“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.

Der schleichende Putsch der Korrupten

Gegen Straflosigkeit und Korruption Demonstration für einen “Wandel” in Guatemala (Foto: Sara Mayer)

„Du bleibst dünn, während die da oben sich die Taschen füllen” sang ein Demonstrant am 4. Oktober vor Menschen, die sich vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft versammelt hatten. Die dort Demonstrierenden wollten zeigen, dass sie die Korruption und die Allianzen der Regierungspartei mit Kriminellen und einflussreichen Unternehmen satt hatten. An jenem 4. Oktober ahnten sie noch nicht, dass sich ihre Mobilisierung zu landesweiten Protesten ausdehnen und über Monate anhalten würde. Guatemala steckt in einer historisch einzigartigen politischen Krise. Streikende hatten Teile des Landes stillgelegt, zeitweise mehr als 80 Straßen blockiert und vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft ein Protestcamp errichtet. Hier harren Demonstrierende seither Tag und Nacht aus. Regelmäßig werden Protestzüge und Kundgebungen abgehalten, um dem Wahlsieger Bernardo Arévalo und der ihm nahestehenden, sozialdemokratischen Partei Semilla den Rücken zu stärken.

Die Botschaft lautet: Das Volk lässt sich nicht unterdrücken und es wird auch nicht zulassen, dass eine korrupte Elite den Amtsantritt des demokratisch gewählten Präsidenten am 14. Januar verhindert. Am 8. Dezember forderte der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit, Rafael Curruchiche, die Wahlen vom August wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten in den Wahlakten für ungültig zu erklären und verschanzte sich mit seinen Anhänger*innen in den Büroräumen. Blanca Alfaro, die Präsidentin des Obersten Wahlgerichtes (TSE), stellte daraufhin klar, dass die Wahlergebnisse gültig und unveränderbar sind und dass nur das Verfassungsgericht die Wahl annulieren könnte.

Gegenwärtig sind zwei Szenarien vorstellbar: Das erste, weniger wahrscheinliche ist, dass der Staatsstreich Realität wird. Das zweite Szenario geht davon aus, dass die traditionellen Machthaber alles tun werden, um Bernardo Arévalo das Regieren in der kommenden Legislaturperiode unmöglich zu machen. „Das Volk wird nicht zulassen, dass der rechtmäßig gewählte Präsident davon abgehalten wird, die Regierungsgeschäfte aufzunehmen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Partei Semilla, Román Wilfredo Castellanos Caal, gegenüber LN. Die sozialen Proteste seien „fundamental” für die Abwehr des Putsches. Der Zusammenschluss der Zivilgesellschaft zeige, dass sich das Volk weder manipulieren noch seiner Wahlen berauben lasse. Castellanos ist überzeugt, dass der Amtsantritt Arévalos nicht zu verhindern ist. Es gebe trotz „der Tyrannei der Staatsanwaltschaft und der korrupten Institutionen noch staatliche Einrichtungen im Land, die im Sinne einer demokratischen Ordnung funktionieren.” Diese seien bereit, sich einer korrupten Elite entgegenzustellen. Dennoch müsse man damit rechnen, dass die Gegner Arévalos alles tun werden, um dem künftigen Präsidenten den Alltag zu erschweren.

Während Román Castellanos die Einheit des guatemaltekischen Volkes hervorhebt, erinnert Miguel Oxlaj, Aktivist der indigenen Kaqchikel, an den Rassismus, der in Guatemala weiterhin fortbestehe. Die Indigenen versammeln sich momentan zwar hinter dem designierten Präsidenten, um die Demokratie zu schützen. Allerdings hätten sie Arévalo nur gewählt, da er „der Beste aus einer schlechten Auswahl“ gewesen sei. Nach dessen Amtsübernahme müsse man sich zusammensetzen, um über die Situation der Indigenen zu sprechen. Hohe Erwartungen hat Oxlaj nicht.

Am 4. Dezember versammelten sich Zehntausende vor der Generalstaatsanwaltschaft, um gegen den soeben verkündeten Staatshaushalt für 2024 zu protestieren. Der Kongress hatte den Haushalt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gegen die Einwände von Abgeordneten der Partei Semilla verabschiedet. Im letzten Moment wurde eine Vielzahl an Änderungen vorgenommen, die das Volk weiter benachteiligen und bestimmte Wirtschaftssektoren wie etwa Bauunternehmen begünstigen. Arévalo kritisierte, dass die Abgeordneten einen „falschen und illegalen Haushalt” beschlossen hätten und bat den noch amtierenden Staatschef Alejandro Giammattei, einen „fairen und trans­parenten Übergangsprozess zum Wohle des Volkes” zu gewährleisten. Ein solcher Etat ist vor allem geeignet, der neuen Regierung das Leben schwer zu machen. So wird die korrupte Justiz mit reichlich Geldern ausgestattet, Mittel für Gesundheit und Bildung dagegen gekürzt.

Die Stimmung im Volk kippte Ende September, als Angehörige der Generalstaatsanwaltschaft im Namen einer „Rettung der Demokratie” in das TSE eindrangen und die Akten der Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl beschlagnahmten. Das TSE hatte zuvor die Rechtmäßigkeit der Wahlergebnisse offiziell bestätigt. Die Erklärung vom 8. Dezember kommt nun für Aravelos Wähler*innen einem versuchten Staatsstreich gleich.

Am 2. Oktober begannen indigene Gemeinschaften der Region Totonicapán, sich gegen das Vorgehen des alten Establishments aufzulehnen. Sie forderten den Rücktritt der korrupten Schlüsselfiguren, die für die Beschlagnahmung verantwortlich waren: Rafael Curruchiche, die Gene­ralstaatsanwältin Consuelo Porras sowie der verantwortliche Richter Fredy Orellana. Dieser Widerstand wuchs zügig zu einer landesweiten Bewegung heran, der sich neben der Landbevölkerung und der Arbeiterklasse auch Hauptstädter*innen anschlossen.

Schon 2015 hatte es Widerstand gegen die Korruption gegeben. Dieses Mal ist die Situation jedoch anders: Die Bewegung wird nun vor allem von Indigenen angeführt und am Leben gehalten, ist streng organisiert und das Herz des Protestes befindet sich in der Hauptstadt. Es sind auch die indigenen Autoritäten, die sich gegenüber den Vereinten Nationen auf international geltendes Recht berufen, und auch die Europäische Union und die USA um Hilfe und Sanktionen gegen die Korrupten gebeten haben. Zumindest zeigt sich die internationale Gemeinschaft inzwischen besorgt um die Vorkommnisse in Guatemala. Die Organisation amerikanischer Staaten bezeichnete die Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft als „Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung, des Rechtsstaates und der Menschenrechte der Bevölkerung Guatemalas”.

Der Preis, den insbesondere die ländliche indigene Bevölkerung für den Widerstand bezahlt, ist hoch: Viele protestieren seit über 60 Tagen rund um die Uhr und ließen in ihren Heimatdörfern alles stehen und liegen, um für die Zukunft Guatemalas einzustehen. Zwar haben sich viele der landesweiten Blockaden inzwischen aufgelöst, dafür etablierte sich der Dauerprotest vor der Generalstaatsanwaltschaft.

Bereits im September hatte der designierte Regierungschef vor einem „Staatsstreich in Zeitlupe“ gewarnt. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hatte vor „Übergriffen, Stigmatisierung und möglichen Anschlägen” gegen Arévalo und seine Vizepräsidentin Karin Herrera gewarnt. Während Arévalos Unterstützer*innen alles unternehmen, um seinen Amtsantritt zu sichern, legen ihm seine Gegner*innen Steine in den Weg. Der im Eiltempo festgesetzte Staatshaushalt ist nur ein Beispiel. Zunächst war die Generalstaats­anwaltschaft mit dem Versuch gescheitert, die Partei Semilla zu suspendieren, inzwischen ist es ihr aber gelungen, der Partei die Rechtspersönlichkeit abzusprechen. Gleichzeitig wolle sie strafrechtliche Ermittlungen gegen die politische Bewegung des künftigen Präsidenten einleiten und verlangte Mitte November die Aufhebung der Immunität Arévalos und Herreras vom Obersten Gerichtshof. Im Interview mit LN erklärte Román Castellanos, dass es sich hier um einen Putschplan handle, der „den Willen des Volkes verhöhnt“.

Viele sprechen inzwischen von einer „Justizdiktatur” in Guatemala

Indessen ließ die Generalstaatsanwaltschaft landesweit mindestens 30 Razzien in Privathaushalten durchführen und erließ zeitgleich 27 Haftbefehle gegen Unterstützer*innen Arévalos sowie Mitglieder von Semilla. Sechs Personen, die im Jahr 2022 die Universität San Carlos besetzt hatten, wurden festgenommen. Ihnen wurden mehrere Delikte, unter anderem die Bildung einer Vereinigung mit illegalen Absichten, vorgeworfen. Die Akademiker*innen hatten gegen den neuen Leiter der Bildungseinrichtung protestiert, dessen Wahl sie als unrechtmäßig empfanden.

