UNSERE HAUPTBEDROHUNG IST DIE SEXUELLE GEWALT

Du bist Mitglied des feministischen Theaterprojekts Las Amapolas. Auf welche Voraussetzungen geht euer Projekt zurück?

Schon früh wurde ich mir der gegen den Frauenkörper gerichteten Gewalt bewusst. Ich beteiligte mich an allen möglichen Formen der öffentlichen Anklage, z.B. war ich bei allen Demonstrationen dabei. Außerdem erlebte ich seit vielen Jahren die Repression gegen die feministische Bewegung in Nicaragua. Es gab eine konstante Verfolgung bei Mobilisierungen zu nationalen Demonstrationen, immer war die Macht anwesend, ständig waren Polizeieinheiten präsent. Ich war in Estelí aktiv und hatte die Gelegenheit zusammen mit unserem Kollektiv an Demonstrationen teilzunehmen, an Verkehrsblockaden oder vor die Gerichte zu ziehen. In Nicaragua herrscht eine gegen unseren Körper gerichtete Welle der Gewalt, denn es ist ein frauenfeindlicher Staat, wo es jedes Jahr einen hohen Anteil von sexuellem Missbrauch und Frauenmorden gibt. Ich habe mich auch im Bildungsbereich betätigt, in kommunalen Projekten, die Begleitung für Jugendliche und junge Heranwachsende anboten, um Themen wie Gewaltprävention oder Schwangerschaft im Heranwachsendenalter zu bearbeiten. Die staatlichen Institutionen verschlossen uns ihre Türen wie es auch fortwährend Drohungen gegen unserer Arbeit gab. Letztes Jahr am 8. März verweigerte uns das Gemeindeamt die Erlaubnis, auf der Straße eine öffentliche Aktion durchzuführen. Wir nahmen sie uns, denn in Nicaragua gewährte uns der Staat nie einen Raum, man musste ihn sich nehmen: am Ende war da immer die symbolische Gewalt der Polizeipräsenz, sie kamen um uns zu drohen. Ich war auch in der Universität aktiv und äußerte immer offen meine Kritik. Vermutlich war eine Konsequenz daraus, dass ich zum sichtbaren Mittelpunkt wurde und leicht zu identifizieren als die Repression an Intensität zunahm.

(Foto: privat)

Hat dich die massive Artikulation der Proteste am 18./19. April 2018 und die darauf folgende Gewalt überrascht?

Als Aktivistin kam für mich der Ausbruch der Gewalt nicht überraschend, da wir sie bereits vorher in verschiedenem Ausmaß und Ausdruck erlebt hatten. Einen Tag davor hatten wir in Estelí eine Demonstration organisiert, weil das Naturreservat Indio Mais brannte. Später gab es einige Demos wegen der Reform der Sozialversicherung INSS. Schon da wurden wir Opfer polizeilicher Verfolgung in Estelí. Da wir diejenigen waren, die das organisiert hatten, die ihre Stimme hören ließen, Mikrofone und Megafone mitbrachten, fotografierten sie uns − praktisch eine direkt gegen uns gerichtete Drohung. Am 17. und 18. April war ich in Matagalpa, wo es eine Demonstration wegen der Sozialversicherung gab. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Staatsbediensteten und man sah deutlich die Aggressivität, die von denen ausging, während die Polizei sich indifferent verhielt, als ob sie die Situation genießen würde. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Wir wussten jetzt, was in Managua los war und dass es Tote gab.

Am 19. April gab es eine Demonstration in Estelí. Dort schlugen sie auf Jugendliche ein und nahmen sie fest. Am folgenden Tag, am 20. April, änderte sich unser Leben, denn an diesem Tag beschlossen wir, dass wir uns auf Demonstrationen nicht mehr hervortun wollten, da wir nun wussten, was passieren würde und wir hatten ja bereits Repression erlebt. Unter diesen Umständen beschlossen wir medizinisches Material zu beschaffen und im Fall eines Angriffs zu helfen, denn es wurde auch geschossen. An diesem Tag zog sich der Demonstrationszug bis zu einem Kilometer hin. Es kamen viele Leute. An einer breiten Straße standen aufgereiht Paramilitärs, die direkt auf Demonstrant*innen und deren Köpfe zielten. Es kam zu Auseinandersetzungen −wer keine Angst zeigte, wurde verfolgt und nach Ende der Demo schossen sie Tränengas. Es war dies ein Ausdruck der Gewalt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Wir befanden uns in einem Sicherheitshaus, denn wir hatten uns jetzt organisiert und die Aufgabe, Personen zu versorgen, die mit Tränengasvergiftungen kamen. Ungefähr um 10 Uhr abends wurde damit begonnen Barrikaden zu bauen, jetzt war das eine Sache, die nicht mehr zu kontrollieren war. Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen. Wir bewegten uns im Auto fort, um Medikamente oder nach Personen zu suchen, die unsere Hilfe benötigten. Dann kam die Nachricht, dass sie zwei Jugendliche getötet hatten. Denn die Paramilitärs, die nach Estelí kamen, benutzten großkalibrige Waffen, Heckenschützen ermordeten die beiden. Es waren die ersten Toten der Aprilproteste. Trotz alledem gingen wir weiter auf die Straße, jeden Tag gab es Demonstrationen in Estelí, jeden Tag dachte man sich neue Formen des Protestes aus, um standzuhalten. Nach fünf Tagen wurden Straßensperren errichtet.

Welcher war der ausschlaggebende Moment für deine Entscheidung ins Exil zu gehen?

Nach dem Mord an den Jugendlichen, Studenten aus Estelí, erhöhten wir den Druck und begannen Demonstrationen zu organisieren. In dem Moment haben wir uns zu sehr exponiert, denn wir waren sehr sichtbar, wir waren die einzigen Frauen, die in der Öffentlichkeit nach dem Mikrofon griffen und feministische Spruchbänder trugen. Wir machten auch Straßentheater und verschiedene Performance auf den Demonstrationen. Dann kam das Massaker vom 30. April, was ebenfalls ein traumatisches Erlebnis war. In Estelí gab es sieben Morde an einem einzigen Tag. An diesem Tag kamen Paramilitärs zu mir nach Hause und sagten, dass sie wüssten, wo wir wohnen, wer wir sind, seit wann wir da schon mitmachen, dass sie uns töten werden, vergewaltigen − jede Menge Beschimpfungen in nur einer Minute und sie verschwanden. Anschließend begann die Serie in den sozialen Netzwerken, denn wir kollaborierten offen mit den Jugendlichen an den Straßensperren. Dort schrieben sie Dinge wie wir verfügten über große Geldmengen, wir würden von der CIA bezahlt, wir würden andere manipulieren, die in unserem Namen auf die Straße gingen und all das würden wir mit Blei bezahlen. Danach erschienen Fotos von uns: “Lesben, Huren, wir werden sie töten!” Von da an schlief ich nicht mehr zu Hause und wir gingen nicht mehr nach draußen, wie im Gefängnis. Das bedeutete eine Entscheidung zu treffen: entweder sie töten dich oder sie machen etwas mit dir oder du bleibst. Wir waren das perfekte Ziel zu politischen Gefangenen zu werden.

Ich ging am 23. Juni. Es gab Straßensperren und ich musste durch die Berge, um zum Flughafen kommen, wo du dich nicht von deiner Familie verabschiedest. Du nimmst das Gefühl mit, nicht zu wissen, wann du zurück kommst. Auf dem Flughafen überall Militär. Wahrscheinlich hatten sie da die Personen noch nicht registriert, die in irgendwelche Dinge verwickelt waren. Ich konnte das Land ohne Probleme verlassen. Zwei Tage danach begann die Säuberungsaktion in Estelí, als es ein weiteres Massaker gab. Ich nenne diesen Staat terroristisch: fortwährende Kampagnen um Angst zu verbreiten, durch Gewalt an der Macht festhalten, ständige Aggressionen, denen die Menschen ausgesetzt sind.

(Foto: privat)

Seit dem 24. Juni 2018 lebst du in Deutschland. Was bedeutet für dich das Exil?

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich klare Überzeugungen: Ich bin eine Person, die das Privileg hat hier zu sein und seitdem habe ich mich damit beschäftigt, die Lage in Nicaragua öffentlich anzuprangern. An verschiedenen Orten zu sprechen, war nicht gerade einfach. Erstens spreche ich nicht die Sprache, zweitens bin ich eine Frau und drittens spüre ich, dass ein konstanter Rassismus vorhanden ist. Ich bin keine politisch anerkannte Persönlichkeit, keine Person, die permanent in den sozialen Netzwerken auftaucht, keine öffentliche Person. Als ich hier ankam, hatte ich mir das Recht zu sprechen erst zu verdienen, denn am Anfang hat es niemanden interessiert, meine Geschichte zu hören. Alles, was ich erreicht habe, wurde durch einen Kraftakt und gewisse Privilegien erreicht, denn ich muss anerkennen, dass eine deutsche Lebensgefährtin zu haben einen anderen Zugang bietet. Und schließlich das Thema Migration: dir wird bewusst, dass Leute, dir ihr Land verlassen müssen, dort ein Leben hatten, eine Geschichte und diese von null auf wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Aktuell hat mir das Theater das Leben gerettet, ich bin auf die besten Gedanken gekommen, es hat mir Kraft gegeben − die Kraft zur Selbstermächtigung. Ich bin Teil einer deutschen Frauentheatergruppe. Wir bearbeiten die Themen, die ich auch vor der Krise in Nicaragua bearbeitet habe, wo es um die sexuellen und reproduktiven Rechte geht − Aufklärung durch das Theater. Aber es ist nicht einfach anzukommen und zu sagen “ich will Mitglied eurer Gruppe sein”. Ich fühlte den Druck beweisen zu müssen, dass ich tatsächlich Ahnung vom Theater habe.

Das Regime Ortega/Murillo versucht der Welt zu beweisen, dass Nicaragua zur Normalität zurückgefunden habe, während die Repression weitergeht.

Vor allem ist die Politik, die sie nach dem Massaker angewendet haben, superzynisch und eine Beleidigung für alle Personen, die Opfer der Repression geworden sind. Während der letzten Woche in Nicaragua haben wir mit verschieden Aktivistinnen audiovisuelles Material entwickelt. Das verwenden wir hier als Anregung für die Leute, die Realität wahrzunehmen, die Nicaragua durchlebt. Die Leute haben vielleicht keine Vorstellung vom Zynismus dieser Regierung, die von Versöhnung spricht, während sie weiter politische Gefangene verschleppen, weiter foltern oder Frauen in der Haft abtreiben. Denn dort sind sie einem System physischer Folter unterworfen, wenn du schwanger bist, holen sie dich unter Schlägen aus der Zelle und provozieren so einen Abort. Manchmal befindest du dich in der schmerzhaften Situation, dass es den Deutschen in Bezug auf die Ereignisse etwas an Empathie fehlt. Es verschleißt viel Energie, den Leuten während einer Veranstaltung erklären zu müssen, dass wir nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken, wer der nächste Präsident wird. Denn es gibt eine Krise, etliche Leute haben keine Arbeit und nichts zum Überleben. Viele Jugendliche, die an Demos teilgenommen haben, werden verfolgt, viele gehen zu Fuß bis nach Honduras oder in andere zentralamerikanische Länder. Jeden Tag suchen Menschen nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen. Nicht jede*r kann ein Flugticket kaufen in diesen Zeiten, nichts ist sicher und absolut niemand ist sicher.

Inzwischen hat sich das nationale Bündnis Azul y Blanco gegründet, worin sehr unterschiedliche, teils in ihren Auffassungen gegensätzliche Gruppierungen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Welche Aussichten siehst du für die Feministinnen und deren Forderungen in diesem Bündnis?

Ich finde, dass die Krise auf der Ebene der poder popular auch einen Gewinn bedeutet: das Erwachen der Menschen. Es gibt zur Zeit viele Ideale, aber da es ein gigantisches Monster gibt, das zu besiegen ist, vereinigten sich all diese Sektoren. Obwohl wir Feministinnen eine sehr spezifische Agenda haben, wo es um Frauenrechte geht, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir Teil dieses Entscheidungsprozesses sind, denn die Situation wird nicht jetzt gelöst werden. Das wird ein langer Prozess sein. Das Naheliegende wäre vielleicht eine Übergangsregierung, worin verschiedene Repräsentant*innen der Bewegung Azul y Blanco vertreten sind, unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausdrucks. In dieser Bewegung gibt es ebenfalls große Intellektuelle mit einer langen politischen Geschichte. Und da sind auch die Feministinnen, die dafür kämpfen, in den Raum vorzudringen, wo die Entscheidungen getroffen werden, damit ihre Stimme wirklich berücksichtigt wird, da wir es waren, die diesen Kampf permanent geführt haben. Wer auf die Straße ging, das waren über Jahre hinweg die Frauen und die Bauern- und Bäuer*innenbewegung.

 

 

FEMINISTISCHE IDEENSCHMIEDE

Gemeinsam auf der Straße Das ENM ist eines der größten feministischen Treffen (Yamila Carbajo)

Von wem und wie wird das ENM jeweils organisiert?
Als ich erfahren habe, dass das Treffen in Chubut stattfinden würde, war mir sofort klar, dass ich mithelfen wollte. Am Anfang hatte ich gar keinen Plan, wie die Organisation ablaufen würde. Ich bin dann einfach zu einem der ersten Organisationsplena gegangen. Das war eine unglaublich tolle Erfahrung, es waren hunderte Frauen aus allen möglichen Orten anwesend. Beim ersten Treffen habe ich erfahren, dass alles im Konsens entscheiden wird. Mir hat sehr gut gefallen, dass es keine Hierarchien gibt. An der Planung des Kongresses waren sowohl „unabhängige“ Frauen – das heißt Frauen, die keiner Partei oder Organisation angehören – als auch organisierte Frauen beteiligt. Während des zweiten Treffens haben wir uns in Kommissionen aufgeteilt, die jeweils verschiedene Arbeiten übernahmen.

Welche Kommissionen gab es und wie lief die Arbeit innerhalb deiner Gruppe ab?
Es gab Kommissionen für Unterbringung, Sicherheit, Finanzen, Organisation, Logistik, Workshops, Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und für die Kommu-nikation zwischen den Provinzen. Ich bin der Kommission Kultur beigetreten. Mit zwei Kolleginnen haben wir 17 Theateraufführungen, sieben Tanzaufführungen und fünf Performances koordiniert. Wir waren insgesamt echt wenige Menschen für die Organisation eines so großen Events. Angefangen haben wir mit mehr als 100 Leuten, am Ende waren wir nur noch 50-60. Am Ende des Kongresses haben wir vor Erleichterung geweint, dass wir die Organisation doch so gut geschafft haben.

Einige Tage vor dem Ereignis wurde ein Dokument der Mapuche über Social Media geteilt. Sie fühlten sich von der Kongressbezeichnung „nacional“ nicht repräsentiert und wünschten sich eine Änderung in „plurinacional“. Das Plenum habe aber ihre Anliegen ignoriert.
Nein, ignoriert haben wir das nicht. Das wurde sehr viel diskutiert und respektiert. Uns als Organisationsteam steht das gar nicht zu, den Namen zu ändern. Wir sind nur 50 Leute und können gar nicht entscheiden, wie der Kongress in Zukunft heißen soll (siehe Infokasten, Anm. d. Red.).

Wie war die Zusammenarbeit mit der Stadt? Dutzende Schulen öffneten ja zum Beispiel ihre Türen für Übernachtungen und Workshops. Und dann müssen am Wochenende mal 50.000 Feminist*innen mehr aufs Klo…
Chubut hat sich nicht freiwillig für den Kongress gemeldet, sondern jedes Jahr stimmen die Teilnehmenden des ENM über den nächsten Ort ab. 2019 wird das Treffen zum Beispiel in La Plata, im Bundesstaat Buenos Aires, stattfinden. Dort, wo der Kongress dann stattfindet, muss die Stadt die Versorgung gewährleisten, ob sie will oder nicht. Das heißt, die Gesundheitsversorgung muss gewährleistet sein und für die Sicherheit gesorgt werden. Auch das Abwassersystem wird beispielsweise mehr belastet als sonst. Grundsätzliche Dinge, derer du dir erst bewusst wirst, wenn du selber so ein Event mitorganisierst.

Was waren die Reaktionen der Anwohner*innen in Chubut? Also derjenigen, die nicht am Kongress teilgenommen haben? Auf Twitter wurde ja beispielsweise die Angst verbreitet, dass manche Teilnehmer*innen planen würden, frisch geborene männliche Babys in den Krankenhäusern zu töten.
Ich denke, der Kongress hat gezeigt, wer wir sind. Jeder Ort, an dem das ENM stattfindet, macht die Menschen dort sichtbar. Es gibt einige Menschen in Chubut, die begeistert am Kongress teilgenommen haben. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Leute, die so einen Scheiß glauben. Das Treffen an sich war auf jeden Fall eine unglaubliche Party. Und was nicht eingetroffen ist, war jene Twittermeldung, die vorab über die Feministinnen in den Medien verbreitet wurden. Was aber geschah, ist, dass die staatlichen Organisationen versagt haben. Alles was die Regierung uns versprochen hat, hat gefehlt. Es gab viel Gewalt gegenüber uns Frauen.

Laut für den Feminismus Trotz Repressionen waren Tausende auf der Abschlussdemonstration (Foto: Yamila Carbajo)

Was ist passiert?
Die Regierung hat uns Sicherheit versprochen, die gab es nicht. Vor allem die gefährlicheren Viertel der Stadt wurden nicht bewacht. Im ohnehin sicheren Teil gab es drei Patrouillen. Dagegen gab es in den drei unsicheren Vierteln zusammen nur eine. Eine Schule, in der Kongressteilnehmerinnen übernachteten, wurde um sieben Uhr morgens mit Steinwürfen attackiert, eine andere Schule ausgeraubt. Alles wurde mitgenommen, Rucksäcke, Klamotten, selbst die Schlafsäcke und Isomatten waren weg.

Wie hat die Polizei sich sonst verhalten?
Die riesige Abschlussdemo am Sonntagabend war spektakulär, wir hatten unsere grünen Tücher dabei. Die Polizei hatte sich nicht mal darum gekümmert, Straßen für die Demo abzusperren. Das einzige, was wir von der Polizei erfahren haben, waren Repressionen. Am Ende der Demo sind sie mit einem Riesenaufgebot angerückt, unter anderem die Bundespolizei und das Militär, wobei es sich um ein sehr hartes Vorgehen handelte und die Repression zudem eine scheußliche symbolische Bedeutung erhält: Bekanntlich war das argentinische Militär für das Verschwinden und Ermorden von Menschen in der letzten Diktatur verantwortlich. Auch heute noch bringen Polizei und Militär Menschen um und lassen Leute verschwinden. Sie haben zehn Frauen mitgenommen. Die Situation war für die Verhafteten sehr beängstigend. Die Beamt*innen haben sich nicht ausgewiesen und die Frauen zunächst in einen vermeintlichen Raum der Feuerwehr gebracht, in dem sie schikaniert wurden. Unser Orgateam hat zum Glück gute Anwält*innen, wodurch die Frauen bald wieder auf freiem Fuß waren. Es gibt in Argentinien viel Gewalt gegen Frauen, rund alle 30 Stunden einen Femizid. Das Encuentro Nacional de Las Mujeres soll dieser Situation etwas entgegensetzen.


