„DIE FRAUEN LASSEN SICH NICHT MEHR ZUM SCHWEIGEN BRINGEN“

Mariana Yegros: Die argentinische Sängerin befindet sich gerade auf Europatournee // Foto: Guilhem Canal

Im März haben Sie Ihr neues Album Suelta herausgebracht. Können Sie uns etwas zu Ihrem neuen Album erzählen und zu dem Prozess, aus dem heraus es entstanden ist?
Ich habe zwei Jahre lang an dem Album gearbeitet, gemeinsam mit unserem gewohnten Produzenten King Coya. Unterstützt wurden wir dabei von Jori Collignon von der niederländischen Band Skip & Die sowie von Eduardo Cabra von Calle 13. Cabra ist ein großartiger Musiker, ich bewundere ihn sehr und hatte große Lust, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Lieder komponiere ich gemeinsam mit Daniel Martin und King Coya. Diesmal gibt es auch mehr von mir komponierte Lieder.

Ihr Stil ist als Digital Cumbia bekannt. Repräsentiert diese Bezeichnung die Vielfalt Ihrer Musik?
Digital Cumbia? Nein, überhaupt nicht! Das bringt mich immer zum Lachen. Ich werde auch die Königin des Nu Cumbia genannt. Ich erwidere darauf immer, dass es in meiner ganzen Discographie nur eine Cumbia gibt, nämlich „Viene de mi“. Meine Musik basiert auf anderen lateinamerikanischen Rhythmen, dem Chamamé, dem Carnavalito, der Saya, dem Rap. Es gibt gibt vielfältige Einflüsse in jedem Lied. Die Cumbia ist eine davon, aber nicht alles. Das neue Album enthält nicht eine Cumbia, es ist verrückt, dass mich die Leute darüber definieren. Wahrscheinlich, da „Viene de mi“ mein bekanntestes Lied ist. Nicht einmal „Linda la Cumbia“ ist eine Cumbia, ich habe es so genannt, um zu sehen, wer wirklich zuhört und wer Ahnung von Cumbia hat.

Manche bezeichnen Sie als Repräsentantin der weiblichen Cumbia und nennen Sie Königin der Cumbia, weil Sie eine Frau sind, der es gelang, in einer überwiegend von Männern dominierten Musikszene erfolgreich zu sein. Wie fühlen Sie sich in dieser Rolle? Glauben Sie, dass diese Betonung von Ihrer Musik ablenkt?
Nein, ich empfinde das nicht so. Es stimmt, dass vor allem in Argentinien, wo 2013 mein erstes Album erschien, nicht viele Sängerinnen bekannt waren. Dennoch habe ich das Gefühl, dass der Kern dieser Bezeichung eher mit der Cumbia selbst zu tun hat und weniger damit, dass ich eine Frau bin. Ich sage dazu, dass ich die Königin der NO Cumbia und nicht die der Nu Cumbia bin. Dass sie mich Königin nennen, finde ich ganz lustig.

Können Sie kurz erklären, woher die Idee kam, Folklore und elektronische Musik zu verbinden?
Meine Verbindung zur Folklore kommt von meinen Eltern. Mein Vater hörte viel Chamamé, meine Mutter Cumbia. Ich wuchs mit dieser Art von Musik auf, sie lief in den Barrios, wo die Arbeiter diese Lieder hörten. Meine Eltern kommen aus Misiones, an der Grenze zu Brasilien und Paraguay, und sind mit zwanzig Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Buenos Aires gezogen. Dort wurde ich geboren, hatte also schon immer Kontakt mit den Traditionen, den Wurzeln meiner Eltern. In der Hauptstadt kam ich später in Kontakt zu modernen Klängen, daraus ergab sich die Frage, wie meine Wurzeln, die Folklore, mit diesen urbanen Klängen verknüpft werden können. King Coya ist da ein Spezialist und wichtiger Referent in Argentinien. Seit 30 Jahren mischt er elektronische Musik mit Folklore, er war einer der ersten, der das gemacht hat. Es ist ein großes Glück, mit ihm zusammenzuarbeiten. King Coya kümmert sich jetzt um die musikalische Produktion, er begleitet uns auch auf der Tour und hört von außen zu. Daraus entsteht eine Homogenität, eine natürliche Harmonie zwischen der Folklore und der elektronischen Musik.

Was möchten Sie mit dieser Mischung vermitteln?
Eine der wichtigsten Botschaften ist, unsere Musik zu unterstützen, sie aus unserem Land zu tragen, damit die Leute sie kennenlernen. Der Chamamé ist zum Beispiel ein wenig bekannter Rhythmus. Ich erkläre manchmal, wie man ihn tanzt, wie er klingt, wovon er handelt. Es ist sehr melancholische Musik, es geht um die verstorbene Mutter, um die verlorene Liebe, sehr traurig und gleichzeitig sehr tanzbar. Das hat auch mit meinen Wurzeln zu tun, mein Vater zum Beispiel ist sehr melancholisch. Wir haben diese Wesensart in Argentinien, der Tango zum Beispiel zeugt von totaler Zerrissenheit, damit identifizieren wir uns sehr. Mir ist wichtig, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass auch junge Leute ihren Zugang zur Folklore finden, sie tanzen und als etwas eigenes empfinden können. Wenn du nur einen Chamamé hörst, sagst du, ach nein, das ist Musik, die mein Großvater mag, aber wenn es mit für jungen Menschen vertrauten Klängen gemischt ist, führt es dazu, dass unsere Musik erhalten bleibt, und damit unsere Tradition.

Sie haben damit begonnen, musikalische Einflüsse aus dem Nordwesten Argentiniens und andiner Musik in der Provinz Buenos Aires zu singen. Jetzt tragen Sie diese musikalischen Traditionen auf andere Kontinente, wo das Publikum sie in einer vollkommen anderen Umgebung hört. Bemerken Sie einen unterschiedlichen Effekt, den Ihre Musik an den verschiedenen Orten, an denen Sie auftreten, auslöst?
Für mich ist sogar jede Stadt eine eigene Welt. Jedes Mal, wenn wir spielen, bemerken wir einen Unterschied. In Frankreich zum Beispiel, wo wir sehr oft auftreten, erkennen wir die Unterschiede im Publikum: In der Bretagne etwa sind die Leute sehr leidenschaftlich und wenn sie dich mögen, drehen sie durch. In Deutschland haben wir eines unserer ersten Konzerte 2013 in einem kleinen Ort gespielt. Wir waren das erste Mal in Europa, niemand kannte unsere Lieder, und Deutschland hat mit unserer Musik nicht viel zu tun. Aber die Leute sind durchgedreht und haben zu getanzt, und uns zum Tanzen aufgefordert. Es passieren manchmal so verrückte Dinge an unerwarteten Orten. Es sind immer wieder Überraschungen. Man kann nicht sagen, dass es dieses eine Land gibt, was dieses und jenes vermittelt, es hängt vom Moment ab, von der Situation.

In Ihrem Lied „Sube la presión“ singen Sie „Me enteré que el arte no sólo es belleza” („Ich habe gelernt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“). Was kann Kunst sonst noch alles sein?
Das Lied ist von Daniel Martín, er hat es geschrieben und dabei an mich gedacht. In allen Liedern, die er für mich macht, versetzt er sich in mich und in meine Geschichte hinein. Deswegen beginnt das Lied mit den Zeilen „Yo soy mujer, hijita de la calle“ („Ich bin eine Frau, eine Tochter der Straße“). Es handelt davon, aus einer Gegend zu sein, in der man Kinder barfuß die Straßen entlanglaufen sehen kann, die nichts zu essen haben. Und plötzlich fliegt man um die Welt und kann überall Sushi essen gehen. Ich hatte das Glück, zu reisen und viele unterschiedliche Orte kennenlernen zu dürfen. So bekommt man einen globalen Blick auf die Welt und merkt, dass einige Menschen Hunger haben, während es anderen gut geht. In dem Vers „Ich habe gemerkt, dass Kunst nicht nur Schönheit ist“ findet sich das wieder, einerseits das Glück, durch meine Musik reisen zu dürfen und Orte außerhalb Argentiniens kennenzulernen. Andererseits bedeutet es, seine Koffer zu verlieren, mal zu spät zu kommen, wenig zu schlafen… Man muss viel arbeiten und opfern, um eine Show von neunzig Minuten zu ermöglichen, selbst wenn man darauf mal keine Lust hat. Diese Seite des Künstlerseins ist eben nicht nur schön.

Auf deinem Album findet sich auch das Lied „Tenemos voz“, eine feministische Hymne, die von der Stärke der Frauen handelt. Die feministische Bewegung in Argentinien hat jüngst viel Sichtbarkeit erlangt, und immer mehr Fälle von sexuellem Missbrauch und sogar Vergewaltigungen durch zahlreiche argentinische Musiker kommen plötzlich ans Licht. Auch ein ehemaliger Musiker von Ihnen ist angeschuldigt worden, missbräuchlich und gewalttätig gewesen zu sein. Wir sind uns bewusst, dass Sie als Sängerin nicht die Verantwortung für die Taten der Männer tragen, die mit Ihnen zusammenarbeiten. Wie gehen Sie mit dieser Entwicklung um?
Dieses Thema ist für mich, so wie für die meisten anderen Frauen wahrscheinlich auch, sehr wichtig. In Argentinien und Lateinamerika insgesamt gab es in letzter Zeit plötzlich eine große Revolution, würde ich sagen. Die Frauen lassen sich jetzt nicht mehr zum Schweigen bringen. In Argentinien stirbt jeden Tag eine Frau durch Übergriffe, Missbrauch oder Vergewaltigung, und das macht mich sehr betroffen. Natürlich bin ich mit so etwas nicht einverstanden. Wenn ich zum Beispiel vom Ausland aus sehe, dass es am 8. März in Argentinien Demonstrationen gibt, wäre ich sehr gerne dabei. „Tenemos voz“ ist meine Art und Weise, zu der Bewegung aus der Distanz etwas beizutragen. Deswegen habe ich mit Soom T zusammengearbeitet, einer schottischen Sängerin mit indischem Ursprung, einer sehr starken Stimme, die außerdem politisch und sozial sehr aktiv ist. Es war mir wichtig, dass sie dabei ist. „Tenemos voz“ ist eine Hymne, die die Nachricht verbreiten soll, dass wir nicht mehr schweigen werden und eine Stimme haben. In Bezug auf die Anschuldigung gegen einen meiner ehemaligen Musiker: Leider kann man nicht mit Sicherheit feststellen, ob diese wahr sind oder nicht. Es wurde ein rechtliches Verfahren mit Anwälten begonnen, die sich dem Thema angenommen haben. Weil mein Name in diesem Zusammenhang gefallen ist, habe ich beschlossen, nicht weiter mit dem angeschuldigten Musiker zu arbeiten, bis der Fall geklärt ist und es Beweise für seine Unschuld gibt. Oft beschuldigen Menschen andere und können dann nicht beweisen, dass wahr ist, was sie sagen.

Es ist auch oft der Fall, dass Frauen nicht geglaubt wird, obwohl die Beweislage erdrückend ist, oder dass es eine Zumutung oder manchmal sogar unmöglich ist, Beweise vorzulegen.
Ja natürlich, das stimmt. Weil ich ja nicht dabei war, kann ich es nicht wissen und mir keine Meinung bilden. Er soll sein Problem lösen, und solange die Anschuldigung besteht, möchte ich nicht, dass er mit der Band in Verbindung gebracht wird. Wenn es wirklich stimmt, was gegen diesen Musiker gesagt wird, bin ich selbstverständlich nicht damit einverstanden. Sollte die Frau irgendwann aussagen, dass sie gelogen hat, ändere ich meine Meinung, aber sonst nicht.

 

„KINDER FÜHREN MILITÄRÜBUNGEN AUS“

Gegen die Militarisierung Protest der Zivilgesellschaft // Foto: Felipe Canova, Flickr

Wie hat sich die Situation seit dem Putsch vor zehn Jahren verändert?
Auf den Putsch folgten unter anderem die Militarisierung, die Unterdrückung der Bevölkerung und eine Verschärfung der vorher schon existierenden Probleme wie Armut, Ungleichheit und eine hohe Auslandsverschuldung. Heute ist Honduras eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, Arm und Reich klaffen weit auseinander. Die Menschen migrieren zu Tausenden in Karawanen in Richtung USA, weil sie keine Möglichkeit finden, in Honduras zu überleben.
Der Staat hat seine sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben vernachlässigt. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen schätzt die Nationale Pädagogische Universität Honduras, dass mehr als 800.000 Jungen und Mädchen wegen fehlender schulischer Einrichtungen dem Schulsystem fernbleiben. Laut Schätzungen des Ministeriums für Arbeit werden täglich circa 475.000 Jungen und Mädchen wirtschaftlich ausgebeutet. Die Teenagerschwangerschaften sind dramatisch angestiegen: Laut Gesundheitsministerium sind 25 Prozent der Schwangerschaften jährlich von Minderjährigen. Gemäß einer Studie von Save the Children ist Honduras für Kinder und Jugendliche das gewalttätigste Land mit einer Mordrate von mehr als 30 Kindern pro 100.000 Einwohner.

Und was macht die Regierung?

José Guadelupe Ruelas // Foto: Honduras Delegation

Anstatt Antworten zu finden, entledigt sich der Staat seiner Verantwortung. Er konzessioniert Straßen, die Telekommunikation, den Energiesektor, Flüsse, Land und nimmt dadurch den Menschen ihre Räume. Dazu kommt das extraktivistische Wirtschaftsmodell. Honduras hat viele Konzessionen dem metallischen und nicht- metallischen Bergbau erteilt, der die Bevölkerung dazu zwingt, ihre ländlichen Gebiete zu verlassen. Außerdem wurden die Ölpalmplantagen erweitert, die sich auf den fruchtbarsten Böden befinden, gleichzeitig jedoch verringern sich die Anbauflächen von Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung. Es gibt keine integrale Strategie für eine Produktion der Grundnahrungsmittel, die auch einen Zugang zu Anbauflächen für Bauern und Bäuerinnen einschließt.

Inwiefern hat sich die Rolle des Militärs verändert und welche Folgen hat dies für Kinder und Jugendliche?
Honduras hat einen enormen Militarisierungsprozess durchlebt. Dieser beruht nicht nur auf der Sicherheitsstrategie, der Prozess reicht weit in das gesellschaftliche Leben. Es gab eine Militarisierung des öffentlichen Raumes. Per Dekret wurde die Militärpolizei gegründet, die in den Straßen patrouilliert, Anzeigen entgegennimmt und Haftbefehle gegen Zivilisten ausführt. Dazu kommt die Erhöhung des Verteidigungsbudgets, der Erlass des Tazón, einer Besteuerung der Bankgeschäfte, wobei 90 Prozent dieser Gelder in den Verteidigungshaushalt fließen. Im Jahr 1994, als es noch den verpflichtenden Militärdienst gab, gehörten ungefähr 9.000 Soldaten der Armee an. Heute, 25 Jahre nach Abschaffung des Militärdienstes, gibt es mehr als 15.000.
Die Militärpolizei bewacht öffentliche Instituti-onen, darunter auch circa 40 Prozent der Schulen. Besorgniserregend ist die Ausbildung von Tausenden Mädchen und Jungen aus armen Familien im Alter zwischen 7 bis 12 Jahren innerhalb des Programms Guardianes de la Patria („Bewacher des Vaterlandes“, Anm. der Red.). Die Kinder werden samstags von Soldaten in Themen wie Gehorsamkeit, Respekt und Werten aus Militärperspektive unterrichtet. Öffentlich bekannt wurde, dass den Kindern der Umgang mit Waffen gezeigt wird und sie Militärübungen ausführen.

Was zeichnet die Regierungen der letzten Jahre aus?
Das Regime hat an Legitimität verloren, es wird des Betruges bezichtigt und ist verfassungswidrig. Die honduranische Verfassung verbietet ausdrücklich die Wiederwahl eines Präsidenten. Im Jahr 2015 wurde ein Artikel durch die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs gestrichen, was dem aktuellen Präsidenten Juan Orlan- do Hernández zur Wiederwahl verhalf. Die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 wurden von nationalen und internationalen Akteuren kritisiert und als Wahlbetrug deklariert. Bis heute hat es die Regierung nicht geschafft, die Rechtmäßigkeit dieser Wahl nachzuweisen.
Bezeichnend sind auch die uferlose Korruption und die Verbindungen zwischen dem Regime und der organisierten Kriminalität. Unternehmer, Politiker und Polizei haben mit dem Drogenhandel Allianzen gebildet. Viele wurden bereits in die USA ausgeliefert. Dem wegen Drogenhandels in New York inhaftierte Bruder des aktuellen Präsidenten wird vorgeworfen, tonnenweise Kokain durch Honduras geschmuggelt zu haben. Es gibt Korruptionsvorwürfe gegen die Familien des vorherigen und des aktuellen Präsidenten, gegen Abgeordnete des Parlaments und Funktionäre des Staates. Letztere haben mehr als 300 Millionen US-Dollar aus dem honduranischen Sozialversicherungssystems veruntreut. Statt einer integralen Sozialpolitik, die Gesundheit, Bildung und Sicherheit einschließt, wendet das Regime eine Art Philanthropie gegen die Armut an. Dem Fehlen von Lebensmitteln begegnet es mit dem Verteilen von „bolsas solidarios“ (Lebensmittelpakete, Anm. d. Red.).
Charakteristisch ist die Brutalität des Regimes gegen die landesweiten Proteste. Durch die „Reform“ der Strafgesetzgebung wurde das Recht zu protestieren unter Strafe gestellt. Es ist nicht mehr erlaubt, vor dem Parlament oder Präsidentenpalast zu demonstrieren, generell wurden gegen friedlich Protestierende Gerichtsverfahren eingeleitet. Seit dem Wahlbetrug von 2017 gibt es wieder politische Gefangene, Menschen im Exil und viele Tote.