Die Inhaftierten wurden mehrere Tage festgehalten und es wurde größtenteils hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Medien verhandelt. Der als korrupt geltende Richter Victor Cruz befand die Verhafteten zweier Delikte schuldig und entließ sie gegen Bezahlung eines Bußgeldes in einen „Hausarrest“. Das Verfahren soll fortgesetzt werden, Román Castellanos spricht von einem weiteren Versuch, die Partei Semilla zu schwächen. So versuche die Generalstaatsanwaltschaft, Semilla mit der Übernahme der Universität in Verbindung zu bringen. Der Prozess zeige, dass der Richter Verpflichtungen gegenüber den traditionellen Machthabern zu erfüllen habe.

Ein bedeutender Teil der Bevölkerung spricht inzwischen von einer „Justizdiktatur”. Politische Aktivist*innen fühlen sich nicht mehr sicher, ziehen sich zurück, tauchen unter oder entscheiden sich für das Exil. Aktuell unternähme Semilla alle möglichen Schritte, um den schleichenden Staatsstreich aufzuhalten, so Castellanos. Neben den rechtlichen Schritten führe die Partei Gespräche mit den wichtigsten Sektoren der Gesellschaft, zu denen die indigenen Gemeinschaften und Angehörige des privaten und öffentlichen Sektors zählen, um „die Demokratie auf den Beinen zu halten”, versichert der Abgeordnete. Das progressive Medium Prensa Comunitaria verkündete in den sozialen Medien, dass Richter Cruz mehrere unabhängige Medien des Landes aufgefordert habe, Informationen über bestimmte Journalisten*innen preiszugeben und sein Vorgehen der Öffentlichkeit nicht mitzuteilen. Auch gegen indigene Autoritäten, die eine führende Rolle in den aktuell stattfindenden Protesten einnehmen, wird laut Prensa Comunitaria ermittelt.

Kritische Stimmen wandern in Guatemala auf gefährlichen Pfaden: Diejenigen, die Kriminellen und Korrupten zu Leibe rücken, werden eingesperrt. So geschehen im Falle des Gründers der unabhängigen, inzwischen eingestellten Zeitung El Periódico, José Rubén Zamora: der Redakteur und Hauptkritiker der amtierenden Regierung wurde im Juni zu sechs Jahren Haft wegen Geldwäsche verurteilt- trotz internationaler Kritik und offensichtlichen Unregelmäßigkeiten bei der Urteilsfindung. Wie es um die Pressefreiheit in Guatemala steht, zeigte ein durch ein Datenleck bekannt gewordenes Dokument des Verteidigungsministeriums, das Journalist*innen als „Risiko für die nationale Sicherheit“ einordnete.

Stimmen zum 50. Jahrestag des Putsches

Compañero presidente Das Bild Salvador Allendes ist auf den Gedenkdemos stets präsent (alle Fotos: Diego Reyes Vielma)

Die Regierung der Unidad Popular strebte in Chile 1970 bis 1973 einen demokratischen Sozialismus an. Das war ein Projekt, das weltweit viele ersehnten, schon weil mit dem Ungarn-Aufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 ähnliche Versuche gescheitert waren.
Am 11. September 1973 putschte das Militär, massiv unterstützt von der CIA, eine Junta aus den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Polizei übernahm die Macht. Tausende Gegner des Militärs wurden verhaftet, gefoltert, ermordet oder verschwanden einfach. Sehr viele flohen ins Ausland. In Berlin entfaltete sich unmittelbar nach dem Putsch eine vielfältige Solidaritätsarbeit. Es gab eine spontane Demonstration am Olivaer Platz. Man traf sich am Sonntag in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde der Technischen Universität zur Gründung des Berliner Chile-Komitees. Die Auflage der schon vor dem Putsch gegründeten Solidaritätszeitschrift Chile-Nachrichten stieg von 200 auf 6.000 Exemplare. Bei einer Versammlung im Haus der Kirche nannte Helmut Gollwitzer den Putsch „Klassenkampf von oben“ und fragte nach dem Konto für den Widerstand in Chile. Die unvergessliche Elfriede Irral richtete es sofort ein. In den nächsten Jahren floss eine Million Mark nach Chile.
Fragt man sich heute, was aus all dem geworden ist, so ist hervorzuheben, dass die Solidarität nicht nachgelassen hat. Die Chile-Nachrichten existieren immer noch, wenn auch unter dem Namen Lateinamerika Nachrichten. Und die Redaktion ist jung geblieben.
Leider hat der politische Prozess in Chile nicht zu einer gründlichen Veränderung geführt. Die Verfassung der Militärs ist immer noch in Kraft. Es gibt also noch viel zu tun.

// Urs Müller-Plantenberg // Soziologe, Professor für Lateinamerikanistik, LN-Mitgründer // Berlin

Die Erinnerung am Leben halten Fotos von Verschwundenen auf einer Gedenkdemo

Seit meiner Kindheit habe ich in den Nachrichten immer wieder Frauen mit den Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen gesehen. Jahr für Jahr habe ich von den Gräueltaten der Pinochet-Diktatur erfahren. Und so hoffte ich Jahr für Jahr auch, dass wir es irgendwann herausfinden würden: „Wo sind sie?“ Heute, 50 Jahre nach dem Putsch, leben immer weniger Beteiligte und es wird immer schwieriger, den Verbleib der Verschwundenen zu erfahren. Nach 50 Jahren leugnen Teile der chilenischen Gesellschaft immer mehr die Geschichte, indem sie Menschenrechtsverletzer zu Opfern erklären und die Figur Pinochets verherrlichen. Es macht mir Sorgen, dass es 50 Jahre nach dem Putsch an Erinnerung und Gerechtigkeit fehlt – in einem Land, in dem die Versöhnung mit jedem Tag weiter entfernt scheint. Ich hoffe, dass der Pakt des Schweigens zwischen den Militärs und ihren zivilen Handlangern eines Tages beendet wird, um eine echte Versöhnung zu erreichen.

// Diego Reyes Vielma // Fotograf // Santiago de Chile

Diktator Pinochet in Flammen Seine neoliberalen, autoritären Ideen leben weiter

Ich bin erst 32 Jahre alt, der Putsch war vor 50 Jahren. Ich habe ihn nicht erlebt, aber er hat sich in meine Erinnerung und in die kollektive Erinnerung meines Landes eingebrannt. Dass es bis heute keine Gerechtigkeit gibt, kommt uns teuer zu stehen: Es wird immer normaler, die Taten der Junta von Pinochet und der Diktaturverbrecher im Gefängnis von Punta Peuco zu rechtfertigen. Und die Ultrarechte, von der diese Rechtfertigungen kommen, könnte es bald ins Präsidentenamt schaffen.
Dass es in den 1990er und 2000er Jahren keine politischen und rechtlichen Konsequenzen gab, hat für das ganze Land schlimme Folgen. Das Weiterleben des von der Junta entworfenen autoritären Konzeptes der „geschützten Demokratie“, die fortgesetzte Machtposition des Militärs, die Selbstgefälligkeit der Mitte-Links-Regierungen der Postdiktaturzeit und die intensive Rebranding-Arbeit der Rechten haben uns in eine lächerliche Situation manövriert: Narrative aus der Mitte des 20. Jahrhunderts wie der sehr lebendige Antikommunismus hindern uns daran, uns gesellschaftliche Rechte zu erkämpfen.
Dieser 11. September war für mich ein düsteres Datum. Ich habe das Gefühl, wir haben lange von der Hoffnung, von Idealen und dem Kampf gelebt. Aber die ganze Zeit – ich meine dabei nicht nur 2019, sondern auch die sogenannte Revolution der Pinguine von 2006, die Bewegung der Studierenden von 2011 – wussten wir, dass die politische Gleichgültigkeit uns im Nacken sitzt. Die Rechte schaffte es stets, die Situation zu drehen und eine Bevölkerung, die ihren Alltag durch radikale Veränderungen bedroht sah, zu überzeugen.
Ich verliere also Stück für Stück die Hoffnung – aber nicht den Wunsch, dass die Dinge sich ändern. So dass wir alle zusammen sagen können: Nie wieder! NUNCA MÁS!