Viktoria
Viktoria ist als Künstlerin im Theaterbereich und Kulturproduktion in Chubut tätig, was sie dazu motiviert hat, beim ENM 2018 in der Organisation mitzumachen. Zwar hatte sie sich vorher nie als Feministin labeln lassen wollen, aber nach der Erfahrung des ENM, würde sie sich auch selbst so nennen.

IRRWEG EXTRAKTIVISMUS

Welche Positionen konntet ihr bei der Klimakonferenz einbringen?
An erster Stelle ist es sehr wichtig, dort als Vertreter der Zivilgesellschaft hinzufahren und zu hören, was unsere Regierung sagt. Was verlangt sie? Bekommt sie Geld und wenn ja, wofür? In unserer Geschichte hat unsere Regierung uns nie erlaubt, Teil ihrer Delegation zu sein. Die mexikanische Delegation hat die Tradition, fünf NGO-Abgesandte in ihre Delegation aufzunehmen. Da unsere Regierung das nicht macht, versuchen wir mit Kollegen aus anderen Staaten wie Deutschland, Niederlande, Belgien oder Parteien wie zum Beispiel den Grünen, zu sprechen. Sie informieren uns über die Verhandlungen. Außerdem arbeiten wir mit anderen NGOs zusammen, besonders Fraueninitiativen aus Lateinamerika oder der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen in Bonn (IFOAM).

Was war die offizielle nicaraguanische Position?
Die Delegation bestand nur aus zwei Männern, die Vertreter der Regierung Paul Oquist und Javier Gutiérrez. Die zwei haben wir nicht gesehen, im Plenum blieb der Platz für Nicaragua unbesetzt. Man war anscheinend die ganze Zeit mit dem Green Climate Fund (GCF) beschäftigt. Dieser ist sehr wichtig, da er die Gelder des Pariser Klimaabkommens für Klimaprojekte in den ärmeren Ländern verwaltet. Die Entscheidungen des GCF werden sehr intransparent getroffen, obwohl dort über die Verwendung mehrerer 100 Millionen US-Dollar entschieden wird. Zur Einordnung der Rolle unseres Landes: Nicaragua hatte das Pariser Klimaabkommen zunächst nicht unterschrieben und sich auf das Anklagen der großen Klimasünder USA und EU beschränkt. Dadurch bekam Nicaragua politische Aufmerksamkeit. Nach dem Umschwenken Nicaraguas und der Unterzeichnung des Abkommens 2017 wurde ihr Delegationsleiter Oquist dann zum Vize-Präsidenten des GCF gemacht.

Nutzt die nicaraguanische Regierung Klimagelder für andere politische Interessen?
Ich denke schon. In erster Linie will sie Werbung für die eigene Regierung machen und sich gegen die internationale Isolierung wehren. Nicaragua hat in den letzten Jahrzehnten viel Geld bekommen – von europäischen Staaten, von der UNESCO – aber mit der Umwelt geht es ständig bergab. Politiker sind straflos in Umweltskandale verwickelt: Das staatliche Unternehmen Alba Forestal fuhr 2017/2018 ununterbrochen wertvolles Holz aus den Naturschutzgebieten des Nordens ab, dem Besiedeln dieser Naturschutzgebiete in Nord- und Süd-Nicaragua wird kein Riegel vorgeschoben. Im Gegenteil, illegale Siedler werden beim Rauben von indigenem Land noch unterstützt, teilweise mit Waffengewalt.

Wird das Ergebnis der Klimakonferenz einen Einfluss auf den Umweltschutz in Nicaragua haben?
Kattowitz könnte einen negativen Einfluss auf Nicaragua haben, denn die Konferenz bedeutet Macht und Geld für die Regierung und nicht für die Zivilgesellschaft. Die Klimagelder werden an die Regierung überwiesen und kommen bei den Basisinitiativen, die tatsächlich für Umwelt und Klima arbeiten, nicht an. Diese werden sogar verfolgt oder verboten.

Welche Relevanz hat dabei insebsondere der Klimaschutz in der Region?
Natürlich trägt Nicaragua zur globalen Erwärmung ungeheuer wenig bei, aber das befreit uns nicht von der Pflicht, auch unser Verhalten entsprechend zu ändern. Vor allem aber geht es für die betroffenen, armen, äußerst verletzlichen Länder wie den mittelamerikanischen darum, die nicht mehr aufhaltbaren Folgen abzumildern. Ein Beispiel ist, die Bewaldung zu erhalten, die Landwirtschaft auf Agroforstwirtschaft umzustellen und vieles mehr. Stattdessen erlaubt die Regierung das Abholzen, die Verschwendung, die Vergiftung und das Versiegen der Gewässer. Auch in diesem ungeheuer wichtigen Bereich zur Erhaltung der Lebensgrundlagen ist das Regime unwillig und unfähig. Die neoliberalen Vorgängerregierungen konnten wir durch unsere Kritik stark unter Druck setzen. Die jetzige schießt.

Kannst du uns mehr über eure Arbeit als Umwelt-NGO in Nicaragua erzählen?
Wir sind schon lange als Umwelt-NGO in Nicaragua aktiv – schon seit mehr als 30 Jahren. Verschiedene NGOs haben sich nun zusammengetan, um zum Beispiel auf die Folgen des geplanten Kanalprojekts aufmerksam zu machen und auf den generellen Irrweg des Extraktivismus. Wir versuchen, die Bauernfamilien zu unterstützen, sie zu informieren und praktische landwirtschaftliche Widerstandsarbeit mit ihnen zu initiieren. Deswegen sind wir auch in Gefahr, da die Regierung unsere Arbeit als Anstiftung zum Aufruhr wertet.

Wie hat sich der politische Druck auf euch in den letzten Jahren verändert?
Die Bauern haben seit dem Gesetz zum Kanalbau mit Protesten angefangen, sich organisiert und mit uns zusammengearbeitet. Wir haben die gesamten wissenschaftlichen Informationen und Forschungsergebnisse, aus denen hervorgeht, warum vorherige Vorhaben für einen Kanal durch Nicaragua nicht umgesetzt wurden, gesammelt, analysiert und den Bauern gegeben. Die Bauerngruppen haben sich zu einem Dachverband zusammengeschlossen, 25 Vertreter von Kommunen bilden diesen Rat. Von ihnen sind heute sechs Anführer im Gefängnis, andere leben im Exil oder verstecken sich. Sie hatten protestiert und sind mit LKWs von ihren Dörfern bis Managua gezogen. Auf die Demonstrationen antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Der politische Druck hat sich 2018 in einen polizeilichen, militärischen bewaffneten Druck verändert und das bei der Außerkraftsetzung aller anwendbaren Gesetze und Vorschriften.

Was wäre eine Forderung an Deutschland und europäische Staaten, wie eure Arbeit unterstützt werden könnte?
Wir als NGOs kriegen zum Teil Geld von europäischen Regierungen durch Stiftungen. Dieses Geld bekommen bisher nur Organisationen, die den Status einer juristischen Person haben. Immer mehr nicaraguanische NGOs verlieren diesen Status durch aktuelle Maßnahmen der Regierung. Sie werden enteignet, von den Bankkonten über die Büroeinrichtung bis zu ihren Gebäuden. Aktivisten werden verfolgt, immer mehr müssen fliehen oder sich verstecken. Wie können wir als „nicht eingetragene Vereine“ weiterhin Geld und Unterstützung aus Europa bekommen? In Zukunft müssen die Verwalter der Gelder für NGOs natürliche Personen sein – gegenseitiges Vertrauen und neue Methoden des Transfers und der Abrechnung müssen her. Aus den Erfahrungen mit anderen Diktaturen – wie unter Pinochet, während der Apartheid oder DDR – und der Hilfe für die Widerstandsarbeit gibt es sicher einiges zu lernen. Für Nicaragua bräuchten wir Solidarität, dass Unterstützer in Deutschland, die deutsche Regierung und andere in Europa uns helfen. Denn wenn es so weitergeht, können wir nicht nur enteignet werden, sondern auch als „Terroristen“ im Gefängnis landen. Wir brauchen größtmögliche Aufmerksamkeit, direkte materielle Hilfe sowie politischen und ökonomischen Druck auf das Regime. Die zurückgewiesene „Einmischung in interne Angelegenheiten” ist nur ein Trick des Regimes, um die Solidarität aufzuhalten.

 

„WIR WISSEN NICHT, OB WIR NOCH IM LAND ARBEITEN KÖNNEN.”

Darci Frigo, Gründer undKoordinator der Organisation Terra de Direitos und Vizepräsidentdes brasilianischen Nationalen Rates für Menschenrechte (Foto: Cleia Viana_Câmara dos Deputados)

Ihre Organisation Terra de Direitos leistet juristische Unterstützung in Landkonflikten. Insbesondere ist sie im Bundesstaat Pará aktiv, wo es die meiste Gewalt im ländlichen Raum gibt. Der rechtsradikale Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro hat angekündigt, dass er die Aktionen der Landlosenbewegung MST wie terroristische Taten behandeln wird. Am Sonntag vor der Wahl hat er erklärt, dass er das Land von linken Aktivist*innen „säubern“ will. Wie bewerten sie die Situation ihrer Organisation, Terra de Direitos, und der Menschen, die sie verteidigen, sollte Bolsonaro gewinnen?
Die Drohungen Bolsonaros gegen alle linken Aktivisten sind sehr ernst zu nehmen. Er hat ja schon einzelne Organisationen benannt, gegen die er vorgehen will. Er will die zivilgesellschaftlichen Kräfte isolieren, um Wirtschaftsprojekten, die gegen die Verfassung und die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verstoßen, Tür und Tor zu öffnen. Insgesamt ist das eine sehr beunruhigende Situation, die alle Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen im Land betrifft. Es handelt sich um einen Angriff, der in der brasilianischen Demokratie noch vor zwei oder drei Jahren unvorstellbar war. Mit dem Impeachmentverfahren gegen Dilma Rousseff kamen diese Kräfte auf und wurden immer stärker. Durch die Korruptionsskandalen der letzten Jahre haben die traditionellen rechten Politiker ihre Glaubwürdigkeit verloren. Angesichts der sozialen, ökonomischen und politischen Krise, die Brasilien durchlebt, will die Bevölkerung einen Kandidaten, der verspricht, alles anders zu machen. Und so hat sich Bolsonaro immer präsentiert: Als der Kandidat, der es anders machen wird. Aber was er anbietet ist eine schreckliche Veränderung: Er hat mehrfach erklärt, dass er die demokratischen Institutionen nicht respektiert. Wir in den Menschenrechtsorganisationen sind nun sehr besorgt, sowohl um das Leben der Menschen, die sich in Konfliktsituationen befinden, als auch um das Fortleben unserer Organisationen.

Gewalt gegen linke Aktivist*innen und in Landkonflikten gab es in Brasilien ja auch in den letzten Jahrzehnten. Was ist das Neue an der Gewalt, die nun mit Bolsonaro droht?
Seit dem Impeachment von Dilma versucht das Agrobusiness jede Politik, die weitere Territorien von indigenen und andere traditionellen Bevölkerungsgruppen anerkennt, zu verhindern. Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hatten die Farmer weniger Hemmungen, um im Landkonflikten Gewalt einzusetzen. In den Jahren 2012 und 2013 gab es pro Jahr um die 30 Morde im Kontext von Landkonflikten; also Morde an Aktivisten, Gemeindeanführern und so weiter. Im Jahr 2017 waren es 70 Morde. Mit dem Impeachment hat sich also die Gewalt auf dem Land praktisch verdoppelt. 80 bis 85 Prozent dieser Morde fanden im südlichen Teil Amazoniens statt, in den Bundesstaaten Rondônia, dem Norden von Mato Grosso, Pará und Tocantins, also dort, wohin die Agrarindustrie expandiert, dort wo es viele ungelöste Landkonflikte gibt und die meisten Rodungen stattfinden.
Die Gewalt in dieser Region ist bereits jetzt sehr extrem. Aber Bolsonaro beschimpft die staatlichen Kontrollbehörden wie das Umweltministerium IBAMA als linke Extremisten, die nur die Agrarindustrie behindern. Er behauptet, sie würden die Farmer und die Leute, die Wald roden, verfolgen. Bolsonaro will der Agrarindustrie die totale Freiheit geben, um den Amazonas-Regenwald zu zerstören.

Brasiliens Wirtschaft hängt zu 49 Prozent vom Export von Rohstoffen ab. Hauptsächlich handelt es sich um Erze und Soja: Das sind ja auch die Waren, die Amazonien am meisten bedrohen. Die geplanten Staudämme am Fluss Tapajós sollen ja auch eine Wasserstraße herstellen, um diese Rohstoffe aus dieser Region besser abtransportieren zu können. Ende 2016 wurde ja der Bau des größten dort geplanten Staudamms, São Luiz do Tapajós, durch das Umweltministerium IBAMA und die Indigenenbehörde FUNAI verhindert. Glauben Sie, dass diese Pläne mit Bolsonaro wieder auf den Tisch kommen?
Es reicht schon, wenn das Wirtschaftswachstum in Brasilien wieder anzieht, und diese Pläne kommen erneut auf den Tisch. Dann steigt wieder der Energiebedarf und dann kann das Thema wieder aktuell werden. Derzeit wird ja weiterhin die Fernverkehrsstraße BR-163 asphaltiert, die von den Sojaanbaugebieten in Mato Grosso zum Hafen Miritituba am Río Tapajós im Bundesstaat Pará führt. Von dort können die Rohstoffe aus dem Süden Parás und Mato Grosso über den Hafen Santarém verschifft werden. Man sagt, das sei der beste logistische Knotenpunkt für das Landesinnere, weil man über diese Route besser die Absatzmärkte in Nordamerika, Asien und Europa erreicht, als über die bisherige Route, über den Hafen von Santos in São Paulo. Diese ganzen Pläne fußen aber auf der Vorstellung, dass die brasilianische Wirtschaft Rohstoffe exportieren muss, um sich zu entwickeln, anstatt die Binnennachfrage anzukurbeln. Und dieses Entwicklungsmodell führt zu massiver Gewalt bei Landkonflikten und der Zerstörung des Regenwaldes in dieser Region. Insbesondere der Bergbau in dieser Region ist die größte Bedrohung für die ländliche Bevölkerung dort, für Indigene und andere traditionelle Bevölkerungsgruppen. Diese Pläne sehen praktisch vor, die ganze Region in einen einzigen Tagebau zu verwandeln, so viele Projekte liegen bereits vor. Dieser relativ kleine, aber sehr weit verbreitete Bergbau ist meines Erachtens eine größere Gefahr als die großen Wasserkraftwerke, denn er breitet sich auf dem ganzen Territorium aus.

Was denken Sie, wie sieht Brasiliens Zukunft mit Bolsonaro als Präsidenten aus?
Wie sich Bolsonaro konkret als Präsident verhalten wird, kann keiner sagen. Er nimmt an keinen Debatten teil, seine Forderungen sind sehr allgemein gehalten. Er erklärt nicht, wie er sie konkret umsetzen will. Er propagiert einen Antikommunismus wie aus Zeiten des Kalten Kriegs und predigt Hass, damit mobilisiert er die Leute. Dass er damit Erfolg hat, ist auch dem Versagen der bisherigen demokratischen Regierungen geschuldet, die die Verbrechen der Militärdiktatur, die militärische Struktur der Polizei und so weiter aufgearbeitet haben. Es scheint so, als ob sich diese alten Kräfte dafür rächen wollen, dass es eine Redemokratisierung gab und die Armen auf einmal mehr gesellschaftlich teilhaben. Die Armen werden als Feinde dargestellt, und man weiß nicht mal, Feinde von was oder wem sie sein sollen. Die Demokratisierung war in Brasilien abgeschlossen. Die Armen wurden der Gnade des organisierten Verbrechens überlassen. Und die Mafias, wie Comando Vermelho und Primeiro Comando da Capital, drängen immer mehr aus ihren angestammten Gebieten, in Rio de Janeiro und São Paulo, in den Norden des Landes. Die arme Bevölkerung wird so praktisch zu Geiseln dieser Verbrecher. Und diese Bevölkerung wählt dann Bolsonaro, denn der verspricht ihnen einen leichteren Zugang zu Waffen und dass er mit Gewalt gegen diese Kriminellen vorgehen wird. Aber jetzt redet Bolsonaro kaum noch davon, mit Gewalt gegen das Verbrechen vorzugehen. Er redet nur noch über die Gewalt, die er gegen linke Aktivisten anwenden will. Das ist ernst zu nehmen! Auf Whatsapp verabreden sich bereits Bolsonaro-Anhänger, um nach der Wahl Aktivisten zu terrorisieren.

Wenn er wirklich gegen den Drogenhandel vorgehen wollte, müsste er gegen die Farmer*innen vorgehen…
Da besteht ein eindeutiger Widerspruch bei Bolsonaro. Sein Sohn hat sich mehrfach mit Politikern in Rio de Janeiro getroffen, die mit der Mafia in Zusammenhang stehen. Und auf dem Land ist die Situation schon dramatisch. Viele Farmer haben bereits Milizen, die in Landkonflikten die arme Landbevölkerung terrorisieren. Bolsonaro möchte ihnen den Zugang zu Waffen noch erleichtern und verspricht ihnen, mit totaler Freiheit zu agieren. Keine Polizei der Welt tötet mehr Menschen im Einsatz, als die brasilianische und Bolsonaro will der Polizei noch die Lizenz zum Töten erteilen. Er will die Möglichkeit abschaffen, dass ein Polizist, der im Einsatz jemanden tötet, dafür belangt wird. Das alles zusammen ergibt eine explosive Mischung für Brasilien.