Wie verhält sich die Bevölkerung?
Frauenkollektive, Indigene, Afroindigene, Organisationen von Bauern und Bäuerinnen, Gemeinden, die durch den Bergbau betroffen sind, haben sich organisiert, um gegen die Ressourcenausbeutung vorzugehen. Zu Tausenden gehen sie gegen die offensichtliche Korruption, gegen die extraktivistischen Projekte, Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitssystem auf die Straße.
Die sozialen Bewegungen haben mehrere Versuche unternommen, die verschiedenen Akteure landesweit zu vereinen und die bestehenden Differenzen untereinander abzubauen. In der breiten Opposition hat sich jedoch bis heute keine legitime Führung hervorgetan, die einen gemeinsamen Kampf vereinen könnte. Die Akteure haben alle eine Forderung: den Rücktritt des Regimes, Neuwahlen, die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die Beendigung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells.

 

EIN ANDERES WELTVERSTÄNDNIS

MARÍA TERESA BLANDÓN
ist Soziologin und Mitglied der feministischen Plattform Articulación Feminista de Nicaragua sowie Gründerin der zentralamerikanischen Organisation Programa Feminista La Corriente. Sie schloss sich mit 17 Jahren dem Kampf gegen die Somoza-Diktatur an.

Foto: Harald Juch


Bereits während der Sandinistischen Revolution in den 80er Jahren gab es feministische Strömungen, die sich kritisch zur sandinistischen Befreiungsbewegung FSLN positionierten. Können Sie etwas zur Entwicklung der nicaraguanischen Frauenbewegung und zu ihrem Verhältnis zur Revolution sagen?
Für die nicaraguanische Frauenbewegung war die Verbindung zu feministischen Organisationen in Lateinamerika und der Karibik sehr wichtig. Die feministischen lateinamerikanischen Treffen, die 1981 in Kolumbien begannen und an denen bereits einige kritische sandinistische Frauen teilnahmen, waren sehr wichtig, um eine andere Erzählung zu entwickeln, einen anderen Blickwinkel, der versuchte, den revolutionären Diskurs mit den Forderungen der Frauen zu verbinden. Das war äußerst schwierig und auch der Grund, warum die Frauenorganisationen zur FSLN (ehemalige Sandinistische Befreiungsbewegung, heute regierende Einheitspartei Anm. d. Red.) zunehmend auf Distanz gingen.
Das Spannungsverhältnis, in dem die nicaraguanische Frauenbewegung zu den formalen Strukturen der Revolution stand, hatte auch mit der Ausprägung macholinken Denkens zu tun. Für die FSLN waren die Forderungen der Frauen an die Revolution und an die Gesellschaft als Ganzes zweitrangig. So war zum Beispiel Gewalt gegen Frauen kein Problem, das innerhalb der revolutionären Strukturen in Angriff zu nehmen war. Man betrachtete es als ein privates Problem und sogar als ein natürliches Recht von Männern. Organisationen, die sich öffentlich mit dieser Problematik befassen wollten, wurden sogar zensiert. Dasselbe gilt für Themen, die mit sexuellen Freiheiten oder reproduktiven Rechten und der Frage der Abtreibung zu tun hatten. Im revolutionären Diskurs der FSLN, wie auch in anderen linken Parteien in Lateinamerika, wurde die Frage der Emanzipation der Frauen nicht gestellt. Sie versuchten, die untergeordnete Rolle von Frauen in allen Lebensbereichen und allen sozialen Klassen zu ignorieren. Mit der Gründung der zentralamerikanischen feministischen Organisation La Corriente haben wir eine kritische Debatte über die ungute Ehe initiiert, die zwischen Frauenorganisationen und den Guerilla-Bewegungen in Mittelamerika bestand.

Heute erleben wir in vielen lateinamerikanischen Ländern massive Mobilisierungen zu feministischen Themen. Wie erklären Sie sich das enorme Wachstum dieser Bewegungen?
Ich denke, dass die Veränderungen nur durch die Politisierung der Lebenserfahrung von Frauen möglich wurden. Wir Feministinnen sind eine radikale Bewegung in dem Sinne, dass wir die falsche Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem in Frage stellen. Wir widersprechen einem Diskurs, der in der Öffentlichkeit nur Themen behandelt, die von Männern bevorzugt werden. Da es Männer sind, die den öffentlichen Raum, die Medien, die Gesetze, die Streitkräfte, den Staat und den Staatshaushalt kontrollieren, entscheiden sie, welche Themen in politischen Entscheidungsprozessen Relevanz haben sollen.
Das Auftauchen von Frauen in der Öffentlichkeit veränderte diese Realität. Sobald wir Frauen uns als Subjekte ernst nehmen, erreichen wir den öffentlichen Raum, aber nicht um die androzentrische Perspektive der Geschichte, der Politik, der Wirtschaft zu wiederholen. Wir bringen Themen dorthin, die für die Gesellschaft als Ganzes von entscheidender Bedeutung sind, die uns Frauen aber unmittelbar betreffen.

Können Sie ein Beispiel für ein solches Thema geben?
Wir sprechen öffentlich über unsere Reproduktionserfahrung, über erzwungene Mütter- und Schwangerschaften oder die Verweigerung des Rechts auf erwünschte und sichere Schwangerschaften.
Das Gleiche könnte man über das Thema der Gewalt sagen. Die Gewalt, die seit Jahrhunderten verschwiegen wird und deren Auswirkungen durch öffentliche Institutionen noch immer verharmlost werden, wurde nicht nur als Menschenrechtsproblem, sondern vor allem als Beweis für die enorme Asymmetrie zwischen Männern und Frauen an die Öffentlichkeit gebracht. Wir Feministinnen haben deutlich gesagt, dass wir, solange es Gewalt gegen Frauen, Mädchen, Jugendliche gibt, von Demokratie nicht sprechen können; dass die Gewalt gegen Frauen der Indikator ist, der die tatsächliche Entwicklung der formalen Demokratien anzeigt. Lateinamerika ist eine der Regionen der Welt mit der höchsten Rate an Frauenmorden. Man nennt das Feminizide, aber letztlich sprechen wir von Verbrechen der Macht: Verbrechen, die durch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen bestimmt sind.

Welche Rolle spielt das Thema der sexuellen Freiheiten innerhalb des Wachstums dieser Bewegungen?
Feministinnen hinterfragen das unrechtmäßige Vorrecht der Männer über Frauenkörper und seine Verdinglichung und den Versuch, den Körper der Frau seines eigenen Begehrens und seiner eigenen Handlungsfähigkeit auf diesem Gebiet zu berauben. Sich selbst als Mensch anzuerkennen bedeutet auch, sich selbst als Frau anzuerkennen. Ein Thema, das zutiefst revolutionär ist und alle sozialen Strukturen in Frage stellt: die intimen, die privaten, die allernächsten, die zwischen Bürgern und Bürgerinnen und Markt, aber auch unser Verhältnis zum Staat.
Der Feminismus stellt eine andere Weltsicht der Frauen dar, über ihren Platz in der Gesellschaft, die Beziehungen zu Männern, über Sexualität und weibliche Fürsorge, über den Körper, die Fortpflanzung, über Emotionalität und Subjektivität von Männern und Frauen, über kulturelle Schöpfung, Kunst, die Verwendung von Worten, Technologie und natürlich über die Rolle des Staates. Ich denke, aus diesem Grund hat in Lateinamerika und in anderen Regionen der Welt dieser Diskurs, dieses andere Weltverständnis, so viel an Kraft gewonnen. Heute haben wir eine Generation junger Menschen in Lateinamerika, die einen unschätzbaren Beitrag zur Freiheit der Frauen leisten. Diese Bewegungen bewirken bereits kulturelle Veränderungen: Veränderungen des Begriffs vom Körper und der Geschlechterbeziehungen, Veränderungen von enormer Tiefe.

Es gibt erschreckende Berichte aus Gefängnissen in Nicaragua, die von Vergewaltigungen und Folter sprechen. Wie ist es möglich, dass im heutigen Nicaragua politische Gefangene gefoltert werden?
Wir haben es damals nicht ausdrücklich genug gesagt, aber es ist nicht das erste Mal, dass die FSLN zu Folter greift. Im Kontext des imperialistischen Krieges war es einfach, diese vom Staat ausgehende Gewalt zu verbergen. Es gibt aber eindeutige Beweise dafür, dass die FSLN-Regierung in den 80er Jahren in einigen Fällen Gegner, die sie als konterrevolutionär betrachtet hat, gefoltert hat. Wir kennen auch Situationen, in denen Frauen vergewaltigt wurden, die auf der anderen Seite der Revolution standen. Ich will damit sagen, dass dies nichts Neues ist, weder in Nicaragua noch in irgendeinem anderen Land. Der Körper der Frau wird in jedem Konflikt als Kriegsbeute angesehen oder als ein Körper, an dem Hass und Grausamkeit gegenüber dem Feind ausgedrückt werden kann. In allen bewaffneten Konflikten greifen die Gegner auf sexualisierte Gewalt zurück.
Was jetzt in der Krise, die Nicaragua seit fast einem Jahr durchlebt, passiert, ist, dass diese Formen der Unterdrückung neu aufgelegt werden. Nicht nur gegen den Körper der Frau, sondern auch gegen den des Mannes, wie wir durch die Interamerikanische Menschenrechtskommission wissen. Aber auch durch öffentlich gemachte Berichte der Opfer, dass es Frauen und auch einige Männer gegeben hat, die in den Gefängnissen vergewaltigt wurden.
Wir reden über eine Logik der Macht, die den Körper der Frau als Körper betrachtet, der durch Sexualität gedemütigt und unterworfen werden kann. Diese und andere abscheuliche Erfahrungen haben Frauen in den Gefängnissen erlebt, wie die junge Frau, die fast an einer Fehlgeburt starb, um die sich die Gefängniswärter erst in dem Moment kümmerten, als sie bereits in Lebensgefahr war. Allein das spricht für die tiefe Frauenfeindlichkeit, die in den Polizeistrukturen und im Ortega/Murillo-Regime selbst verankert ist.

Wenn wir vorsichtig optimistisch sind, befindet sich Nicaragua erneut im Umbruch. Es gibt eine seit Jahrzehnten nicht mehr da gewesene Mobilisierung der Bevölkerung. Früher oder später werden Ortega und Murillo gehen müssen.
Glauben Sie, dass der Zusammenhalt der in dem zivilgesellschaftlichen Oppositionsbündnis Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB) organisierten vielfältigen sozialen Bewegungen und unterschiedlichen Interessengruppen tragfähig genug sein wird, um ein neues Gesellschaftsmodell zu gestalten?
Rational optimistisch würde ich sagen, dass im Rahmen der Plattform UNAB die feministischen Organisationen einige Möglichkeiten haben werden, Frauenrechte zu diskutieren und ungleiche Machtverhältnisse zu problematisieren.
Aber im Unterschied zu den 1980er Jahren denke ich, dass wir Feministinnen derzeit nicht sehr zuversichtlich in Bezug auf kurzfristige Veränderungen sind. Auch weil die nicaraguanische Gesell- schaft sich hinsichtlich der Anerkennung der Frauenrechte zurückentwickelt hat. Wir haben nicht allein Rückschritte bei Gesetzen und öffentlicher Politik gemacht, sondern auch die Gesellschaft an sich ist sehr stark von einem religiösen Fundamentalismus und einem tiefen Konservatismus geprägt, vom verachtenden Blick auf feminisierte Körper, der homophob und hetero-sexistisch ist und weiterhin konservative Familienmodelle proklamiert. Legale und tatsächliche Macht stimmen darin überein. Diese sexistischen und konservativen Diskurse, die von Massenmedien, Kirche und vom Markt selbst durch die Unternehmen gespeist werden, werden auch vom Staat mit viel Aufwand aufrechterhalten.
Ich denke also, dass wir den Kampf, den wir seit Jahrzehnten führen, weiterführen müssen und es gibt Themen, die Gegenstand von Kontroversen zwischen Feministinnen und der UNAB sein werden. Bereits jetzt ist schon zu sehen, dass sowohl von den Anhängern des Ortega/Murillo-Regimes als auch von seinen Gegnern zutiefst sexistische Merkmale die politische Debatte bestimmen. Ich glaube, dass den meisten Feministinnen völlig klar ist, dass wir sehr begrenzte Bündnisse haben.

In einigen Ländern hat die Frauenbewegung Gesetze erkämpft, wodurch Abtreibung liberalisiert oder Gewalt gegen Frauen unter Strafe gestellt wird. Aber unabhängig davon erleben wir, dass Gesetze die eine Sache sind, der frauenfeindliche, kulturelle Nährboden, der männliche Gewalt reproduziert, eine andere.
Es gibt jetzt ein komplexeres und auch strukturelleres Verständnis bezüglich der Schwere aller Formen von Gewalt, die auf dem Leben aller Frauen lasten: rassistische Gewalt, homophobe Gewalt, Klassengewalt. Das ist meiner Meinung nach der harte Kern des lateinamerikanischen Patriarchats, aber auch ein Beweis für den Sprung, den die feministischen Bewegungen in der Region gemacht haben, die sich gegen ein altes Problem erheben.
Die Gewalt gegen Frauen definiert einerseits unsere Kritik am Staat und andererseits die Inhalte, die wir einbringen, damit wir von demokratischen Fortschritten sprechen können. Es entstehen immer mehr Initiativen, die verhindern, dass Gewalt gegen Frauen ignoriert wird. Wir sind uns darüber im Klaren, dass Gesetze nicht ausreichen und kein Staat die Fähigkeit hat, Gewalt gegen Frauen zu stoppen. Staatliche Politik und Gesetze sind notwendig, aber wir wissen auch, dass es eine entscheidende Auseinandersetzung gibt, die in allen Bereichen der Alltagsbeziehungen gelöst werden muss: in der Familie, in Unternehmen, in den Medien, in der Wissenschaft, überall.
Wir haben den Glauben hinter uns gelassen, dass der Staat alles lösen kann. Über unsere Forderungen an die staatliche Politik haben wir erkannt, dass die strukturellen Wurzeln der Gewalt so tief sind, dass wir in Wirklichkeit alle möglichen Strategien multiplizieren und diversifizieren müssen, um einen echten Prozess der Umerziehung von Männern, aber auch von Frauen einzuleiten − derart, dass wir zu Einsichten über die Ursachen von Gewalt, aber auch zu einem echten Engagement von Individuen und sozialen Organisationen zu ihrer Beseitigung beitragen können.

 

„KEINER VON BEIDEN IST POLITISCH LEGITIMIERT”

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EDGARDO LANDER
hat in Harvard Soziologie studiert und ist emeritierter Professor für Soziologie an der Zentralen Universität in Caracas (UCV). Er gilt als einer der profiliertesten linken Intellektuellen in Venezuela und als kritischer Unterstützer des bolivarianischen Prozesses. Seine Themen sind unter anderem Kritik des Eurozentrismus, soziale Bewegungen und Neoextraktivismus in Latein­amerika.

Foto: Tilman Vogler


Seitdem sich Juan Guaidó am 23. Januar dieses Jahres selbst zum Interimspräsidenten ernannt hat, beanspruchen sowohl er, als auch Präsident Nicolás Maduro für sich, rechtmäßig im Amt zu sein. Wer ist Ihrer Meinung nach legitimiert?
Keiner von beiden. Die Regierung hat nach ihrer Niederlage bei den Parlamentswahlen 2015 beschlossen, sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten. Dabei missachtet sie die Verfassung, denn bis dahin gab es immer noch freie Wahlen, mit einem überdurchschnittlich transparenten Wahlprozess und einem Wahlsystem, mit nahezu fehlerfreier technischer Infrastruktur. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Regierung die Wahl- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der venezolanischen Bevölkerung einschränkt. Es gibt aber auch Gründe, die Position von Guaidó abzulehnen. Dieser steht für ein Projekt des Regime Change, das von außerhalb kommt. Die rechte Opposition verkennt dabei die venezolanische Realität. Denn noch immer unterstützt ein Großteil des Militärs Maduro. Und auch in der Bevölkerung gibt es noch immer einen großen Rückhalt für den Chavismus, beziehungs­weise dessen Weiterführung unter Maduro, auch wenn die Zustimmung gesunken ist.