// Nicolás Palacios // Geograf // Zürich

An diesem 11. September habe ich gesehen, wie die Leugnung der Diktaturverbrechen durch die Rechte voranschreitet. Die Regierung konterte mit einem geschönten Bild von Allende als „Demokrat“, ohne das Programm der Unidad Popular zu erwähnen. Beim diesjährigen Gedenkmarsch zum Hauptfriedhof mussten sich teilnehmende Organisationen akkreditieren, damit der Präsident teilhaben konnte. Aber es kam wie üblich zu Repression. In Berlin stellte die chilenische Botschaft Fotos von Landbesetzungen während der Allendezeit aus. Gleichzeitig plant die Regierung ein Gesetz, das Räumungen erleichtert und Grundbesitzer*innen schützt, die ihren Besitz mit Kugeln verteidigen wollen.Während der sozialen Revolte von 2019 haben wir gesagt, dass die Übergriffe der Carabineros auf die Zivilbevölkerung Menschenrechtsverletzungen waren. Das bedeutete, dass man im September, wenn man auf die Verbrechen der Diktatur hinwies, indirekt auch von den sozialen Protesten sprach. Als die jetzige Regierung sich der Wiederherstellung des Images der Carabineros widmete und Gesetze durchsetzte, die ihnen Straffreiheit garantierten, untergrub sie damit nicht nur die Revolte, sondern auch die Kämpfe gegen die Diktatur: Wenn die Carabineros eine so ernstzunehmende Institution sind, haben sie dann wirklich Menschenrechtsverletzungen zu verantworten? Sind die Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur dann nicht auch Übertreibungen? Ich frage mich: Kann der Gedenktag vor den Bürokrat*innen, die ihn heute verwalten, gerettet werden?

// Luis Cortés Vergara // Student // Berlin

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Berlin sein würde. Noch weniger, dass ich den 50. Jahrestag des faschistischen Militärputsches dort erleben würde, der das Leben von Präsident Salvador Allende beendete und den Tod und das Verschwindenlassen Tausender zur Folge hatte.
Während ich auf der Demo in Berlin darauf wartete, meinen Redebeitrag zu halten, habe ich mich mit Chilenen unterhalten, die schon seit mehr als 48 Jahren in Deutschland leben. Sie haben mir erzählt, wie sie auf einmal aus Chile fliehen mussten. Unter dieser Barbarei litt ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem die, die sich politisch oder sozial engagiert hatten. In meinem Redebeitrag habe ich von den neuen Herausforderungen unseres Landes berichtet und einen Bogen geschlagen: von unseren Problemen in den 1980er Jahren bis zu den riesigen Problemen, die die Diktatur hinterlassen hat. Ihre Gesetze haben die Ausplünderung und fehlende Wertschätzung reicher Ökosysteme bewirkt, die dem freien Markt überlassen wurden – bis hin zum Wasser, das bis heute in privatisiert ist.
Um es einfach auszudrücken: Ich habe den Gedenktag mit Heimweh und Freude erlebt. Heimweh, weil ich nicht zu Hause war. Freude, weil ich eine flüchtige Nähe mit meinen chilenischen Brüdern erlebt habe, die so weit weg von unserem Land leben.

// Jorge Díaz Marchant // Aktivist der Wasser- und Umweltbewegung MODATIMA // Puente Alto

„Heute fädeln wir den roten Faden unseres Gedenkens auf: In seinem Zentrum stehen die Kämpfe und Widerstände der Menschen, der Frauen und Queers während der tausend Tage der Regierung Allende und der zivil-militärischen Diktatur. Unsere Erinnerung ist der Motor und das Licht, um die Gegenwart infrage zu stellen und unsere Strategien und Kämpfe der Zukunft zu entwerfen. (…) Sie können uns weder unsere Erinnerung noch unsere Zukunft nehmen. Wie eine Beschwörung, die aus unserem Land und unserem Innersten kommt, erinnern wir heute daran: Als Feministinnen vergessen und verzeihen wir keinen Putsch und keinen Schlag.
Nicht weiter, nie wieder! Es leben die, die kämpften, kämpfen und kämpfen werden!”

// Die Coordinadora Feminista 8M in der chilenischen Le Monde Diplomatique

Wieder Tränengas auf den Straßen von Santiago Die Demo zum 50. Jahrestag des Putsches wurde von den Carabineros unterbrochen

50 Jahre sind vergangen seit dem Putsch in Chile. Vorbereitet wurde er auch in der Colonia Dignidad: In der deutschen Sektensiedlung, die stets gute Beziehungen zur deutschen Botschaft und zum Auswärtigen Amt unterhielt, fanden paramilitärische Übungen mit Rechtsextremen statt. Sie war ein Umschlagplatz für Waffen – mit Beteiligung oder zumindest mit Wissen des BND. Nach dem Putsch wurden politische Gefangene dort gefoltert und ermordet, ihr Schicksal wurde nie aufgeklärt, noch immer werden Leichen in Gräbern auf dem Gelände vermutet. Die chilenische Justiz ermittelt zwar noch, doch die Aussichten auf Aufklärung sind gering. Vor der deutschen Justiz sind alle Verbrechen der Colonia Dignidad straflos geblieben, Täter finden hierzulande einen sicheren Hafen. Zur Aufklärung der bundesdeutschen Verantwortung müssen auch die Akten des BND endlich freigegeben werden.Die aktuellen Mitte-Links-Regierungen in Chile und Deutschland könnten nun, 50 Jahre später, ihr kurzes Zeitfenster nutzen und gemeinsam zumindest eine Gedenkstätte auf den Weg bringen. Den Angehörigen der Verschwundenen, die einen Ort zum Trauern brauchen, sind sie es ohnehin schuldig. Es ist untragbar, dass die deutsche Siedlung heute ein Ausflugslokal mit Hotel-Restaurant im bayerischen Stil ist, in dem von der Geschichte kaum etwas zu sehen ist. Im Kontext des 50. Jahrestag des Putsches hatte die chilenische Regierung geplant, Gedenktafeln an historischen Orten der ehemaligen Colonia Dignidad anzubringen – doch daraus wurde nichts. Auch bei der Gründung einer Trägerorganisation für den Gedenkort stockt es. Die deutsche Regierung hält sich vornehm zurück und verweist darauf, der Ball liege in Chile. Doch beide Regierungen tragen eine große Verantwortung: Ein Dokumentations-, Gedenk- und Lernort wäre wenigstens ein Punktgewinn gegen das Erstarken der extremen Rechten, die auch in Chile versucht, die Geschichte von Putsch und Diktatur wieder auf ihre Art und Weise umzuschreiben.

// Ute Löhning // Freie Journalistin // Berlin

Angesichts des Schweigens (Ausschnitt)

Zuerst kamen die Spanier
sie haben es nicht geschafft, uns zu beherrschen
sie mussten uns anerkennen
als freies und souveränes Volk.

Danach kamen die Chilenen,
… aber ich bin nicht in Chile geboren
Chile wurde auf unserem Territorium geboren
und als es geboren wurde,
machte es Versprechungen, die es nicht hielt.
So wie der Vertrag von Tapihue von 1825,
als sie versprachen, unsere Territorien,
unsere Souveränitat und Lebensphilosophie zu respektieren

aber sie haben uns den Krieg erklärt
sie nannten ihn Befriedung der Araucanía.
Sie töteten, vergewaltigten,
raubten, verbrannten die Häuser der Mapuche.
Es war ein Genozid, aber sie nennen ihn nicht Genozid
weil sie es sind, die die Definitionsmacht haben
und weil wir nicht weiß waren
sondern “indios”.

Mein Vater hat mir erzählt,
dass seine Großmutter ihm erzählte,
dass der letzte organisierte Aufstand gegen die Kolonisatoren
im Jahr 1881 war.
Und es ist kein Zufall, dass sie 1883
in Paris, Berlin und Hamburg 14 Mapuche ausstellten
wie Tiere
in den sogenannten Menschenzoos.

Aus dieser Geschichte komme ich,
die, die weiter zurückgeht als ins Jahr 73
weiter zurückgeht als bis zu Pinochets Militärputsch

Eine Geschichte struktureller Gewalt
dem Aufzwingen einer Sprache,
der Ausplünderung,
der Unsichtbarmachung und Abwertung unserer Kultur
und unserer Art, zu leben.

Aus dieser Geschichte komme ich
und diese Geschichte ist noch nicht vorbei

// Llanquiray Painemal // als Mapuche in verschiedenen migrantischen Kollektiven aktiv // Berlin
Das Gedicht „Angesichts des Schweigens“ wurde anlässlich des 11. September 2023 geschrieben und während einer Gedenkveranstaltung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vorgetragen.

Bis zum letzten Tropfen

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Wasser ist in Chile ein umkämpftes Gut – und seit der zivil-militärischen Diktatur, die vor 50 Jahren ihren blutigen Anfang nahm, weitestgehend privatisiert. Im September erinnern wir an den neoliberalen Umbau der chilenischen Gesellschaft unter Pinochet und blicken auf den Widerstand dagegen – früher wie heute. Dafür besuchen uns Aktivist:innen von MODATIMA (Bewegung zur Verteidigung des Zugangs zu Wasser, der Erde und des Umweltschutzes), die für das Recht auf Wasser kämpfen und letztes Jahr mit anderen versuchten, Chile eine neue Verfassung zu geben.

Programmübersicht (hier auch als Flyer oder Plakat)

7. September

20 Uhr // Bonn (Oscar-Romero-Haus, Heerstr. 205)

Avocados – Superfood und ökologisches Desaster

Die Nachfrage nach Avocados steigt weltweit. Die Plantagen für den Export führen jedoch aufgrund des hohen Wasserverbrauchs zu massiven sozialen und ökologischen Problemen. In der einst grünen Provinz Petorca, dem chilenischen Hauptanbaugebiet, herrscht heute Dürre, der Fluss ist ausgetrocknet, das Trinkwasser knapp, und Kleinbauern und -bäuerinnen müssen aufgeben. Seit 2010 kämpft die Bewegung MODATIMA gegen diese agrarindustrielle Verwüstung.