Wenn man das alles berücksichtigt, wie bewerten Sie die Möglichkeit für einen effektiven Widerstand gegen Bolsonaro? Und wie können wir hier in Deutschland Solidarität leisten?
Wir haben sehr wenig Zeit, um uns darauf vorzubereiten. Wir können nicht bis Januar abwarten, wenn Bolsonaro das Amt übernimmt. Alles weist darauf hin, dass die zu erwartende Explosion der Gewalt früher beginnt. Die jetzige Regierung ist sehr schwach. In Wirklichkeit wird sie von General Sergio Etchegoyen aufrecht erhalten.
Wir haben sehr wenig Zeit, um zu überlegen, wie wir Menschenrechtsverteidiger schützen können. In den letzten Tagen haben wir den Führungspersönlichkeiten von sozialen Bewegungen mitgeteilt, dass sie nicht mehr alleine herumlaufen sollen, dass sie darauf acht geben müssen, welche Informationen sie von sich preisgeben und so weiter. Der ganze zivilgesellschaftliche Aktivismus ist gefährdet. Am Sonntag vor der Wahl hatte Bolsonaro in einer Rede ja angekündigt, „mit dem Aktivismus Schluss zu machen“. Die Zivilgesellschaft in Brasilien mobilisiert schon den Widerstand dagegen, aber die Gefahr für einzelne Personen ist groß. Wir haben bereits die UNO und die Organisation Amerikanischer Staaten über die besorgniserregende Situation informiert. Es besteht die Gefahr, dass wir wieder in die Militärdiktatur zurückfallen. Wir werden auf jeden Fall sehr viel internationale Solidarität brauchen. Die internationalen Menschenrechtsorganisationen müssen Komitees für Nothilfe gründen, um Menschen zu unterstützen, die Angriffen ausgesetzt sind. Die Drohung Bolsonaros, alle auszuweisen, die anderer politischer Ansicht sind als er, ist nicht rhetorisch zu verstehen. Es ist eine reale Bedrohung. Sie könnte sogar schlimmer werden, als in der Rhetorik. Es droht die physische Auslöschung der Aktivisten. Deshalb bin ich ja gerade in Berlin, um die hiesigen Hilfsorganisationen über diese Bedrohung zu informieren, damit diese Nothilfemaßnahmen einrichten.

„WIR MACHEN DAS NICHT, WEIL WIR ES WOLLEN”

Natividad Llanquileo (Foto: David Rojas Kienzle)

Die im Luchsinger-Mackay-Fall angeklagten Mapuche wurden wegen Brandstiftung mit Todesfolge in zwei Fällen zu je 18 und im dritten Fall zu fünf Jahren Haft verurteilt. Welche Beweise veranlassten das Gericht zu diesem Urteil?
Der einzige Beweis war die Aussage eines Polizisten, der angab, dass der Verurteilte José Peralino 2016 ein Geständnis abgelegt und darin auch die anderen Verurteilten beschuldigt hatte. In der Folge wurde ein Prozess gegen insgesamt elf Personen eröffnet, von denen jetzt drei verurteilt wurden. Dabei hat José Peralino diese Aussage, die unter Folter erfolgte, widerrufen.

Der einzige Beweis ist also die Erinnerung eines Polizisten an das Verhör eines Angeklagten vor zwei Jahren?
Genau. Das ist nur möglich, weil der Fall zunächst nach dem Antiterrorgesetz behandelt wurde. Demnach ist die Aussage eines einzelnen Polizisten für eine Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ausreichend. Der terroristische Charakter der Straftat wurde vom Obersten Gerichtshof zwar aberkannt, aber alle Ermittlungen wurden entsprechend des Antiterrorgesetzes geführt.

Kann man gegen das Urteil noch vorgehen?
Auf nationaler Ebene haben wir mit dem Urteil des Obersten Gerichtshofs alle juristischen Mittel ausgeschöpft. Es bleibt noch die Anzeige bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Die Anwälte von José und Luis Tralcal befassen sich derzeit damit und CIDSUR versucht, sie dabei zu unterstützen. Wir haben außerdem wegen Beschaffung falscher Beweismittel durch Folter Strafantrag gegen die Polizei gestellt, aber der Fall wurde bis heute nie richtig ermittelt.

Hat es während des Prozesses Unregelmäßigkeiten gegeben?
Ja. Eine kritische Richterin hat Beschwerde eingereicht, weil sie von einem anderen Richter durch Mobbing unter Druck gesetzt worden ist. Sie wurde durch einen weniger kritischen Richter ersetzt, der in der Karriereleiter aufsteigen wollte. Der Präsident von Chile entscheidet über die Besetzung hoher öffentlicher Ämter. Während also Piñera im Wahlkampf das Ende des Terrorismus versprach, bewarben sich viele am Prozess beteiligte Richter auf solche Stellen. Piñeras Wahlkampf wurde dabei auch von den Kindern des bei dem Brandanschlag getöteten Ehepaars Luchsinger-Mackay finanziell unterstützt. Doch der Terrorismus ist in Wirklichkeit natürlich nur erfunden. Diverse internationale und nationale Organisationen haben das mehrfach festgestellt. Noch nie wurde ein Mapuche wegen Terrors verurteilt.

Liegt das größte Problem in den bestehenden Gesetzen, mangelnder Rechtsstaatlichkeit oder geht es schlicht um Rassismus?
Ich denke, es ist vor allem Ignoranz bezüglich der internationalen Normen und der Realität der Indigenen in Chile, insbesondere der Mapuche. Dabei ist z.B. die ILO-Konvention 169 (Übereinkommen über indigene Völker der Internationalen Arbeitsorganisation, siehe LN 435/436, Anm. d. Red.) klar – aber sie wird nicht respektiert. Der chilenische Staat wurde auch bereits mehrfach für seine Kriminalisierungspolitik verurteilt, aber der Modus Operandi bleibt gleich. Die Gerichte halten sich an vorangegangene Fälle, um sich nicht mit dem eigentlichen Konflikt um die indigenen Gebiete auseinandersetzen zu müssen und folgen einfach der Politik. Ich möchte glauben, dass das mit Unwissen und Ignoranz zu tun hat, aber natürlich spielen auch die kolonialen Besitzverhältnisse eine Rolle. Viele Juristen oder ihre Familien haben Land, auf das Mapuche Anspruch erheben. Außerdem existiert ein sehr schlechtes Bild der Mapuche. Früher galten sie als faule Trinker, heute als Terroristen.

Lassen sich denn internationale Verurteilungen so leicht ignorieren?
Da geht es immer um sehr spezifische Fälle. Wenn Chile verurteilt wird, weil Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verfolgt werden, dann heißt es in dem Urteil, das sei Diskriminierung. Damit einher gehen dann zwar auch konkrete Anweisungen, manchmal gibt es sogar Entschädigungen. Aber die Regierung bezieht das immer nur auf die Opfer dieses einen Falls. Und die Medien berichten nur solange, wie Mapuche unter Anklage stehen. Wenn aber die Anklage fallengelassen oder der Staat sogar international verurteilt wird, berichten sie nicht mehr. Im kollektiven Gedächtnis bleibt das Bild des kriminellen Mapuche. In diesem Zusammenhang spielen die alternativen Medien heute eine wichtige Rolle, denn sie bleiben bis zum Schluss an den Fällen dran.

Denken Sie, dass sich trotz der Kriminalisierung auch radikale Mittel des Protestes lohnen?
Es ist schwer zu sagen, wo der richtige Weg liegt, um diesen Konflikt zu lösen. Die Entscheidung über die Art des Protests liegt letztendlich bei den einzelnen Mapuche-Gemeinden. Wir als Verteidigung entscheiden da nicht mit, auch wenn wir selbst Mapuche sind. Meine Arbeit sehe ich als ein politisches Mittel, das dringend nötig ist. Wir machen das nicht, weil wir das wollen, sondern weil wir es müssen. Gäbe es keine kritische Organisation wie CIDSUR, wären wahrscheinlich schon mehrere Mapuche nach dem Antiterrorgesetz verurteilt worden.

Wie finanziert CIDSUR die juristische Arbeit?
Das ist ein schwieriges Thema. Natürlich hat jeder Angeklagte in Chile das Recht auf eine juristische Verteidigung. Aber die Angeklagten brauchen besonders in unseren Fällen nicht nur irgendeinen Anwalt, sondern jemanden, dem sie vertrauen. Denn die Unterwerfung unter das chilenische Rechtssystem stellt für viele Familien und Gemeinschaften der Mapuche einen ernsthaften Konflikt dar. Aus dieser Not heraus ist CIDSUR überhaupt erst entstanden. Die finanziellen Mittel für die Verteidigung kommen zum größten Teil von den Angeklagten selbst, die so viel zahlen, wie sie können. Das ist meist nur ein Bruchteil von dem, was ein Anwalt für die juristische Arbeit fordern würde, denn die Mapuche gehören zum ärmsten Teil der Bevölkerung in Chile.

Haben Sie als Anwältin von Mapuche-Angeklagten schon selbst Diskriminierung erfahren?
Fast alle Anwälte, die Mapuche vor Gericht verteidigt haben sind schon fälschlich irgendeiner Straftat beschuldigt worden oder waren Schikanen seitens der Polizei ausgesetzt. Im Anwaltsteam von CIDSUR gibt es drei Mapuche, von denen ich am längsten dabei bin, seit 2016. Gegen mich persönlich wird schon seit längerer Zeit immer wieder wegen irgendetwas ermittelt, das ist für mich kein Thema mehr. Allerdings bedeuten solche Ermittlungen für uns, dass wir nicht nur unsere Klienten, sondern auch unsere Kollegen verteidigen müssen.

Unterscheidet sich die jetzige Regierung unter Sebastián Piñera von der vorherigen von Michelle Bachelet hinsichtlich der Verfolgung und Repression der Mapuche?
Leider sehe ich da kaum einen Unterschied. Aber der Diskurs von Piñera ist sehr viel schärfer und das hat auch die Polizei entfesselt. Sie macht, was sie will, da sie um die Rückendeckung der Regierung weiß.

Was denken Sie über den “Plan Impulso Araucanía” der Regierung Piñera, der unter anderem 16 Millionen Dollar privater Investitionen in der Region Araucanía vorsieht?
Ich glaube, er wird die vorhandene Krise noch weiter vertiefen. Es wird viel von wirtschaftlichen Projekten und Investitionen gesprochen, aber diese Projekte werden das Leben in den Gemeinden zerstören. Alles hängt mit wirtschaftlichen Themen zusammen, alles soll gekauft werden. Durch die Einrichtung eines Fonds zur finanziellen Entschädigung von angeblichen Opfern des Terrorismus rechtfertigt der Plan außerdem den verheerenden Terrorismusdiskurs.

Berücksichtigt der Plan die Hauptforderung der Mapuche-Bewegung nach der Rückgabe des ehemaligen Territoriums?
Durch Änderungen des Indigenengesetzes soll zukünftig der Verkauf indigener Gebiete erlaubt sein. Durch die große Armut unter der indigenen Bevölkerung würde das dazu führen, dass viele Mapuche ihr Land verkaufen. In dieser Hinsicht führt der Plan zu einer Verschlechterung.

Lässt sich wenigstens den geplanten Quoten für indigene Parlamentarier*innen etwas Positives abgewinnen? Oder der vorgesehenen konstitutionellen Anerkennung der indigenen Bevölkerung?
Der Plan kündigt eine Anerkennung der indigenen Völker in der Verfassung an, allerdings nicht, wie genau diese aussehen soll. Wahrscheinlich wird dabei nichts Wesentliches herauskommen. Wenn zukünftig nur in der Verfassung steht: “In Chile gibt es verschiedene Kulturen”, ist damit nichts gewonnen, denn das ist eine bekannte Tatsache. Die Nutznießer von Quoten werden nicht die indigenen Völker sein, sondern die Parteien. Es wird am Ende vielleicht mehr indigene Abgeordnete geben, aber sie werden eher die Interessen der Parteien vertreten als die ihres Volkes. So ist es jetzt schon bei mehreren im Parlament vertretenen Mapuche.

Wenn es trotz wechselnder Regierungen keine Veränderungen zum Besseren gibt, sehen Sie dann eine Zukunft für die Mapuche als Teil des chilenischen Staats?
Ich bin Optimistin, für die Mapuche sehe ich trotz der aktuellen schwierigen Situation eine Zukunft. Das Wichtige ist, dass daran gearbeitet wird: Solange es Bewegung gibt, sieht man auch eine Zukunft. Es gibt eine Tendenz unter den Mapuche, sich wieder stärker als solche zu identifizieren. Die neuen Generationen sind jetzt stolz darauf, wer sie sind, das gab es früher nicht. Heute lernen die Jugendlichen die Sprache Mapuzungun und die Geschichte und Medizin der Mapuche. Viele Künstler eignen sich das wieder an, was die Mapuche ausmachte, bevor es den Staat Chile gab. Eine Zukunft gibt es also. Wie genau wir sie erreichen, das wissen wir leider noch nicht.

Beeinflussen solche Entwicklungen auch Ihre Arbeit als Juristin?
Wir Juristen müssen immer erst das Feuer löschen (lacht). Uns bleibt leider wenig Zeit, uns mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Dafür braucht es mehr Leute, die sich damit beschäftigen, wie wir Mapuche-Traditionen mit unserer juristischen Arbeit verbinden können. Doch zum Glück fangen einige gerade damit an.

„WIR MÜSSEN UNSER DENKEN DEKOLONISIEREN”

(Foto: privat)

Frau Caballero, Sie kommen gerade von einer internationalen Frauenkonferenz. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Themen der Konferenz und der Arbeit Ihrer Organisation?
Wir forschen seit 2012 zu Geschlechtergewalt gegen indigene Frauen in Paraguay. Aus dieser Forschung heraus sind neue Möglichkeiten der Unterstützung entstanden. So haben wir einen Arbeitskreis zwischen indigenen und nicht-indigenen Frauen geschaffen, der ein interkulturelles Lernen ermöglichen soll und in dem wir über Themen wie empoderamiento (Empowerment) oder ein gewaltfreies Leben sprechen. Die Konferenz will, so wie es ihr Name andeutet, Schnittstellen zwischen den vielfältigen Erfahrungen der Frauenkämpfe suchen. Also Punkte, bei denen wir uns zusammentun und Kraft entwickeln können. Wir wollen einen Mentalitätswechsel im Hinblick auf die Art des Zusammenlebens in den Gesellschaften. Denn wir wurden uns einig, dass wir mit der Welt, in der wir leben, nicht zufrieden sind. Dort erleben wir Gewalt und Tod: Jeden Tag stirbt eine Frau an einem Ort durch physische oder strukturelle Gewalt. So leiden indigene Frauen an einem Mangel an Gesundheit und Bildung. Wir sprechen von einer Revolution im Sinne einer Veränderung, die uns zu dem führt, was die indigenen Völker el buen vivir („das gute Leben“) nennen.

Können Sie ein generelles Bild der Lage der indigenen Gemeinschaften Paraguays zeichnen?
In Paraguay befindet sich die Agrarindustrie in einem Prozess der extremen Ausweitung. Wir sind der viertgrößte Sojaproduzent der Welt. Unsere Regierungen setzen alles daran, den Sojaanbau und die Viehwirtschaft auszuweiten, doch dafür müssen Indigene und Kleinbauern von ihrem Land verschwinden. Täglich werden sie durch das Gift der Agrarindustrie und durch die Entwaldung getötet. Auch das Trinkwasser ist vergiftet, ihnen fehlt das Buschland, ihre Gesundheit verschlechtert sich und es mangelt an Zugang zu Bildung für sie.

Wie genau wirkt sich die Ausweitung der Sojagrenze und der Viehzucht auf das Leben der indigenen Gemeinschaft aus?
Die Mehrheit der indigenen Gemeinschaften lebt noch in den ländlichen Gebieten, aber viele von ihnen migrieren aufgrund der Entwaldung ihrer Territorien und des damit einhergenden Wegfallens ihrer Existenzgrundlage in die Städte. Sie waren ursprünglich Jäger, Sammler und Kleinbauern, aber jetzt können sie nicht mehr sammeln und jagen. In den Städten bilden sie auch Gemeinschaften, aber die Kinder, die dort geboren werden, wachsen natürlich mit einer anderen Kultur auf. Sie bleiben in der Stadt und verlieren den Bezug zu ihrem Heimatort.

Kehren die jungen Leute irgendwann zurück in die ländlichen Gebiete?
Aufgrund der Attraktivität und Annehmlichkeiten der Städte kehren sie selten zurück. Es passiert dasselbe wie mit den Bauern, die ihre Länder aufgrund der Ausbreitung der Agroindustrie verkaufen. Aber im Gegensatz zu diesen ist der Landbesitz der indigenen Bevölkerung kollektiver Art und kann nicht verkauft werden, so schreibt es die Verfassung vor. Deshalb wird der Druck, dass sie das Land verlassen, auf anderen Wegen verursacht.

Was sind das für Wege?
Meiner Meinung nach geschieht es über die fundamentalistischen Religionen, da diese das ganze kulturelle Gewebe der indigenen Völker kaputtmachen, indem sie ihre Überzeugungen und ihre Art zu leben angreifen. Vor einer Weile berichtete uns eine indigene Frau von einem skandalösen Fall. Es ging dabei um einen Pastor einer fundamentalistischen Kirche. Dieser nahm in Anwesenheit ihres spirituellen Führers einen der heiligen Gegenstände ihres Volkes, welchen man für traditionelle Rituale nutzt, sagte, er sei Teufelswerk und verbrannte ihn. Sie sagte, als der Pastor diesen Gegenstand, den nicht mal wir anfassen dürfen weil er so heilig ist, nahm und verbrannte, sei es so gewesen, als wenn er uns alle zusammen genommen, angezündet und verbrannt hätte. Sie versuchen also, die indigene Kultur auszulöschen, alles zu zerstören, damit die Indigenen geschwächt werden und weggehen. Und dann sagen sie, dass sie das Buschland und die Natur nicht mehr brauchen, sich nicht mehr dafür interessieren, und verlassen das Territorium. Dieses wird dann frei für die Monokulturen oder die Marihuanaplantagen.

Welche Reaktion entwickeln die indigenen Frauen angesichts dieser Bedrohung ihrer kulturellen Lebensweisen?
Da die Kultur dieser Gemeinschaften keine Akkumulation von Gütern, sondern eine andere Form des Zusammenlebens mit der Natur vorsieht, entwickeln die Frauen auch andere Mechanismen der Resistenz als beispielsweise Frauen in anderen Teilen der Welt. Wir sagen zum Beispiel, dass die indigenen Frauen die Hüterinnen der Erinnerung ihrer Gemeinschaften sind. Sie sind es, die die Lieder und das Kunsthandwerk bewahren sowie das Wissen der Medizin. Deshalb begleiten wir sie als Organisation in dem Prozess der Revitalisierung dieser Aspekte, also dessen, was ihnen Identität gibt.