Seit dem 7. März gab es eine Reihe landesweiter Stromausfälle. Die Regierung beschuldigt die Opposition und die USA der Sabotage. Diese wiederum bringen schlechte Wartung und Korruption innerhalb der Regierung als Grund für die Stromausfälle vor.  Was halten Sie von den Beschuldigungen und Erklärungen?
Die venezolanische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass die Anhänger beider Lager in unterschiedlichen Wirklichkeiten leben. Das macht es so schwierig, ein Thema zu verhandeln, weil es nicht nur um die Interpretation geht.
Das venezolanische Stromnetz verfällt seit Jahren. Das liegt zum einen an der Korruption und zum anderen daran, dass Militärs an die Spitze von Stromunternehmen gesetzt wurden, die überhaupt keine Kompetenzen auf dem Gebiet haben.
Auf der anderen Seite kann man aber auch davon ausgehen, dass ein Interesse besteht, diese Situation auszunutzen und der Regierung zusätzlich Probleme zu bereiten. Und ein so anfälliges Stromnetz ist eben sehr leicht anzugreifen. Ich schließe also nicht aus, dass es sich in einigen der Fälle um Sabotage gehandelt hat, aber eben begünstigt durch ein sehr anfälliges System.

Sie gehören gemeinsam mit anderen Akademiker*innen, Aktivist*innen und früheren Minister*innen unter Chávez der Bürgervereinigung zur Verteidigung der Verfassung an. Was schlagen Sie als Ausweg aus der Krise vor?
Im Moment haben wir eine Situation, in der sich zwei Kräfte in einer Freund-Feind-Logik gegenüberstehen und sich gegenseitig politisch auslöschen wollen. Um einen Krieg zu verhindern, müssen wir zu einer politischen Einigung kommen. Um das auf demokratischem, friedlichem und verfassungskonformem Weg zu erreichen, ist die beste Option ein Konsultativreferendum, das von beiden Seiten ausgehandelt werden muss. Die Bevölkerung könnte somit darüber abstimmen, ob sie Neuwahlen aller staatlichen Gewalten will.
Aus unserer Sicht würden Verhandlungen es dem Chavismo ermöglichen, sich als politische Bewegung wieder neu zu formieren und weiterhin im Land zu agieren und zu existieren. Bei einem Regime Change, der die Regierung einfach ausradieren würde, wäre das keine Option.

Was denken Sie über die Rolle der EU in Bezug auf die Situation in Venezuela?
Dadurch, dass sie Guaidó anerkannt hat, hat die so genannte internationale Gemeinschaft Verhandlungen eher erschwert als sie zu unterstützen, weil das die Fronten verhärtet. Es ermutigt die Leute, die sich hinter Guaidó versammeln, weil sie ihn durch die internationale Unterstützung als rechtmäßigen Übergangspräsidenten sehen. Maduro wiederum wird zum Beispiel weiterhin von den Regierungen Chinas und Russlands anerkannt, übt die Kontrolle über die staatlichen Institutionen aus und kann sich auf das Militär und die chavistischen Gruppen verlassen, die immer noch aktiv sind und über großes Mobilisierungspotenzial verfügen. Dass die meisten Mitgliedsstaaten der EU also nicht an Verhandlungen interessiert sind, sondern einzig daran, Maduro aus dem Amt zu befördern, ist sehr schädlich und verringert die Möglichkeiten einer Verhandlungslösung.

Sie haben sich gemeinsam mit der Bürgervereinigung im Frühjahr mit Guaidó getroffen. Warum?
Weil er gewählter Parlamentspräsident ist. Die beiden institutionellen Sektoren in dem Machtkampf bestehen aus Regierung und Nationalversammlung. Die Haltung dieser beiden Sektoren bringt Venezuela an den Rand eines Krieges. Also haben wir beiden Seiten ein Referendum vorgeschlagen und sie auf ihre Verantwortung hingewiesen. Dafür haben wir um Treffen mit Guaidó und Maduro gebeten. Das Treffen mit Guaidó wurde von vielen Linken, besonders auch im Ausland, als eine Art Anerkennung für ihn gewertet. Wir haben uns aber mit ihm in seiner Funktion als Parlamentspräsident getroffen und nicht als Staatspräsident und das auch öffentlich gesagt. Genauso haben wir einen Brief mit der Bitte auf ein Treffen mit Maduro eingereicht. Drei Tage in Folge haben wir versucht, diesen Brief im Präsidentenpalast Miraflores abzugeben. Doch sie haben ihn nicht mal entgegengenommen. Das zeigt ihre Haltung zum Dialog.

Im Februar 2016 schuf Maduro per Dekret den Minenbogen des Orinoco (Arco Minero), eine Fläche von fast 112.000 Quadratmetern für den Bergbau. Was steckt dahinter?
Aufgrund des Preisverfalls für Erdöl und dem stetig fallenden Förderniveau hat sich die venezolanische Regierung, anstatt Wege zur Diversifizierung der Wirtschaft zu finden, erneut für den Extraktivismus entschieden. In diesem Fall für den Bergbau, denn im Gebiet des Minenbogens gibt es bedeutende Vorkommen von Eisen, Aluminium, Coltan, seltenen Erden und natürlich ganz besonders Gold. Die Regierung sieht hier also das neue El Dorado mit dem die gesunkenen Erdöleinnahmen aufgewogen werden sollen. Seit ungefähr zehn Jahren gibt es einen Anstieg des illegalen Kleinbergbaus in dieser Region, der durch die Verwendung von Quecksilber nicht nur der Umwelt schadet, sondern auch negative Auswirkungen auf die dort lebenden Indigenen hat. Und nun hat die Regierung beschlossen, dies im großen Stile und unter Mitwirkung von transnationalen Unternehmen weiterzuführen.
Bisher ist die multinationale Beteiligung gering. Was nicht etwa daran liegt, dass die Regierung ihnen hinsichtlich Zollauflagen, Steuern oder Protestunter­drückung nicht genug Garantien gegeben hätte, sondern weil das ganze juristisch unter sehr unsicheren Umständen stattfindet. Es verstößt gegen die Verfassung, die Rechte der Indigenen sowie Arbeits- und Umweltrecht. Und die politische Instabilität des Landes tut natürlich ihr übriges dazu.

Steht die Gründung spezieller Wirtschaftszonen im Widerspruch zur offiziellen Politik der Regierung?
Die Entstehung des Minenbogens und das neue Gesetz, das von der Verfassunggebenden Versammlung zum Schutz ausländischer Investition verabschiedet wurde, entsprechen offensichtlich neoliberalen Interessen. Und das Beharren der Regierung auf dem extraktivistischen Modell bildet keinen Widerspruch zum globalen Wirtschaftsmodell, es stellt auch keinen Bruch mit der kolonialen Unterordnung in der internationalen Arbeitsteilung und mit der Rolle dar, die Lateinamerika historisch als Rohstofflieferant zukommt. Die Konsequenzen sind Umweltzerstörung, ein hohes Gewaltaufkommen bewaffneter Gruppen, die untereinander um das Gebiet kämpfen. Es ist ein Niemandsland, in dem alle Konflikte mit Waffengewalt ausgetragen werden. Die indigenen Gemeinden der Region sind stark von der Gewalt betroffen und viele müssen im Bergbau arbeiten, weil ihre Lebensgrundlage zerstört wird. Mädchen werden entführt und in den Bergbaulagern zur Prostitution gezwungen.

Welche Arten des Widerstands haben sich dagegen entwickelt?
Es gibt die Plattform gegen den Minenbogen, ein Kollektiv von jungen Leuten, die aktiv sind im Kampf für Umweltrechte, Demokratie und Indigenen-Rechte und die auch schon Kampagnen zur Analyse der Situation gemacht haben. Aber der Protest ist leider sehr schwierig. Erstens, weil es in Venezuela schon lange eine auf Rohstoffexporten basierte Ökonomie gibt. Der Großteil der Bevölkerung lebt aber in den Städten, also weit weg von den Orten der Förderung, wo all das passiert. Es ist kein kollektives Bewusstsein vorhanden, das so weit reicht, die Größe des Problems zu erkennen. Zweitens sind die alltäglichen Probleme und die politische Polarisierung so groß, dass nicht nur im privaten Alltag sondern auch in den Medien über andere Dinge gesprochen wird.

 

“NINGUNO DE LOS DOS TIENE LEGITIMIDAD POLÍTICA”

EDGARDO LANDER
estudió sociología en Harvard y es profesor emérito en la Universidad Central de Venezuela (UCV). Es uno de los más famosos intelectuales de izquierda en Venezuela y  crítico defensor del proceso bolivariano. Sus temas son entre otros la crítica del eurocentrismo, los movimientos sociales y el neo-extractivismo en Latinoamérica.

Foto: Tilman Vogler


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Desde que Juan Guaidó se proclamó presidente interino el 23 de enero ha estado intentado llegar a la fuerza al poder. Ahora, los dos, tanto el Presidente Maduro y Juan Guaidó, dicen ser legítimos. En su opinión, ¿goza alguno de los dos de legitimidad?

Yo creo que no, ninguno de los dos. Desde las elecciones parlamentarias del año 2015 cuando el gobierno actual perdió muy fuertemente, claramente, se decidió preservar el poder a como diera lugar. Hay realmente una ruptura del orden constitucional muy clara. Hasta el 2015 habían habido elecciones libres, había un proceso electoral extraordinariamente transparente con un sistema electoral, con todo una infraestructura tecnológica electoral, prácticamente a prueba de trampas. Ya cuando se convoca la Asamblea Nacional Constituyente se lo hace violando las normas constitucionales porque no se le preguntó a la población si quería derogar la Constitución del año 99. Cuando se nombra una Asamblea Nacional Constituyente cien por ciento del gobierno esta Asamblea se autoproclama una Asamblea Plenipotenciaria, es decir, supraconstitucional, o sea, una Asamblea todo poderosa sin contrapeso alguno, lo que implica la derogación de la constitución del 99. No hay nada que esa Asamblea pudiese hacer que fuera anticonstitucional porque se había asumido como supraconstitucional. Entonces, ya a partir de ese momento no hay Constitución.

Efectivamente hay un gobierno que viene violando paso a paso las elecciones de una forma ya muy sistemática desde el 2015 y cerrando todos los canales posibles de consulta de la población en Venezuela. Por otro lado, con respecto a la postura de Guaidó hay razones también para rechazarlo como una salida viable. Este proyecto de cambio de régimen es un proyecto que está diseñado desde afuera. El sector más de derecha, la actual oposición, en este caso dirigido por Voluntad Popular, supone que el gobierno es un gobierno que está a punto de caer y que para eso sólo hace falta un empujoncito final. Esto efectivamente no es lo que está ocurriendo. La derecha tiene un desconocimiento muy grande de la realidad venezolana. No ven que la mayoría de la Fuerzas Armadas Venezolanas continua apoyando a Maduro y el hecho de que a pesar de que el apoyo popular chavista al gobierno hoy es muy inferior a lo que fue en épocas anteriores, éste, sin embargo, sigue existiendo.

 

Desde el 7 de marzo comenzaron una serie de apagones de luz en todo el país. El gobierno acusa a la oposición y a los Estados Unidos de sabotaje. Por otro lado, la oposición los explica por el mal mantenimiento, descuido y corrupción del gobierno. ¿Qué piensa Usted de estas explicaciones y de las acusaciones mutuas?

En Venezuela la sociedad está tan polarizada, que parecen dos mundos divididos que se retroalimentan y, a la vez, se cierran sobre sí mismo. Cada uno de los sectores vive en su propio mundo con una interpretación de una realidad propia. Entonces, eso hace extremadamente difícil el abordar un asunto tan crítico para la sociedad venezolana como es la crisis eléctrica porque no es solo un asunto de interpretación sino un asunto de los datos mismos.

Durante ya varios años el sistema eléctrico venezolano vive un proceso de franco deterioro. Esto tiene que ver en primer lugar con la corrupción y el nombramiento de militares como jefes de la Empresa Eléctrica, quienes no tienen competencias en el ámbito. Pero, por otra parte, uno también puede suponer que hay un interés claro en aprovechar la situación para generarle dificultades al gobierno, y un sistema eléctrico tan precario es muy fácil de sabotear. Yo por eso no descartó que en algunos de los últimos acontecimientos haya habido saboteo, pero en todo caso, el saboteo se ha dado sobre la precariedad del sistema.

 

¿Cómo ve Usted que la polarización política afecta a los venezolanos?

El tejido social de la sociedad venezolana se ha descompuesto de una forma dramática durante estos años. Hay familias que se han roto como familia, que no pueden convivir como tales. En mi experiencia, por ejemplo, en la vida universitaria, equipos de investigación y colectivos de trabajo que durante muchos años venían trabajando juntos, han llegado al punto de perder la capacidad de trabajar conjuntamente por los enfrentamientos políticos, se ha generado una desconfianza mutua.

 

Usted pertenece junto con otros activistxs, académicxs y exministrxs del Presidente Chavez a La Plataforma en Defensa de la Constitución de la República Bolivariana de Venezuela. ¿Cuál es su propuesta como salida a la crisis?

En el contexto actual, nos encontramos, por un lado, con un gobierno que intenta mantenerse en el poder sin importarle a qué precio, usando para ello la represión sistemáticamente y, por otro lado, con la opción de una salida violenta con apoyo militar de parte de los Estados Unidos, sumado a los bloqueos económico. En este momento se está manejando una lógica de amigo-enemigo, dos fuerzas que se oponen e intentan eliminarse entre sí. Por eso, desde la plataforma pensamos que evitar la guerra requiere necesariamente algún acuerdo político. Un acuerdo político que busque una salida que sea democrática, pacífica, electoral y constitucional, lo más cercano que existe es la oportunidad de un referéndum consultivo.

Desde la plataforma pensamos que en lugar de esta lógica de amigo-enemigo y de este intento de eliminar al otro, es necesario partir del reconocimiento del otro. Este reconocimiento implica la aceptación de la existencia del otro, implica reconocer que el otro también tiene intereses, también tiene la necesidad de sobrevivir. Es también reconocer la posibilidad de un referéndum en el que se plantee la pregunta sobre una posible renovación de todos los cargos nacionales. Esto significarían elecciones presidenciales, elecciones para la Asamblea Nacional con el nombramiento, entonces, de un Consejo Nacional Electoral y un nuevo Tribunal Supremo de Justicia que permitan reordenar el juego político y en esas nuevas condiciones, hacer esas nuevas elecciones.

Una salida negociada puede ofrecer al gobierno la posibilidad de una continuidad del proyecto político bolivariano a futuro. Algo, que sería muy difícil si se mantiene esta lógica en la que el cambio de régimen se da a través de la eliminación de una de las partes.

 

¿Qué piensa Usted del rol de la Unión Europea?
A través del reconocimiento de Guaidó por la mayoría de los países de la Unión Europea, lejos de empujar hacia una salida negociada, se están creando obstáculos aún más severos para un posible acuerdo. Están envalentonando a la gente que se organiza en torno a Guaidó, porque con este reconocimiento le otorgan el apoyo internacional para considerar a Guaidó y a los que lo acompañan como gobierno legítimo. Por otra parte, el gobierno de Maduro sigue contando con un apoyo fuerte. No solo el apoyo de China y Rusia, sino que sigue contando con el control de las instituciones del estado y con las Fuerzas Armadas, así como con una militancia chavista que sigue siendo activa, fuerte y con capacidad de movilización. Entonces, estos países que reconocen a Guadió ponen el énfasis en la salida inmediata de Maduro. Con esto hacen mucho daño, porque dificultan cualquier posibilidad de negociación.

 

La Plataforma también se reunió con Juan Guaidó, ¿con qué fin?

Estos dos sectores están representados institucionalmente por un lado el presidente de la República y por otro la Asamblea Nacional. Las políticas de estos dos sectores son las que están generando esta amenaza de guerra. Decidimos plantearle a ambas partes la propuesta del Referéndum llamándoles la atención sobre la responsabilidad que ambos sectores tienen con respecto a la forma en la que están conduciendo estas políticas.

Decidimos pedir una reunión con Guaidó y Maduro por separado. Tuvimos la reunión con Guaidó que fue interpretada por mucha gente de la izquierda, sobre todo de la izquierda fuera de Venezuela, como una especie de reconocimiento de Guaidó. Nosotros nos reunimos con él por su posición como presidente de la Asamblea Nacional pero no en tanto presidente de la República. Esto lo dijimos públicamente.

Igualmente presentamos una carta solicitando la entrevista con Maduro. Durante tres días seguidos llevamos la carta a Miraflores, las tres veces, ¡se negaron incluso a recibir la carta! Ésta es la disposición que tienen para dialogar.

 

En febrero del 2016 fue creado el Arco Minero del Orinoco, una zona de casi ciento doce mil kilómetros cuadrados para la explotación minera. ¿Qué se encuentra detrás de este proyecto?