Mit: Carolina Vilches (MODATIMA)

Eine Veranstaltung von der Informationsstelle Lateinamerika (ila) und dem Oscar-Romero-Haus

8. September

19 Uhr // Frankfurt am Main (Instituto Cervantes, Staufenstraße 1)

Autoritarismus statt Feminismus und Klimagerechtigkeit?

Chile hätte eine der emanzipatorischsten Verfassungen der Welt bekommen können: feministisch und plurinational, ökologisch und sozial. Doch über 60 % der Bevölkerung lehnten den Entwurf 2022 ab. Nur wenige Jahre nach der großen Protestbewegung scheint der autoritäre Neoliberalismus, der mit dem Militärputsch vor 50 Jahren seinen Anfang nahm, heute wieder

gestärkt. Wie kommt es dazu? Welche Perspektiven haben soziale Bewegungen, die für Feminismus und Klimagerechtigkeit eintreten? Und was heißt das für die Zukunft – nicht nur in Chile?

Mit: Catalina Huerta (MODATIMA), Ana Cárdenas Tomažič (IfS), Moderation: Katja Maurer (medico international)

Eine Veranstaltung des Gleichstellungsrats des Fachbereichs 03 der Goethe-Universität Frankfurt, medico international, dem Institut für Sozialforschung und dem Instituto Cervantes

10. September

17 bis 19 Uhr // Berlin (FMP1, Franz-Mehring-Platz 1)

50 Jahre Putsch und die Privatisierung des Wassers in Chile

Der Militärputsch von Pinochet und der von ihm durchgesetzte Neoliberalismus haben sich auf Daseinsfürsorge und Menschenrechte in Chile ausgewirkt. Was waren die Folgen der Pinochet-Diktatur, die auch heute noch die Demokratie in Chile beeinträchtigen? Darüber wollen wir am Beispiel des ungleichen Zugangs zu Wasser diskutieren.

Mit: Jorge Díaz & Carolina Vilches (MODATIMA), Clarita Müller-Plantenberg (Mitbegründerin der Lateinamerika Nachrichten und Chile-Kennerin), Moderation: Nils Brock (npla)

Eine Veranstaltung von Lateinamerika Nachrichten, FDCL, npla, VVN-BdA (Im Rahmen des Tags der Erinnerung und Mahnung des Berliner VVN-BdA)

Gefördert von der Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit Berlin, Stiftung Umverteilen! und der Rosa Luxemburg Stiftung

11. September

21 Uhr // Berlin (b-ware! Ladenkino, Gärtnerstraße 19)

Der Perlmuttknopf. Filmvorführung und Publikumsgespräch

„Es wird gesagt, dass Wasser ein Gedächtnis hat. Ich glaube, es hat auch eine Stimme“, spricht Filmemacher Patricio Guzmán aus dem Off. Der Pazifik wurde in der chilenischen Geschichte wiederholt zum Massengrab. Guzmán lässt diesen Ort sprechen und erzählt die Geschichte indigenen Widerstands in Patagonien und des Widerstands gegen die zivil-militärische Diktatur. Im Anschluss laden wir zum Publikumsgespräch und sprechen über die Bedeutung der Erinnerung(en) 50 Jahre nach dem Putsch.

Mit: Jorge Díaz & Carolina Vilches (MODATIMA)

12. September

19 Uhr // Berlin (://about blank, Markgrafendamm 24c)

Back to normal? Chile ein Jahr nach der Abwahl des Entwurfs für eine neue Verfassung

50 Jahre nach dem Militärputsch und ein Jahr nach dem Scheitern der neuen Verfassung scheint die politische Lage in Chile festgefahren. Statt linker Kräfte arbeitet nun die Rechte an einer Alternative zur Diktaturverfassung. Welcher Spielraum bleibt sozialen Bewegungen nun? Und wie wird die neue Verfassung aussehen?

Mit: Victor Bahamonde & Catalina Huerta (MODATIMA), Moderation: Ute Löhning (npla) & Susanne Brust (LN)

Eine Veranstaltung von Buchladen Schwarze Risse, npla, Naturfreundejugend Berlin, Lateinamerika Nachrichten

Gefördert vom Solidaritätsfonds der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa Luxemburg Stiftung

15. September

19 Uhr // Berlin (NFJ-Laden, Weichselstraße 13-14)

Gegenmacht von unten und Gemeingüter – Dialog zwischen MODATIMA und Bloque Latinoamericano Berlín

In Lateinamerika sind die Widerstandskämpfe gegen den Neoliberalismus auch Kämpfe für den Schutz der Natur und den universellen Zugang zu Gemeingütern, losgelöst von privaten Interessen. Hierbei bestärkt eine Gegenmacht von unten durch effektive und organisierte politische Praxis diese Kämpfe. Doch inwiefern stärkt und bestimmt Gegenmacht von unten den Kampf für Gemeingüter? Welche historischen und aktuellen Kämpfe gibt es? Welche gemeinsamen Perspektiven gibt es in Lateinamerika zu diesem Thema?

Mit: Victor Bahamonde, Jorge Díaz, Catalina Huerta & Carolina Vilches (MODATIMA)

Eine Veranstaltung von Bloque Latinoamericano Berlín und Naturfreundejugend Berlin

Die Gefahr bleibt

Kalter Putsch Ausschnit aus dem LN-Cover nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff in Brasilien

Die Editorials als kollektiv verfasster Meinungsbeitrag der Redaktion werden bei den Lateinamerika Nachrichten normalerweise auf der Sitzung zum Redaktionsschluss und erneut während des monatlichen Produktionswochenendes besprochen. Nach dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales im November 2019 wollten wir darauf jedoch nicht warten. War es ein Putsch, was da passiert war? Die Sachlage war auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig. Die Nachrichten aus Bolivien und auch die Diskussionen in den sozialen Medien überschlugen sich, die Redaktion erhielt laufend Anfragen nach ihrer Sicht auf die Dinge. Wir merkten, dass eine Stellungnahme von uns hermusste. Völlig außerhalb des normalen Heftzyklus’ trommelten wir die Redaktionsmitglieder zusammen und diskutierten einen Abend lang über Bolivien, unser Raum war brechend voll. Am Ende stand eine gemeinsame Analyse, die den Putsch klar als solchen bezeichnete und die wir dann online gestellt haben. Kein anderer Text auf unserer Homepage wurde in den letzten Jahren innerhalb kurzer Zeit von so vielen Leuten gelesen wie dieser.

Was die LN in dem Sondereditorial „Die Putsche unserer Zeit“ herausgearbeitet haben: Die Strategien der radikalen Rechten haben sich geändert. Wenn diese heute ihre Interessen gefährdet sieht, greift sie nicht mehr zwangsläufig zu „klassischen“ Militärputschen, um linke Regierungen zu stürzen – heute behauptet sie, „Menschenrechte“, „Demokratie“ und die vermeintliche Freiheit zu verteidigen. Durchgesetzt werden die Interessen der Unternehmerseite durchaus auch mit Gewalt – das zeigte die tödliche Repression gegen Protestierende in Bolivien eindrücklich. Der Machtwechsel an sich verläuft jedoch meist scheinbar unblutig, gut vorbereitet durch Stimmungsmache in den Medien und einen Staats- und Justizapparat, den die Rechte ohnehin nie aus den Händen gegeben hat.

Auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr

Die LN waren eine der ersten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die sich gegenüber den Ereignissen in Bolivien klar positionierten. Viele andere Medien taten sich da schwerer. Die taz zögerte sichtlich, den Staatsstreich als einen solchen zu benennen und suchte anfangs gar die Schuld bei Morales selbst. Andere Zeitungen wie die Zeit interviewten die Putschistin Jeanine Áñez als vermeintlich legitime „Übergangspräsidentin“. Wie der gesammelte Wertewesten erkannte die Bundesregierung die neuen Machthaber*innen ohnehin sofort an – auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr. Die Rolle der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den Putschist*innen mit dem sich später als unhaltbar erweisenden Wahlfälschungsvorwurf den Boden bereitete, zeigt die internationale Dimension der „Putsche unserer Zeit“.

Dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden

Dass es sich beim Putsch gegen Evo um kein isoliertes Phänomen handelte, wurde schon im Editorial von 2019 betont. Zuvor war die Rechte gegen die Regierungen von Dilma Rousseff in Brasilien, von Manuel Zelaya in Honduras und von Fernando Lugo in Paraguay nach ähnlichen Mustern vorgegangen. Auch dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden. Bezüglich der Absetzung von Perus Präsidenten Pedro Castillo Ende letzten Jahres lassen sich zumindest Parallelen finden. Oftmals sorgt die Rechte und ihr Justizapparat in Lateinamerika jedoch vor und verhindert linke Regierungen bereits im Voraus. Spätestens seit den 2010er Jahren wird für derlei Machenschaften auch der Begriff Lawfare genutzt: das politisch motivierte Beugen von Recht gegen progressive Politiker*innen. Aktuelle Beispiele dafür sind die Urteile gegen die ehemalige Präsidentin und aktuelle Vize Argentiniens Cristina Fernández de Kirchner, die ihre erneute Kandidatur unmöglich machen, oder die Verhinderung der indigenen Aktivistin Thelma Cabrera als Präsidentschaftskandidatin in Guatemala.

Trotz gewalttätiger Repression nach dem Staatsstreich konnte die „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) nur rund ein Jahr nach dem Sturz von Evo Morales wieder an die Macht kommen. Zu verankert war sie in der indigenen Bevölkerung, die sich in Massen mobilisierte und das Land teilweise lahmlegte. Auch in anderen Ländern feierten weggeputschte Bewegungen und Parteien ein Comeback: So in Brasilien, wo seit Anfang des Jahres wieder Lula regiert; ebenso in Honduras, wo es nach dem Sturz Zelayas etwas länger dauerte, bis Xiomara Castro ins Präsidentinnenamt gewählt wurde.

In die Freude hierüber mischt sich Sorge. In allen drei genannten Ländern existiert heute eine starke gesellschaftliche Polarisierung. Mit Ausnahme Boliviens, wo die MAS jedoch durch innerparteiliche Konflikte geschwächt ist, verfügen die linken Regierungen zudem über keine eigene Mehrheit im Parlament. Das birgt die Gefahr, dass Anhänger*innen enttäuscht werden, wenn eigene Projekte am Widerstand der Opposition scheitern. Am Ende könnte das zukünftige Wahlsiege der Rechten begünstigen. Zwar zeigen die Entwicklungen in Brasilien, Honduras und Bolivien, dass die „Putsche unserer Zeit“ keinen nachhaltigen Erfolg haben müssen. Die Gefahr, dass die Rechte zurückschlägt, ist jedoch keineswegs gebannt. Ein Grund dafür ist, dass hohe Militärs und Richter*innen oft weiterhin mit ihr sympathisieren, auch wenn ihnen nun ein*e progressive Präsident*in vorsteht. In Bolivien etwa hat Präsident Arce im November 2022 nach einer großen Protestwelle in Santa Cruz, der Hochburg der Rechten, bereits zum zweiten Mal seit seinem Amtsantritt die oberste Führung der Streitkräfte ausgewechselt. Das tat er, um einem möglichen neuen Putsch zuvorzukommen.

Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen.
Frederic Schnatterer ist Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für das Spannungsverhältnis von Realpolitik und Revolution.

ZWEITE CHANCE FÜR DIE MAS

SymboltrachtLuis Arce und David Choquehuanca bei einer Zeremonie in der Aymara-Stätte Tiwanaku (Foto: ABI, frei verfügbar)

Comeback nach einem Jahr: Mit Luis Arce stellt die Bewegung zum Sozialismus (MAS) den neuen Präsidenten Boliviens. Damit war nach dem erzwungenen Abgang von Evo Morales ins Exil am 11. November 2019 nicht zu rechnen. Damals schien die seit 2006 währende Regierungsära der MAS für längere Zeit beendet. Doch jetzt steht sie vor einem Neuanfang an der Regierung. Luis Arce, der Präsidentschaftskandidat der MAS, gewann die Wahlen am 18. Oktober mit 55 Prozent bereits im ersten Wahlgang, und sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat konnte seine Partei wieder eine absolute Mehrheit erzielen. In beiden Kammern verlor sie jedoch ihre Zwei-Drittel-Mehrheit, deshalb braucht sie für wichtige Entscheidungen wie die Wahl des Generalstaatsanwalts jetzt Stimmen aus anderen Parteien.

Das Ergebnis ist in dieser Deutlichkeit eine große Überraschung, genauso wie die Erkenntnis: Die MAS kann auch ohne Evo Morales gewinnen. Und die selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez ist fast ein Jahr nach dem Putsch gegen Morales Geschichte, Bolivien hat wieder ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt.

Für den Triumph der MAS gibt es viele Gründe. Evo Morales war und ist deren Identifikationsfigur. Aber bei der Wahl 2019 kandidierte er für eine vierte Amtszeit, die dritte in Folge unter der neuen Verfassung Boliviens von 2009 ­– dabei lässt diese nur eine Wiederwahl zu. Das verärgerte auch ehemalige Mitstreiter*innen und erleichterte der Rechten die Mobilisierung.

Morales und die MAS siegten zwar im Oktober 2019, unter Vorwürfen des Wahlbetrugs wurde Morales jedoch aus dem Amt geputscht und zur Flucht aus dem Land gezwungen. Er selbst hat Anfang dieses Jahres in seinem Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, noch einmal anzutreten.

Die MAS musste für die Neuwahl andere Kandidaten suchen und fand das passende Duo: Luis Arce ist Ökonom und war 13 Jahre Wirtschaftsminister unter Morales, er steht für den wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien und sprach als Bewerber auch die städtische Mittelschicht an. Der künftige Vizepräsident David Choquehuanca war lange Zeit Außenminister und rechnet sich der indigenen Nation der Aymara zu; er war der Kandidat der sozialen Bewegungen und der ländlichen, indigenen Bevölkerung.

Für die MAS sprach auch die Hoffnung auf Konjunkturerholung unter Ex-Wirtschaftsminister Luis Arce. Die Corona-Pandemie verschärfte die wirtschaftliche Krise in Bolivien, wegen sinkender Marktpreise verringerten sich bereits zuvor die Einnahmen durch den Export von Erdgas. Die De-facto-Regierung hielt die Landeswährung Boliviano zwar stabil, aber monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte traf vor allem Menschen, die Essen und Miete von Tag zu Tag verdienen müssen: Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen, Bäuerinnen und Bauern. Und Schätzungen zufolge arbeiten mehr als zwei Drittel der Bolivianer*innen in solchen informellen Jobs, also ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen.

Áñez hielt sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Neuwahlen immer wieder

Die Angst, dass sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert, war bei vielen so groß wie die Hoffnung, dass sich die Lage mit der Rückkehr des Ex-Wirtschaftsministers erholen könnte und eine MAS-Regierung die weniger privilegierten, von der Krise besonders betroffenen Menschen, stärker unterstützen würde, beispielsweise durch direkte staatliche Geldzahlungen.

Auch die politische Konjunktur sprach für die MAS. Die selbsternannte Übergangsregierung von Áñez sollte eigentlich innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen organisieren. Tatsächlich hielt sie sich fast ein Jahr an der Macht und verschob die Abstimmung immer wieder. Von der Corona-Pandemie und der Wirtschaftskrise heillos überfordert, erlangte die De-facto-Regierung Aufmerksamkeit durch Vetternwirtschaft, Zugeständnisse an Oligarchen im Agrarsektor und einen Skandal um den überteuerten Kauf von Beatmungsgeräten.

Nach den Massakern vom November 2019 in Sacaba und Senkata, als Sicherheitskräfte auf Demonstrant*innen schossen und dem neuesten Bericht einer Parlamentskommission zufolge mindestens 20 Menschen von Kugeln getötet wurden, zeigten Áñez und die zuständigen Minister wenig Tatendrang bei der Aufklärung. Mehr Eifer bewiesen sie darin, die Angst vor Evo Morales und der MAS zu schüren und deren Anhänger rassistisch zu beleidigen: Im Januar warnte Áñez via Twitter vor einer Rückkehr der „Wilden“. Gleichzeitig versuchten die Machthaber und ihre Verbündeten, eine Teilnahme der MAS an den Wahlen per Gericht zu verhindern.

Mit Arce und Choquehuanca hat die MAS nun eine zweite Chance. Er werde die Wirtschaft erneut zum Laufen bringen und das Land wieder einen, versprach Luis Arce nach der Wahl. Angesichts der Krise wird es für die künftige Regierung wohl schwieriger, Stabilität und Wachstum zu garantieren. Es bietet sich aber die Gelegenheit, das extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja für den Export zu überdenken, da dies die Natur und indigene Territorien zerstört. Zudem ziehen sich Gräben durch die bolivianische Gesellschaft, zwischen Indigenen im Hochland und Indigenen im Tiefland, zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, soziale Ungleichheit und Rassismus sind allgegenwärtig.