Ein zentraler Ansatzpunkt von Grupo SUNU ist also die Stärkung der kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung?
Ja, denn wir glauben, dass wir anfangen müssen, zu dekolonisieren. Das bedeutet, unsere eigenen Werte und unser eigenes Potenzial wiederzuentdecken. Geschichtlich betrachtet wurde uns in Paraguay vermittelt, zu Europa aufzusehen und es als das Erstrebenswerte und Perfekteste anzusehen, was es gibt. Wir sollten unser Denken dekolonisieren, damit indigene Völker ihr Selbstwertgefühl wiederentdecken und ihren enormen Reichtum schätzen können. Auf der Grundlage dieser Entdeckung und dieses Potenzials können sie alternative Vorschläge entwickeln und ihre Vorstellungen vom buen vivir verbreiten. Wir glauben, dass ausgehend von dieser Revitalisierung sowohl Indigene wie auch wir nicht Indigene etwas lernen können. Das ist es, was mich bestärkt, was mir Sinn gibt im Leben – zu wissen, woher ich komme. Es geht darum, mich sicher in der Welt zu fühlen. Wir helfen also auch dabei, die interne Organisation der Indigenen zu stärken, damit sie sich gegen die äußeren Bedrohungen wie das kapitalistische System wehren können. Wenn wir mit den indigenen Völkern arbeiten, müssen wir uns die westlichen Brillen abnehmen, versuchen zu verstehen, wie ihre Gesellschaft funktioniert, wie sie ihr Leben gestalten.

Sie legen auch besonderes Augenmerk auf die Arbeit mit den indigenen Jugendlichen.
Es ist wichtig, dass die Jugendlichen Räume innerhalb ihrer Gemeinschaften finden und innerhalb der Organisationen. Denn in diesen Krisen, seien es die Entwaldung, der Einfluss der Medien oder der ganze kulturelle Verlust, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert werden, sind es die Jungen, die am meisten leiden. Ihnen fehlt die Orientierung, und sie verfallen leichter den Verlockungen der Drogen und des Alkohols. Es gibt Fälle von Selbstmord, Fälle von Gewalt und immer sind es die Frauen, die unter der Gewalt der Männer leiden.

Sie hatten schon den Anbau von Marihuana erwähnt, der besonders im Territorium der Paî Tavyterâ zunimmt. In den letzten Jahren hört man immer wieder von Mordfällen an ihnen, die unaufgeklärt bleiben.
Solche Mordfälle passieren gerade häufig, da Männer und auch Frauen in die Marihuanaplantagen gehen, um Geld zu verdienen – letztere meist als Köchinnen oder Prostituierte. Wenn sich jemand dem Willen der Plantagenbesitzer*innen widersetzt, endet das oft tödlich. Aber wer wird in solchen Fällen schon nachforschen? Niemand geht in diese Plantagen hinein. Viele Indigene sind arm und können sich keinen Anwalt leisten. Und wenn es sich um Drogenhändler handelt, weiß man über deren genauen Verbleib nichts. Besonders gravierend ist das im Fall von Frauen. Vor einer Weile ist eine junge indigene Frau verschwunden und wurde dann irgendwo am Straßenrand vergewaltigt und ermordet gefunden. Aber den Staat interessiert so eine arme indigene Frau nicht.
Unterstützt Ihre Organisation indigene Gemeinschaften darin, ihre Rechte einklagen zu können?
Wir versuchen, innerhalb der Gemeinschaften einige Vermittler zu etablieren, die sich im nicht-indigenen Rechtssystem auskennen, damit die Indigenen ihre Rechte bei den zuständigen Instanzen im Land einklagen können.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen in der zukünftigen Arbeit Ihrer Organisation?
Unsere größten Herausforderungen hängen direkt mit denen der indigenen Völker Paraguays zusammen, also mit den Waldrodungen, dem Drogenhandel und den Vertreibungen aus indigenen Territorien. Viele der indigenen Weltanschauungen haben mit den Wäldern zu tun. Wie soll man den Kindern und Jugendlichen erklären, was bestimmte Mythen bedeuten, wenn der Kontext fehlt, wenn es gar kein Buschland mehr gibt? Jedes Tier hat eine bestimmte Funktion in ihrem System. Wie übermittelt man so etwas Jugendlichen, wenn das alles weg ist?
Und schließlich fragen wir uns, wie wir diesen großen Problemen, mit denen die Gemeinschaften konfrontiert sind, begegnen können. Wie können wir ein so großes globales System bremsen? Aus diesem Grund sind internationale Treffen sehr wichtig, denn so sehen wir, dass wir nicht alleine sind, dass auch in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in den Philippinen, die indigene Bevölkerung leidet. Wir erkennen, dass es sich um ein weltweites Problem handelt und dass die Politik unseres Staates von den großen multinationalen Firmen definiert wird. Trotz dieser schwierigen Situation sehen wir selbst in den kleinsten Widerständen großes Potenzial.

WEDER GOLD NOCH KOCHBANANEN

Foto: Daniela Rivas G.

Sie haben den Goldman-Umweltpreis erhalten. Was bedeutet das für Sie?
Ich habe gemischte Gefühle. Ich finde es gut, dass der Kampf von afrokolumbianischen Frauen anerkannt wird. Das ist wichtig für die Gemeinden und die nächsten Generationen. Es ist wichtig, sichtbar zu machen, dass wir Teil des globalen Kampfes für die Umwelt sind und Alternativen für die Landnutzung entwickeln. Ich zeige mein Gesicht, aber es ist eine kollektive Würdigung all der Menschen, die auf diesem Weg gestorben sind.

Was war der Auslöser für Ihre Aktivität?
Ich fing mit fünfzehn an, mich politisch zu engagieren. Motiviert hat mich die Umleitung des Flusses Ovejas für den Staudamm La Salvajena, der in den 1980er Jahren gebaut wurde. Dieses Projekt hat bereits damals Menschen vertrieben, die dabei ihre Einnahmequellen und die Beziehung zu dem Fluss Cauca verloren haben. Mitte der Neunziger Jahre wollte die Regierung im Namen von Fortschritt und Entwicklung eine Wirtschaftsordnung etablieren, die nicht im Sinne der Gemeinden war. Außerdem hatte ich eine besondere Beziehung zu dem Fluss. Es ist mehr ein Gefühl, etwas, das da ist, das Teil unseres Selbst ist. Das Land ist für uns ein Wesen, das lebt. Ich war oft im Fluss schwimmen oder habe mit anderen Gold gewaschen. Wir kochten dort, wuschen unsere Kleidung oder gingen nachts dorthin fischen.

Die Gemeinden haben damals die Umleitung des Flusses verhindert. Wie haben Sie diesen Prozess des Widerstands erlebt?
Eine gute Freundin von mir war die Sprecherin einer Gruppe von Jugendlichen. Da ich gerne Ausflüge machte, bat ich sie darum, mich mitzunehmen und so begann ich, die Treffen zu protokollieren. Im Anschluss habe ich dann die Gemeinde darüber informiert. Als ich 16 war, hatte ich schon einen Sohn. Am Anfang war es sehr schwierig, aktiv zu sein und mich um mein Kind zu kümmern, aber ich blieb dabei. Ich habe viel gelernt und dabei die Bedeutung meines afrokolumbianischen Daseins besser verstanden.

Wie war es, als der illegale Goldabbau begann?
Am Anfang sahen wir das nicht als großes Problem, denn es bedeutete Arbeit für die Leute in der Region. Ich habe selbst dort gearbeitet. Aber dann sahen wir die negativen Effekte. Wir verloren die Orte, wo wir arbeiteten, schwammen oder fischten. Für den Abbau wurde Quecksilber benutzt und das Flusswasser verschmutzt. Die großen Maschinen zerstörten die Flussufer und hinterließen riesige Löcher. Die waren so tief, dass es Erdrutsche gab, einmal starben 25 Menschen auf einmal. So etwas war mit den traditionellen Methoden vorher nicht passiert.

Der illegale Goldabbau ist Teil des Finanzierungsmodells der bewaffneten Gruppen. Wie hat sich das in der Region bemerkbar gemacht?
Die Präsenz bewaffneter Akteure rund um den illegalen Bergbau bedeutet Unsicherheit für die Gemeinde. Damit gehen Menschenrechtsver- letzungen, Morde und Bedrohungen von Aktivist*innen einher, Prostitution breitet sich aus. Ein Stück goldhaltiges Mineral wird von den Maschinenbetreibern für Sex gehandelt. Frauen sind besonders betroffen, denn wir waren diejenigen, die auch vorher traditionellen Goldabbau betrieben haben. Aber früher gingen wir zwei Tage die Woche in die Minen, die anderen Tage waren wir auf den Feldern. Erst als die Maschinen kamen, wurden die Felder aufgegeben und man ging jeden Tag in die Mine. Die Wirtschaft und Nahrungssicherheit in der Region waren damit zerstört. Am Ende gab es weder Gold noch Kochbananen. Gar nichts.

Welche Rolle spielen in diesem Kontext die großen Bergbauunternehmen?
Das Problem ist nicht nur der illegale Bergbau, denn die Abbaurechte wurden bereits vergeben, bevor dieser in der Region ankam, aber ohne Befragung der Gemeinden. 2001 gab es Paramilitärs in der Region und die Bevölkerung war verängstigt. Das Massaker von Naya (Paramilitärs ermordeten 24 Menschen und vertrieben circa 3.000 weitere, Anm. der Red.) hat seine Spuren in den Gemeinden hinterlassen. Als 2009 die großen Unternehmen in der Region ankamen und die ersten Räumungsbefehle erteilt wurden, organisierten wir uns und sagten: „Wir gehen hier nicht weg!“ Wir haben eine Widerstandsgruppe gegründet, Lobbyarbeit in den USA gemacht und eine Klage gegen die Bergbauunternehmen eingereicht, die wir 2010 gewonnen haben. Aber der illegale Bergbau ist geblieben. Ich wurde Vertreterin im Netzwerk afrokolumbianischer Organisationen CPN und musste mich den illegalen Bergbaubetreibern gegenüberstellen. Ich und andere aus der Gemeinde bekamen Todesdrohungen. Viele mussten die Region verlassen.

2014 organisierten Sie die „Mobilisierung afrokolumbianischer Frauen für die Sorge um Leben und Lebensraum“, einen Marsch vom Cauca bis in die Hauptstadt …
Damals sagte die Regierung des Verwaltungsbezirks Cauca, dass es in der Region 2000 Bagger gebe, die illegalen Bergbau betreiben. 2000! Und das obwohl Cauca so ökologisch wertvoll und vielfältig ist! Dort entspringen die meisten Flüsse des Landes. Ich habe überall versucht, Anzeige zu erstatten, aber irgendwann wusste ich nicht mehr weiter. Wir organisierten den Marsch nach Bogotá, um die Folgen des illegalen Bergbaus öffentlich zu machen. Als Frauen forderten wir, dass für die Umwelt gesorgt wird, so wie wir uns um unsere Kinder kümmern. Am Ende schlossen wir einige Verträge mit der Regierung, aber diese wurden nicht eingehalten. Aber wir haben dadurch an innerem Zusammenhalt gewonnen.

Der Frauenmarsch hat gezeigt, dass die Zivilgesellschaft Druck auf die Regierung ausüben kann. Welche Rollen spielen die Frauenbewegungen in diesem Kontext?
In Kolumbien gibt es sehr viele Frauenorganisationen. Noch existiert der weiße Feminismus, der die zusätzliche Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe oder Einkommensklassen nicht wahrnimmt. Es gibt aber auch Frauen in ländlichen Regionen, die solche technischen Begriffe nicht kennen. Es ist wichtig, intersektional zu denken. Frauen sind der Antrieb von politischen und sozialen Kämpfen. Auch wenn sie manchmal nicht an vorderster Front stehen, gestalten sie den Alltag. Es ist aber auch wichtig, dass Männer und Frauen zusammen das patriarchale System dekonstruieren und es gemeinsam verändern. Wirmüssen den Feminismus anders denken. Man kann kein Feminist sein kann, ohne Rassismus und das Wirtschaftssystem zu bekämpfen.

“EINE ANDERE ENGERGUE KREIEREN”

Ihr kommt in diesem Jahr zum dritten Mal nach Berlin. Wie waren eure bisherigen Erlebnisse mit der Stadt und den Menschen?

Dolores: Auf jeden Fall haben wir hier bisher immer positive Erfahrungen gemacht.
Julia: Ja, unsere Erlebnisse in Berlin waren schon immer sehr prägend und vor allem sehr inspirierend. Wenn wir durch die Straßen laufen und die verschiedenen Leute beobachten, wie sie sich kleiden und bewegen, dann hat das etwas Anarchistisches. Und das unterscheidet sich sehr von Buenos Aires, wo wir herkommen. Als Band sind wir früher viel durch die Natur gereist oder an Orte, die eng mit ihr verbunden sind. Als wir dann nach Berlin kamen, haben wir eine urbane Seite unserer Band kennengelernt, die wir vorher nie so gesehen hatten. Auf einmal dachten wir: „Wir sind nicht nur Land, wir sind auch Stadt!“. Und die Stadt ist gut und voller Inspirationen.

 

Buenos Aires ist riesig, trotzdem reflektiert sich diese Urbanität, aus der ihr stammt, nie in eurer Musik. Wie kommt das?

Julia: Eigentlich kommen wir ja aus den Vororten von Buenos Aires.
Dolores: Aber ich weiß, was ihr meint. Wir kommen zwar aus dem städtischen Raum und sind irgendwie urbane Menschen, aber wir hatten schon immer eine starke Neigung zum Ländlichen. Wenn wir Urlaub machen, dann fahren wir nicht in die Stadt. Der Rhythmus dort zieht uns nicht so an wie jener der Natur. Trotzdem sind wir natürlich von der Stadt beeinflusst, schließlich sind wir dort aufgewachsen. Wir mögen die Reize und die Inspirationen, die das städtische Leben uns bietet und können viel vom kulturellen Angebot lernen. Dauerhaft so leben wollen wir aber nicht.

 

Macht es denn einen Unterschied, wo ihr spielt? Was verändert sich beispielsweise, wenn ihr in einer europäischen Stadt spielt statt in einer lateinamerikanischen?

Dolores: Heute beim Konzert habe ich gesehen, dass der Großteil des Publikums aus Lateinamerika kam oder einen starken Bezug dazu hatte. Das hat man sofort gespürt. Ich denke, unsere Konzerte sind für die Leute auch eine Art der Verbindung dorthin.
Julia: Genau. Es gibt sehr vieles hier, das lateinamerikanisch ist. Das ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Heute haben mich die vielen europäischen Gesichter überrascht, denn vor ein paar Tagen standen wir in Amsterdam vor einem fast ausschließlich lateinamerikanischen Publikum. Heute habe ich zum Beispiel mehr Leute gesehen, die die Texte nicht konnten, die aber trotzdem eine starke Verbindung zu unserer Musik gezeigt haben. Genau das mag ich sehr: Auch für Leute zu spielen, die mich gar nicht verstehen. Besonders eindrücklich war das in Schweden. In Malmö waren fast nur Schweden bei unserem Konzert. Sie standen viel weiter weg von der Bühne und nur die wenigsten sprachen wahrscheinlich Spanisch. Trotzdem habe ich in ihren Gesichtern gesehen, dass sie etwas Grundlegendes an unserer Musik verstehen. Etwas, das über Sprache und Text hinausgeht. Das ist die Sprache der Musik, die Grenzen überschreiten kann.

 

Meint ihr, dass ihr auch ein Stückchen lateinamerikanischer Spiritualität hierherbringt?

Julia: Ich denke schon. Vor allem die Verbundenheit zur Erde und Natur und ihre Wertschätzung: Pachamama. Ich würde sagen, das haben wir im Blut. Das ist keine direkte Nachricht, die wir überbringen wollen, sondern etwas, das einfach da ist. Hier spüren wir das weniger.

 

In eurer Musik gibt es viele Elemente der lateinamerikanischen Folklore. Wie ist es dann, hier für Menschen zu spielen, die gar nicht mit so etwas aufgewachsen sind? Oft denken wir, dass es hier kaum noch Folklore gibt…

Dolores: Ich finde, es ist genau andersherum. Es gibt Orte, wo die Folklore herkommt, aber das heißt nicht, dass man sie an anderen Orten nicht spielen kann oder dass es sie dort nicht gibt. Du kannst zum Beispiel einen Samba spielen, ohne in Brasilien zu sein.

 

Eignet man sich damit nicht ein Stück weit die Tradition der Folklore an?

Dolores: Vielleicht. Aber letztendlich zählt nicht wirklich, ob beispielsweise ein Rhythmus aus der Folklore ist oder nicht, weil wir ohnehin damit arbeiten und ihn verändern. Wir sind keine echten folkloristas, wir brechen auch selbst oft mit der Folklore. Wir bedienen uns bei verschiedensten Musiktraditionen aus der ganzen Welt. Von der Folklore sagt man, sie sei etwas sehr Natürliches: Ein Kind wird geboren, es wächst mit einem Rhythmus auf, sieht sein Leben lang einen Tanz und wenn es groß ist, beginnt es selbst auf natürliche Weise, diesen Rhythmus zu spielen. Unsere Verwendung folkloristischer Elemente ist vielleicht nicht so natürlich, sondern eher spielerisch eingesetzt und bewusster auf den speziellen Rhythmus bedacht.

 

In den letzten Jahren hat Perotá Chingó als Band eine große Veränderung durchgemacht. Ihr spielt nicht mehr in Wohnzimmern, sondern in Konzerträumen. Eure Musik wird nicht mehr nur auf der Straße gefilmt, sondern im Studio aufgenommen. Habt ihr selbst Veränderungen in eurer Art und Weise, Musik zu machen, bemerkt?

Julia: Ja. Wir machen jetzt schon sieben Jahre zusammen Musik. So ein Projekt wächst und verändert sich und will sich weiterentwickeln. Wir sind aus einfacher root music entstanden: Lola und ich, die Gitarre und unsere Stimmen. Das hat sich zu etwas Professionellerem und Größerem entwickelt. Im neuen Album Aguas hört man mehr musikalische Anpassungen, mehr Stimmen und kleine elektronische Elemente. Also ja, es gibt einen Wandel in unserer Musik und der ist wichtig und gewollt. Weil wir immer weitermachen wollen.

 

Ihr seid als Duo unabhängiger Musikerinnen bekannt geworden und es gibt viele Frauen, die sich für eure Musik begeistern. Seht ihr euch als Feministinnen?

Dolores: Ich weiß nicht, ob wir uns unbedingt einen Namen geben oder eine bestimmte Flagge zeigen müssen. Wir sind Frauen, wir respektieren uns und wir lieben, was wir tun. Uns gefällt es, eine Inspiration für andere Frauen und Menschen zu sein, damit sie sich trauen, sie selbst zu sein und daraus Kraft zu schöpfen.
Julia: Wir sind Teil einer Generation, die viele Dinge aus einer femininen Perspektive verändert. Dem kann man sich nicht verweigern. Wir mögen es nicht, dass uns ein feministisches Label aufgedrückt wird, denn das beinhaltet auch viele Dinge, mit denen wir nicht unbedingt einverstanden sind. Aber es stimmt, dass wir Teil einer globalen Bewegung sind, allein dadurch, dass wir Frauen sind. Auf unseren Konzerten wird mir oft klar, dass wir der sichtbare Teil dieser Bewegung sind, die überall stattfindet, aber nicht immer sichtbar wird. Wir geben ihr ein Gesicht.