Como consecuencia de la baja del precio del Petróleo, en primer lugar, y del progresivo colapso del nivel de producción, en segundo lugar, el gobierno venezolano en vez de reconocer el fin de la era del rentismo y buscar otras rutas, otras direcciones de la economía, optó por un nuevo rentismo, el rentismo minero. En esta zona del arco minero hay inmensas reservas de minerales de todo tipo: hierro, aluminio, coltán, tierras raras, minerales radioactivos y sobre todo oro. Entonces el gobierno decidió que esto era como el nuevo “El Dorado” y que era posible sustituir la baja del ingreso petrolero por grandes ingresos a través de esta vía. Ya durante los últimos diez años anteriores, más o menos, ha habido un incremento de la minería ilegal, irregular, en esta zona minera en pequeña escala, la cual había hecho mucho daño ambiental. El uso de mercurio y la devastación ecológica también impactó sobre los pueblos indígenas de la zona. Y ahora el gobierno se decide a convertir esto a gran escala con la participación de empresas transnacionales.

La participación de las transnacionales en este proyecto ha sido bastante limitada. Y esto no por las condiciones que ofrece el gobierno, sino por el hecho de que hay una extrema inseguridad jurídica. En primer lugar, porque todo esto representa una violación de la constitución: de la Ley de Pueblos Indígenas, la Ley Laboral, las Leyes Ambientales, y, en segundo lugar, por la inestabilidad política del país obviamente.

 

¿Considera que la creación de esta zona económica especial está en contradicción con la política oficial del Gobierno?

Hay una contradicción muy fuerte entre el contenido de la constitución y lo que efectivamente es la política que está llevando a cabo en el gobierno. Las condiciones con la que se creó el Arco Minero, así como la nueva ley aprobada por la Asamblea Nacional Constituyente de protección de la inversión extranjera son claramente decisiones neoliberales. Entonces, la orientación general del gobierno en términos del extractivismo, claramente no representa una ruptura con el modelo económico global, no representa una ruptura con la intercesión colonial y no representa tampoco un quiebre con el rol clásico que se le atribuye a América Latina como exportadora de materias primas.

Quiero insistir que hoy hay un proceso de devastación muy, muy severo. Hay unos niveles de violencia increíble en una especie de terreno de nadie donde todos los conflictos se resuelven por la vía de las armas. Hay un atropello muy violento sobre las comunidades indígenas de la zona y hay muchos indígenas que están metidos a la minería porque sus condiciones de vida están siendo devastadas y no les va quedando más remedio. Hay niñas indígenas que son raptadas y llevadas a la prostitución en los campos mineros.

 

¿Cuáles manifestaciones o grupos de resistencia se han formado en contra?

Existe por ejemplo la “Plataforma en contra del Arco Minero” que es un colectivo de gente fundamentalmente joven que viene de luchas ambientales, pero que también luchan por la democracia y por los derechos de los pueblos indígenas. Esta gente ha venido realizando campañas sistemáticamente para analizar esta situación. Sin embargo, el día a día de la situación venezolana y la sobre-determinación de la polarización política hacen muy muy cuesta arriba que exista la posibilidad de una consciencia política más ampliamente compartida en este asunto.

DER SCHULDENDIENST HAT PRIORITÄT

Omar Everleny Pérez Villanueva
ist ehemaliger Leiter des Studienzentrums der kubanischen Wirtschaft (Centro de Estudios de la Economía Cubana – CEEC) an Havannas Universität und arbeitet derzeit als freier Analyst. Der 1960 geborene Wirtschaftswissenschaftler plädiert für zügigere Reformen und sieht derzeit erste Ansätze dafür unter dem neuen Präsidenten Miguel Díaz-Canal.

Foto: Knut Henkel


Kuba macht derzeit eine Versorgungskrise durch. Nachdem im Dezember Mehl und Brot knapp wurden, fehlt es inselweit an Speiseöl und an Devisen, um die nötigen Importe zu tätigen.
Ja, und das hat die Regierung bereits Ende 2018 bei der letzten Sitzung des Parlaments angekündigt. Die Importe müssen reduziert werden, weil nicht ausreichend Devisen zur Verfügung stehen. Hintergrund ist, dass die Exporte in den letzten Jahren eingebrochen sind, sowohl beim Zucker als auch bei anderen Produkten. Dieses einkalkulierte Geld fehlt heute, und deshalb ist Kuba weder in der Lage, seine Auslandsschulden zu bedienen, noch das Importniveau aufrechtzuerhalten. Das hat die Regierung entsprechend angekündigt, und Priorität hat die Bedienung dieser Schulden.
Das ist nachvollziehbar, denn sowohl der Pariser Club als auch Russland sind der Regierung in Havanna weit entgegengekommen, haben einen Großteil der Schulden erlassen, diese umgeschuldet und klare Zahlungsziele für die Restschulden vereinbart. Die will Kuba bedienen, um auf dem internationalen Finanzmarkt nicht erneut zum Aussätzigen zu werden und nur noch Zugang zu teuren Risikokrediten zu haben. Die Bedienung der Auslandsschulden hat seitdem Priorität, auch wenn es schwerfällt.

Die Einnahmen im Tourismus steigen nicht ausreichend?
Nein, denn die Touristenzahlen steigen zwar, aber die Einnahmen stagnieren. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die Zahl der Kreuzfahrttouristen zugenommen hat. Die bringen aber wenig Geld in die Kassen, denn sie essen in der Regel an Bord und übernachten auch dort. Folgerichtig bringen sie kaum Geld.
Hinzu kommt, dass die Zuckerrohrernte 2018 erneut eingebrochen ist und nur noch 1,1 Millionen Tonnen Zucker produziert wurden – in etwa das Doppelte war geplant. Ein weiterer Faktor ist, dass im vergangenen Jahr der Vertrag mit Brasilien, wo rund 8000 kubanische Ärzte im Einsatz waren, gekündigt wurde. Das hat zu Einbußen von 300 bis 400 Millionen US-Dollar in der Staatskasse geführt, die nicht kompensiert werden konnten. Zudem wirkt sich die politische und ökonomische Krise in Venezuela negativ aus, denn es kommt weniger Erdöl nach Kuba als früher. Derzeit sind es etwa 50.000 Barrel täglich, früher war es das Doppelte. Das große Problem in der Regierung ist, dass weniger Devisen in der Kasse sind.

 

Fast leere Regale Die Versorgungskrise macht sich bemerkbar (Foto: Knut Henkel)

 

Raúl Castro hat vor ein paar Tagen angekündigt, dass die finanzielle Situation schwierig ist und gleichzeitig bekräftigt, dass die sich abzeichnende Krise nicht vergleichbar wäre mit jener zu Beginn der 1990er Jahre. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, denn die Strukturen der kubanischen Wirtschaft haben sich deutlich verändert. Ein Teil der Bevölkerung verfügt heute über ganz andere finanzielle Möglichkeiten als früher.

Für die Regierung hat der Schuldendienst Priorität gegenüber der Versorgung der eigenen Bevölkerung?
Ja, gerade weil die Gläubiger auf bis zu 90 Prozent der Altschulden wie im Falle Russlands verzichtet haben; allerdings pochen sie auf verbindliche Zahlungen für die Restschulden.

Die USA verschärfen die Sanktionen. Anfang April hat die US-Regierung mehreren Schifffahrtsgesellschaften Sanktionen angekündigt, deren Tanker Rohöl aus Venezuela nach Kuba transportieren. Droht eine Energiekrise auf der Insel?
Das ist eine Entscheidung, die sich in den nächsten Monaten negativ auswirken kann. Bisher ist aber die Versorgung mit Benzin in Kuba stabil und auch bei der Stromversorgung läuft alles normal. Das kann sich aber ändern. Allerdings gibt es auch Optionen für Dreiecksgeschäfte, so dass Russland in die Bresche springen könnte, um die Versorgung Kubas aufrechtzuerhalten. Ich hoffe, dass der Schlag der USA nicht so gravierend werden wird. Zudem gibt es die Option aus Algerien oder Angola Erdöl zu beziehen. Aber natürlich ist die Entscheidung aus dem State Department eine neue Herausforderung für Kuba.

1990 hat die ökonomische Krise die ganze Bevölkerung hart getroffen – ist das 2019 anders?
Oh ja, die kubanische Gesellschaft ist heute deutlich stärker ausdifferenziert. Besitzer eines paladar (kubanisches Restaurant) oder einer Bar werden von der Krise nicht so heftig getroffen wie ein Mitarbeiter in einer staatlichen Fabrik – da gibt es immense Unterschiede. Die Zahl der Menschen, die direkt vom Staat und seinen Arbeitsplätzen abhängt, ist deutlich geringer als früher.

Für den Privatsektor könnte sich die Krise negativ bemerkbar machen, wenn es an Produkten fehlt, die für ein Restaurant, für eine Bar oder für den Klempner an der Ecke notwendig sind, oder?
Ja, das ist richtig. Engpässe bei der Lebensmittelversorgung wirken sich auch auf das Angebot in den Restaurants aus, aber die sind es gewohnt zu improvisieren.

Die USA haben den Artikel III des Helms-Burton-Gesetzes in Kraft gesetzt. Damit haben US-Bürger seit 2. Mai die Möglichkeit, gegen ausländische Unternehmen auf Entschädigung zu klagen, die Eigentum nutzen, das nach der Revolution 1959 in Kuba enteignet wurde. Wer mit solchem Eigentum gehandelt hat, soll kein US-Visum mehr bekommen. Wie beurteilen Sie das?
Das ist eine politisch motivierte Maßnahme. Wie die sich in der Realität auswirken wird, muss man abwarten, denn die Kubaner, aber auch ihre Partner sind seit Jahren auf die Implementierung dieses Artikels vorbereitet. Warum? Weil das Helms Burton Gesetz seit 1996 existiert und es viel Zeit gab, sich mit dem Artikel III zu beschäftigten. Zudem denke ich, dass die Umsetzung mit einer Klagewelle einhergeht, die erst einmal lange Jahre keine direkte Auswirkung haben wird.
Zudem gehe ich davon aus, dass große Hotelgruppen wie Melía oder Iberostar aus Spanien sich sehr genau überlegt haben, ob sie ein Hotel übernehmen oder dort bauen, wo es us-amerikanische Ansprüche gibt. Das Gros der Neubauten im Tourismussektor wurde auf Grundstücken errichtet, die aus der Perspektive des Gesetzes „unbelastet“ sind. Natürlich werden die Anwälte in den USA nun aktiv werden, aber ich denke nicht, dass es schnell gravierende Auswirkungen geben wird. Zudem werden sich die Europäer zu wehren wissen und die spanische Regierung wird ihre Tourismusunternehmen nicht hängen lassen.

Aber wird sich durch den Artikel III nicht das Investitionsklima in Kuba eintrüben?
Das ist wahrscheinlich, denn alle Unternehmen werden genau kalkulieren, ob sich der Aufwand lohnt, wenn es derart viele Dinge zu bedenken gibt, wenn man in Kuba investieren will. Insofern ist der Artikel III eine zusätzliche Hürde, aber das gilt zum Beispiel nicht für neue Investitionsstandorte wie Mariel, wo Kubas Freihandelszone mit speziellen Bedingungen lockt.

Wie entwickelt sich Mariel? Es sind doch gerade mal 17 Unternehmen, die dort bisher produzieren.
Ja, aber man kommt voran, die Freihandelszone wird wichtiger.

Welche Initiativen erwarten Sie angesichts der Versorgungsprobleme von der kubanischen Regierung?
Die Regierung hat angekündigt, dass sie reagieren wird. Großmärkte sollen nun wirklich für die Privaten eröffnet werden, Gesetze, die kleine und mittlere Unternehmen fördern sollen, sollen nun endlich kommen. Die ökonomische Situation zwingt dazu, und Präsident Miguel Díaz-Canel hat sich in den vergangenen Monaten flexibel gezeigt und angekündigt, dass er das Reformtempo erhöhen wird. Warten wir es ab.

Schon der frühere Präsident Raúl Castro äußerte, dass die anstehende Währungsreform „nicht länger hinausgeschoben“ werden könne. Wird Díaz-Canel das doppelte Währungssystem antasten.
Nein, das ist zu komplex, denn es existieren mehrere Wechselkurse im Land. Aber Aussagen, dass keine Unterschiede mehr gemacht werden zwischen staatlichen und privaten Unternehmen, sind neu und interessant.

Wichtig wäre es, die Agrarwirtschaft zu reanimieren. Wo liegen die Hürden?
Ich denke, dass das staatliche Ankaufsystem „Acopio“ ein Bremsklotz ist, aber die Bauern müssen auch in die Lage versetzt werden Agrartechnik kaufen zu können: Gerät, Werkzeug, Saatgut – all das fehlt. Die neuen Traktoren, die man im Land sieht, gehören den staatlichen Unternehmen. Doch die privaten sind es, die 95 Prozent der Zwiebeln, des Knoblauchs im Land produzieren – ihnen muss man endlich helfen. Großmärkte für Agrarinputs fehlen, und darüber haben wir schon vor neun Jahren diskutiert.

 

KEIN WIDERSPRUCH: FEMINISTISCHER REGGAETON

Romina Bernardo
Romina Bernardo, die sich mit dem Spitznamen Choco vorstellt, produziert, singt und schreibt seit 2013 feministischen Reggaeton. Ihr Bandprojekt Chocolate Remix ist mittlerweile fester Bestandteil der feministischen Partyszene Argentiniens. Im Sommer 2019 wird sie wieder auf diversen Bühnen in Europa stehen, unter anderem beim offtheradar-Festival in Deutschland. (Foto: Sabrina Mosca)


 

Dein Feminismus beginnt mit Reggaeton. Wie passt das zusammen?
Reggaeton ist die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Und im Reggeaton geht es um Sex. Erst einmal ein gutes Thema. Nur funktioniert das Reden über Sex im Reggaeton klassischerweise so, dass ein Hetero-Cis-Typ erklärt, was Frauen wollen. Dabei wird er von Tänzerinnen umrundet, die nur der Dekoration dienen, nie selbst eine Stimme haben und nicht ausdrücken, was ihnen wirklich gefällt. Ich dachte mir: Gut, let‘s talk about sex. Und zwar über lesbischen Sex und darüber, wie Frauen untereinander ihre Lust definieren. Der Rhythmus des Reggaeton an sich ist weder machistisch noch feministisch. Es kommt darauf an, was wir daraus machen.

Bist du damit die Erfinderin des feministischen Reggaeton?
Es gab auch schon vorher Frauen im Reggaeton, die sich nicht unbedingt als Feministinnen bezeichneten und keinen theoretischen Background hatten, dafür aber super feministische Attitüden. Ive Queen zum Beispiel. Einer ihrer Hits hieß „Pa la cama voy”. Es geht darum, dass sie tanzt, wie sie will, und das heißt nicht automatisch, dass sie mit einem Typen im Bett landen muss. Anfang der 2000er lief das Lied auf jeder Party. Ich hatte damals keine Ahnung, was Feminismus bedeutet, und erst rückblickend fällt mir auf: Wow, Ive Queen war voll die Feministin!

Dein Zugang zu Feminismus war also auch nicht theoretisch?
Nein, gar nicht. Ich bin in Tucumán in einer Familie der unteren Mittelschicht aufgewachsen. Über Feminismus wurde in Argentinien bis vor kurzem nur in sehr begrenzten akademischen Kreisen gesprochen. Auf jeden Fall nicht bei uns im Barrio in der Provinz. Aber ich habe mich schon sehr früh in der Öffentlichkeit als Lesbe gezeigt, bin als Lesbe auf Reggaeton-Partys gegangen und alle Nicht-Heteros wissen, was das bedeutet: Damit wird deine gesamte Existenz politisch. In dieser Zeit entstand auch mein Spitzname Choco, eine Anlehnung an den Begriff torta, der in Argentinien für Lesben genutzt wird. Meine Auseinandersetzung mit Feminismus begann über die Musik und mit Chocolate Remix.

Und deine Musik hat anfangs nicht zu den Vorstellungen akademischer Feminist*innen gepasst.
Genau, mit meinen ersten Auftritten auf feministischen Partys habe ich viele Mittelschichtsfeministinnen schockiert. Reggaeton war an der Uni und in der Politik als stumpf und „mackermäßig“ verpönt. Ich wurde als antifeministisch kritisiert, weil ich mit Tänzerinnen in sexy Outfits auftrat. Frauen in Hotpants wurden als Opfer des Patriarchats abgestempelt, die nicht merken, dass sie nur Sexobjekte sind. Alles Erotische und „Feminine“ wurde aus feministischen Kontexten verbannt. Ich fand, dass diese Logik zu kurz greift. Sexualisierte Körper sind für mich nicht per se schlecht. Fragwürdig ist, wie diese sexualisierten Körper vom Patriarchat vereinnahmt werden. Meine damalige Partnerin war eine der Tänzerinnen bei diesen Auftritten. Wenn ich sie und ihre Freundinnen im Barrio tanzen sah, dann war das für mich ein krasser Ausdruck von Macht und Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

Mittlerweile trittst du auf nahezu jeder feministischen Party in Buenos Aires auf. Wie kam es dazu?
Mit der Zeit haben die Theoretiker*innen die Situation analysiert und sagen, okay, Reggaeton kann auch feministisch sein. Und plötzlich wird das, was wir schon immer gemacht haben, Body Positivity genannt. Diese unterschiedlichen Auffassungen von Empowerment haben auch etwas mit sozialen Klassen zu tun. Reggaeton war seit den 90ern ein kultureller Ausdruck der Arbeiter*innenklasse. Für Akademiker*innen, die zur Uni gehen, ist es eben nicht erstrebenswert, in Hotpants die Partys im Barrio zu rocken.