Der Neustart bietet für die MAS auch die Möglichkeit einer Neuausrichtung nach fast 14 Jahren an der Regierung bis November 2019, vielleicht sogar einer Abnabelung von Evo Morales. Arce gilt als Verbündeter des früheren Präsidenten, der seine Rückkehr nach Bolivien für den 9. November angekündigt hat, einen Tag nach der für den 8. November angesetzten Amtseinführung von Arce. Auf Fragen zu einer politischen Rückkehr von Morales antwortete Arce bislang verhalten: „Er kann jederzeit ins Land zurückkehren, denn er ist Bolivianer. Aber ich habe zu entscheiden, wer Teil der Regierung ist und wer nicht.“

OLIGARCHIE ESSEN DEMOKRATIE AUF

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NADESDHA GUEVARA OROPEZA

ist Anwältin und Menschenrechtsaktivistin und vertritt einige der Opfer des im November 2019 durch das bolivianische Militär in Senkata verübten Massakers. Sie hat bei den Vereinten Nationen eine Reihe von Beschwerden zu Menschen- rechtsverletzungen eingereicht und kooperiert mit der Assoziation für Men- schenrechte in Bolivien, die die Menschenrechte aus einer dekolonialen Perspek- tive betrachtet und sich für die verarmten Sektoren im Land einsetzt. Guevara sieht sich in der Tradition des andinen Widerstands von Tupac Amaru II, Micaela Bastidas und Tupac Katari (indigene Anführer*innen, die im 18. Jh. gegen die Kolonialmacht Spanien rebellierten) sowie deren Ziel eines vereinigten Hispano- amerikas. Sie nutzt ihren Beruf als Anwältin zur Durchsetzung des Suma Qamaña (Aymara) bzw. Sumak Kawsay (Quechua), dem in der boliviani- schen Verfassung verankerten indigenen Konzept des “Guten Lebens”.

(Foto: Privat)


Können Sie uns etwas über den politischen Kontext des Putsches in Bolivien erzählen?

Der Putsch in Bolivien ereignete sich im Kontext verschiedener Szenarien. Hier spielt zunächst die Agrarindustrie von Santa Cruz de la Sierra eine wichtige Rolle. Dieser Sektor strebte nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die politische Macht an, von der er seit 14 Jahren ausgeschlossen war. Nachdem die Regierungspartei MAS eine strategische Allianz mit der Agraroligarchie eingegangen war, wurden ihr politische Zugeständnisse in der Exekutive und Legislative gemacht. Die haben sie auch dazu genutzt, paramilitärische Gruppen zu bilden, wie wir jetzt sehen.

Zudem stand die MAS vor internen Herausforderungen, wie der Konsolidierung des plurinationalen Staates und der Bildung einer neuen Führungsspitze. Diese erwiesen sich als Versäumnisse, die die bolivianische Mittelschicht später zu ihrem Vorteil nutzte. Ein weiterer Fehler war es, zuzulassen, dass anstelle der Indigenen-, Kleinbauern- und Arbeiterbewegung die Mittelschicht zum historischen Subjekt des Kampfes wurde.

Aus geopolitischer Perspektive ist das Interesse an unseren natürlichen Ressourcen gewachsen, vor allem am Lithium. Hinzu kam, dass die bolivianische Mittelklasse behauptete, dass sie unter der Regierung der MAS in einer Diktatur lebe und für ihre Freiheit kämpfe. Die hauptsächlichen Ursachen des Putsches waren jedoch der politische Machtkampf und die Kooperation der Regierung mit den oligarchischen Sektoren.


Wie kam es vor diesem Hintergrund zu dem Putsch?

Nach dem Referendum vom Februar 2018, bei dem sich das Volk gegen die Möglichkeit einer dritten Kandidatur von Evo Morales zur Präsidentschaftswahl entschied, ließ dieser sich vom Verfassungsgericht seine Wiederaufstellung genehmigen. Als Morales die Präsidentschaftswahl im Oktober 2019 gewann, erhob die Organisation Amerikanischer Staaten den Vorwurf des Wahlbetrugs, woraufhin die rassistische Gewalt der paramilitärischen Gruppen gegen das Volk und gegen Repräsentanten der MAS begann und viele Politiker der MAS zurücktraten. Der Rücktritt von Evo Morales verursachte ein Machtvakuum und nachdem seine Nachfolgerin, Adriana Salvatierra, ebenfalls zurückgetreten war, wurde Jeanine Áñez auf nicht-demokratischem Weg von Polizei und Militär als Präsidentin eingesetzt.

Kaum an der Regierung, verbrannten sie die Wiphala, Flagge und Symbol der indigenen Nationen, und machten deutlich, dass die Indigenen an den Platz zurückgekehrt waren, der ihnen ihrer Ansicht nach zustand. Nachdem Áñez dem Militär und der Polizei per Dekret Immunität zusicherte, verübten diese im November 2019 die Massaker von Sacaba und Senkata, die von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte als solche anerkannt wurden.


Was waren die Folgen des Putsches bezüglich der politischen Verfolgung und der Funktion der Rechtsinstitutionen in Bolivien?

Die ersten Folgen waren die Massaker und ein politischer Pakt, welcher die MAS im Parlament entmachtete und die Durchführung von Wahlen garantieren sollte. Dies war zunächst das einzige Ziel der De-facto-Regierung. Doch mit dem Ausbruch von Covid-19 begann eine noch kompliziertere Periode, die den Klassenkampf verstärkt, den Rassismus verdeutlicht und in der keines der strukturellen Probleme des Landes gelöst wird.

Unter der De-facto-Regierung gibt es einen institutionellen Kollaps und alles bewegt sich nur noch ausgehend von Regierungsanweisungen. Es gibt politisch Verfolgte der MAS, und solche, die ihr nicht angehören und deren einziges Vergehen es war, die Regierung zu kritisieren. Seit den Massakern gibt es Gefangene, die auf illegale und willkürliche Art und Weise inhaftiert wurden. Frauen mit pollera wurden von Militärs und Polizisten vergewaltigt (in Bolivien ist die pollera eine typische Bekleidung der indigenen Frauen und Kleinbäuerinnen, Anm. d. Red.). Der argentinische Fotograf Facundo Molares befindet sich weiterhin in Gefangenschaft, ebenso wie viele Frauen noch immer in den Strafanstalten für Frauen inhaftiert sind.

Der institutionelle Bruch zeigt sich auch darin, dass die paramilitärischen Gruppen von der Regierung nicht nur toleriert, sondern auch finanziert werden. Vor einigen Tagen ließ die Regierung verlauten, dass es politisch angemessen sei, die Demonstranten zu erschießen. Hinzu kommt, dass in Bolivien drei Millionen Arbeitslose und ein Anstieg der extremen Armut erwartet werden. Das Gesundheitssystem wurde privatisiert, das Schuljahr wurde aufgrund der Pandemie ausgesetzt.

Das sind die Folgen des Putsches und eines Staates, der kein Rechtsstaat ist und der auf Kritiker das Strafrecht anwendet, das diese nicht als Bürger behandelt, sondern als Terroristen brandmarkt. Aufgrund dieser Situation sehen sich die sozialen Bewegungen nun gezwungen, sich zu äußern. Gleichzeitig schürt die Regierung Hass und stigmatisiert diejenigen, die von ihrem Recht auf Protest Gebrauch machen, als Angehörige der MAS. Die Bevölkerung ist unzufrieden und mobilisiert sich, aber gleichzeitig ist sie auch tief getroffen, denn seit neun Monaten ist kein neuer sozialer Pakt (gemeint ist ein gesellschaftliches und politisches Übereinkommen zur Überwindung der Spaltung der Gesellschaft, Anm. d. Red) ausgehandelt worden.


Wie ist die aktuelle Situation in Bolivien und wie ist es zu den erneuten Mobilisierungen gekommen?

Viele sahen in den Wahlen, die für den 6. September angesetzt waren, einen politischen Ausweg. Zwar bestand Unsicherheit darüber, welche Partei gewinnen würde, aber es wurde angenommen, dass ein neuer sozialer Pakt verhandelt werden würde. Dann jedoch gab der Wahlprüfungsausschuss bekannt, dass sich die Wahl auf den 18. Oktober verschieben würde. Daraufhin wurde in El Alto ein Treffen von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen und dem Wahlprüfungsausschuss ein Ultimatum von 72 Stunden gestellt, um zum ursprünglichen Wahltermin zurückzukehren. Würde dies nicht geschehen, käme es zu nationalen Blockaden.

Wie angekündigt begannen nach Ablauf der 72 Stunden die Blockaden. Nachdem regierungsnahe Sektoren wie das oligarchische Bürgerkomitee von Santa Cruz verlauten ließen, dass wir von der indigenen Bewegung Bestien seien, dass wir es nicht verdient hätten, Bürger zu sein, und dass wir die Hand beißen würden, die uns zu essen gäbe, erhielten die Blockaden Zulauf. Die Indigenen und Kleinbauern repräsentieren über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes und die Indigenen sind in der Verfassung mit 36 Nationen anerkannt. Zudem ließen das Bürgerkomitee und die Regierung verlauten, dass Bolivien „zur Republik zurückkehren“ sollte (gemeint ist eine Rückkehr zur vor der MAS-Regierungszeit gültigen Verfassung, Anm. d. Red.). Diese Vorkommnisse verschärften die Streitigkeiten, weswegen sich die Losung der Mobilisierungen schließlich nicht mehr auf den Wahltermin bezog, sondern auf den Rücktritt von Áñez.