 

Das Element Wasser war eure Inspirationsquelle für euer neues Album Aguas. Heutzutage ist der freie Zugang zum Trinkwasser in vielen Regionen Lateinamerikas gefährdet. Wie nehmt ihr diesen Konflikt wahr?

Julia: Im Album geht es mehr um das Wasser als Element, aus dem wir alle geschaffen sind. Die verschiedenen Formen des Wassers symbolisieren die verschiedenen Emotionen, die wir als Menschen durchmachen. Wir nehmen das nicht so wortwörtlich, da wir nicht so sehr in ökologische Konflikte verwickelt sind. In unserem Album geht es mehr darum, sich wieder mit dem Wasser als Element zu verbinden, mit dem Fluss des Lebens, den sich verändernden Emotionen.

 

Es ist also nicht politisch? Pure Emotionen?

Dolores: Genau. In Argentinien und in Lateinamerika im Allgemeinen gibt es zurzeit so viele Krisensituationen, man weiß gar nicht, wo man anfangen soll… Es passieren tausend Dinge.
Julia: Wir versuchen, mit unserer Musik eine andere Energie zu kreieren und eine Botschaft zu übermitteln, die den Menschen hilft, ihre eigene Kraft zu finden und damit ihre Realität zu verändern, anstatt die Politiker um Erlaubnis zu fragen. Es geht um Empowerment: „Los, wir alle schaffen das!“. Natürlich wissen wir, dass diese Veränderung nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden wird. Anstatt uns mit einer Flagge zu identifizieren, liegt unsere politische Haltung eher darin, die Kraft in uns selbst zu suchen und andere zu inspirieren, das auch zu tun.
Dolores: Dafür ist es notwendig, dass wir uns zusammentun, um Dinge zu verändern. Das generiert eine große Kraft, wie beim Feminismus zum Beispiel.

 

Das Internet war für euch von Anfang an ein wichtiges Medium. Das Video zu Rie Chinito hat inzwischen über 18 Millionen Klicks auf Youtube. Welche Möglichkeiten seht ihr für Musiker*innen im Internet und den sozialen Netzwerken?

Dolores: Wäre das Internet nicht, wären wir nie bekannt geworden. Das ist durch genau dieses Youtube-Video im Jahr 2011 passiert. Das Internet bietet uns eine Möglichkeit der Unabhängigkeit und der Freiheit, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die unsere Musik mögen. Dafür brauchen wir keine dritte Instanz. Wir haben so viele Möglichkeiten und immer erreichen wir mehr Menschen.

 

Bis hierhin nach Europa.

Julia: Ja, genau! Und wir freunden uns auch immer mehr damit an. Am Anfang war es eher eine lästige Pflicht für uns, ständig überall präsent zu sein. Aber es ist, wie es ist. Wir sind alle durch das Internet verbunden und ein Teil davon. Das Internet ist ein Medium und es ist uns selbst überlassen, wie wir es nutzen. Mittlerweile gefällt es uns, wie wir damit arbeiten können.
Dolores: Wir lernen auch stetig dazu, schließlich verändert sich alles so schnell. Als Menschen, die das Internet aufkommen gesehen haben, fühlt sich für uns alles immer noch so neu an und verändert sich ständig. Wohin das noch geht, weiß keiner.

 

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Julia: Wir machen gerade eine ziemlich starke Veränderung durch, einen Prozess der Beobachtung: Welche neuen Dinge fallen uns ein? Was möchten wir umsetzen? Wo wollen wir mit unserer Musik hin? Auch wenn wir das nicht genau wissen, wollen wir doch weiter versuchen, zu uns selbst zu finden und zu dem, was wir mit unserer Musik vermitteln möchten. Wir haben die Chingoneta (Name des Tour-Vans der Band, Anm. d. Red.) verkauft, die aus Europa und die aus Argentinien, es gab zwei. Unser Team ist größer geworden. Jetzt reisen wir mit Soundtechnikern, einer Lichttechnikerin, dazu kommt bald ein Coach, jemand, der uns in unserem kreativen Prozess begleitet. Wie eine Familie in einem Van zu reisen, ist eine romantische Idee. Das ist super, aber es ist für uns ein vergangener Lebensabschnitt. Jetzt fängt für uns eine neue Zeit an.

DIE NEUE KLASSENÜBERGREIFENDE ALLIANZ?

Können Sie uns ein bisschen über die drei Bündnisse erzählen, bei denen Sie mitarbeiten? Wie sind sie entstanden, wer sind ihre Mitglieder und worin unterscheiden sie sich?

Die Studierendenbewegungen, die in den Prozess des Nationalen Dialogs involviert waren, sind im Aprilaufstand entstanden. Man muss bedenken, dass bis dahin der Nationale Studierendenverband von Nicaragua (UNEN) der einzig rechtlich gebildete Studierendenverband war. Dieser Verband verfolgte eine der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) oder allgemein dem Regierungsapparat treue Linie.
Die neuen Bewegungen sind unter ganz unterschiedlichen Bedingungen entstanden. Es sind fünf verschiedene Gruppen: die Studierendenbewegung 19. April, die in der Polytechnischen Universität (UPOLI) entstanden ist, die Universitätsbewegung 19. April, die ebenfalls in der UPOLI entstanden ist, das Komitee der Nationalen Agraruniversität (UNA), die Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ), die hauptsächlich von Studierenden der Zentralamerikanischen Universität (UCA) gebildet wurde und zuletzt die Nicaraguanische Allianz der Universitäten (AUN), die Bewegung zu der ich gehöre und die hauptsächlich von jungen Menschen gebildet wurde, die am 19. April in der Kathedrale von Managua gefangen waren sowie zahlreiche andere Aktivist*innen, die bereits über eine längere Zeit im politischen Widerstand sind.
Aus diesen fünf Gruppen wurde am 5. Mai die Universitätskoalition (Coalición Universitaria) gebildet, was dringend nötig war um sich rasch zu organisieren und am Prozess des Nationaldialogs teilnehmen zu können. Es war ein Schritt um eine gewisse Einigung unter den Studierenden zu finden, die dann von der Bischofskonferenz zur Teilnahme am Nationaldialog aufgerufen wurden und innerhalb des Dialogs der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) angehören.

 

Worin unterscheiden sich diese fünf Studierendenbewegungen, die Sie genannt haben?

Hauptsächlich unterscheiden sie sich im Ort oder Kontext, in dem sie entstanden sind. Einige haben sich in der Verschanzung an den Universitäten entwickelt (s. LN 531/532), andere hatten einen organisierteren Entstehungsprozess außerhalb des Gewaltkontextes der Besetzung der Universitäten. Es gibt Bewegungen, die eher eine Vision der Gestaltung des Studierendenlebens haben und Fakultäten mitgestalten wollen. Andere haben eine viel politischere Vorstellung der Studierendenschaft als politische Akteurin, die sich nicht ausschließlich auf das Leben an den Universitäten beschränkt.

 

Welche anderen Gruppen sind in der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) vertreten?

Die Zivilallianz ist ein sehr einzigartiger Fall in Nicaragua. Als der Nationaldialog einberufen wurde, um eine Lösung für die gesellschaftspolitische Krise zu finden, hat die Bischofskonferenz auf Wunsch von Ortega unterschiedliche Bevölkerungsgruppen eingeladen. Politische Parteien waren nicht darunter, weil sie offensichtlich aus unterschiedlichen Gründen völlig delegitimiert und am Boden waren. Die Bischofskonferenz hat also unterschiedliche Sektoren eingeladen, u.a. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Vertreter*innen von indigenen und afrikanischstämmigen Völkern der Karibikküste und von Bäuer*innen, die Zivilgesellschaft, feministische Bewegungen sowie den Privatsektor.
Diese Bewegungen wurden zwar separat eingeladen, aber innerhalb des Dialogs haben sie entschieden eine gemeinsame Agenda zu übernehmen: Demokratisierung und Gerechtigkeit. Wahrscheinlich war dies einer der politischen Fehler Ortegas, zu denken, dass diese unterschiedlichen Sektoren mit eigenen Forderungen auftreten würden und dass es so kommen würde wie so oft zuvor in Nicaragua, nämlich zu einem Disput zwischen entgegengesetzten Gruppen innerhalb der Opposition.

 

In Deutschland, vor allem in der deutschen Linken, fragt man sich oft, ob es eine linke Alternative in Nicaragua geben könnte, wenn Ortega morgen zurücktreten würde. Gibt es innerhalb der Zivilallianz Gruppen, die einen linken Diskurs und linke politische Ziele verfolgen? Welche Rolle spielen emanzipatorische Bewegungen wie die feministische, LGTBI* oder Bäuer*innenbewegungen innerhalb dieser Zivilallianz?

Innerhalb der Zivilallianz gibt es Gruppen, die sich klar in einem linken Spektrum positionieren und zugleich seit April an den Protesten beteiligt waren. Viele davon sind Gruppen, die sich vom Sandinismus abgespaltet haben. In Nicaragua gibt es die Besonderheit, dass „die Linke” immer sehr eng mit der Figur von Sandino verbunden ist. Und in diesem konkreten Fall haben wir Gruppen, die linke ideologische Werte teilen und trotzdem eine wichtige Rolle in den politischen Aufständen gespielt haben. Bewegungen, von denen ich denke, dass das auf sie zutrifft, sind die Artikulation der Sozialen Bewegungen (Articulación de Movimientos Sociales) und die Zivilgesellschaft sowie andere politische Alternativen, die eine gute Beziehung zur Zivilallianz haben. Wir sind in ständiger Kommunikation und in einem Prozess der gemeinsamen Mitgestaltung, der sich bislang als sehr effektiv erwiesen hat. Aber auch innerhalb der Zivilallianz haben Studierende und viele der Studierendenbewegungen ein linkes Profil, andere nicht, aber das ist normal. Wir kämpfen derzeit um die Demokratisierung eines Landes, in dem die Probleme, die ideologischen oder Interessenkonflikte nach demokratischen Regeln zu lösen sind. Es gibt auch emanzipatorische Bewegungen innerhalb der Zivilallianz. Es gibt feministische Bewegungen, die eine wichtige Rolle innerhalb der Allianz übernommen haben. Die LGTBI*-Community spielt auch eine wichtige Rolle und ihre Interessen spiegeln sich in der Zivilallianz wider. Sie haben sich bereit erklärt, den Abgang Ortegas als Priorität zu setzen. Nach Ortega, so sagen wir oft, werden wir die Konflikte im Dialog zwischen uns lösen, aber unter neuen Bedingungen.

 

Aus den dogmatischen Sektoren der internationalen Linken gibt es große Skepsis gegenüber den oppositionellen Gruppen, die aus den Aprilprotesten und der darauf folgenden Repression entstanden sind. Einige bezeichnen sie sogar als „Putschist*innen”. Dass Mitglieder einer der Studierendenbewegungen der Universitätskoalition sich mit Abgeordneten der reaktionären Rechten aus den USA und El Salvador getroffen haben, verstärkt diese Skepsis. Wie hat sich AUN zu diesen Treffen positioniert und was ist eure Antwort auf die Vorwürfe, eine putschistische Bewegung zu sein?

Wir haben die Putschvorwürfe, die auch von Daniel Ortega oft vorgebracht wurden, zurückgewiesen. Wie wir schon am ersten Tag des Nationaldialogs betont haben, den eigentlichen Putsch hat Ortega gegen die Institutionen des Landes ausgeübt.
Hinsichtlich der Beziehung zur reaktionären Rechten und ihren Implikationen muss ich sagen, dass die Universitätskoalition, wie bereits erwähnt, in ihren Interessen nicht homogen ist. Einige Mitglieder haben sich öffentlich der extremen Rechten angenährt und wir haben klargestellt, dass sie zwar das Recht haben diese Kontakte zu knüpfen, aber auch, dass sie keinesfalls die Universitätskoalition als Ganzes vertreten. In dieser Koalition geht es viel mehr um unterschiedliche Bewegungen und Perspektiven. Jede Bewegung hat eigene Formen der Vernetzung. Im Fall von AUN haben wir die besagten Treffen mit der reaktionären Rechten mit großer Besorgnis verfolgt. Das ist nicht produktiv für unsere Ziele, sondern hat im Gegenteil für Kritik gesorgt und dem Diskurs Ortegas, dass die internationale Rechte einen Putsch gegen die nicaraguanische Revolution ausübt, Vorschub geleistet. Das gehört aber dazu, wenn man Teil einer so breiten Koalition ist. Jede Bewegung kann sich den Gruppen annähern, die sie für geeignet hält.

 

Einer der Sektoren, die in der Zivilallianz vertreten sind, ist der Private, allen voran vertreten durch den Unternehmerverband (COSEP), der bis zum 18. April einer der engsten Alliierten von Daniel Ortega war. Wie schafft man es, Gruppen, die zum Teil sehr widersprüchliche Interessen vertreten, wie z.B. COSEP und die Bäuer*innenbewegung oder die Kirche und feministische Bewegungen, in einer Allianz zu verbinden?

Die Position des Unternehmerverbands wurde sehr skeptisch gesehen. Sie waren Teil des sogenannten „Dialog und Konsens” zwischen Regierung und Privatsektor, von denen beide Seiten in den letzten elf Jahren erheblich profitiert haben. Dieses Verhältnis hatte sich schon verschlechtert und erlitt einen definitiven Bruch durch die Sozialreform, die Ortega einseitig entschied. Mit dem ersten Todesopfer wurde dieser Bruch unumkehrbar. Heute wird der Privatsektor als ein strategischer Alliierter innerhalb der Zivilallianz betrachtet und genauso wie alle Teil dieser Allianz hat auch er eigene Interessen. Es ist eine Frage des Willens und der politischen Reife, den Herausforderungen zu begegnen und uns darauf zu einigen, dass Ortega definitiv die Regierung verlassen muss.

 

Die Zivilallianz hat sich auf die Demokratisierung und die Gerechtigkeit Nicaraguas sowie auf den Rücktritt der Regierung Ortega-Murillo als gemeinsames Ziel geeinigt. Was bedeutet die Demokratisierung des Landes für AUN? Wie würdet ihr sie gestalten?

Diese Begriffe, die sehr allgemein klingen mögen, haben unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen Gruppen, die in der Zivilallianz vertreten sind. Im Fall von AUN sind wir uns bewusst, dass es nicht nur kleiner Reformen oder Wahlprozesse bedarf, sondern dass tiefgreifende Transformationen notwendig sind. Wirtschaftlich heißt das, dass ein gewisser Wohlstand gewährleistet werden muss, der es erlaubt, sich auch mit dem politischen Leben auseinanderzusetzen. Eine Bevölkerung, die um ihre Existenz kämpfen muss, hat wenig Zeit dafür. In Nicaragua herrschte bisher ein Modell des Klientelismus. Wir wollen hin zu einem Modell, das es den Bürger*innen ermöglicht, am politischen Leben im Land teilzuhaben. Solch ein Modell sowie die vollkommene Unabhängigkeit der Justiz von politischen Parteien sind unerlässliche Veränderungen für die Zukunft.

DAS UNSICHTBARE MASSAKER DER SPIELE

Mit 18 Jahren aus einer ostdeutschen Kleinstadt nach Mexiko-Stadt zu reisen – das geht auch 2018 noch als großes Abenteuer durch. Aber damals muss diese Nachricht Sie doch völlig umgehauen haben …

Ich bekam einen Anruf von meinen Eltern, als ich gerade bei meiner Freundin im Vogtland war. Ich müsse sofort nach Hause nach Altenburg kommen, es gäbe eine sensationelle Neuigkeit. Also fuhr ich gleich zurück. Das war just der 22. August 1968, also am letzten Tag des Prager Frühlings, als die UdSSR in Prag einmarschierte. Zurück in der Schule informierte mich ein Lehrer: „Es könnte sein, du fährst mit ‘ner Jugenddelegation zu den Olympischen Spielen nach Mexiko. Aber wir beide wissen auch, was heute passiert ist. Also, die Chancen sind wohl nicht sehr groß.“ Letztlich hat es dann doch geklappt.

Glück für Sie. Was war das für eine Delegation?

Es gab im Rahmen der Olympischen Spiele in Mexiko zwei wesentliche Rahmenprogramme: Das eine war die Kultur-Olympiade und das zweite war ein internationales Jugendlager, an dem ungefähr 850 Jugendliche aus aller Welt teilnahmen. Die DDR schickte 25 junge Leute.

Die DDR wollte in Mexiko bei den Wettkämpfen richtig groß auftrumpfen. Gerade weil das Land das erste Mal mit einem eigenen Team am Start war.

Ja, das hatte einen riesigen Stellenwert. Bis 1964 war ja immer eine gemeinsame deutsche Mann­schaft angetreten. In Mexiko startete die DDR als East Germany, mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne mit den Olympischen Ringen drin. Beethovens Neunte wurde als Hymne gespielt. Am ersten Tag der Olympischen Spiele in Mexiko hat das IOC dann beschlossen, dass die DDR bei den nächsten Spielen mit eigener Hymne und Fahne antreten kann. Ich denke, das alles war Teil des Kampfes um diplomatische Anerkennung – letztlich auch die entsendete Jugenddelegation.

Mexiko nahm erst 1973 offizielle diplomatische Beziehungen zur DDR auf. Wie wurde das Land denn vorher politisch eingeordnet, als Sie auf Reisen geschickt wurden?

Mexiko war weder Bruderland, noch Verbündeter. Es wurde überwiegend positiv dargestellt, als ein Land, in dem das Pro-Kopf-Einkommen stieg. Und mit Blick auf die Olympischen Spiele wurde die Einweihung jedes mexikanischen Sportplatzes auch in der DDR als Errungenschaft gefeiert. Daran schloss dann immer ein „aber“ an: „Aber es gibt auch Einschränkungen der Meinungsfreiheit, aber es gibt auch viele soziale Probleme“, und so weiter.

Es galt ja die Formel: Mit Staaten aus dem damaligen Ostblock wird sozialistischer Internationalismus gepflegt und mit den Ländern der sog. 3. Welt anti-imperialistische Solidarität. Letztere wurden motiviert, den kapitalistischen Wachstumspfad zu verlassen. Sollten dabei auch die Jugendlichen Überzeugungsarbeit leisten?

Ich bin da kein Experte. Ich glaube, das Interesse der DDR, diplomatische Anerkennung zu erlangen, dominierte alles. Mexiko positiv darzu­stellen, war auch deshalb ein Ziel, um dort für das eigene gute Ansehen zu arbeiten. Wir haben Mexiko damals nicht als Bruderland gesehen und ich glaube, auch eher zurückhaltend, was eine linke Entwicklung im weitesten Sinne betrifft.