Choco von Chocolate Remix Steine, die das Patriachat wirft, mit der Zwille zurückschießen (Foto: Norman Ullua)

Für alle diejenigen, die mit Cumbia und Reggaeton die Partys im Barrio rocken, hast du den Song „Como me gusta a mi“ geschrieben. Was willst du damit ausdrücken?
Mich faszinieren die Dinge, die von der bürgerlichen Moralvorstellung abweichen. Die Begriffe Cumbiachera und Reggaetonera sind stark mit Stereotypen besetzt und urteilen darüber, was sich gehört und was nicht. Dabei wird übersehen, wie viel Power diese Menschen haben. Ich will mit meiner Musik vor allem sagen: Leute, es ist viel Wert den Menschen im Barrio zuzuhören.

Im vergangenen Jahr wurdest du mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert, weil du als weiße Frau einen Musikstil vertrittst, der ursprünglich aus der afrokaribischen Community kommt. Wie stehst du heute zu dieser Kritik?
Ich kannte zum Zeitpunkt der Kritik das Konzept der kulturellen Aneignung nicht und musste mich erst damit auseinandersetzen. Es stimmt, über Rassismus wird in Argentinien kaum gesprochen. Der Begriff „negro“ wird in Bezug auf sozial schwache Gruppen benutzt. So habe ich den Begriff auch in einem Song verwendet. Heute stimme ich der Kritik zu: Dass Schwarzsein ein Synonym von Armsein ist, zeigt, wie tief der Rassismus in unserer Gesellschaft verankert ist. Ich habe mich daher entschieden den Songtext zu verändern. Ich hoffe, die Diskussionen um meinen „Fall“ tragen dazu bei, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die schwarzen Communitys in Argentinien größtenteils in extrem prekären Verhältnissen leben. Ganz konkret müssen wir uns in der Musik nicht nur über die Repräsentation von FLTIQ*-Personen Gedanken machen, sondern genauso darauf achten, dass Künstler*innen aus der Afro-Community Zugang zu Festivals und zur Produktion von Musik bekommen.

Aber du machst weiter Reggaeton?
Das ist natürlich eine Riesendebatte. Wer darf welche Musik machen, wer darf sich was aneignen, wer darf sich mit welcher Identität bezeichnen? Ich verstehe, dass die Kritik und das Aufzeigen von kultureller Aneignung wichtig ist, um auf die historischen Ungerechtigkeiten hinzuweisen, der schwarze Communitys ausgesetzt waren und immer noch sind. Außerdem bin ich mir bewusst, dass ich “weiß” bin und daher mit vielen Privilegien durchs Leben gehe. Aber ich muss nur meine Eltern anschauen, um zu wissen, dass auch ich indigene Vorfahren habe. Und ehrlich gesagt, sobald es biologistisch wird, finde ich die Argumentation verkürzt. Ich bin in einem Kontext aufgewachsen, in dem Reggaeton die Musik war, die meine Identität geprägt hat, und im kolonialen Kontext von Argentinien habe ich keine andere Musik, die mich mehr repräsentieren würde.

In Argentinien werden derzeit viele Dinge infrage gestellt, die früher „normal“ waren. Feministische Themen werden mittlerweile in allen Fernsehtalkshows behandelt, es wird offen über die Legalisierung von Abtreibung gesprochen, Frauen und Queers wehren sich gegen dumme Sprüche auf der Straße. Einer deiner Songs heißt „Ni una menos“, “Nicht eine weniger”, was sich auf Feminizide bezieht. Was bedeuten die feministischen Mobilisierungen der letzten Jahre für dich?
Ich habe das Lied nach der ersten Ni Una Menos-Demo 2016 geschrieben. Diese Demo markiert einen historischen Moment, einen Paradigmenwechsel. Eine so breite politische Bewegung, deren Forderungen Eingang in politische Agenden und in die Medien finden, hat es in Argentinien lange nicht gegeben. Und diese Bewegung geht über die akademischen Kreise hinaus. Feminismus ist gerade das Thema, das Jugendliche politisiert. An jeder Straßenecke sieht man 14-Jährige mit einem grünen Tuch, das die Legalisierung von Abtreibungen symbolisieren soll. Das ist großartig.

Neben Liveauftritten legst du auch auf. Läuft auf diesen Partys auch „Mackerreggaeton“?
Auf jeden Fall! Ich versuche es so zu sehen: Das ist eben der musikalische Stil der Zeit, in die ich reingeboren wurde. Musikalisch finde ich vieles großartig, die Reime, der Flow des Freestyles, auch wenn es Machos sind. Letztlich kann man alles umdeuten. Es gibt Partys, auf denen kein Mann ist und die anwesenden Frauen und Queers sich die Musik aneignen, um auf ihre Art sexy miteinander zu tanzen und sich gegenseitig zu stärken. Das ist, als würde man die Steine, die das Patriarchat auf uns werfen wollte, mit einer Zwille zurückschießen.

“EINE ANERKENNUNG WIE NIE ZUVOR”

 Para leer en español, haga clic aquí.

(Foto: Martin Schäfer)

AUCÁN HUILCAMÁN
ist Jurist und Sprecher (Werkén) der Mapuche-Organisation Consejo de todas las tierras (Rat aller Gebiete). Er beschäftigt sich damit, wie die Mapuche internationale Beziehungen und Rechtsnormen für den Kampf um ihre Rechte nutzen können. Er nimmt am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren des UN-Menschenrechtsrates teil, in dessen Rahmen Chile 2018/2019 turnusgemäß zur Anwendung internationaler Rechtsnormen in Bezug auf die indigenen Völker überprüft wurde.


 

In welcher Rolle und Funktion innerhalb der verschiedenen Mapuche-Organisationen Chiles sind Sie gerade in Europa und was ist Ihre Vision?
Ich wirke schon lange am Allgemeinen Periodischen Überprüfungsverfahren in Genf mit. Außerdem beschäftige ich mich mit der Ausarbeitung von internationalen Rechtsnormen, die die Rechte der indigenen Völker und im Besonderen der Mapuche schützen. Das geht also über die Vertretung von Interessen bestimmter Mapuche-Gemeinschaften hinaus. Erklärungen der Vereinten (UN) und der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) besagen, dass die indigenen Völker ein Selbstbestimmungsrecht haben und daher ihre politische Verfassung bestimmen können. Die Mapuche sind aufgefordert, dieses Recht auszugestalten. Wir müssen die internationale Gemeinschaft auf die künftige Bildung einer Mapuche-Regierung in Ausübung dieses Rechts vorbereiten, damit eine solche Regierung international anerkannt wird. Das sehe ich als meine Aufgabe an. Außerdem möchte ich alle Mapuche einladen, an dem Prozess der freien Selbstbestimmung mitzuwirken. Sich daran zu beteiligen oder nicht, ist eine freie Entscheidung, die jeder zunächst für sich selbst treffen muss. Sobald jemand entscheidet, mitzuwirken, ist der nächste Schritt, zu sagen, welche Rolle er spielen möchte, sobald es zur Bildung einer Regierung kommt.

Wie soll die Vorbereitung einer Regierungsbildung unter den Mapuche ablaufen?
Es gibt den Prozess einer verfassunggebenden Versammlung der Mapuche, im November 2016 gab es eine erste Sitzung. Wir haben etwa die Frage diskutiert, ob wir eher eine Regierung im Sinne der Mapuche-Tradition möchten, eine in der Form üblicher zeitgenössischer Regierungen oder eine Mischung aus beidem. Wichtig ist, dass eine solche Regierung auch auf der internationalen Ebene effektiv wäre. Warum eine verfassunggebende Versammlung? Wir wollen, dass unsere künftige Regierung Legitimität genießt. Wenn es soweit ist, werden wir UN und OAS um eine formale Anerkennung bitten. Falls sie dies ablehnen, müssten sie gegen ihre eigenen Prinzipien verstoßen. Die Idee einer verfassunggebenden Versammlung ist, anders als traditionelle Konzepte der Mapuche, universell verständlich und zeigt der Welt, dass es sich bei der neuen Regierung nicht um eine Aktion einzelner Personen handelt, sondern um einen öffentlichen Prozess. Es muss keine Mehrheit der Mapuche mitmachen, aber wichtig ist, dass das Anliegen legitim ist und es keinen Einfluss der chilenischen Regierung und Parteien gibt. Bei der ersten Sitzung haben wir Leitlinien festgelegt, nun bereiten wir ein zweites Treffen vor, bei dem wir über die Inhalte eines Selbstbestimmungs-Statuts sprechen werden. Nachdem es ausgearbeitet ist, muss entschieden werden, wann die Regierung gebildet werden soll.

Wie hoch ist die Beteiligung, kommen die Teilnehmer*innen aus bestimmten Gemeinschaften?
Ich schätze, etwa 300 Gemeinschaften beteiligen sich an dem Prozess. Es müssen Personen mit der nötigen Mentalität und den Fähigkeiten zum Regieren sein. Am Anfang war es nur eine kleinere Gruppe, da nur wenige Mapuche sich mit diesem Thema beschäftigen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir Mapuche einem langen Prozess des Kolonialismus und der Unterwerfung ausgesetzt waren, der uns Schaden zugefügt hat. Nicht alle Mapuche denken daher aus der kollektiven Perspektive heraus. Und natürlich gibt es Mapuche, die sich mehr mit unserer juristischen Verteidigung befassen oder dem Protest gegen Unrecht, wie anlässlich des Todes von Camilo Catrillanca. Das ist wichtig, aber nicht ausreichend, weil es nur eine Reaktion auf das Verhalten des Staates ist. Die Bewegung muss auch Zukunftsperspektiven entwickeln. Ich habe mich darum gekümmert, diese Thematik, die zuvor etwas isoliert war, in die Gemeinschaft der Mapuche zu tragen.

Gibt es Schwierigkeiten bei diesem Prozess?
Ein Problem ist, dass der individuelle Wille vieler Mapuche häufig eher politischen Parteien, dem Staat, der Kirche oder einer Sekte verpflichtet ist als dem kollektiven Handeln. Oder es wird lediglich gegen die aktuelle Regierung protestiert. Ob es nun die Rechte oder die Linke ist, die auf die Mapuche nicht angemessen eingeht, letztlich waren wir Mapuche bisher kollektiv ineffizient. Um das Selbstbestimmungsrecht zu nutzen, müssen wir selbst aktiv werden.

Wie hat sich der Mord an Camilo Catrillanca auf die Bemühungen ausgewirkt?
Unter den Mapuche hat die Bewegung, die sich um die Rechte des Volkes bemüht, nun eine festere Position. Heute hat die Mapuche-Bewegung gegenüber Staat und Gesellschaft in Chile eine immense Anerkennung erreicht, die es so zuvor nicht gab: Als Präsident Piñera und mehrere Minister nach dem Mord kamen, wollten die Mapuche sich nicht mit ihnen treffen, eine seit der „Befriedung der Araucanía“ (die Unterwerfung der Mapuche durch den chilenischen Staat im 19. Jahrhunderts) einzigartige Brüskierung. Das ist ein wichtiges Kapital. Die Regierung wird weiter auf ihrem „Plan Araucanía“ bestehen, aber die Militarisierung ist für sie ein komplexes Thema. Ich denke nicht, dass die Regierung bedeutende Maßnahmen ergreifen wird, weil der Fall Catrillanca eine Zäsur darstellt. Vor dem Mord hatte ich etwa ein Treffen mit mehreren Ministern organisiert, wir sprachen – erfolglos – über die Umsetzung von Empfehlungen nationaler und internationaler Einrichtungen zum Schutz der Menschenrechte sowie über die politische Beteiligung mittels reservierter Parlamentssitze. Dann kamen die Ereignisse um Camilo Catrillanca und ab da hat es keinen weiteren Kontakt zur Regierung mehr gegeben.

Gibt es dadurch nun eine größere Einheit unter den Mapuche? Die verschiedenen Gruppen haben ja sehr unterschiedliche Strategien.
Angemessener fände ich zu sagen, dass es jetzt es eine größere Übereinstimmung bei bestimmten Themen gibt. Und die Selbstbestimmung ist ein Thema, bei dem wir alle zusammenkommen können, weil es uns verbindet. Die Schattenseite der jetzigen Situation ist, dass wir aufgrund des Fehlens staatlicher Maßnahmen und seitens der Mapuche von Interesse am Dialog mit der Regierung in ein Szenario größerer sozialer Konflikte geraten könnten. Die Regierung von Präsident Piñera könnte uns in der Araucanía in eine ethnische Konfrontation stürzen, wie sie es in Europa auf dem Balkan gab, und diese Art der Konfrontation ist komplexer als jene mit einem Polizisten.

Würden Sie sagen, dass die langjährigen internationalen Bemühungen etwas bewirkt haben?
Sie haben eine Menge bewirkt. Auf der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz war es 1993 noch ein Novum, dass fünf indigene Vertreter wenige Minuten sprechen durften, und die Regierungen lehnten das Selbstbestimmungsrecht ab. Bei der UN-Vollversammlung 2007 wurde es dann beschlossen. Ich war bei beiden Konferenzen dabei und damals selbst überrascht und bewegt. Außerdem haben OAS und UN anerkannt, dass Verträge wie der von Quilín, in dem 1641 den Mapuche von Spanien ein unabhängiges Territorium südlich des Bío-Bío Flusses zugesprochen wurde, gültig sind. Wir haben also erreicht, dass die Verträge, die der chilenische Staat ignoriert hatte, wieder zu einer Norm des Völkerrechts wurden. In der UN-Erklärung heißt es außerdem, dass die Parteien auf die internationale Gerichtsbarkeit zurückgreifen können, wenn es eine unterschiedliche Auslegung der Verträge gibt. In unserem Fall wären das der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte oder der internationale Gerichtshof in Den Haag. Daher könnten wir Mapuche heute, wenn wir die kollektiven Fähigkeiten dazu hätten, unser Land beanspruchen und diese Frage in Den Haag zur Prüfung vorlegen.

Wie realistisch sind diese Pläne? Haben Sie ein Vorbild, bei dem das indigene Selbstbestimmungsrecht erfolgreich umgesetzt wurde?
Den Inuit in Grönland wurde dieses Recht von Dänemark schrittweise gewährt, und anders als bei der Dekolonialisierung afrikanischer Länder, die arm in die Unabhängigkeit entlassen wurden, hatte sich Dänemark verpflichtet, die neue Regierung über einen längeren Zeitraum finanziell zu unterstützen. Das ist im Sinne der UN-Erklärung von 2007, die festlegt, dass indigene Völker Anspruch auf angemessene Entschädigung für ihnen „ohne ihre freiwillige und in Kenntnis der Sachlage erteilte vorherige Zustimmung” abgenommenes Land haben. Die Inuit nehmen inzwischen weitreichende Rechte wahr, von der Verantwortung für die Polizei bis zur Verfügung über die Rohstoffe. Das scheint mir ein gutes Beispiel zu sein.

Wie könnte für Chile bestimmt werden, wie eine angemessene Entschädigung aussieht?
Das könnte entweder einer der beiden internationalen Gerichtshöfe entscheiden oder es könnte durch eine Wahrheitskomission geklärt werden.

Mapuche-Gemeinschaften haben zuletzt vor einigen Monaten eine solche Wahrheitskommission gefordert. Was verbirgt sich dahinter?
Es ist notwendig, über eine von allen Seiten anerkannte Wahrheit über die historischen Geschehnisse in der Araucanía zu verfügen. Bisher hat jeder seine eigene Wahrheit: Ein europäischer Auswanderer, der in Chile Mapuche-Land erhalten hat, glaubt, dass Geschichte und Recht bei seiner Ankunft beginnen. Jemand, der während der Pinochet-Ära Mapuche-Land gekauft hat, glaubt, dass sie bei seinem Kauf beginnen. Die Mapuche sehen das anders, also brauchen wir für eine Verständigung eine gemeinsame Version der Ereignisse. Darauf aufbauend müssen Entschädigungen an die Opfer geleistet werden, seien es Mapuche oder andere. Schließlich müssen wir akzeptable Institutionen für das Zusammenleben von Mapuche und Nicht-Mapuche schaffen, um einen festen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Zur Aufarbeitung der Militärdiktatur wurden damals die Rettig-Kommission und die Valech-Komission gebildet. Jetzt muss der Staat eine ähnliche Komission für die Araucanía einrichten, denn er ist verantwortlich für das, was dort passiert ist. Dabei muss klar bestimmt werden, um welche Zeitspanne es geht – die Kolonialzeit, die Zeit nach der Unabhängigkeit oder die Pinochet-Ära? Und es muss definiert werden, welche Geschehnisse genau geklärt werden sollen. Bei einer ersten, von Präsident Lagos im Jahr 2000 zu diesem Thema einberufenen Wahrheitskomission wurde das leider nicht gemacht. Und dort ging es auch um die anderen indigenen Völker Chiles, die deutlich kleiner sind und andere Bedingungen hatten. Es kam also nichts Greifbares heraus, und anstatt die Verantwortung des Staates für das Unrecht anzuerkennen, stand im Abschlussbericht, dass die Gebiete der Mapuche verloren gingen, weil sie kein Spanisch konnten und die Gesetze nicht kannten, d.h. sie wurden beinahe selbst für ihre Enteignung verantwortlich gemacht. Ich war damals als Mitglied der Komission nicht damit einverstanden.