Es wurde versucht, die Blockaden unter anderem mit dem Vorwurf, sie würden den Transport von Sauerstoff für Covid-19 Patienten verhindern, zu delegitimieren. Doch es hat seit zwei Monaten keine Sauerstofflieferungen gegeben und das Gesundheitssystem ist seit neun Monaten praktisch inexistent. Schließlich jedoch akzeptierte das Parlament, in der die MAS die Mehrheit stellt, den neuen Wahltermin am 18. Oktober und hob die Blockaden auf, rief aber gleichzeitig die permanente Alarmbereitschaft aus.


Wie wird es jetzt weitergehen, nachdem der neue Wahltermin akzeptiert und die Blockaden aufgehoben wurden?

Es zeichnet sich ab, dass es zu einer politischen Verfolgung derjenigen kommt, die zu den Mobilisierungen aufgerufen haben. Es wurden diesbezüglich Anzeigen erstattet, die von der Staatsanwaltschaft aufgenommen wurden. In Samaipata wurden 43 Personen auf unrechtmäßige und willkürliche Weise festgenommen. Drei von ihnen befinden sich in Präventivhaft. In San Ignacio de Moxos haben drei Menschen Schusswaffenverletzungen durch die Paramilitärs erlitten und wir haben im Resultat ein in seiner Würde verletztes Volk. Heute sehen wir die Notwendigkeit uns zu organisieren, denn wir wissen, dass der Staat durch Polizei, Militär und Paramilitär darauf vorbereitet ist, das Volk zu unterdrücken. Angesichts der Verschärfung des Problems ist das Einzige, was uns bleibt, eine Volksmacht zu organisieren. Wir wissen nicht, ob die Wahlen tatsächlich stattfinden werden. Aber was wir wissen,ist, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, uns zu vereinen und zu kämpfen.

// KEINE NORMALITÄT

Im November 2019 haben sich in Bolivien die Ereignisse überschlagen: Umstrittene Wahlen, ebenso umstrittene Beobachtungen der OAS, Proteste auf beiden Seiten, Drohungen des Militärs, die Flucht von Evo Morales und vieler seiner Regierungsmitglieder, die Machtkämpfe seiner Widersacher*innen, die undemokratische Machtübernahme der Übergangsregierung von Jeanine Añez. Auf das Konto der De-facto-Regierung gehen mittlerweile 34 Tote. Offiziell heißt es, die Protestierenden hätten sich gegenseitig getötet. Das bis Ende November gültige Dekret, welches dem Militär „bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusicherte, hat zur Eskalierung der Gewalt beigetragen. Der vorläufige traurige Höhepunkt war das Massaker von Senkata am 19. November (siehe S. 31), als mindestens zehn Menschen bei der Blockade einer Gasfabrik vom Militär getötet wurden.

Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht eines deutlich: Die Übergangsregierung ist nicht demokratisch legitimiert. Sie ist das Ergebnis eines Putsches. Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär bis Ende Januar gedauert hätte. Weil Morales auf öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hatte und nur Stunden danach vom Militär gedrängt wurde zurückzutreten – es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet, doch schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.

Wenn wir die Putsche der vergangenen Jahre betrachten – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so verlaufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und 1970er Jahre. Keine Militärjunta, die den Präsidentenpalast stürmen und alle Anwesenden umbringen oder in Folterlager stecken lässt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Handlungen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen, um ihnen so politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. Nach Wochen der Eskalation und anhaltender Proteste, in denen Evo Morales’ Basis ihn trotz aller Kritik an seinem Führungsstil auf der Straße verteidigte, hat die De-facto-Regierung mit gewerkschaftlichen und sozialen Organisationen Garantien gegen Repression sowie Neuwahlen vereinbart, um ein Ende der Proteste zu erreichen.

Damit ist sie weitgehend Herrin der Lage, die nun vor der Aufgabe steht, ihre Macht über die Neuwahlen hinaus zu sichern. Der Schein der Normalität ist zur Wahrung der demokratischen Fassade für sie wichtig und wird über die – fast durchgehend – wohlgesonnenen Medien fleißig verbreitet: Die Geschäfte seien geöffnet, die Kinder gingen zur Schule, die Demokratie funktioniere. Tatsächlich ist jedoch nichts „normal“, in Bolivien herrscht Willkür, einen Rechtsstaat gibt es nach dem Putsch nicht mehr. Die vermeintlich eingekehrte Freiheit ist für die Putschregierung höchstens eine unternehmerische, und die gilt es nun mit allen Mitteln zu verteidigen. Jeanine Áñez hat bereits wenige Tage nach dem Putsch erklärt, das nach Verhaftung seiner bisherigen Mitglieder neu zusammenzusetzende Wahlgericht müsse Morales’ Partei MAS die Zulassung zu den Wahlen entziehen.

Die Meinung ausländischer Wirtschaftsmächte ist den Putschist*innen, im Gegensatz zu den Protesten im Land, nicht gleichgültig. Die deutsche Regierung sollte die Ereignisse in Bolivien daher nicht nur unter dem Blickwinkel bewerten, welche Regierung zukünftig am ehesten dazu bereit wäre, das noch von der Regierung Morales im November annullierte Lithium-Abkommen mit einer deutschen Firma wieder in Kraft zu setzen. Denn unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit der Regierung von Evo Morales ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Anspruch auf die Macht erheben, sind keine Demokrat*innen.

KLIMA DER ANGST

Foto: Jonas Klünemann

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, im Stadtteil Senkata von El Alto, liegen auf den Bänken mehrere Leichen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke, neben dem einfachen Altar der Kirche, ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einem in der oberen linken Brust und einem im Gesicht. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch, der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. „Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht“, meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, „sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken.“

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als „MAS-Horden“ und „Terroristen“ abgestempelt. MAS steht für „Bewegung zum Sozialismus“, die Partei des ins Exil nach Mexiko getriebenen Präsidenten Evo Morales, der inzwischen nach Argentinien weitergezogen ist und dort Asyl beantragt hat, kurz nachdem der Mitte-Links-Peronist Alberto Fernández in Buenos Aires die Amtsgeschäfte übernommen hat. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister Fernando López behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch Jeanine Áñez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: „So weit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!“

Laut den Anwohner*innen hat das Militär die tödlichen Schüsse abgegeben, so auch die Auffassung des Sicherheitsexperten Samuel Montaño, er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gibt mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldat*innen geschossen haben.

Von der De-facto-Regierung wird behauptet, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete hieß es, Anhänger*innen von Evo Morales wollten ein Treibstofflager in Brand setzen. Andere Quellen ließen verlauten, dass Dynamit im Spiel gewesen sei. Bisher gibt es aber keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es um mehr ging, als eine Blockade des Treibstofflagers. Augenzeug*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, „nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schossen“, meint eine Anwohnerin.

Wie die Anwohnerin wollen die meisten anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung. „Es ist sehr schwer, im Moment als Menschen­rechts­verteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß, außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung“, sagte ein Mitarbeiter gegenüber den LN.

Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, bei denen die Familien sich geweigert haben, sie offiziell anzugeben. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll, nach Zeug*innenberichten, auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizist*innen weggeschafft wurde.
Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese „Details“ kaum eine Rolle. Die Version eines „terroristischen Anschlags“ und eines „friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes“ stehen im Vordergrund.

45 Verletzte sind von Hilfsorganisationen in El Alto registriert worden, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. „Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen“, erklärt Danuta Orea, die sich mit um die Verletzten kümmert. „In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist keiner der Verletzten in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt.“

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum dessen Tagungsort blockiert, Zeug*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens oder Aktivist*innen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Innenminister Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“ und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“.

Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung denn an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, dass sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. Im Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und auch ein Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Kritische Stimmen in der Presse werden bedroht und angefeindet

Die De-facto-Regierung fährt eine Doppelstrategie: Während sie aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, so weit es geht, Fakten zu schaffen und lässt viele politische Gegner*innen verfolgen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige Mitglieder der MAS, Mitglieder der Wahlbehörde und andere Funktionär*innen verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Departamento Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departamentos als Agrarfläche ausweist – die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den zivilgesellschaftlichen Bürgerkomitees des Landes nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.
Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen, zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei von Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervorgeht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der MAS die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteur*innen, wie zum Beispiel der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departamento La Paz eine wirkliche Basis hat.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem „gigantischen Wahlbetrug“. Von „Wahlbetrug“ berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als „vorsätzliche Manipulation“. Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departamentos Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departamentos in Brand.
Unter den Bürgerkomitees nehmen die Spannungen inzwischen zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Komitees in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide als Duo gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Ex-Präsident Carlos Mesa, der am 20. Oktober gegen Evo Morales angetreten war, und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die MAS will voraussichtlich noch dieses Jahr klären, mit welchen Kandidat*innen sie bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird, die voraussichtlich im März stattfinden sollen. Festgelegt hat sich die MAS schon auf ihren Wahlkampfleiter: Evo Morales.