Und wie haben Sie dann die Ankunft erlebt?

Unser Flieger kam am 2. oder 3. Oktober an. Von den schweren Auseinandersetzungen haben wir bei der Fahrt vom Flughafen durch die Stadt nach Oaxtepec zunächst mal überhaupt nichts mitbekommen. Der Ort lag so 70 bis 80 Kilometer außerhalb der Stadt. Untergebracht waren wir in einem Ferienkomplex der mexikanischen Sozialversicherung – mit Blick auf den Vulkan Popocatépetl.

Und da war dann die 68er-Jugend aus dem Ost- und Westblock untergebracht. Wie wurde diskutiert in dem Jugendlager?

Wir haben uns radebrechend auf Englisch verständig. Aber an die Details der Gespräche kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Vielzahl der Ereignisse war einfach zu gewaltig. Die einzelnen Delegationen organisierten Treffen mit Jugendlichen anderer Länder und wir redeten darüber, was in der Welt passierte, mit Sicherheit auch über Prag. In meiner Erinnerung wurde es zurückhaltend besprochen und ich kann mich nicht an Vorbehalte oder Vorwürfe uns gegenüber erinnern. Mit der Delegation der BRD praktizierten wir, was damals offizielle Politik war: Maximal noch „Guten-Tag“-Sagen. Mehr ist da nicht passiert.

Die DDR war mit ihren 250 Sportler*innen sehr erfolgreich, gewann insgesamt 25 Medaillen. Waren Sie auch mal im Stadion?

Wir waren bei der Eröffnung dabei und dann erneut im Stadion, als Christoph Höhne das 50km-Gehen gewann, mit 10 Minuten Vorsprung. Alle dachten: „Hoffentlich hat er keine Abkürzung genommen.“ Das war wirklich sensationell. Auch in Xoximilco waren wir dabei, wo die DDR zwei Goldmedaillen im Rudern gewann.

Als die schwarzen US-Athleten auf dem Podium die Black-Panther-Faust in die Höhe reckten, waren Sie nicht zufällig in der Nähe?

Nee, aber das kriegten wir natürlich mit und haben das begeistert aufgenommen.

1968 blieb für sie ein wichtiges Ereignis. Wie entwickelte sich denn das vage Wissen, dass da auf dem Platz der Drei Kulturen in Tlatelolco noch etwas anderes passiert war? Kam da irgendwann noch ein Schub an Informationen?

Das kann ich nicht beantworten. Das weiß ich echt nicht mehr. Woran ich mich noch einigermaßen erinnere: Dass wir noch in Mexiko, oder relativ zeitnah danach, erfahren haben, dass es nicht nur um eine Demonstration oder Protestaktion ging, sondern dass da Schlimmeres passiert sein musste. Aber das ist so fast das Einzige…

Goerg Fehst versucht, zu rekonstruieren, was er damals wissen konnte. Er schlägt im Buch „Olympia 1968. Grenoble und Mexiko-Stadt“ und dem offiziellen DDR-Olympiaband nach, die beide 1969 erschienen sind. Dort heißt es einmal: „Nachdem es [das mexikanische Volk, Anm. d. Red.] in den Wochen vor den Olympischen Spielen Tage sozialer Erschütterung […] erlebt hatte, verschob es diesen Kampf, um die Durchführung der Spiele nicht zu gefährden.“ An anderer Stelle werden zumindest „fortschrittliche Studentengruppen“ erwähnt, deren Proteste „Todesopfer gekostet haben“.

1981 reiste Erich Honecker nach Mexiko und versuchte, Kontakte mit einer kleinen sozialistischen Einheitspartei links der etablierten PRI zu etablieren. Da setzte die DDR wohl weiter Hoffnungen auf einen Dialog.
Ja, richtig, aber das war überhaupt kein Vergleich mit den Beziehungen zu Chile Anfang der 1970er. Mexiko war unter „ferner liefen“. Mit eben dieser einen Ausnahme 1968. Zugespitzt formuliert geschah das aus egoistischen Gründen: Die DDR wollte sich zeigen, als politisch zunehmend anerkanntes Land und als sportliche Großmacht – auf dem dritten Platz in der Länderwertung. Das wurde über alles gestellt und deckte alles andere zu.

Ende September dieses Jahres hat die mexikanische Regierung erstmals von einem „Staatsverbrechen“ auf dem Platz der Drei Kulturen 1968 gesprochen. Sollte die Erinnerung an Tlatelolco nicht immer dazugehören, wenn von den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt die Rede ist? Als eine mahnende dunkle Wolke…

Selbstverständlich gehört das dazu. Ich zögere nur bei diesem Bild, weil, wenn ich meine eigenen Erinnerung bemühe, dann schwebt da nichts über den Olympischen Spielen, weil wir einfach nichts mitbekommen haben.

Und heute?

Heute muss man das einbeziehen. Wenn man sich die euphemistischen Formulierungen in dem DDR-Olympia-Band anschaut: na, Hallo! Es ist wichtig, dass Klarheit geschaffen wird, darüber, wie vielen Menschen dort ganz, ganz Schlimmes passiert ist. Das steht außer Zweifel.

SIEG FÜR DIE VIELFALT

 

Wie ist Ihre Meinung zum neuen Gesetz? Verbuchen Sie es als Erfolg?
Nein, als Erfolg würde ich es nicht beschreiben, denn es liegen noch zu viele Herausforderungen vor uns. Da die konservative Opposition sehr stark war und ist, wäre es schwierig gewesen, auf einen Schlag gleich alle unsere Forderungen zu erfüllen. Es ist aber sicher ein großer Fortschritt und wir sind dankbar, dass wir uns jetzt auf diese Grundlage zur Anerkennung unserer sozialen Identität berufen können. Zumindest ein Teil von uns hat nun den rechtlichen Anspruch auf die Änderung des Namens und Geschlechts im Melderegister, bis zu zweimal im Leben. Wichtig ist uns die Bedeutung des kompletten Namens des Gesetzes: „Gesetz zur Anerkennung und zum Schutz des Rechts auf die Geschlechtsidentität“. Wir Trans*-Menschen haben damit ein in der Verfassung verbürgtes Menschenrecht auf unsere soziale Identität. Das gilt sogar auch für Ausländer*innen, die eine Aufenthaltsgenehmigung in Chile haben.

Wieso brauchte die Gesetzesinitiative mehr als fünf Jahre?
Die rechtskonservativen Abgeordneten haben die Jahre über eine erfolgreiche Verzögerungstaktik gefahren. Ich möchte da keine konkreten Namen nennen. Generell sorgten sie immer wieder für Vermerke am Gesetzesvorschlag, die dann in speziellen Kommissionen diskutiert werden mussten. Einige lernten über die Zeit hinweg mehr über das Thema, allerdings schafften sie es nie, unsere tieferliegenden Beweggründe nachzuvollziehen. Geschweige denn, dass sie von ihren konservativen und religiösen Argumenten abrückten. Die kürzliche Annahme des Gesetzes konnte nur zu Stande kommen, nachdem der Vorschlag einige Zeit einem alternativen Verfassungsverfahren unterworfen wurde, in dem Abgeordnete beider Kammern Änderungen aus­handelten.

Wie werden die Konzepte Gender bzw. Geschlechtsidentität im Gesetz definiert?
Gender wird im Grunde gar nicht definiert, sehr wohl aber die soziale Identität, mit deren Auslegung wir sehr zufrieden sind. Im Rahmen des neuen Gesetzes wird die soziale Identität als persönliche Überzeugung aufgefasst, festgelegt durch eine innerliche Erfahrung. Somit sind weder demütigende psychologische oder ärztliche Untersuchungen notwendig, noch, dass die Person gezwungenermaßen ihr Äußeres durch Hormontherapie oder Chirurgie ihrer gefühlten Identität beziehungsweise ihrem gefühlten Geschlecht anpassen muss. Im Widerspruch zu dieser inneren Überzeugung steht die im selben Gesetz festgelegte Bedingung, dass der Antrag auf Änderung im Standesamt von zwei Zeug*innen begleitet sein muss, die die Geschichte des Trans*-Menschen bestätigen.

Kontrovers diskutiert wurde die Aufnahme der unter 14-Jährigen in das Gesetz, letztlich wurde dieser Punkt vom Kongress abgelehnt. Was ist an diesem Ausschluss problematisch?
Das ist auf jeden Fall einer der größten Schwachpunkte! Die unter 14-jährigen Trans*-Menschen, also Kinder und Jugendliche, sind eine der verletzlichsten Gruppen unserer Community. Chile hat eine der höchsten Selbstmordraten weltweit, das zeigt, dass unsere Gesellschaft beim Thema psychische Gesundheit große Lücken aufweist. Unter den Kindern und Jugendlichen der Trans*-Community ist die Selbstmordrate proportional sehr hoch und wir haben durch den Ausschluss dieser Gruppe vom neuen Gesetz keinerlei neue Möglichkeiten schaffen können, diese bedrückende Situation zu ändern. Schätzungen zufolge wird sich 2020 jeden Tag ein Kind oder ein*e Jugendliche*r das Leben nehmen.

Welche weiteren Kritikpunkte haben Sie an dem Gesetz?
Als sehr eingeschränkt empfinden wir die begrenzte Auswahl des neuen Geschlechts. Es gibt uns nur die Möglichkeit, Frau oder Mann zu werden, aber es existiert kein drittes, neutrales Geschlecht. Das schließt eine Reihe an Personen aus, Menschen mit einem fließenden Geschlecht und die Queers. Auch für verheiratete Trans*-Menschen ist es schwieriger, ihr Recht auf Identität geltend zu machen. Da es in Chile keine gleichgeschlechtliche Ehe gibt, müssen sie zuerst die eheliche Verbindung auflösen, bevor sie ihren Namen und ihr Geschlecht ändern können. Die Gruppe der 14- bis 18-Jährigen ist im Gesetz aufgenommen, allerdings können sie nicht einfach den Antrag auf die Eintragsänderung beim Standesamt stellen, sondern müssen diese, zusammen mit ihren Eltern oder ihrem Vormund, bei einem Familiengericht beantragen. Die Genehmigung hängt in dem Fall von der* oder dem* zuständigen Richter*in ab.

Welche weiteren Kämpfe muss die Trans*-Bewegung nach diesem Fortschritt in der Gesetzgebung noch ausfechten, um ihre Diskrimi­nierung zu beenden?
Grundsätzlich gibt es drei große Bereiche, wo wir in den nächsten Jahren für bessere Bedingungen sorgen wollen. Den Zugang und die Studienbedingungen im Erziehungssystem für Trans*-Menschen zu verbessern ist fundamental, denn Studien belegen, dass sie aufgrund der fehlenden Anerkennung ihrer Identität oft schlechtere Noten haben. Genauso brauchen wir einen würdigen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem, mit garantierten spezifischen Leistungen wie beispielsweise psychologischer Betreuung und vergünstigter oder kostenloser Hormon­behand­lungen oder chirurgischer Eingriffe. Aktuell gibt es nur sechs auf unsere Bedürfnisse spezialisierte Polikliniken und die sind zudem unterfinanziert. Auch im Bereich der Arbeitswelt müssen wir bessere Bedingungen schaffen, die Diskriminierung aufgrund des offenen Ausdrucks der sozialen Identität muss aufhören. Nicht unbedingt durch eine festgelegte Quote, sondern durch die Anerkennung von Institutionen und Unternehmen, die gay- oder trans*-freundlich sind. Es ist unbedingt notwendig, dass der Staat unsere speziellen Bedürfnisse, als Minderheit in der sexuellen Vielfalt, anerkennt und schützt!

Welche Verbündeten wünschen Sie sich auf diesem Weg?
Im Kongress haben wir bereits einige wichtige Verbündete, vor allem das Linksbündnis Frente Amplio und einige junge Abgeordnete aus dem Spektrum der linken Mitte, die unserem Kampf im Rahmen der Menschenrechte unterstützen. In der Gesellschaft stützen wir uns momentan auf die der Bewegung nahen Stiftungen und Aktionen mit den seit 2011 an Stärke zunehmenden sozialen Bewegungen. Dazu zählen die Studie­renden­bewegung, die feministische Bewegung und auch die Bewegung für eine Änderung des Rentensystems (AFP). In diesem Bereich sehe ich ein großes Potential für eine Zusammenarbeit mit dem Ziel einer humaneren Gesellschaft, ein Traum, den wir alle teilen.

Welche Rolle spielt dabei die Arbeit Ihrer Stiftung?
Ich fühle mich privilegiert, denn mein (anhaltender) Wandel zur Frau wurde mit Zärtlichkeit von meiner Familie begleitet, von meinem sozialen Umfeld größtenteils unterstützt und hat mich nicht daran gehindert, mein Studium aufzunehmen und durchzuhalten. All diese Umstände bringen mich dazu, etwas zurückgeben zu wollen, durch die Erziehung der Gesellschaft eine neue Mentalität zu schaffen, die es zukünftigen Generationen ermöglicht, nicht mehr von Inklusion, sondern von Zusammenleben zu sprechen. Deshalb setzen wir, wie auch die feministische Bewegung, auf eine feministische Erneuerung des Bildungssystems.

Wie genau wollen Sie das ermöglichen?
Zum einen, indem wir alle, die im Bildungssystem an Schulen und Universitäten integriert sind – von Lehrenden, Studierenden und Schüler*innen, über Funktionär*innen und Verwaltungskräfte, Vormünder bis zum staatlichen Dienst für Minderjährige ohne Familie (SENAME) – für unsere Themen wie Inklusion und gleiche Möglichkeiten für alle sensibilisieren und mit einer Gender-Perspektive fortbilden; Genderorientierte Lehrpläne für Schulen und Universitäten ausarbeiten; Eine psychopädagogische Betreuung für LGBTI- Studierende anbieten, die gleichen Studienbedingungen für alle schaffen; Den am Bildungssystem Beteiligten und der Gesellschaft begreiflich machen, was es wirklich bedeutet, dass die menschliche Sexualität so vielfältig ist, wie es Menschen auf der Erde gibt; Und die Anerkennung ihres freien Ausdrucks ein grundlegendes Menschenrecht ist.

GRÜNE WELLE SOLL ZUM TSUNAMI WERDEN

Lautstarke Bewegung Millionen Menschen forderten am 8. August das Recht auf Abtreibung (Foto: lavaca.org)

Darf in Argentinien unter keinen Umständen abgetrieben werden?

Doch, 1921 wurde ein Gesetz zur teilweisen Strafbefreiung der Abtreibung beschlossen, das den Schwangerschaftsabbruch unter drei Umständen erlaubt: wenn die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet; wenn die körperliche, psychische oder emotionale Gesundheit der Mutter gefährdet ist; und wenn die Schwangerschaft das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. 2012 ratifizierte das Oberste Gericht Argentiniens in der „F.A.L. Entscheidung“ das Recht auf Abtreibung, sollte sich eine Frau in einem der drei Umstände befinden. Es gibt also Gründe, die die Abtreibung in Argentinien legalisieren. Allerdings sind die Möglichkeiten dennoch sehr begrenzt, weshalb wir seit Jahren für eine komplette Legalisierung der Abtreibung kämpfen.

Wie ist die Kampagne entstanden?

Während des nationalen Frauentreffens in Rosario 2003 fand ein Workshop zum Recht auf Abtreibung statt, der von einem bereits seit über zehn Jahren existierenden Zusammenschluss organisiert wurde. Dort wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der zum einen den 28. September. zum Aktionstag zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika erklärte und zum anderen die Gründung einer Kampagne zum Recht auf Abtreibung beschloss. Diese sollte drei Ziele verfolgen, die gleichzeitig ihr Motto sind: „Sexualunterricht zur Vorbeugung; Verhütungsmittel, um nicht abtreiben zu müssen, und legale Abtreibung, um nicht zu sterben.“ Zwei Jahre später wurde die Kampagne in Córdoba offiziell gestartet.

Wieso hast du dich der Kampagne angeschlossen?

2003 während des Frauentreffens in Rosario erhielt ich ein grünes Tuch, auf dem die Entkriminalisierung der Abtreibung gefordert wurde. Mit einem Textmarker fügte ich noch die Legalisierung hinzu, denn ich hatte das Gefühl, dass die Entkriminalisierung den Staat aus der Pflicht nahm, entsprechende Maßnahmen zur körperlichen Integrität der Schwangeren umzusetzen. Nach meiner Rückkehr nach Glew, wo ich damals lebte und politisch aktiv war, erfuhr ich dann, dass ein Mädchen bei dem Versuch, mit Stricknadeln abzutreiben, umgekommen war. Eine andere lag im Krankenhaus, weil sie versucht hatte, mit Petersilie abzutreiben. Das war 2003. Leider hat sich seitdem nichts geändert. Fast täglich hören wir von jungen Frauen, die beim Versuch abzutreiben, sterben, wie z.B. einen Tag nach dem 8. August 2018, als der Versuch mit Petersilie abzutreiben, einer Mutter von zwei kleinen Kindern das Leben kostete. Tatsächlich werden bei einer Mehrzahl der Frauen, die auf Grund des Versuches eine Abtreibung vorzunehmen, sterben, körperliche Verstümmlungen gefunden. Laut Schätzungen treiben in Argentinien jährlich etwa 500.000 Frauen heimlich ab.

Wie organisiert ihr euch?

Die Kampagne ist ein pluraler, heterogener, föderaler, basisdemokratischer Raum, der auf Konsensbildung ausgerichtet ist. Solange du das dreifache Motto unterstützt, kannst du mitmachen, unabhängig von deiner politisch-ideologischen Zugehörigkeit. Heute sind mehr als 500 Organisationen im ganzen Land Teil der Kampagne, die sich auch international vernetzt. Wir organisieren jährliche Treffen, bei denen Strategie­pläne für das Jahr ausgearbeitet werden. Zudem haben wir es geschafft, dass es inzwischen Vorlesungen zum Thema an fast jeder öffentlichen Universität gibt. Poesiekreise, Zirkusgruppen, Unternehmerinnenzirkel, unabhängige Verlagsgruppen und viele andere haben sich der Kampagne vor allem im vergangenen Jahr ange­schlossen. Zudem unterhalten wir ein Netzwerk von Ärzten, die legale Abtreibungen vornehmen und Lehrern, die Sexualunterricht an Schulen geben.

Wie habt ihr es geschafft, so enorm zu wachsen?