 

DIE STRAFLOSIGKEIT DURCHBRECHEN

Foto: Tobias Lambert


 

Santiago Aguirre
ist Menschenrechtsanwalt und Vizedirektor des renommierten Menschenrechtszentrums Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Centro ProDH). Im Mai wird er dessen Leitung übernehmen. Aguirre ist Mitglied der Wahrheitskommission, die den Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa aufklären soll, die am 26. September 2014 in Iguala auf dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschwunden sind. Die Polizei hatte sie entführt und einem lokalen Drogenkartell übergeben.


 

Seit dem 1. Dezember 2018 hat Mexiko mit Andrés Manuel López Obrador (AMLO) einen Präsidenten, der sich links der Mitte verortet. Welche Erwartungen setzt die Menschenrechtsbewegung in den Regierungswechsel?
López Obrador hat die Wahl am 1. Juli vergangenen Jahres inmitten einer schweren Krise der Menschenrechte gewonnen. Der mexikanische Staat schützt seit jeher die Mächtigen anstatt verwundbarer Gruppen wie Indigene oder Frauen. Doch als der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 den Krieg gegen die Drogen ausrief, kehrten Verbrechen zurück, die wir eher aus den 1970er Jahren kennen. Seit 2006 zählen wir 40.000 Verschwundene in Mexiko. Hinzu kommen ein Anstieg der Folter und Tötungen durch das Militär. Mit der Wahl López Obradors war die Erwartung verbunden, dass dieser strukturelle Reformen einleitet, die die Menschenrechtssituation verbessern.

Auch wenn es für eine fundierte Bilanz noch sehr früh ist: Welche Akzente zeichnen sich in der Menschenrechtspolitik bisher ab?
Positiv ist, dass sich die Regierung einiger der emblematischsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen angenommen und die Opfer um Vergebung gebeten hat. Bei dem zentralen Thema der Verschwundenen hat die Regierung eine neue Politik angekündigt. Dazu zählt die Einrichtung einer Wahrheitskommission im Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Aber es gab auch negative Entwicklungen wie die Gründung der militarisierten Polizei Guardia Nacional.

Beide Kammern des Kongresses haben dem Vorhaben bereits zugestimmt. Welche Kritik haben Sie an der Errichtung der Guardia Nacional?
Diese neue Polizei setzt sich maßgeblich aus den Reihen des Militärs zusammen. Und obwohl der Präsident angekündigt hat, dass die Guardia Nacional Rechenschaft ablegen wird und keine Menschenrechte verletzen soll, stärkt deren Gründung in erster Linie das Militär. Die Erfahrung der letzten 15 Jahre zeigt aber, dass dort, wo die Kompetenzen des Militärs ausgeweitet werden, die Menschenrechtsverletzungen zunehmen.

Wenn es der Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtslage geht, warum stärkt sie dann nicht eine zivile Polizei?
Die Vorgehensweise der Regierung hat die Menschenrechtsbewegung überrascht. Aus der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen gab es einige Vorschläge, wie Sicherheitskräfte umgestaltet werden könnten. Und während der Wahlkampagne hat López Obrador die Menschenrechtsverstöße seitens des Militärs kritisiert und sich dafür eingesetzt, dass das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren soll. Seinen Meinungsumschwung begründet er damit, dass die zivilen Polizeieinheiten vollständig korrumpiert seien. Aber das greift zu kurz, denn auch das Militär hat Korruptionsfälle und Unterwanderung durch die Drogenkartelle vorzuweisen.

Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Regierung ein, die seit 2006 eskalierende Gewalt in den Griff zu bekommen?
Der Präsident hat gesagt, dass er den Krieg gegen die Drogen beenden will. Als erste Maßnahmen erwägt er die Legalisierung einzelner Substanzen und will die Sozialpolitik für Jugendliche ausbauen. Bisher handelt es sich aber nur um Vorschläge, während die Schaffung einer militarisierten Polizei eindeutig in eine andere Richtung geht. Entscheidend wird aber sein, wie Regierung und Justiz mit den zu erwartenden Menschenrechtsverletzungen seitens der Guardia Nacional umgehen werden. Ob diese also tatsächlich Rechenschaft ablegen muss oder Täter aus den Reihen des Militärs wie bisher straffrei davon kommen. Doch solange die USA als zentraler Markt für die Drogen nicht ihre Politik des Prohibitionismus beenden, wird es in Mexiko Gewalt geben.

Für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen ist Mexiko eines der gefährlichsten Länder weltweit. Seit 2012 gibt es für diese Gruppen ein eigenes Schutzprogramm. Wie ist dessen Bilanz?
Aufgrund der hohen Anzahl von Morden an Menschenrechtsverteidigern und Journalisten hat die damalige Regierung unter Enrique Peña Nieto diesen Schutzmechanismus geschaffen. Doch wurden seitdem weiterhin Menschen ermordet, darunter auch mehrere, die bereits unter Schutz standen. Und nicht immer konnten die Betroffenen ihrer Arbeit weiter nachgehen. Auch dieses Jahr ist es bereits zu Aggressionen und Morden gekommen, ohne dass die Regierung darauf bisher ausreichend reagiert hat. Vor allem aufgrund der verbreiteten Straflosigkeit greift der Mechanismus nicht richtig. In den meisten Fällen von Mord oder Bedrohungen wird entweder gar nicht ermittelt oder die Hintermänner bleiben unbehelligt. Die neue Regierung muss das Schutzprogramm stärken und gegen die Straflosigkeit vorgehen.

Bereits am 3. Dezember hat López Obrador das Dekret unterzeichnet, mit dem er eine Wahrheitskommission für den Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa geschaffen hat. Sie selbst nehmen daran als Menschenrechtsanwalt teil. Welche Bedeutung hat die Kommission für Mexiko?
Dass wir in Mexiko heute 40.000 Verschwundene haben, ist eines der zentralen Probleme des Landes. In der Gegenwart gibt es kein Land Lateinamerikas, in dem derart viele Familien vom gewaltsamen Verschwindenlassen betroffen sind. Teilweise suchen diese in ländlichen Regionen eigenhändig nach Massengräbern. Alle Fälle sind wichtig, doch nicht alle zeigen derart deutlich die Strukturen hinter der Straflosigkeit in Mexiko auf, wie der Fall Ayotzinapa. Bei diesem versuchte die Vorgängerregierung bewusst, den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern. Die Familien der 43 verschwundenen Studenten setzten sich vier Jahre lang dafür ein, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie trafen sich mit López Obrador bereits während des Wahlkampfs, dann während der Übergangsperiode im September zum vierjährigen Jahrestag des Verbrechens und Anfang Dezember bei der Schaffung der Wahrheitskommission.

Wie arbeitet die Wahrheitskommission konkret?
Ihr gehören Familien der Opfer, Menschenrechtsorganisationen und Regierungsvertreter an. Seit Januar treffen wir uns monatlich. Auf politischer Ebene soll die Kommission die Hindernisse beseitigen, die einer Aufarbeitung des Falles entgegenstehen. Technische Unterstützung leisten die Vereinten Nationen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Was uns jetzt noch fehlt ist eine Sonderstaatsanwaltschaft, die sich den strafrechtlichen Aspekten des Falls widmet. Es gibt keinen vorgeschriebenen Zeitrahmen, aber wir glauben, dass sich nach einem Jahr zeigen wird, ob es substanzielle Fortschritte gibt oder nicht. Wenn wir es schaffen, die Straflosigkeit zu durchbrechen, wird daraus eine klare Botschaft zur Stärkung der Menschenrechte hervorgehen. Wir könnten dadurch exemplarisch aufzeigen, dass in dem Mexiko, das wir uns wünschen, weder Lügen noch Straflosigkeit toleriert werden. Das käme nicht nur den Familien der Verschwundenen, sondern dem ganzen Land zu Gute.

Bei dem Polizeieinsatz gegen die Studenten aus Ayotzinapa kamen auch G36-Gewehre von Heckler & Koch zum Einsatz. Diese hätten allerdings gar nicht in den betroffenen Bundesstaat Guerrero geliefert werden dürfen, da aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation keine Exportgenehmigung der Bundesregierung vorlag. Das Landgericht Stuttgart verurteilte den schwäbischen Waffenhersteller im Februar deshalb zu einer Strafzahlung von 3,7 Millionen Euro und verhängte Bewährungsstrafen gegen zwei ehemalige Mitarbeiter*innen. Zwei ehemalige Geschäftsführer wurden jedoch freigesprochen (siehe LN 537). Wie bewerten Sie das Urteil?
Der ganze Prozess gegen Heckler & Koch ist ein hoffnungsvolles Beispiel dafür, was die deutsche und mexikanische Zivilgesellschaft sowie kritische Journalisten erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. Denn ansonsten wäre der Fall gar nicht publik geworden. Mir ist bewusst, dass es in Deutschland eine wichtige Debatte darüber gibt, dass möglicherweise mitschuldige Personen freigesprochen wurden. Doch im Gegensatz zu Mexiko war es in Deutschland möglich, den Fall vor Gericht zu bringen, öffentlich darüber zu debattieren und die Opfer sichtbar zu machen. In Mexiko hingegen gibt es nicht einmal Ermittlungen, obwohl korrupte mexikanische Behörden in die illegalen Waffenlieferungen ebenso verstrickt sind.

 

OHNE FREILASSUNG KEIN DIALOG

Foto: MRS


 

SUYÉN BARAHONA
Präsidentin der Partei Movimiento Renovador Sandinista (MRS).
Die Partei MRS wurde im Mai 1995 gegründet. Ihr erster Präsident war Sergio Ramírez Mercado. 2008 wurde ihr durch das Ortega-Regime die Anerkennung als juristische Person entzogen. Politisch definiert sie sich als sandinistische demokratische Linke. Sie ist Mitglied in der Frente Amplio por la Democracia (FAD), die ihrerseits dem breiten Zivilgesellschaftlichen Einheitsbündnis Azul y Blanco (UNAB) angehört.
Foto: MRS


 

Vor Aufnahme des derzeitigen Dialogs gab es bereits am 16. Februar 2019 ein Treffen zwischen Vertreter*innen des nicaraguanischen Großkapitals und der politischen Führungsspitze unter Beteiligung der Kirchen. Dieses Treffen fand hinter verschlossenen Türen statt und hinter dem Rücken der Nicaraguaner*innen. Bedeutet diese Geheimniskrämerei, dass der Unternehmerverband − immerhin Mitglied in der Oppositionsbündnis Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) wie auch die rechtskonservative liberale Partei (PLC) − nach Strategien suchen, sich der sozialen Bewegungen zu entledigen?
In den Vorschlägen des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses Azul y Blanco (UNAB) ist davon die Rede, dass die Opfer am Verhandlungsprozess teilnehmen müssen. Es ist verständlich, dass die ACDJ bereits begonnen hat, Treffen mit dem Komitee der politischen Gefangenen abzuhalten und auch Treffen mit der „Assoziation der Mütter des April” (ein Zusammenschluss von Frauen, die ihre Kinder bei den gewaltvollen Proteste verloren haben, Anm. d. Red.) plant, um sich über diese Fragen zu einigen. Es gab natürlich ein großes Interesse gerade bei den Müttern, am Verhandlungsteam beteiligt zu sein und es sind auch einige von ihnen vertreten. Aber es ist auch so, dass sie, wie auch die Bauernbewegung, nur als Stellvertreter dabei sind. Wir stehen außerdem vor dem Problem, dass diejenigen, die für die Bauernbewegung im Dialog (beim ersten Dialog im Mai 2018, Anm. d. Red.) vertreten waren, jetzt inhaftiert sind, ein Teil der Bauernbewegung im Exil lebt oder Menschen getötet wurden. Daher ist das Ende der Unterdrückung und die Freiheit der politischen Gefangenen so wichtig. Es müssten andere an diesem Tisch sitzen. Vor allem die Bauernbewegung − wenn ihre Führung befreit würde − verdient einen Platz am Verhandlungstisch.

Teilnehmer*innen am gegenwärtigen Dialog sind aufseiten der Zivilallianz ACJD Vertreter*innen der Wirtschaftsverbände, Akademiker*innen, Politiker*innen und Studierende. Das UNAB, das mit weit über 60 Organisationen einen repräsentativen Querschnitt der nicaraguanischen Gesellschaft darstellt, ist dagegen nicht vertreten, weil es viele Bedingungen gestellt hat, die nicht erfüllt wurden. Kann man auch von einem fehlenden Konsens innerhalb der Oppositionsbewegung sprechen?
Es gibt folgendes klarzustellen. Die Zivilallianz ACJD ist Teil der UNAB. Seit wir, die UNAB, beschlossen haben, uns zu organisieren, sprechen wir in unserer Gründungserklärung immer von einer friedlichen und dialogorientierten Lösung sowie von der Unterstützung der ACJD als zukünftige Verhandlungsführerin, sollte es einen Dialog geben. Es ist also nicht so, dass die UNAB nicht zur Teilnahme eingeladen wurde, sondern sie hat stets erklärt, dass die ACJD an einem zukünftigen Dialog teilnehmen solle.
Zwischen der ACJD, der UNAB, der nicaraguanischen Bevölkerung und der Opposition gibt es einen Konsens darüber, dass eine Reihe von Vorbedingungen erfüllt werden müssen. Wir haben erklärt, dass es notwendig ist, alle politischen Gefangenen freizulassen, die Repression, Schikanen, Drohungen und Inhaftierungen zu beenden und unser Recht auf freie Mobilisierung und freie Meinungsäußerung ausüben zu können, was uns derzeit verweigert wird. Und dass es äußerst wichtig ist, dass die Menschenrechtsorganisationen ins Land zurückkehren. Die ACJD tritt dafür in den Verhandlungsprozess ein. Es gab hundert politische Gefangene, die nicht freigelassen, sondern aus dem Gefängnis in den Hausarrest entlassen wurden. Als UNAB bestehen wir daher weiterhin auf die Erfüllung der Bedingungen für einen Dialog, der zu Ergebnissen und einem Ausweg aus der Krise führen kann. Es kann keinen Dialog geben, der kein inklusiver Dialog ist, der − solange die Repression anhält − weder Ergebnisse noch Wirkung zeigt. Wir haben außerdem gefordert, dass es transparente Kommunikationskanäle zwischen der Bevölkerung, der UNAB und der ACJD gibt. Aber wir haben den Dialogführern auch unser Vertrauensvotum mitgegeben für eine Agenda, deren Kernstücke eine Wahlreform, vorgezogene Wahlen und Gerechtigkeit für die mehr als 400 Ermordeten sind. In den kommenden Tagen werden wir in der Lage sein, die Verhandlungsbereitschaft von Daniel Ortega zu beurteilen und zu sehen, wovon die Erfüllung unserer Vorbedingungen und unseres Wunsches nach der Präsenz internationaler Bürgen für Verhandlungsergebnisse abhängt.

Ungeachtet des Beginns der aktuellen Dialogrunde gehen Entführungen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und die Gewalt und Misshandlungen in den Gefängnissen weiter. Wie kann man Vertrauen in einen Einigungsprozess mit dem Regime haben, solange fundamentale Bürgerrechte, das Demonstrationsrecht und die Pressefreiheit ständig verletzt werden?
Wir haben kein Vertrauen, fordern aber weiterhin die Freilassung der politischen Gefangenen. Der einzige Weg, wie dieser Dialog Früchte tragen und zu einem friedenbringenden und gerechten Ausweg führen kann, ist die Freilassung der politischen Gefangenen sowie die Aufhebung aller Gerichtsurteile. Wir, ihre Anwälte zusammen mit dem Komitee für die Freiheit der politischen Gefangenen, haben alle Fälle untersucht und die Rechtswidrigkeiten sind von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) dokumentiert. Jeder Fall hat gezeigt, dass es keine Rechtsgrundlage für die Inhaftierung von mehr als 770 politischen Gefangenen gibt. Einige hatten seit Monaten ihre Entlassungsverfügung, waren aber nicht freigelassen worden. Ein wahnsinniger Missbrauch. Es gibt andere, die drei Monate lang ohne Anklage im Gefängnis saßen. Menschenrechte sind unverhandelbar. Unser Recht auf Freiheit, unser Recht, nicht getötet, nicht gefoltert zu werden, unser Recht auf Mobilisierung, unser Recht auf freie Meinungsäußerung, ist unverhandelbar.
Wir haben in Ortega kein Vertrauen, denn er geht nicht aus Wohlwollen in die Verhandlungen, sondern weil er weiß, dass die Situation unhaltbar ist und dass es notwendig ist, einen Ausweg zu finden.

