zur Musik des Windes, sie tanzen und es gibt Musiker, die auf der Trommel spielen. All das zeichnen wir, meine drei Söhne und ich.

Wo verkaufen Sie Ihre Zeichnungen?
Meistens auf der Straße. Manchmal klopfen wir aber auch an Türen und fragen: „Brauchen sie nicht eine Zeichnung?“ Ab und zu kaufen die Leute die Zeichnungen dann, oft aber auch nicht. Ehrlich gesagt, ist die Situation gerade sehr hart. Es gibt viel Konkurrenz und leider auch viele Leute, die unsere Arbeit nicht mehr schätzen.

Sie müssen ja wirklich viel Zeit mit Zeichnen verbringen!
Ha! Ja, viel Zeit. Ich fing auch schon mit zwölf Jahren damit an, jetzt bin ich 52!
Zurück zu Ihrem Buch. Haben Sie eine Lieblingsszene in dem Buch und wenn ja, welche?
Ja, zum Beispiel gefiel es mir, den Zug zu zeichnen. Das war nämlich auch nicht ganz einfach. Normalerweise machen wir ja eher schlichte, hm, sagen wir, einfachere Zeichnungen. Als sie zu mir sagten, ich solle das machen, meinte ich: Wie soll ich das tun? Ich zeichne normalerweise nicht einmal Autos. Das sind ja ganz moderne Dinge!

Das war bestimmt eine Herausforderung.
Ja. In Mexiko nennt man den Zug übrigens „die Bestie“, weil dieser Zug alle Leute mitnimmt, die beispielsweise von Guatemala oder El Salvador kommen, um die Grenze zu überqueren. Es gefiel mir, Leute auf das Dach des Zuges zu zeichnen, die sich festhalten oder versuchen aufzuspringen.

Sie zeichnen auf Baumrindenpapier. Warum ist dieses Papier so besonders?
Das Baumrindenpapier wird aus der Rinde des Amatl-Baumes gemacht. Deswegen gab man ihm auf Spanisch auch den Namen papel amate.Interessant ist auch, dass dieses Papier eigentlich braun ist und dann erst mit Chlor gebleicht wird.
Das Thema der Flucht aus Mexiko ist ein politisches. Würden Sie sich daher auch selbst als politischen Illustrator sehen?
Ich möchte den Menschen verständlich machen, was es heißt, sein Land zu verlassen. Auswandern bedeutet für uns, wo anders bessere Lebensbedingungen zu suchen. Wir nehmen viele Risiken auf uns. Manchmal misshandeln sie uns an der Grenze. Manche, die werden sogar umgebracht. Und genau deshalb möchte ich vor allem den Kindern eine wichtige Botschaft mitgeben: Sie sollten lernen und dafür kämpfen, etwas aus ihrem Leben zu machen. So müssen sie nicht irgendwann ihr Leben riskieren, um eine Grenze zu überqueren.

 

“FRAUENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE”

Die Nachrichten, die uns aus Mexiko erreichen, drehen sich um Verschwundene, um Femizide und den Drogenhandel. Wie ist es, in einem solchen Klima zu arbeiten?
Es gibt kein anderes Gegengewicht zur Regierung als die Zivilgesellschaft und diese ist akut bedroht. Korruption und Straflosigkeit betreffen auch das Gesundheitssystem. In manchen Dörfern gehen die Medikamente aus, weil sie geklaut werden. Es ist wichtig zu zeigen, dass Korruption und Straflosigkeit die tödliche Mischung in allen Bereichen ist. Am meisten leiden darunter die Frauen, die, weit entfernt von den Städten, kaum finanzielle Mittel haben. Es ist schwierig zu arbeiten, während das Land in Stücke zerfällt. Wir kooperieren viel mit Menschenrechtsorganisationen. Zum Beispiel machen wir jetzt ein Projekt zum Thema Straflosigkeit, das zeigen soll, dass es egal ist, an welchem Thema du arbeitest. Ob es um Migration, Mord, Verschwindenlassen oder Abtreibung geht – die Mechanismen der Straflosigkeit sind die gleichen.

Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
GIRE hat einen Bereich für Rechtsstreitigkeiten eröffnet. Wir nehmen Fälle an, begleiten, dokumentieren sie und führen Gerichtsprozesse. Dadurch sind wir in engem Kontakt mit den Frauen. Die Fälle sind fast nie in Mexiko-Stadt, sodass wir viel durch das ganze Land reisen. Wenn es einen Fall gibt, betreuen wir ihn. Ein Grund einen Fall nicht anzunehmen wäre höchstens, wenn die Frau genug Geld hat, selbst einen Anwalt zu bezahlen. Schwierig ist auch, wenn die Taten sehr lange zurückliegen, dann kann man rechtlich oft nichts mehr machen. Auch kämpfen wir für Gesetzesänderungen im Kongress und organisieren Kampagnen, denn der öffentliche Druck hilft bei der rechtlichen Aufarbeitung schon sehr. Wir machen öffentlich, dass es um Muster, nicht um Einzelfälle geht. Der klassische Fall ist der der indigenen, armen Frau, die stirbt, schlecht behandelt oder der die Abtreibung verweigert wird.

Wie können diese Missstände behoben werden?
Ein wichtiger Schritt ist, dass während der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung über Gewalt gesprochen wird. Die Frauen und die Ärzte sollen wissen, dass es nicht normal ist, dass Frauen der Zugang zu Kliniken verwehrt wird, sie mit niemandem in ihrer Sprache sprechen können. Viele erleiden schreckliche Grausamkeiten, von Überdosierung von Medikamenten, Demütigung, Schläge. Und das in einem Moment größter körperlicher und psychischer Verwundbarkeit. Es muss öffentlich gemacht werden, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist die schlimmste Art von Machismus, weil sich die Frau in diesem Moment nicht verteidigen kann.

Was verbindet die meisten Fälle, die Sie begleiten?
In fast allen Fällen geht es um Vergewaltigung. Manchmal sind es junge Mädchen, die von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt wurden und schwanger sind. Sie bitten um legale Abtreibung. Wir übernehmen ihre Verteidigung, verklagen die örtliche Verwaltung wegen Vorenthaltung medizinischer Grundversorgung. Wir haben Klagen gegen Bundesstaaten eingereicht. Diese Fälle haben wir nicht gewonnen. Die Richter sagen, dass die Frau die Schwangerschaft fortsetzen müsse, um den Fall zu gewinnen. Immerhin haben wir erreicht, dass Frauen ihren Vergewaltiger – manchmal den eigenen Vater – nicht mehr anzeigen müssen und Minderjährige nicht mehr das Einverständnis ihrer Eltern benötigen, um abtreiben zu dürfen. Die politische Rechte hat Einspruch eingelegt, die Entscheidung liegt jetzt beim Obersten Gericht. Das Schlimme ist, dass so viele Mädchen dazu gezwungen werden, sehr jung Mütter zu werden, das Risiko einer frühen Geburt zu tragen und die Schule abzubrechen.

Warum stellt sich die Politik so gegen die Legalisierung von Abtreibung?
Ich glaube, es ist ideologisch motiviert. Viele können nicht tolerieren, dass eine Frau nicht Mutter sein will. Es gibt diese Wahrnehmung, dass die Mutterschaft ein Geschenk Gottes ist, über das man sich freuen muss. Es gibt viel Druck von Seiten verschiedener Kirchen und Konservativer, die glauben, dass du das Leben ab Empfängnis respektieren musst. Der politische Wille von oben fehlt, zu sagen, dass Mexiko ein laizistischer Staat ist und es die Option geben muss, auf legale und sichere Weise abzutreiben.

Haben Sie schon konkrete Angriffe auf Ihre Organisation erlebt?
Unsere Internetseite wurde angegriffen, wir haben Briefe bekommen, dass wir Kindermörder*innen seien, solche Sachen, aber mehr zum Glück noch nicht. Schwierig ist, dass die Frauen, die wir verteidigen, manchmal bedroht werden. Ich weiß nicht, wie ihre Identität bekannt wird, wahrscheinlich durch die lokalen Behörden selbst. Jemand bietet ihnen Geld an für ein Video, in dem sie behaupten sollen, dass GIRE sie gezwungen habe abzutreiben. Das ist besorgniserregend. Deshalb müssen wir sehr eng mit den Familien zusammenarbeiten, Vertrauen aufbauen. Wir haben auch ein Sicherheitsprotokoll für alles. Zum Beispiel reisen wir nicht mehr nach Michoacán, Tamaulipas und Sinaloa. Es ist schrecklich, einer Frau zu sagen, dass wir sie nicht begleiten können. Wir suchen dann nach anderen Wegen, um ihnen in ihren Bundesstaaten zu helfen.

Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation ein?
Ich bin besorgt darüber, was im nächsten Jahr bei den Wahlen passieren wird. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.) ist absolut korrupt. Andrés Manuel López Obrador von Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung, Anm. d. Red.) ist auch nicht unser Freund. Zwar will niemand die PRI. Aber die Alternative ist für Frauen auch nicht überzeugend. Neulich wurde López Obrador in einem Interview gefragt, ob er Feminist sei und hat geantwortet, dass die Frauen „den Himmel verdienen“. Es ist traurig.

Was müsste passieren, damit sich die Situation für die Frauen verbessert?
Legalisierung von Abtreibung. Gute medizinische Versorgung. Die Möglichkeit, Armut nicht dein Leben bestimmen zu lassen. Vor allem die Entnormalisierung von Gewalt gegen Frauen. Nicht mehr ständig in der Defensive sein zu müssen, alltägliche Entscheidungen frei von Angst treffen zu können. Es ist im internationalen Kontext wichtig, Solidarität zu zeigen. Das gibt den Organisationen in Mexiko Kraft. Ein Gegengewicht zur offiziellen Version muss her. Für uns war dieser Preis sehr wichtig. Normalerweise bekommt das Thema Frauenrechte nicht viel Aufmerksamkeit.

 

“AUFBEGEHREN GEGEN DAS SYSTEM”

Was hat Sie dazu bewegt, den schwierigen Weg der Gründung einer freien Schule zu gehen – in einer ländlichen Gemeinde mit nur 4.000 Einwohner*innen?
Ich arbeitete an einer staatlichen Sekundarschule in Erandique, im Regierungsbezirk Lempira. Nach dem Putsch 2009 hat sich die Situation an der Schule grundlegend geändert. Der Schuldirektor, Mitglied der Nationalen Partei, führte die Schule sehr autoritär. Mit der Regierungspartei im Rücken fühlte er sich bestärkt, Posten nach Parteizugehörigkeit zu besetzen. Ich selbst verlor dadurch meine Position.
Zudem verbreitete er eine Atmosphäre der Angst, er schrie uns Lehrkräfte an, erniedrigte und beleidigte uns – teilweise auch vor den Schülern. Kritische Äußerungen wurden weder von Lehrkräften noch von Schülern geduldet. Kritische Jugendliche wurden sofort als schlecht erzogen dargestellt, als frustrierte junge Menschen. Einige Schüler bekamen gravierende psychische Probleme und niemand auf Leitungsebene interessierte sich dafür.
In dieser Situation begannen einige Kollegen und ich von einer anderen Art von Schule zu träumen. Wir trafen uns und überlegten, wie wir uns die ideale Schule vorstellen und welche Art von Bildung und Erziehung wir für die Schüler am liebsten hätten. Aber erstmal war alles nur ein Traum.

Wie wurde dieser Traum Realität?
Wir erzählten unseren Freunden, anderen Lehrkräften im Dorf und den Leuten von der katholischen Kirche von der Situation und unserer Idee einer freien Schule und einer anderen Art von Bildung. Eine freie Schule in Honduras zu gründen bedeutet ein langwieriges Zulassungsverfahren durch verschiedene Instanzen oder eine hohe Ablösesumme, falls man eine bereits bestehende Privatschule übernehmen möchte. Aufgrund der politischen Situation und des Konfliktes an der alten Schule war uns klar, dass wir keine Zulassung bekommen würden. Geld hatten wir auch nicht¸ aber wir hatten Glück: Eine Person, die vor einigen Jahren eine Privatschule in Erandique gegründet hatte, diese aber schließen musste, übertrug uns die Zulassung kostenlos. Und plötzlich ging alles sehr schnell.