Die Kampagne hat über zehn Jahre Aufklärungsarbeit an der Basis betrieben. Zudem ist die Bewegung der Frauen und Feministinnen in Argentinien in den letzten Jahren exponentiell gewachsen, wobei sowohl die Bewegung zur Gewalt gegen Frauen (Ni una Menos), als auch die seit über 30 Jahren stattfindenden nationalen Frauentreffen Impulsgeber sind. Aus der Vielzahl von Aktionen und Debatten zu den unterschiedlichsten Themen, die unser Geschlecht betreffen, hat sich in den vergangenen Jahren eine mächtige Bewegung entwickelt, was bei den letzten Demonstrationen am 8. März und am 3. Juni, sowie zu den zwei Abstimmungstagen des Gesetzes am 13. Juni und am 8. August eindrucksvoll gezeigt wurde.

Stimmte das im Senat zur Abstimmung stehende Gesetz mit euren Forderungen überein?

Das am 13. Juni vom Abgeordnetenhaus beschlossene Gesetz basierte auf unserem Gesetzesvorschlag, wenn es auch einige Änderungen enthielt. Dennoch konnten wir viele unsere Forderungen durchsetzen, wie die Legalisierung der Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche. Da die Senatoren es jedoch am 8. August ablehnten und sich auch nicht auf eine Debatte über mögliche Änderungen einlassen wollten, konnte es nicht in Kraft treten. Tatsächlich gab es sogar Senatoren, die offen zugaben, das Gesetz nicht einmal gelesen zu haben.

Aus welchen Gründen wurde das Gesetz abgelehnt?

Die Argumente kommen von jenen, die wir „Anti-Rechte (Anti-Derechos)“ nennen, wobei sie sich selbst als „pro Leben“ bezeichnen. Ihre Kampagne ist eng an die katholische und die evangelikalen Kirchen gebunden, die im Vorfeld der Abstimmung einen großen Einfluss auf die Senator*innen genommen haben. So meinten sie unter anderem, dass eine Frau ihr Kind nach der Geburt zur Adoption freigeben könnte, wenn sie es nicht wollte. Zudem ist das Gesetz laut ihnen verfassungswidrig und Abtreibung Mord.

Wie war und ist die Stimmung jetzt in der Bewegung?

Das Nein der Senator*innen war ein harter Rückschlag nach so vielen Monaten der ständigen Mobilisierung, mehreren Aktivitäten pro Woche, Podiumsdiskussionen, Gesprächskreisen usw., und all das neben der Arbeit, denn das Engagement bei der Kampagne wird nicht bezahlt. Dennoch sind wir sehr stolz auf das Erreichte, denn inzwischen hat sich in der Gesellschaft so etwas wie ein Konsens ausgebreitet, dass Abtreibung nicht länger kriminalisiert werden soll. Es gibt heute keinen Ort in Argentinien, wo nicht über das Thema geredet wird. Unser Symbol, das grüne Tuch, hängt an tausenden von Rucksäcken und Taschen im ganze Land.

Wann kann das Gesetz das nächste Mal zur Abstimmung kommen?

Wir können das Gesetz nächstes Jahr erneut zur Abstimmung vorschlagen. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung des Parlaments und des Senates mit den Wahlen im Oktober 2019. Die neu gewählten Volksvertretern übernehmen ihre Posten dann im Dezember, wobei die Arbeit des Parlaments nach den Sommerferien im März 2020 beginnt. Daher stellt sich für uns die Frage, ob es Sinn macht, das Projekt denselben Repräsentanten vorzulegen, die sich bereits dagegen ausgesprochen haben, oder ob es nicht geschickter ist, die neue Zusammensetzung der gesetzgebenden Organe abzuwarten. Das werden wir jetzt als Kampagne diskutieren, allerdings besteht für uns kein Zweifel daran, dass wir das Gesetz erneut vorlegen werden. Bis dahin bleiben wir aktiv und präsent auf der Straße.

Wie geht es jetzt weiter?

Mitte September findet unser nächstes nationales Treffen statt, wo wir über unser weiteres Vorgehen beraten werden. Gleichzeitig werden wir weiter daran arbeiten, dass die Abgeordneten und Senatoren verstehen, dass ihr Nein sie für jede neue Abtreibungstote verantwortlich macht, und versuchen, Druck auf jene Provinzen auszuüben, wo Ärzt*innen juristisch belangt werden, die legale Abtreibungen durchführen. Derzeit bereiten wir außerdem die Demonstration zum 28.9. vor, damit die grüne Welle nicht nur unser Land, sondern den ganzen Kontinent erfasst. Tatsächlich hat sie sich bereits auf Chile, Brasilien, Mexiko, Peru, Kolumbien, Venezuela, die Dominikanische Republik und Costa Rica ausgebreitet, und wir sind uns sicher, dass sie solange wachsen wird, bis sie die Ausmaße eines Tsunamis angenommen hat – und dann zum Gesetz wird!

SPÄTE MAßNAHMEN

Seit dem 20. August gibt es in Venezuela mit dem „Souveränen Bolívar“ eine neue Währung, gleichzeitig wird der Mindestlohn deutlich erhöht. Kann das funktionieren?

Nein. Zwar hat die Regierung gesagt, dass sie für kleinere Unternehmen drei Monate lang die Lohnerhöhung zahlen will, damit die Preise nicht steigen. Aber das wird nicht klappen und zudem ein enormes Korruptionspotenzial schaffen. Natürlich ist der bisherige monatliche Mindestlohn ein Skandal, denn er betrug laut Schwarzmarkt-Kurs zuletzt gerade einmal etwas mehr als einen US-Dollar. Aber woher sollen kleine Unternehmen nach drei Monaten das Geld nehmen, um das 60-fache an Lohn zu zahlen? Sie werden Arbeiter entlassen und die Preise erhöhen.

Der neue Bolívar soll an die Kryptowährung Petro gekoppelt sein, die wiederum an den Erdölpreis gebunden ist. Wird Venezuela dadurch eine stabilere Währung haben?

Davon ist nicht auszugehen. Erdölreserven, die noch nicht gefördert, also noch nicht in Wert gesetzt sind, können nicht eine Währung decken wie Gold oder Währungsreserven einer Zentralbank. Das schafft kein Vertrauen. Als simple Rechnungseinheit hat der Petro wenig Relevanz.

Im Rahmen des sogenannten Plans zur wirtschaftlichen Erholung sind noch eine Reihe weiterer Maßnahmen vorgesehen.

Die monetären Reformen sind tatsächlich unumgänglich. Dazu zählt die Liberalisierung der Devisenpolitik, der früher oder später eine kontrol­lierte Freigabe des Wechselkurses folgen muss. Auch die Anhebung des Benzinpreises von praktisch Nulltarif auf internationales Niveau ist prinzipiell richtig, auch wenn der Zeitpunkt schlecht ist. Gleichzeitig handelt die Regierung sehr widersprüchlich. Einerseits spricht sie davon, das Haushaltsdefizit auf Null zu reduzieren, andererseits erzeugt sie eine Reihe neuer Ausgaben. Zudem kommen all diese Maßnahmen sehr spät und werden auf eine seltsame Art umgesetzt.

Inwiefern seltsam?

Niemand weiß, worin genau der Plan zur wirtschaftlichen Erholung besteht, es gibt kein schriftliches Konzept. Das Gleiche gilt für die wirtschaftlichen Indikatoren, die schon seit Jahren nicht mehr veröffentlicht werden. Ich sehe bei der Regierung zwar den Willen, etwas zu tun, was an sich eine positive Veränderung ist. Sie versucht, einige der Fehler zu korrigieren, die in der Wirtschaftspolitik der vergangenen 15 Jahre gemacht wurden. Aber dies führt nicht dazu, dass eine breite Diskussion über die Krise und mögliche Auswege geführt würde. Alle Entscheidungen trifft ein kleiner Kreis innerhalb der Regierungspartei auf völlig intransparente Art und Weise.

Seit 2006 führt die venezolanische Regierung offiziell einen sozialistischen Diskurs, auch Maduro hält am Ziel des Sozialismus fest. Wie lässt sich die Wirtschaftspolitik der Regierung charakterisieren?

Es gab keine tief greifenden sozialistischen Maßnahmen. Die Regierung hat Unternehmen verstaatlicht, aber – so wie viele Regierungspolitiken – dienten diese dazu, große Geschäfte zu machen. Auch die gesamte Wechselkurspolitik ist mitnichten sozialistisch. Statt eine produktive Industrie und Landwirtschaft aufzubauen, hat man auf Importe gesetzt, die Kapitalflucht beschleunigt und der Bourgeoisie enorme Möglichkeiten geboten, sich schnell zu bereichern. Die Umverteilung der Erdölrente zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten war anfangs positiv, doch seit der Wirtschaftskrise ist diese immer geringer geworden und heute nur noch marginal. US-Investitionen gegen Investitionen aus Russland und China auszutauschen, ist an sich weder revolutionär noch sozialistisch.

Aber gleichzeitig gab es unter Chávez doch die Förderung alternativer Unternehmensformen wie Kooperativen oder Prozesse von Mit- und Selbstverwaltung in verstaatlichten Betrieben. Was ist daraus geworden?

Das ökonomische Problem mit den Verstaatlichungen war, dass die Unternehmen die Preise nicht erhöhen durften, was bei steigender Inflation logischerweise zu Verlusten führte. Zudem hat die Regierung die Leitung der meisten verstaatlichten Unternehmen nach und nach dem Militär übertragen, das die Unternehmen völlig offen, unkontrolliert und straflos ausplündern konnte. Kooperativen und selbstverwaltete Betriebe haben gesamtwirtschaftlich nie eine große Rolle gespielt, auch wenn in absoluten Beträgen hohe Summen in diese Projekte gepumpt wurden. Aufgrund des von der Regierung selbst niedrig gehaltenen Wechselkurses war es stets billiger zu importieren, als etwas im Land zu produzieren.

Einige Ökonom*innen schlagen vor, die Landeswährung an den US-Dollar zu binden oder ihn gleich als alleiniges Zahlungsmittel einzuführen. Was halten Sie davon?

Die venezolanische Wirtschaft offiziell zu dollarisieren, wäre ein großer Fehler, selbst wenn es besser wäre als das bisherige System mehrerer Wechselkurse und einem ausufernden Schwarz­markt. Zwar könnte die Hyperinflation so innerhalb kurzer Zeit gestoppt werden, aber Venezuela wäre nicht mehr in der Lage, eine souveräne Wirtschaftspolitik zu gestalten, da sie in monetären Fragen von der US-Notenbank abhinge.

Was wäre nötig, um die Hyperinflation in den Griff zu bekommen?

Die Zentralbank muss umgehend aufhören, ständig neues Geld zu drucken, ohne dass die Produktivität gesteigert wird. Wir müssen eigene Industrien und den Agrarsektor aufbauen, in Verbindung mit einem breiten Plan für mehr Arbeit, vor allem im Inneren des Landes. Der Wechselkurs müsste freigegeben und die Preiskontrollen abgeschafft werden, weil sie nicht funktionieren und viele der regulierten Produkte auf dem Schwarzmarkt landen oder außer Landes geschmuggelt werden. Zusätzlich sollte die Regierung den Einfluss des Militärs auf die Wirtschaft einschränken und die exorbitant hohen Militärausgaben kürzen. Das Gleiche gilt für die Bürokratisierung, es gibt mehr als drei Millionen Staatsangestellte, von denen viele überhaupt keine sinnvolle Funktion ausüben.

Was erwarten Sie von den Maßnahmen?

Die Öffnung der venezolanischen Wirtschaft könnte zu einer leichten Verbesserung der Lage führen und Maduros politische Herrschaft stabilisieren. Ein großes Problem sind die öffentlichen Dienstleistungen, die sich in sehr schlechtem Zustand befinden. Es gibt Gebiete, in denen tagelang der Strom oder wochenlang das Wasser ausfällt. Diese Situation kann zu größeren Protesten führen, die der Regierung durchaus gefährlich werden können. Es fehlt nicht nur das nötige Geld für Investitionen, sondern auch Fachpersonal, denn mehrere Millionen Venezolaner haben das Land vermutlich verlassen. Zurück bleiben vor allem Kinder und Alte, was eine mögliche wirtschaftliche Erholung zusätzlich erschwert.

UNKLARES PROFIL

John Ackermann ist Juraprofessor, Kolumnist und enger Berater des neuen Präsidenten (Foto: Aline Juárez Contreras)

Seit dem Wahlsieg im Juli konzentriert sich die Medienberichterstattung im In- und Ausland vor allem auf den zukünftigen Präsidenten AMLO. Die Wahl gewann er allerdings nicht alleine, sondern mit der von ihm 2014 gegründeten Partei Morena. Wie wichtig ist diese Plattform?

Auf jeden Fall identifizieren sich die Leute mit AMLO, aber natürlich stimmen sie nicht nur für einen Politiker, sondern auch für eine Partei. Und Morena hat neben dem Präsidentschaftsamt beide Kammern des Parlaments und vier Gouverneursposten auf regionaler Ebene gewonnen. Am 1. Juli haben die Leute nicht nur die Person López Obrador, sondern die Idee eines anderen, eines möglichen Mexiko gewählt, die er verkörpert. Und dabei hat Morena, als eine Partei neuen Typs, eine große Rolle gespielt.

Was meinen Sie mit „Partei neuen Typs“?

Morena entstand als Antwort auf die gescheiterte neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre und reiht sich damit in die lange Reihe von progressiven Gruppierungen in Lateinamerika ein, die um die Jahrtausendwende entstanden sind. Wir in Mexiko sind einfach sehr spät dran, dennoch gehört Morena zu diesem Zyklus der linken Transformationen. Morena steht für das Scheitern des neoliberalen Wirtschaftsmodells und das Versagen der etablierten Parteien. Dazu zählt auch der Kollaps der alten sozialdemokratischen Parteien. In Mexiko ist das mit der Partei der demokratischen Revolution (PRD) passiert, für die AMLO 2006 noch antrat und die jetzt nach den Wahlen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wird. Die linke Leerstelle im Parteiensystem hat Morena besetzt.

Was hat die sozialdemokratische PRD falsch gemacht?

Morena wurde notwendig, weil die PRD sich auf Initiative des noch amtierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto nach dessen Wahlsieg 2012 mit den herrschenden konservativen Eliten verbündete. Im sogenannten Pakt für Mexiko wurde die PRD in das Herrschaftsbündnis zwischen der ehemaligen Staatspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) und der konservativen PAN (Partei der Nationalen Aktion) eingebunden und trug in den Folgejahren alle neoliberalen und repressiven Reformen mit. Ein Verrat an der Linken.
Angesichts dessen wurde Morena von einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die bereits 2011 entstanden war, um AMLOs Wahlkampf zu unterstützen, zur neuen linken Partei aufgebaut. Die progressiven Teile der PRD schlossen sich diesem neuen Projekt schnell an, vor allem die, die stark in den sozialen Bewegungen verankert sind. Und auch für viele Millenials wurde Morena aufgrund der Authentizität und den Möglichkeiten zum Mitmachen attraktiv, was sich bei den Wahlen in den riesigen Erfolgen Morenas bei jungen Wähler*innen gezeigt hat.

Wenn Morena erst durch den Pakt der PRI mit der Rechten möglich wurde, warum hat sich AMLO dann selbst, bereits während des Wahlkampfes, dafür eingesetzt, möglichst viele konservative Politiker*innen aus PRI und PAN in sein politisches Projekt zu integrieren?

Das ist äußerst komplex. Auf der einen Seite muss man das Ganze als Versuch betrachten, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Das ist nichts Neues und in der derzeitigen Situation Mexikos auch unbedingt notwendig. Zudem versuchen frisch gewählte Präsidenten in Mexiko immer, ihre politischen Rivalen in ihr Regierungsprojekt zu integrieren. Der Unterschied zum Pakt von Mexiko von Peña Nieto ist, dass AMLO eben schon vor den Wahlen mit offenen Karten gespielt hat, um eine Regierung der nationalen Einheit zu forcieren. Allerdings schließt er sich eben nicht den Neoliberalen und den Konservativen an, sondern die sich ihm – und genau da liegt der Unterschied. Zudem hat AMLO dies alles mit extremem sozialen Rückhalt gemacht. Viele Leute vertrauen da seiner Einschätzung.

Wofür stehen die Partei Morena und der künftige Präsident dann konkret?

Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Morena ist ein plurales Gemisch verschiedener Positionen. Um das zu verstehen, muss man nur die Siegesrede von AMLO am Wahlabend im Hotel Sheraton mit seiner Rede im Stadion Azteca vergleichen, die er wenige Tage vor dem Wahltag hielt. Bei zweiterer verortete er sich klar links und setzte seine Kandidatur in eine lange Reihe sozialer Kämpfe seit der mexikanischen Revolution von 1910. Ein paar Tage später gewinnt er die Wahl und nutzt seine Siegesrede, um eine Nachricht an die Banken und den Finanzsektor zu senden, wonach diese durch seine Präsidentschaft nichts zu befürchten hätten. Er trägt also diesen Widerspruch in sich. Er ist pro-Business, aber aus einer links-nationalistischen Grundhaltung heraus.

Angesichts dieser ideologischen Beliebigkeit des künftigen Kabinetts, in dem viele ehemalige Politiker*innen der PRI und der PAN vertreten sind: Muss Morena da als Korrektiv von links auf AMLO einwirken?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen Regierung und Partei. Und je offener die Regierung nach rechts wird, umso mehr muss Morena als Gegengewicht dazu agieren.

Kann das gelingen? Morena ist bisher ja nicht gerade mit einer lebendigen internen Debattenkultur aufgefallen. Der Fokus lag doch eher darauf, die Wahlen zu gewinnen und AMLO in den Präsidentenpalast zu hieven.

Die Partei als solche ist wie ein Kind, das erst vier Jahre alt ist und plötzlich einen Schwertransporter steuern muss. Es scheint zunächst unmöglich, aber wie kann es trotzdem gelingen? Die erste Möglichkeit wäre schlicht und einfach zu sagen: „Lassen wir einfach die weiter fahren, die das Ding auch die vergangenen Jahre schon gesteuert haben, die wissen schon, was sie tun.“ Dann wird Morena eine ganz „moderne“ und „institutionelle“ Partei und alles bleibt beim Alten. Die zweite Option ist, dass Morena zu einem Konglomerat beliebiger politischer Kräfte wird, dass AMLO zu Dienste steht. Die dritte und einzig sinnvolle Lösung für das Problem ist, aus Morena eine wirkliche Massenpartei mit partizipativen Strukturen und einer demokratischen Kultur zu machen. Darauf hoffe ich. Ob das gelingen kann? Ich weiß es nicht.

Schwierig dürfte es auf jeden Fall werden. Denn es gibt viele Stimmen, die davor warnen, dass Morena nach dem überwältigenden Wahlerfolg und der daraus resultierenden enormen Machtfülle anfällig für Korruption und Klientelismus sein könnte. Besteht die Gefahr, dass Morena in die gleichen Muster wie die Vorgängerregierungen verfällt?