Bei rund 100 Demonstrant*innen, die in den Gefängnissen La Modelo und La Esperanza inhaftiert waren, wurden die Gefängnisstrafen in Hausarrest umgewandelt, ohne die anstehenden Prozesse aufzuheben.
Sie wurden nach Hause gebracht und bedroht, viele von ihnen sind immer noch bedroht. Das Regime ließ durch das Innenministerium eine Liste dieser 100 Bürger mit Namen, Adressen und anderen persönlichen Daten verbreiten. Damit fordern sie zu Gewalt gegenüber diesen Personen auf. Wir befürchten, dass sie nicht nur angegriffen, sondern auch von Regierungsbeauftragten ermordet werden könnten. Daniel Ortega ist bei der derzeitigen Dialogrunde nicht anwesend, er hat andere geschickt. Das hat für viel Unzufriedenheit gesorgt. Die Delegierten von Daniel Ortega in diesen Verhandlungen sind Personen ohne Entscheidungsfähigkeit, ohne Entscheidungsspielraum.

Angenommen die Verhandlungen scheitern an der fehlenden Bereitschaft des Regimes, die Vorbedingungen zu erfüllen und die ACJD zieht sich zurück. Was würde das für die politische Lage bedeuten?
Ich glaube, dass sich die nicaraguanische Bevölkerung nicht demobilisieren wird. Sie wird weiterhin auf vielerlei Art Widerstand leisten. Wenn es keine Fortschritte gibt, wird die internationale Gemeinschaft sicherlich auch weiterhin Druck auf Daniel Ortega ausüben. Daniel Ortega würde dann noch stärker isoliert. Wir werden bestimmt an den Punkt kommen, an dem er versteht, dass es eine Verhandlungslösung geben muss. Wir sehen mehr Sanktionen auf das Regime zukommen, zum Beispiel individuelle Sanktionen für diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Und genau das erwarten wir auch von Europa.

 

“DIE MILIZ IST KEINE PARALLELSTRUKTUR – SIE IST DER STAAT!”

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(Foto: Privat)

JOSÉ CLÁUDIO SOUZA ALVES

Soziologe und früherer Konrektor der Staatlichen Ländlichen Universität von Rio de Janeiro (UFRRJ), forscht seit 26 Jahren zu den Milizen. Er ist Autor des Buches „Von den Drogenbaronen zu den Todesschwadronen: Die Geschichte der Gewalt in der Baixada Fluminese“. Im Interview mit dem brasilianischen Online-Medium Agência Pública erklärt er den Ursprung der Milizen und ihre Verflechtungen mit der Politik.


 

Wie entstanden die Milizen in Rio de Janeiro?
Sie haben ihren Ursprung in der brasilianischen Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985. 1967 entstand die Militärpolizei, eine sehr offensive Truppe, die die Militärs unterstützte. Kurz darauf erschienen die Todesschwadronen: Gruppen aus Militärpolizisten und anderen Mitarbeitern von Sicherheitsbehörden, die als Auftragsmörder operierten. Diese Todesschwadronen arbeiteten in den 1970er Jahren mit Hochdruck. Während der achtziger Jahre erhielten die Mordkommandos zivile Leitungen, die gute Verbindungen zu den Vertreter*innen des Staates besaßen. Mit der Wiederherstellung der Demokratie in den 1990er Jahren begannen genau diese Killer, sich in politische Ämter wählen zu lassen.
In den umliegenden Städten von Rio gab es von 1995 bis 2000 einen Prototyp der heutigen Milizen von Rio de Janeiro, deren Anführer*innen aus städtischen Landbesetzungen kamen. Seit den 2000er Jahre sind die Milizionäre so aufgestellt wie heute: Militärpolizisten, Zivilpolizisten, Feuerwehrleute, und Sicherheitsleute, die dort agieren, wo es früher Drogenhandel gab; gleichzeitig schaffen sie sich eine Machtstruktur über die Eintreibung von Gebühren, den Verkauf von öffentlichen Dienstleistungen oder Gütern, wie Trinkwasser, Müllentsorgung oder Grundstücken.

Haben die Milizen Rückhalt in der Bevölkerung?
Die Miliz tritt mit der Begründung auf, dass sie in die Gemeinden komme, um sich dem Drogenhandel entgegenzustellen. Aber mit der Zeit wird der Bevölkerung klar, dass die Miliz sich gegen sie richtet – sie tötet. Außerdem kontrolliert sie nach und nach den lokalen Handel. Das macht der Bevölkerung Angst und sie unterstützt die Miliz weniger.

Was ist die Geschichte von Rio das Pedras, wo das „Verbrechensbüro” aktiv war?
Rio das Pedras ist eine expandierende Gemeinde, wo sehr arme Menschen leben, die aus dem Nordosten des Landes stammen. Es gibt dort nur wenig Grundstücke, die man bebauen kann, viele davon mit ungeregeltem Landbesitz. Die Milizen besetzen und legalisieren sie – manchmal sogar über die Stadtverwaltung, indem sie Steuern für diese Immobilien bezahlen – und verkaufen sie dann.

Gab es in Rio das Pedras die erste Miliz von Rio?
Nein, das kann man so nicht sagen. Meiner Einschätzung nach sind die Milizen an verschiedenen Orten in der Region gleichzeitig entstanden. Noch nicht als Prototyp, sondern mit lokalen Führungsfiguren, die über Gewalt eine autoritäre Form politischer Kontrolle ausübten. In Rio das Pedras passierte aber alles schneller, dort begann die Forderung von Schutzgeldern. Die Gemeinde sah sich einer Gruppe Milizionäre gegenüber, die sie schützen und verhindern sollte, dass der Drogenhandel eindringt. Aber in Wirklichkeit sollten sie die kommerziellen Interessen der Geschäftsinhaber, die sich in Rio das Pedras niederließen und diese Gruppe finanzierten, schützen.

Wie viele Milizen gibt es heute in Rio de Janeiro?
Ich weiß, dass es viele sind. In praktisch jedem Gemeindebezirk in der Region um Rio de Janeiro sind Milizen präsent.

Wie häufig sind Todesschwadrone wie das „Verbrechensbüro”?
Ich habe noch nie von einer Miliz gehört, die keine Hinrichtungen durchführt. Normalerweise hat eine Miliz ein Team für Exekutionen. Wenn etwas nicht mit den Interessen der Miliz übereinstimmt, wird dieser bewaffnete Flügel aktiviert, um zu töten. Was neu bei den Milizen ist, ist die Palette der Dienstleistungen, die sie neben den Hinrichtungen und dem Sicherheitsdienst anbieten. Die Milizen fixieren sich nicht mehr nur auf große Händler oder großen Unternehmen.

In welchen anderen illegalen Geschäftszweigen operieren die Milizen?
Sie erheben Schutzzölle beim Handel. Sie sagen, dass sie für Sicherheit sorgen, aber später kontrollieren sie die Versorgung mit Wasser und Gas, Zigaretten und Getränken in den Gemeinden. Und es gibt Berichte, dass Leute ermordet wurden, die das nicht akzeptiert haben. Motorrad-Taxis zahlen beispielsweise 80 Reais (ca. 20 Euro, Anm. d. Red.) pro Woche, um operieren zu dürfen. Ein Popcornverkäufer zahlt 50 Reais pro Woche. Das ist Wahnsinn!
Sie errichten illegale Müllkippen in der Region und vergraben dort den Müll von jedem, der dafür zahlt. Tausend Reais pro Lastwagen. Wo es herkommt, ist ihnen egal. Das kann Giftmüll, Industriemüll oder Krankenhausabfall sein. Daneben werden auf dem Markt für Exekutionen seit geraumer Zeit Millionen bewegt. Und sie sind auch im Drogenhandel aktiv, arbeiten mit bestimmten Drogenkartellen zusammen. Sie haben die gleiche Beziehung wie die Polizei zum Drogenhandel: Der funktioniert nur dort, wo Bestechungsgelder gezahlt werden.

Die Milizen kontrollieren also auch öffentliche Dienstleistungen wie Müllentsorgung und bemächtigen sich kommunaler Räume, um illegalen Aktivitäten nachzugehen?
Die finanzielle Basis einer Miliz ist die militarisierte Kontrolle geografischer Gebiete. Das ermöglicht es ihr, den städtischen Raum an sich in eine Einkommensquelle zu verwandeln, zum Beispiel durch Immobilienverkauf. Es gibt ein staatliches Programm Minha Casa Minha Vida (Mein Haus Mein Leben), mit dem Sozialwohnungen gebaut werden. Die Miliz übernimmt die militärische Kontrolle des Baugebiets, bestimmt, wer die Wohnungen bekommt, und verlangt Gebühren von den Bewohnern.
Die Region der Baixada und die Stadt Rio de Janeiro sind große Laboratorien der Ungesetzlichen und Illegalen, die sich zusammenschließen, um eine Struktur der politischen, ökonomischen und kulturellen Macht zu stärken, die geografisch verankert ist und auf Gewalt und bewaffneter Kontrolle beruht.

Sind die Milizen in Rio de Janeiro wegen der Abwesenheit des Staates entstanden?
Der Staat war immer da. Die Auftragsmörder und Milizionäre werden ja gewählt. Es ist der Staat, der festlegt, wer die militärische Kontrolle über diese Region ausübt, weil diese ja staatliche Vertreter sind. Es gibt keine Abwesenheit des Staates, das ist die Machtausübung genau dieses Staates. Eines Staates, der illegale Operationen fortsetzt und dadurch mächtiger wird, als er das im legalen Einflussbereich ist. Weil er auf totalitäre Weise über das Leben bestimmt und man sich ihm nicht entgegenstellen kann.


Wer hat den Nachbarn des Präsidenten beauftragt Marielle zu töten? Milizen sind die Hauptverdächtigen (Foto: Mídia Ninja)

Aber auf der anderen Seite ist es doch die Bevölkerung, welche die Politiker aus den Milizen wählt?
Sie meinen doch nicht etwa, die Bürger seien Mitschuldige oder Komplizen des Verbrechens? Ja, diese Menschen haben Flávio Bolsonaro gewählt, der, wie sich jetzt herausstellte, möglicherweise Verbindungen zu diesen Gruppen haben soll. Aber unter welchen Lebensbedingungen haben sie das getan? Es sind Bedingungen des Elends, der Armut und der Gewalt, denen sie sich ausgesetzt sehen. Fünf Jahrzehnte der Todesschwadrone führten zu 70 % Zustimmung für Bolsonaro in den Vorstädten Rios. Drei Amtszeiten der Arbeiterpartei, also 14 Jahre präsidialer Macht, haben nichts an diesen Strukturen verändert. Die PT ging ein Wahlbündnis ein, sie suchte die Unterstützung dieser Gruppen.

Was verbindet den Stab eines Politikers und einen Milizionär, wie dies bei Flavio Bolsonaro und der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães da Nóbrega der Fall war?
Die Ansichten der Familie Bolsonaro. Sie sind die Erben der Diskurse von Politikern wie dem Abgeordneten Sivuca (José Guilherme Godinho Sivuca Ferreira, 1990 Abgeordneter für die Partei PFL, Anm. d. Red.), der den Slogan „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit!” prägte. Er war einer von der alten Truppe, dem politischen Arm der Todesschwadronen. Dieser Diskurs hat sich fortgesetzt und verfestigt. Es ist logisch, dass die Milizionäre diese Ansichten unterstützen und dadurch stärker werden. Das ist der Plan für öffentliche Sicherheit, den Bolsonaro in seiner Wahlkampagne verteidigt hat. Er sagt, dass die Militärpolizisten die Helden der Nation sind, dass die Militärpolizisten unterstützt werden müssen, dass sie Auszeichnungen bekommen sollten. Ein mögliches unrechtmäßiges Handeln eines Polizisten im Dienst wird von Bolsonaro völlig ausgeblendet. Es gibt Bereiche, die seit der Militärdiktatur immer illegal operiert haben, als Exekutionskommandos. Und jetzt hören sie diesen Diskurs, der ist natürlich Musik in ihren Ohren.

Sehen Sie auch eine finanzielle Verbindung von Milizionären und Politikern?
Es gibt Operationen der Milizionäre innerhalb des offiziellen politischen Systems. In Duque de Caxias existiert ein Zentralregister der staatlichen Liegenschaften. Es gibt Milizionäre, die im Grundbuch der Stadtverwaltung die Immobilien ermitteln, für die lange keine Grundsteuer gezahlt wurde. So ein Milizionär beginnt dann, die Grundsteuer zu bezahlen, verhandelt die Altschuld, und bittet dann darum, diese Immobilie auf seinen Namen zu überschreiben. Die Stadtverwaltung trägt ihn als Besitzer ein. Das ist ein ganz einfacher Vorgang. Und der eigentliche Eigentümer wird später niemals den Mut aufbringen, diese Immobilie zurückzuverlangen, weil sie jetzt mit Waffengewalt kontrolliert wird. Ohne diese direkte Verbindung zur staatlichen Struktur gäbe es die Milizen nicht in der Form, wie es sie heute gibt. Deshalb sage ich, das ist keine Parallelmacht – das ist der Staat.
Und es gibt Politiker, die mit dem so verdienten Geld gewählt werden. Das Geld der Milizen finanziert die Macht eines Politikers wie Flávio Bolsonaro und die Macht von Flávio Bolsonaro fördert die Einkünfte der Milizionäre. Es ist entscheidend, dass diese Struktur so funktioniert. Sie kann nur weiter bestehen, weil sie genau so ist.

Sind Fälle wie die der Mutter und Ehefrau von Adriano Magalhães de Nóbrega, die als Beraterinnen im Stab von Flávio Bolsonaro angestellt waren, üblich?
Ja, das ist ganz normal. Zwischen diesen Personen wird eine Macht- und Geldbeziehung aufgebaut. Der Milizionär stellt einen direkten persönlichen und familiären Kontakt mit Flávio Bolsonaro her. Dieser Kontakt gibt ihm in seiner Gemeinde Macht. Er wird dort bekannt als jemand, der Einfluss auf den Abgeordneten hat und den man ansprechen kann, wenn irgendetwas geregelt werden muss. So entsteht eine familiäre Machtstruktur. Und das ist genau das, wofür sich die Bolsonaros einsetzen: familiäre Strukturen. Und religiöse. Evangelikale Kirchen sind mit diesen Strukturen verbunden. Eine perfekte Verbindung: traditionell, konservativ, religiös, ein Diskurs mit hoher Glaubwürdigkeit.
Das zeigt, wie diese Menschen agieren. Adriano Nóbrega, Flávio Bolsonaro, Bolsonaro selbst, die Auftragsmörder dieser Region. In Brasilien agieren diese Gruppen, die mit Gewalt, Hinrichtungen, organisiertem Verbrechen zu tun haben, nicht im Verborgenen, sondern vor aller Augen. Sie sprechen ganz offen darüber, was sie machen, zu wem sie Verbindungen haben, welche Ämter sie besetzen, wen sie kennen. Damit allen klar ist, mit wem es jemand, der sich ihnen vielleicht widersetzen möchte, zu tun bekommt. All das basiert komplett auf Einschüchterung. Und es sind nicht nur leere Drohungen, sie machen sie auch wahr.

Was ihre politischen Möglichkeiten angeht: Haben sie sogar die Macht, bei Wahlen die Stimmen der Bevölkerung zu manipulieren?
Die Milizen verkaufen Stimmen ganzer Gemeinden in der Region im Paket. Sie haben eine genaue Übersicht der Wahlberechtigten, der Wahllokale der einzelnen Wähler und wissen, wie viele Stimmen dort jeweils abgegeben werden. Sie sind in der Lage festzustellen, wer nicht für ihren Kandidaten gestimmt hat.

Gibt es denn keine Maßnahmen, diese Strukturen zu zerschlagen?
Die Operation „Unberührbare” könnte eine Operation historischen Ausmaßes sein. Aber ich bin sehr kritisch, was solche Einsätze betrifft. Weil die Miliz ein sehr großes Netzwerk ist, kommen für jeden Verhafteten 100 Neue nach. Denn wenn man die ökonomische Struktur aufrechterhält, wird sie auch politisch weiter bestehen.
Niemand legt sich mit diesen Gruppen an. Normalerweise geht man nur den Drogenhandel an, was nicht der gefährlichste Teil ist. Die Milizen sind mächtiger als die Drogenhändler. Die Milizen werden gewählt, Drogenhändler lassen sich nicht wählen. Ich bin sicher, dass die Milizionäre zu einer anderen Klasse als die Drogenhändler gehören. Nicht so arm. Nicht so schwarz. Nicht so marginalisiert.

Der Fall Marielle Franco ist zurück ins Scheinwerferlicht gerückt, weil die verhafteten Milizionäre Mitglieder des „Verbrechensbüros” waren, das des Mordes an der Stadträtin verdächtigt wird. Letztes Jahr hat der Beauftragte für öffentliche Sicherheit in Rio gesagt, der Mord stünde im Zusammenhang mit Grundbuchfälschungen. Glauben Sie, dass sie ermordet wurde, weil sie die Geschäfte der Milizen störte?
Da gibt es zwei Aspekte. Marielle Franco hatte die Macht, den Milizen zu schaden, eine Untersuchung zu beantragen, die die Aufmerksamkeit des Staates und der Medien auf sie gelenkt hätte. Sie hatte eine unabhängige, integre politische Basis, die sie stützte. Sie war also eine Figur, die gefährlich werden konnte.
Der zweite Faktor ist, dass sie eine Frau mit einem ziemlich beeindruckenden Auftreten war, authentisch und nicht einzuschüchtern, die herausforderte und sich nicht unterordnete. Die Milizionäre ertragen solche Frauen nicht und wollen sie eliminieren. Das war der Fall bei Marielle, wie bei Patricia Acioli (Richterin, die für die Gefängnisstrafen von mindestens 60 Milizionären verantwortlich war, ermordet 2011, Anm. d. Red.). Da gibt es einen totalen Frauenhass: Sie akzeptieren nicht, dass eine Frau sie so behandelt.