Die Schule funktioniert nun schon im dritten Jahr. Wie haben Sie das erreicht?
Wir haben einen gemeinnützigen Verein gegründet. Die Schule finanziert sich über Gebühren von Eltern, die etwas zahlen können. Andere Eltern unterstützen uns mit handwerklichen Arbeiten in den Schulräumen. Es gibt auch Eltern, die für Kinder aus ärmeren Verhältnissen zahlen. Wenn Eltern die Gebühr einmal nicht aufbringen können, dann behalten wir deren Kinder natürlich trotzdem. Wir haben derzeit über 70 Schüler, in der Mehrheit Kinder alleinerziehender Mütter. Wir unterrichten alle Jahrgänge von der Vorschule bis zum Abitur.
Im Kollegium sind wir sechs, die nur an dieser Schule arbeiten. Wir erhalten Unterstützung von Lehrkräften, die woanders ihr Geld verdienen und bei uns ein paar Stunden unterrichten. Es gibt auch Lehrkräfte, die bei uns unterrichten, weil sie wegen der politischen Situation an staatlichen Schulen keine Anstellung erhalten. Es herrscht an vielen Schulen der Druck, die regierende Nationale Partei zu unterstützen.
Ich habe von meiner festen Stelle an der staatlichen Schule eine Freistellung für zwei Jahre. Es ist eine Umgewöhnung. Vorher hatte ich ein regelmäßiges Gehalt, auch während der Ferien. Jetzt werde ich nur während der Schulmonate bezahlt.

Was zeichnet die Bildung an Ihrer Schule besonders aus?
Damit Kinder und Jugendliche lernen können, muss eine vertrauensvolle und angenehme Atmosphäre geschaffen werden. Deshalb haben wir mit einfachen Dingen begonnen, wie einer farbenfrohen Raumgestaltung und Bepflanzung des Innenhofes. Wir fördern eine Kultur des Dialogs und setzen uns für Konflikttransformation ein. Auf unsere Umgebung, die von Gewalt, Drogenhandel und Repression geprägt ist, haben wir nur bedingt Einfluss, aber ich als Lehrkraft muss mit den Erfahrungen und Emotionen meiner Schüler*innen verantwortungsvoll umgehen. Wir bieten Kindern und Jugendlichen einen sicheren Raum und eine Gemeinschaft.
Für uns ist es wichtig, dass unsere Schüler und deren Eltern verstehen, dass Bildung nicht bedeutet, zu zeigen, wer der oder die Beste ist. Uns geht es vor allem darum, die Freude am Lernen zu wecken.

Gab es keine größeren Schwierigkeiten nach der Schulgründung?
Wir standen und stehen verschiedenen Herausforderungen gegenüber: Uns gegen Verleumdung zu wehren, gute Lehrkräfte zu finden, die offen für Freire-Pädagogik sind, und natürlich die finanzielle Situation.
In den ersten Monaten unserer Arbeit mussten sowohl wir Lehrkräfte als auch die Schüler mit Verleumdungskampagnen gegen uns kämpfen. Der Direktor meiner früheren Schule zeigte uns wegen nicht genehmigten Schulbetriebes an. Es hat uns mehrere Monate gekostet, um die Anzeige aus dem Weg zu räumen. In der Gemeinde wurden unsere Schüler oft abwertend als „reiche Privatschüler“ bezeichnet. Damit umzugehen, ist für Kinder und Jugendliche aus armen Verhältnissen schwer.
Mit der Schulgründung haben wir nicht nur gegen den Direktor der einzigen Sekundarschule im Dorf rebelliert, sondern es war ein Aufbegehren gegen das System.

Was gibt Ihnen die Kraft weiterzumachen?
Ich stand vor der Entscheidung, die neue Schule zu gründen oder so weiter zu machen wie bisher. Die Situation an der staatlichen Schule hat mich krank gemacht. Jetzt fühle ich eine große Zufriedenheit bei der Arbeit und bin wieder gesund geworden. Durch die Freire-Pädagogik habe ich neue Wege in der Bildung kennen gelernt und bin vielen Menschen begegnet, die mir Mut gemacht haben. Und das Netzwerk ehemaliger Stipendiaten des „Procalidad“ – Kurses gibt mir Halt.
Die Möglichkeiten an unserer Schule, den Unterricht gemeinsam mit den Schülern zu gestalten, sind sehr schön. Natürlich gibt es staatliche Kontrollen, aber wir haben Freiheiten. Zum Beispiel begehen wir den 15. September, den Tag der Unabhängigkeit, nicht wie der Staat es wünscht – in Uniformen und mit einem militärischen Aufmarsch. Im letzten Jahr haben wir am Feiertag selbst nichts gemacht und einen Tag später gab es einen Umzug in der traditionellen Kleidung der Lenca. Die Idee kam von Schülern und zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

 

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