Ja, diese Gefahr besteht zweifelsohne. Durch den Wahlsieg gibt es jetzt viel Geld und unzählige Posten in der Partei. Und in den vergangenen Monaten haben sich eben viele Leute aus anderen politischen Lagern der Partei angeschlossen, weil sie wussten, dass AMLO die Wahl gewinnen würde. Und viele von denen wollen weitermachen wie bisher.
Daher hat sich eine Gruppe von linken Intellektuellen um den Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II und den Historiker Enrique Dussel zusammengefunden, zu der auch ich gehöre, die eine Parteischule aufbauen will, in der Mitglieder von Morena politisch ausgebildet werden sollen, um die partizipative Komponente der Partei zu stärken. Damit soll vor allem auch die interne Debattenkultur gestärkt werden. Bisher gab es noch keine einzige nennenswerte innerparteiliche Auseinandersetzung. Gleichzeitig gibt es den Wunsch von vielen Aktiven, sich einzubringen und Strategien und Aktionen auch kontrovers zu diskutieren. Das soll ermöglicht werden, jedoch ohne Chaos zu kreieren. Uns geht es darum, eine demokratische Kultur zu etablieren, durch die der Transformationsprozess von unten mitgestaltet werden kann.

Dennoch gab es schon den ersten vermeintlichen Skandal für Morena. Zwei Wochen nach der Wahl verhängte das Nationale Wahlinstitut (INE) eine Millionenstrafe gegen Morena, weil die Partei mutmaßlich einen Fonds für Edrbebenopfer als illegale Parteienfinanzierung genutzt haben soll. Der erste Schritt in Richtung korrupte Staatspartei?

Nein, auf gar keinen Fall. Diese Strafe ist schlicht und ergreifend die Rache des Systems. Im elfköpfigen Gremium, das die Strafe ausgesprochen hat, sitzen mehrere Personen, die einen öffentlich gehegten Hass auf AMLO haben. Sie wollten ihm einfach die Party verderben. Diese angeblich illegale Parteienfinanzierung wollten sie im Falle eines knappen Wahlausgangs dazu nutzen, um seinen Wahlsieg zu annullieren. Allerdings gewann er so klar, dass sie das nicht machen konnten. Also entschieden sie sich dafür diese Situation auszunutzen, um ihm eins reinzuwürgen. Das Geld, das von Parteimitgliedern und auch von AMLO für den Fonds gespendet wurde, kam einzig und allein den Erdbebenopfern zu Gute. Morena hat das Recht, als Partei auch humanitäre Hilfe zu organisieren.

Wurde das aber nicht vielleicht genutzt, um von vom Erdbeben betroffenen Menschen im Austausch für Hilfsleistungen Stimmen für Morena und AMLO zu verlangen?

Das ist nicht passiert und das wirft das INE Morena auch gar nicht vor. Es geht nur darum, dass der Fonds nicht beim INE angemeldet wurde und das Geld bar ausgezahlt wurde. Dabei müssen Parteien gar keine Fonds anmelden, die nicht ihrer Finanzierung dienen. Und die Auszahlungen in bar haben einfach damit zu tun, dass viele der Erdbebenopfer ohnehin schon sehr arm und marginalisiert sind und daher keine Bankkonten haben. Es wurden jedoch alle Auszahlungen registriert, was wohl nicht passiert wäre, wenn man das Geld eigentlich heimlich für Wahlkampf- und Parteizwecke hätte verwenden wollen. Das INE hat nicht einmal seine Untersuchungen vernünftig abgeschlossen. Sie haben einfach gewartet, bis sie irgendetwas fabrizieren konnten und es dann der Presse zugespielt, um einen fiktiven Skandal zu verursachen.

Die Zapatist*innen stehen der künftigen Regierung AMLOs genauso unversöhnlich gegenüber wie den vorherigen. Und mit der unabhängigen Kandidatur von Marichuy stellte sich der Indigene Nationalkongress (CNI) klar gegen AMLOs Regierungsprojekt. Kann man da von einer linken Opposition sprechen?

Zunächst einmal ist die zapatistische Bewegung national von sehr geringer Bedeutung. Vielleicht haben sie international noch mehr Anhänger*innen, hier in Mexiko sind sie jedenfalls trotz ihrer wichtigen Impulse der 1990er-Jahre keine wichtige Stimme der Linken mehr. Gleichzeitig sind die indigenen Kämpfe um Autonomie und für den Erhalt der Umwelt lebendiger denn je. Allerdings haben aus meiner Sicht die meisten organisierten indigenen Gruppen für AMLO gestimmt und stehen seinem Projekt positiv gegenüber. In Oaxaca etwa, dem Bundesstaat mit der höchsten Quote indigener Bevölkerung, hat AMLO haushoch gewonnen. Daher glaube ich, kann man für den Moment noch nicht von einer wirklichen linken Opposition gegen die künftige Regierung sprechen. Die kann aber entstehen, je nachdem wie die Dinge nach AMLOs Amtsantritt laufen.

Wird es nicht spätestens bei der Umsetzung von AMLOs ehrgeizigen Infrastrukturprojekten, von denen viele indigene Territorien betreffen, zu Konflikten zwischen seiner Regierung und den indigenen Bewegungen kommen?

Da wird es wohl zu Widersprüchen kommen. Es kann gut sein, dass AMLOs Versprechen an Mexikos Unternehmerklasse irgendwann mit seinen Verpflichtungen gegenüber der indigenen Bevölkerung kollidieren. Allerdings sollen solche Projekte an Tischen ausgehandelt werden, an denen alle drei Gruppen Platz und eine Stimme haben: der öffentliche, der private und der soziale Sektor.
Auf jeden Fall werden diese Projekte eine Art Bewährungsprobe. Aber ich denke nicht, dass ein großer Knall dabei unvermeidlich ist. Diese organisierten Gruppen sind zwar oft sehr radikal, allerdings auch sehr pragmatisch. Sollte es Vorteile für die von ihnen vertretene lokale Bevölkerung geben, werden sie auf jeden Fall Interesse an Verhandlungen mit der Regierung haben. Zudem hat AMLO ein sensibles Gespür für solche Situationen. Es wird zwar nicht leicht, aber ich denke, dass zumeist das Gefühl überwiegen wird, dass wir alle im selben Boot sitzen und das Beste für Mexiko wollen.

Bei aller Ungewissheit, was die nächsten sechs Jahre bringen werden, die Wahl von AMLO war historisch. Was ist für Sie das Wichtigste an diesem Wandel?

Mexiko wird ab dem 1. Dezember einen Präsidenten haben, der der Bevölkerung zuhört. Das ist ein radikaler Wandel und schon allein deshalb war der Wahlsieg von AMLO und Morena ein Meilenstein. Endlich werden wir eine Regierung haben, die sich nicht mehr blind den Interessen von Washington und internationaler Geldgeber unterwirft. Viele von uns hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. In ganz Lateinamerika kamen linke Regierungen an die Macht und nur hier sollte das nie passieren? Jetzt haben wir eine historische Möglichkeit, die wir ergreifen sollten.

MEXIKO IM ÜBERGANG

Die Hoffnungen in den neuen Präsidenten sind groß Aber auch berechtig? (Foto: Robert Swoboda)

Mexiko steht vor einer politischen Zeitenwende: Mit Andres Manuel López Obrador ist – im dritten Anlauf – ein Politiker ins Präsidentenamt gewählt worden, dem man manches nachsagen kann, aber keine Korrumpierbarkeit. Zwölf Jahre lang hat er in einer Art Endloswahlkampf durch die Lande die „Mafia an der Macht“ angeprangert – gemeint waren die zunehmend kartellartig organisierte Staatspartei PRI und ihre politischen Kompliz*innen. Sie alle sind nun von Wahlberechtigten mit einer Wucht aus Ämtern, Parlamenten und Landesregierungen gespült worden, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Ein gewaltiges Aufatmen geht durch das Land. Alles Geschwätz vom drohenden Populismus – ohnehin ein (nicht nur für Mexiko) hohler Kampfbegriff ohne analytischen Mehrwert – verpuffte. Von Wahlbetrug ist zum ersten Mal seit 30 Jahren keine Rede mehr.

Aber auch die einstige Kampfansage scheint mit einem Mal in Luft aufgelöst. Schon in der Wahlnacht gab der Gewählte reconciliación, Versöhnung, als neue Devise aus. Nicht mehr der realexistierenden Mafia, sondern dem Abstraktum der Korruption wird fortan der Kampf angesagt, aus einem politischen wird ein moralischer Imperativ. Schon eine solche – von López Obrador ausdrücklich sogenannte – „Moralisierung“ der Politik ist problematisch, ebenso wie seine religiöse Semantik von „Wiedergeburt“, „Seelenheil“ und „Nächstenliebe“.

Richtiggehend fatal aber wird der Leitspruch der „Versöhnung“ angesichts der Gewaltkatastrophe, die das Land seit einer Dekade überzieht. Schätzungen zufolge sind an die 240.000 Menschen seit 2007 gewaltsam zu Tode gekommen, also erschossen, massakriert oder zu Tode gefoltert worden. Die bisher letzte offizielle Statistik räumt 37.000 Verschwundene ein, mehr als in allen südamerikanischen Militärdiktaturen zusammen. Bis zur Amtsübergabe im Dezember will der künftige Präsident nun eine Strategie der „Befriedung“ vorlegen. Manches geht bereits in die richtige Richtung: Die Sicherheitspolitik soll demilitarisiert werden, verschleppte Menschenrechtsskandale sollen endlich untersucht werden. Für einen echten Neuanfang, so behauptet López Obrador leider auch, „müssen wir lernen zu vergeben“.

So polemisch es klingen mag: „Nationale Versöhnung“ war in den 1950er Jahren die Losung von General Franco, nachdem er zehn Jahre zuvor die Spanische Republik in Schutt und Asche gelegt hatte. Und als er dann 1975 friedlich entschlafen war, war dies auch das Motto der „Übergangsregierung“, die das Land in die Demokratie führte, gepaart mit einer kommoden Amnestie für die am Massenmord Beteiligten. In Argentinien hingegen, so etwas wie ein vergangenheitspolitisches Role Model für die Nachbarländer, gab es nach Ende der Diktatur Mitte der 1980er Jahre erst einmal einen spektakulären Prozess gegen sämtliche Junta-Generäle. Zwar wurden später auch hier Schlussstrich-Gesetze verhängt, um die Militärs ruhig zu halten. Die bleierne Zeit der Straflosigkeit aber hatte ein Ende, als die Kirchner-Regierung in den 2000er Jahren den Weg frei machte, um Täter*innen und vor allem Mittäter*innen doch noch den Prozess zu machen – nicht über Sondergesetze und vor ausländischen Tribunalen, sondern in regulären Strafrechtsverfahren vor nationalen Gerichten. Das Wörtchen reconciliación kommt im Vokabular von Opfergruppen oder Menschenrechtsorganisationen bis heute nicht vor.

Natürlich ist der organisierte Staatsterror wie in Spanien oder Argentinien nicht dasselbe wie das diffuse Terrorregime, das sich in Mexiko mit der Militarisierung der staatlichen „Drogenbekämpfung“ vor über zehn Jahren etabliert hat. Kein monolithischer, krimineller Staat stand dahinter, sondern ein Geflecht aus immer weiter diversifizierten kriminellen Ökonomien und korrupten Staatsbediensteten, von einfachen Polizist*innen bis zur/zum Gouverneur*in. „Makrokriminalität“ nennen die Expert*innen diese Seilschaften, bei vielen Mexikaner*innen läuft es unter narco-estado, Drogenstaat. Korruption, die López Obrador so glühend bekämpfen will, ist tatsächlich das Scharnier, über das sich Teile des Staates mit den Kartellen verflechten. Diese Verflechtung ist kein Relikt der Vergangenheit, wie der Historiker Claudio Lomnitz feststellt, sondern geht paradoxerweise einher mit der Geschichte der politischen Pluralisierung. Denn erst mit dem Niedergang der traditionellen Einkommensquellen in den wirtschaftsliberalen 1990er Jahren verbreitete sich die „Drogenökonomie“ über das gesamte Land und suchte neue politische Interessensvertretungen. Neue und auch alte Parteien buhlten nun vermehrt um die neuen Magnat*innen, die narco-política war geboren.

Dass dieses Geflecht sich derart ungehindert ausbreiten konnte, hat aber auch mit der tief verankerten Kultur der Straflosigkeit zu tun. Schon fü das Massaker an Studierenden im Oktober 1968 wurde kein einziger Verantwortlicher jemals rechtskräftig verurteilt. Heute sind Massaker, Folter und Verschwindenlassen nicht mehr politisch, sondern ökonomisch motiviert, als Waffe im brutalen Konkurrenzkrieg um Märkte, Routen und Territorien. In einem internationalen Straflosigkeits-Index vom März 2018 rangiert Mexiko weltweit an vierter Stelle.

Um diesen Bann zu brechen, täte strafrechtliche Aufarbeitung not. Nicht nur wegen der Gerichtsurteile, sondern weil Rechtsprechung ja auch Rekonstruktion befördert. Und es gilt dringend zu rekonstruieren, wie der narco-estado funktioniert, wie sich die Epidemie systematischer Gewalt im Land ausbreiten konnte, wie sich das katastrophale Staatsversagen erklären lässt.

Die Chancen dazu stehen nicht schlecht: Im neu berufenen Kabinett sind viele als integer und kompetent geltende Köpfe versammelt. Darunter wiederum viele Frauen, wie die künftige Innenministerin Olga Sánchez Cordero, eine ehemalige Verfassungsrichterin, die für das Recht auf Abtreibung und Legalisierung von Marihuana eintritt. Es ist eine neue Garde, überwiegend unverstrickt in das gewachsene mafiöse Geflecht, die sich mit Engagement und Sachkenntnis ans Werk macht. Neu ist auch die Strategie des „Zuhörens“, zu allen möglichen Themen werden derzeit öffentliche Anhörungen und Bürger*innenbefragungen organisiert. So sind im August landesweit „Versöhnungsforen“ angelaufen, zu denen neben Expert*innen auch Gewaltbetroffene, vor allem Angehörige von Massakrierten, Gefolterten und Verschwundenen, geladen sind.

Hier aber tun sich noch gewaltige Gräben auf. Als López Obrador zum Auftakt der Foren erneut für sein Mantra der Versöhnung warb, riefen ihm erzürnte Angehörige die ganz anders lautenden Mantras der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung entgegen: Ni perdón ni olvido, „Kein Vergeben, kein Vergessen“ oder Juicio y castigo,„Gerichtsprozess und Bestrafung“. Wie fremd López Obrador diese Welt zu sein scheint, zeigt seine bizarre Reaktion: „Ich glaube nicht an Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – die befremdliche Gleichsetzung des Verlangens nach Recht und Gerechtigkeit, mit biblischen Rachegelüsten.

Übergangsjustiz lautet nun auch in Mexiko die neue Zauberformel. Gemeint ist ein Bündel von Maßnahmen, die im Übergang von einem Regime zu einem anderen, also von der Diktatur zur Demokratie, vom Bürgerkrieg zum Postkonflikt, bei der Überwältigung der massenhaften Menschenrechtsverletzungen helfen sollen. Dazu gehören juristische Sonderregeln – Amnestie oder auch Strafminderung im Austausch gegen Informationen – und Wahrheitskommissionen, „Wiedergutmachung“ und „Erinnerungskultur“.

Mexiko aber entspricht keinem Übergangsszenario, wie es im Buche steht. Es hat im 20. Jahrhundert keine Militärdiktatur erlebt und keinen deklarierten Bürgerkrieg. Von Postkonflikt kann keine Rede sein, 2017 gilt mit 25.000 Gewaltopfern als das bislang blutigste Jahr in der Terrordekade. So wirkt schon das gutgemeinte Gerede von „historischer Erinnerung“ seltsam fehl am Platz. Bei einer Gewaltkatastrophe in der Gegenwart geht es ja weniger um Vergessen als um Verdrängung, also um die Gewöhnung an den Exzess. So wollen Gewaltbetroffene, etwa Angehörige von Verschwundenen, in der Regel auch nichts von „Entschädigung“ wissen. Der Riss in ihrem Leben ist viel zu frisch, jede Aussicht auf „Wiedergutmachtung“ klingt da obszön. Am wichtigsten ist ihnen, ihre Liebsten wieder zu bekommen, wenn schon nicht lebendig, dann wenigstens die toten Körper. So hätten viele nichts einzuwenden gegen den Deal, dass Täter*innen ihr Wissen über geheime Grabstellen gegen Strafnachlässe preisgeben. Allerdings müssten dazu Mörder*innen und ihre Helfer*innen, wie in Kolumbien ehemalige Paramilitärs oder auch Guerillerxs, erst einmal glaubhaft überführt sein. In Mexiko sind die Gefängnisse voll von Menschen, die ohne Urteil oder nur aufgrund erfolterter Geständnisse hinter Gitter sitzen.

Auch gegen Wahrheitsfindung in Gestalt von Kommissionen ist selbstredend nichts einzuwenden. Nur sollte sie nicht von vorne herein zur juristischen Folgenlosigkeit verdammt sein. Denn das hat es schon einmal gegeben, als – ausgerechnet – der rechtsliberale Präsident Vicente Fox (2000-2006), der als erster eine PRI-Regierung ablöste, eine Sonderstaatsanwaltschaft zur Aufklärung der staatlichen Verbrechen der 1960er und 1970er Jahre einrichten ließ. Im Abschlussbericht ist die brutale Repression, samt Geheimgefängnissen, Foltertechniken und Verschwindenlassen, minutiös dokumentiert und im Netz frei zugänglich. Verurteilt wurde dennoch keiner der Verantwortlichen.

Natürlich geht es zunächst einmal um Eindämmung der wuchernden Gewalt. Dazu braucht es neben der dringend anstehenden Demilitarisierung wohl auch Verhandlungen mit Gewaltakteur*innen. Das ist mühsam, Rückschläge sind jederzeit möglich, wie man derzeit in Kolumbien sieht. In Mexiko hat man es nicht mit ehemaligen Guerrillerxs, sondern mit aktiven Kartellchefs zu tun, also mit Massenmörder*innen. Ein fieser Gedanke. Verhandeln aber, und das ist ein entscheidender Unterschied, ist nicht vergeben. Ein paar Monate hat die neue Truppe noch, bis sie am 1. Dezember ihre Ämter antritt. Es ist zu hoffen, dass das „Zuhören“ Früchte trägt und mit entsprechender Lernbereitschaft einhergeht. Denn auch wenn das Land der institutionalisierten Revolutionär*innen bekannt ist für seine mitunter paradoxe Politik: Sollte ausgerechnet die erste linke Regierung Mexikos den Narco-Staat in Frieden (ruhen) lassen, wäre das eine allzu böse Paradoxie.

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