 

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

HINHALTETAKTIK UND RÜCKSCHRITTE

Die Region Cauca wirkt malerisch, doch sie ist umkäpft  Foto: tacowitte, Flickr (CC BY 2.0)

Der CRIC vertritt seit 47 Jahren die indigenen Gemeinschaften der Nasa im Cauca. Warum sind Ihre Erwartungen an die erste Verhandlungsrunde mit der neuen kolumbianischen Regierung so gering?
Für uns_ist es offensichtlich, dass die Vereinbarungen zur Verbesserung der Situation der indigenen Gemeinden durch die Regierung verschleppt und nicht eingehalten wurden._Die in der Verfassung von 1991 festgelegten kollektiven Rechte für Indigene und Afrokolumbianer*innen wurden unter den nachfolgenden Regierungen, vor allem unter Pastrana, Uribe und Santos weitgehend außer Acht gelassen und zurückgeschraubt. Das auf dieser Verfassung basierende Gesetz 1060 und die Anerkennung indigener Selbstverwaltung waren dabei nie Selbstläufer. Die Tatsache, dass nur drei indigene Gemeinden, die Nasa, die Misac und die Isiapidadas, von insgesamt zehn Gemeinden im Cauca eigene Selbstverwaltungsstrukturen aufbauen konnten, war das Ergebnis von sozialen Kämpfen und von der Vernachlässigung und Behinderungen durch den Staat. Das Ganze wurde aber durch den Konflikt erschwert: Es gab Vertreibungen und Indigene werden als Anhänger der FARC stigmatisiert. Hinzukommen Drogenanbau und illegaler Bergbau. Darüber hinaus gab es nach 1990 eine Invasion von radikalen Evangelikalen im Cauca, welche die Gemeinden bis heute spalten. Trotz aller Schwierigkeiten gab es von unserer Seite viele Versuche, mit den jeweiligen Regierungen zu verhandeln. Am 18. und 19. Januar gab es die erste Verhandlungsrunde mit der neuen Regierung in Popayán, die bereits in der letzten Runde mit der Santos-Regierung vereinbart war.

Wie geht es jetzt weiter?
Der im Januar 2019 vorgelegte Vierjahresplan der Regierung wurde nicht mit uns abgesprochen. Das gilt auch für andere Projekte der Regierung, beispielsweise bei Investitionen, die theoretisch im Rahmen eines Beratungsprozesses angekündigt werden müssen. Es ist also nichts Besonderes mit Regierungsvertretern zu sprechen; denn eine Einflussnahme auf den lokalen Entwicklungsplan lässt sich nur durchsetzen, wenn man sich zu Wort meldet und Präsenz zeigt. Wir machen diesbezüglich Druck in den Verhandlungen, dass es verbindliche Vereinbarungen und Haushalte für die autonome indigene Verwaltungen gibt. Aufgrund des Stillstands bei der Umsetzung des Planes haben wir – die indigenen Autoritäten – nun unseren eigenen Vierjahresplan vorgelegt. Im Zuge unserer Vorschläge sollen Schritte gegangen werden, damit die Bürgermeistereien klare Befugnisse erhalten, die bislang oft nur auf dem Papier stehen. Im Prinzip war das bereits 2013 vereinbart.

Was erwarten Sie von der Regierung Duques?
Nach unseren gegenwärtigen Erfahrungen sind unter der Präsidentschaft von Iván Duque eher Rückschritte zu erwarten. Unsere Forderungen stehen teilweise im Gegensatz zu den offiziellen Entwicklungszielen der Regierung – die ja auf Großprojekte und Zentralismus setzen. Das geht auch aus dem Entwurf des nationalen Entwicklungsplans der Regierung hervor, der seit dem 10. Februar im Kongress diskutiert wurde.
Wir wissen gegenwärtig zum Beispiel fast nichts über die Details, über die darin enthaltenen Vorschläge für die sogenannten Investitionsgebiete und unternehmerische Entwicklung als auch was dabei für die Pazifikregion vorgesehen ist. Um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, mobilisieren wir zum großen Protestmarsch der Indigenen und Campesinos im Cauca.

Wie ist das im Zusammenhang mit den Friedensverträgen zwischen der Regierung und der FARC zu sehen?
Der CRIC hat nie direkt an den Verhandlungen mit der FARC teilgenommen, sondern nur über die Vertreter*innen der Zivilgesellschaft – zum Beispiel Frauen und Indigene, die auch in Havanna waren. Zwar wurden immerhin rund 60 Prozent der vereinbarten Punkte verwirklicht, aber noch sind wesentliche Vereinbarungen nicht umgesetzt worden. Dazu gehört die finanzielle Unterstützung bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft, Sicherheitsgarantien und Infrastruktur. Ein wichtiger Punkt für uns ist die Untätigkeit der Regierung in Sachen Drogenanbau. Seit dem Friedensschluss 2016 haben sich nach Angaben der UN die Anbauflächen von Coca, Amapolla und Mariuhana in Kolumbien von 43.000 Hektar auf 250.000 Hektar erweitert. Das betrifft vor allem uns, hier im Cauca. Auch das ist ein Ausdruck mangelnder Perspektiven und schlechter Umsetzung der Vereinbarungen.

Hatten für Euch die Verhandlungen mit der ELN praktische Bedeutung?
Während der Verhandlungen hatten wir im letzten Jahr bei Beratern der ELN angefragt, ob und wo konkret diese Gruppe militärische Einheiten im Cauca unterhält, die unsere Interessen berühren. Bis zum Abbruch der Friedensverhandlungen hatten wir allerdings keine Antwort darauf erhalten.

Wie ist die Lage für Euch in Sachen Verfolgung und Ermordung von Angehörigen der Guardia Indígena. Gab es Drohungen gegen Euch?
2019 sind schon mehr als 10 unserer Anführer ermordet worden. Unter anderem fordern wir deshalb Sicherheitsgarantien für uns. Einige von uns sind mehrfach bedroht worden. Ich möchte keine Namen nennen, aber zum Beispiel ist die Provinzhauptstadt Popayán mittlerweile ein gefährliches Pflaster für uns geworden.

 

EINE RICHTERIN FÜR DIE GERECHTIGKEIT

YASSMIN BARRIOS
ist Richterin in Guatemala und Präsidentin des speziell eingerichteten Gerichtshof Tribunal Primero A de Mayor Riesgo, für Fälle mit besonders hohem Sicherheitsrisiko. Sie hat Prozesse zu den während des Bürgerkriegs verübten Massakern verhandelt sowie gegen den Ex-Diktator Efraín Ríos Montt.

Foto: Markus Dorfmüller


Wir waren am Wochenende in Sepur Zarco – einige der Frauen sind sehr frustriert, dass es zwar ein für sie positives Urteil gibt, aber dass die Umsetzung auf sich warten lässt. Können Sie das nachvollziehen?
Oh ja, für die Frauen hat die Übergabe der Finca, also des Landstreifens, Priorität, aber die ist bisher nicht vom Fleck gekommen. Das ist das Problem und dafür müssen ihre Anwältinnen nun sorgen – ich als Richterin habe da keinen Einfluss mehr.

Welche Relevanz hatte dieser Prozess für Sie persönlich: war es schlicht ein Fall?
Jeder Fall hat aus meiner Perspektive wichtige Charakteristika – so auch dieser. Klagen gegen Militärs von indigenen Frauen sind etwas Besonderes in Guatemala und darüber hinaus. Sepur Zarco war also etwas Besonderes – vor allen Dingen aus der Perspektive der Frauen.

Es hat auch Angriffe auf Sie persönlich gegeben, Kampagnen in den sozialen Netzwerken – warum?
Weil ich ein paar Prozesse verhandelt habe, die für dieses Land extrem wichtig waren: den Prozess gegen die Mörder von Monseñor Juan Gerardi, der den Bericht der katholischen Kirche zu den Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg herausgebracht hatte, den Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt oder eben den Sepur Zarco Prozess, wo es um die spezifischen Rechte der Frauen ging. Kurz vor der Urteilsverkündung im Falle Gerardi wurde eine Granate auf mein Haus geworfen – das war 2001. Es war ein Akt der Einschüchterung, es ist nichts passiert und ich bin am nächsten Tag zur Arbeit gegangen. Das ist meine Verpflichtung, aber damit hatte niemand gerechnet. Aber ich habe und fühle diese Verantwortung.

Augenblicklich scheint der Druck auf die Justiz enorm. Was passiert in Guatemala, wird die Justiz systematisch geschwächt?
In den letzten Monaten hat es in Guatemala eine kaum zu übersehende Schwächung des Rechtsstaats gegeben. Die Nichtumsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist dabei der gravierendste Fall.

Steckt dahinter eine Strategie?
Es ist kaum zu übersehen, dass man den Ermittlern der CICIG (Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala der UNO) in den letzten Jahren mehr und mehr Schwierigkeiten gemacht hat zu arbeiten – vor allem in Korruptionsfällen. Die CICIG hat in vielen Fällen die Staatsanwaltschaft animiert in diesem Bereich zu ermitteln und das hat sicherlich unsere Justiz gestärkt. Gleiches gilt für die neuen Instrumente, die die Justiz durch die Initiative der CICIG erhalten hat. Das hat unter dem Strich zur Stärkung der Justiz geführt. Die CICIG war und ist extrem wichtig.

Droht eine Rückkehr in die Straflosigkeit mit dem Ende der CICIG? Das Mandat läuft am 3. September 2019 aus.
Ja, ich denke das ist schon der Fall. Mit der Unterstützung der CICIG wurde die Ermittlungsarbeit im Justizsektor spürbar gestärkt – auch auf wissenschaftlicher und auf akademischer Ebene. Vor allem im Bereich der Korruption. Ich bin dafür, das Mandat der CICIG zu verlängern. Sie ist ein wichtiger Faktor, aber das müssen andere entscheiden.

Fehlt es an internationaler Unterstützung?
Ich denke, dass die internationale Beobachtung, die Begleitung der Arbeit der CICIG wichtig ist. Doch die hat in den letzten Monaten nur in Teilen stattgefunden, sodass die CICIG heute geschwächt ist. Grundsätzlich denke ich, dass die Verträge respektiert werden sollten, denn schließlich ist die CICIG auf Bitten der Regierung von Guatemala entstanden.

Aber es hat den Anschein, dass die Regierung diese Verträge nicht respektiert.
Die Regierung hat eine andere Sicht der Dinge, die der breiter Bevölkerungskreise widerspricht.

Wie denken Sie über den CICIG-Direktor Iván Velásquez? Ist es nachvollziehbar, dass er nicht nach Guatemala einreisen darf und die Arbeit aus dem Ausland leisten muss (siehe LN 536)?
Ich denke, dass der CICIG-Direktor das Recht hat in Guatemala zu arbeiten. Das hat das Verfassungsgericht auch so bestätigt, aber die Regierung blockiert das.

Was war in Ihrer Karriere der schwierigste Prozess?
Jeder Prozess hat seine spezifischen Elemente und von jedem Prozess lässt sich etwas lernen. Doch in dem Gerardi-Prozess bin ich gewachsen, daraus habe ich viel mitgenommen. Aber mit diesem Prozess und dem Anschlag auf mein Haus, habe ich auch an persönlicher Freiheit verloren. Seitdem kann ich mich nicht mehr so wie vorher in Guatemala bewegen. Ich bin auf Schutz angewiesen. Ich muss mich unter Polizeischutz in der Stadt bewegen, in einem gepanzertem Wagen.
Der andere Fall, der mich sehr beschäftigt hat, war jener über den Genozid an den Ixil (Indigene in Guatemala, Anm. der Red.), der Prozess gegen Efraín Ríos Montt. Da bin ich von den Medien angegriffen worden, von einflussreichen Kreisen, die dahinter stehen und bin stark stigmatisiert worden. Guatemala ist nach wie vor ein Land, in dem die Rechte der Frau kaum akzeptiert werden. Das habe ich damals am eigenen Leib erfahren: ich bin etikettiert worden, mir wurde vorgeworfen einseitig zu argumentieren, die Gesellschaft zu schwächen. Das war aber nicht der Fall, denn dieser Prozess hat zur Stärkung der Zivilgesellschaft in Guatemala beigetragen. Teile der Zivilgesellschaft wurden mit dem Prozess erst sichtbar.
Das war ein überaus brisanter politischer Prozess. Ich bin keine politisch aktive Frau, gehöre keiner politischen Gruppe an – das wurde mir aber damals vorgeworfen. Dabei bin ich vor allem Juristin. Ich will der Justiz zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, die Gesetze durchsetzen. Ich diene dem Rechtsstaat.

Sind Sie als Kommunistin bezeichnet worden?
Ja, das war der Fall und ich fühlte mich während des Prozesses in den kalten Krieg zurückversetzt – im Jahr 2013 herrschte ein Klima wie zu Zeiten der Berliner Mauer. Es prallten zwei Ideologien aufeinander, obwohl die Berliner Mauer bereits 1989 eingerissen wurde. In Guatemala herrschte in dieser Zeit ein Klima der Stigmatisierung, der latenten Bedrohung – zumindest auf medialer Ebene.

Kehrt dieses Klima zurück, fehlt ein Dialog zwischen den Generationen?
Ich glaube, dass wir diesen Dialog zwischen den Generationen brauchen und uns Richtern kommt dabei die Aufgabe zu, über Verbrechen der Vergangenheit heute zu urteilen. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn die betroffenen Menschen hatten lange Jahre keinen Zugang zur Justiz, mussten oft den Weg über die interamerikanische Menschenrechtskommission gehen. Das ist ein Defizit und ich denke, dass die jüngere Generation erfahren muss, was in diesem Land passiert ist – das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Wir haben eine Aufgabe, wir müssen aus unserer Geschichte lernen und die kulturelle Vielfalt schätzen lernen. Das ist eine Herausforderung und viele dieser Fragen waren im Völkermordprozess präsent. Da wurden wir als Gesellschaft auf diese Probleme erst hingewiesen, auf die Polarisierung, auf die Stigmatisierung auf die Defizite bei der freien Meinungsäußerung. Wir wurden auf die tief sitzenden Probleme in unserer Gesellschaft hingewiesen.

Ist diese Gesellschaft nach wie vor traumatisiert vom Bürgerkrieg?
Ich denke ja, denn es gibt bis heute Ängste, die eigene Meinung kundzutun, Rechte einzufordern – der Krieg hat vielfältige Spuren hinterlassen nicht nur bei der Generation der Opfer, sondern auch bei den nachwachsenden Generationen.

2015 schien es so als wäre die Zivilgesellschaft erwacht (siehe LN 492). Wie sieht es 2018 aus?
Es gibt Initiativen, die Freiräume zu reduzieren, Teilnahme zu erschweren und die Bürgerrechte einzuschränken.

Wie steht es um die Rechte der Frauen in Guatemala, haben sie gleiche Rechte?
Aus juristischer Perspektive haben wir die gleichen Rechte, aber in der Praxis ist es alles andere als einfach, diese Rechte auch durchzusetzen. Da bildet die Justiz sicherlich keine Ausnahme. Guatemala ist eine Gesellschaft, die zutiefst vom Machismo geprägt ist; hier wird über die Kleidung der Frauen öfter debattiert als über ihre Leistung. Frauen müssen mehr leisten, um hier ernst genommen zu werden. Das ist eine Folge der patriarchalen Strukturen in diesem Land.

Haben Sie Vertrauen in die guatemaltekische Gesellschaft?
Ja, und mir gefällt es auch einmal in eine Schule zu gehen und mit Schülern zu diskutieren. Das ist mir wichtig und wenn es meine Zeit zulässt, gehe ich auch an die Schulen, um zu hören wie die neue Generation agiert und denkt. Dabei lerne ich auch etwas über die sozialen Verhältnisse im Land. Das gefällt mir.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Wir befinden uns in einer Krise, aber Krisen helfen auch dabei, sich selbst neu aufzustellen, zu definieren und nach vorn zu blicken. Wir müssen uns, jeder in seinem Bereich, für die Zukunft dieses Landes engagieren, dafür gerade stehen. Es geht darum, unser Land zu retten.

Thelma Aldana, die ehemalige Generalstaatsanwältin, will bei den Wahlen im Juni für die Präsidentschaft kandidieren – ist es Zeit für eine Präsidentin?
Das könnte eine wichtige Erfahrung für ein Land wie Guatemala sein. Es gibt Frauen, die entscheidungsfreudig sind, die ein Land führen können und ich denke, dass es Frauen gibt, die dazu in der Lage sind, die sensibler auftreten, die eine andere Perspektive verfolgen. Mir erscheint das eine gute Option für die Zukunft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 

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