„DIE WAHLEN SIND EINE FALLE“

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Adriana Guzmán Arroyo
ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an, die sich in Folge des Massakers im Gas-Krieg 2003 gebildet hat. Die Organisation verortet sich in den Protestbewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bolivien beschreiben?
Wir erleben in Bolivien einen rassistischen Staatsstreich und Putsch gegen die sozialen Organisationen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sich um einen Putsch handelt, weil wir andernfalls eine Regierung akzeptieren würden, die sich als demokratisch ausgibt, sich aber mittels Massakern, Kugeln, illegalen Festnahmen und Prozessen durchsetzt, die zu politischen Gefangenen führen. Die De-facto-Regierung hat erzwungen, dass die Geschäfte wieder öffnen und die Kinder wieder zur Schule gehen, um zu zeigen, dass Normalität herrscht. Gemeinsam mit den von ihr kontrollierten Medien hat die De-facto-Regierung eine Kampagne gestartet, in der die sozialen Organisationen, vor allem die Frauen und Indigenen, als diejenigen dargestellt werden, die Konflikte und Chaos wollen. Das stimmt nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Es gibt keine Normalität, nicht nachdem mindestens 34 Menschen ermordet wurden und Straffreiheit herrscht.

Welche Formen der Repression gibt es derzeit durch die De-facto-Regierung?
Das Militär hat sich nicht vollständig zurückgezogen. In bestimmten Stadtvierteln und Gemeinden führen Polizisten viele Kontrollen durch. Polizisten in Zivil, die Mitgliedern von sozialen Organisationen die ganze Zeit folgen, die uns fotografieren, die beobachten, mit wem wir in der Öffentlichkeit sprechen. Sogar heute noch, am 9. Dezember, können sie dich anhalten, dein Handy durchsuchen und dich in eine Gefängniszelle stecken. Viele politische Anführerinnen und Anführer wurden unter erfundenen Vorwänden festgenommen. Wir leben in permanenter Angst und müssen uns ständig überlegen, worüber wir im Bus oder auf der Straße sprechen. Das betrifft sowohl indigene Frauen als auch Männer, aber besonders indigene Frauen.

Inwiefern sind indigene Frauen besonders betroffen?
Nur einen Monat nach dem Putsch haben wir als Frauen bereits viel verloren. Die Angriffe, die Gewalt, die Erniedrigung von indigenen Frauen, die pollera [Anm. der Redaktion: Rock der Aymara- und Quechua-Frauen] tragen. Aufgrund eines neuen Dekrets darf im Außenministerium zum Beispiel niemand mehr in pollera oder mit aguayo [Anm. der Redaktion: Umschlag- und Tragetuch aus gewebter Wolle] arbeiten, alle müssen Anzug und Krawatte tragen.

Die Frauen, die sich gegen Faschismus und Rassismus stellen, wurden dafür bestraft. Vor allem Aymara-Frauen, sowohl in der Stadt als auch in den indigenen Gemeinden. Wir können nicht mehr ohne Angst durch die Straßen laufen wie vor zwei Monaten, weil sich der Rassismus verschärft hat. Vor dem Putsch hat auch Rassismus existiert, aber er war nicht straffrei. Da es einen plurinationalen Staat gab, konnten sie dir nicht einfach sagen „scheiß India“ oder „geh studieren, bevor du mit mir sprichst“. Heute können sie dich voller Abscheu anschauen und den Sitzplatz wechseln. Heute können sie dich überall misshandeln und demütigen. Viele Menschen, die den Putsch nicht direkt unterstützen, nutzen den Moment, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Heute Morgen ging ich zur Bank und hatte dort einen Streit, weil sie mir sagten, dass ich mit meinen umgebundenen Tragetüchern nicht in der Bank sein darf. Sie fragten mich, warum ich nicht lernen würde, wie man zur Bank geht? Schon jetzt hat sich unser Leben grundlegend geändert.

Welche Rolle spielt die Justiz in dieser Situation?
In dieser Zeit des Putsches mit bewaffneten Gruppen und illegalen Verhaftungen gibt es kein Gesetz. Sie, der Putsch, sind das Gesetz. Du hast niemanden, bei dem du dich beschweren kannst. Wenn ich zum Beispiel verfolgt werde, wen soll ich dann anzeigen und wo? Die Polizei, die tötet? Das Militär? Bei der Justiz, die zu Unrecht Menschen ins Gefängnis bringt? Zwei unserer Genossinnen sind im Gefängnis und werden wegen Terrorismus verfolgt. Eine von ihnen hat mit einer wiphala, der Flagge der indigenen Völker, an einem Protestmarsch teilgenommen, die andere ist ohne Anlass auf der Straße verhaftet worden.

Diese Justiz hat zum Beispiel die Mitglieder des Wahlgerichtshofes inhaftiert, obwohl noch keine Untersuchung einen Wahlbetrug nachgewiesen hat. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, die die pollera trägt, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, so als ob sie eine große Kriminelle wäre, und ohne Recht auf Verteidigung direkt ins Gefängnis gebracht. Andererseits wurden Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen, ein weiterer steht kurz davor. Zwölf Vergewaltiger sind straffrei geblieben. Da es kein Gesetz gibt, sind die Richter nun vermutlich korrupt. Schon vorher war die Gerechtigkeit für uns Frauen eine schwierige Sache, aber jetzt ist es schlimmer. Wenn du eine Anzeige machst, wirst du verhaftet.

Die De-facto-Regierung hat Neuwahlen versprochen …
Ich und meine Organisation denken, dass die Wahlen eine Falle sind. Entweder die Wahlen werden gar nicht stattfinden oder sie werden unter den Bedingungen realisiert werden, die die De-facto-Regierung diktiert. Momentan gibt es keine Demonstrationen und keine Straßenblockaden mehr. Das hat die De-facto-Regierung erreicht, indem sie eine Vereinbarung mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und verschiedenen sozialen Organisationen zur Befriedung des Landes abgeschlossen und Neuwahlen versprochen hat. In dieser Vereinbarung steht, dass die Anführer der Proteste nicht verfolgt werden, aber die Regierung hält sich nicht an ihr Wort.

Wie ist angesichts dessen die Strategie der sozialen Organisationen hinsichtlich der Wahlen?
Manche meinen, dass wir gar nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. Andere denken, dass die Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS, Partei des aus dem Amt geputschten Präsidenten Evo Morales, Anm. d. Red.) verschwinden sollte, aber die meisten planen sie wieder als politisches Instrument zu nutzen, denn letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, um an den Wahlen teilzunehmen.

Im ersten Moment nach dem Putsch herrschte ein allgemeiner Terror, in dem sich unsere politischen Anführerinnen und Anführer versteckt haben. Nun sind wir in einem zweiten Moment, in dem wir verstehen, dass es uns lähmt, wenn wir uns von der Angst fressen lassen. Also streiten wir auch wieder auf den Straßen. Derzeit gibt es zwei Dimensionen des Kampfes. Zum einen Versammlungen und Diskussionen zwischen den verschiedenen Organisationen, um den Widerstand vorzubereiten. Zum anderen müssen auch die Wahlen vorbereitet und Kandidaten gesucht werden. Für uns als antipatriarchale gemeinschaftliche Feministinnen ist wichtig, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam antreten. Wir glauben, dass Bündnisse mit der Mittelschicht nicht mehr funktionieren. Als Evo und Álvaro García Linares (ehemaliger Vizepräsident, Anm. der Red.) Kandidaten waren, repräsentierte Álvaro García die Mittelschicht. Aber die Mittelschicht ist rassistisch und erträgt nicht, dass wir nicht mehr ihre Angestellten sind. Deshalb sind sie auf die Straße gegangen und haben gesagt, dass Evo ein Diktator ist.

Als Wahlen angekündigt wurden, haben die Protestierenden die Blockaden aufgegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Wahlen für eine Falle halten. Wird darüber nachgedacht, wieder zu mobilisieren?
Es war ein Fehler die Blockaden aufzugeben, aber es gab auch einen sehr starken Druck und außerdem fehlende Einigkeit. Es ist nicht wie 2003 während des Gaskrieges, den wir auf der Straße durchstehen konnten. Die Organisationen sind jetzt geschwächter. Wären wir auf der Straße geblieben, wären wir allerdings gestärkt worden, denke ich. Es gibt zwei kritische Momente, die sicher zu einer erneuten Mobilisierung führen werden, weil sie nicht durch Dialog gelöst werden können: Erstens wenn sie versuchen, der MAS unter dem Vorwand von Betrug und Unregelmäßigkeiten die Zulassung als politische Partei zu entziehen – denn das ist einer der Pläne der De-facto-Regierung. Und dann am Tag nach den Wahlen, falls sie durch Stimmen oder Betrug gewinnen.

Dazu kommt noch die wachsende Empörung und Wut über die Toten, über die Straffreiheit und über die Erniedrigung durch die Gewährung einer Entschädigung von 7.000 Dollar pro Toten seitens der Regierung, wenn die Familien unterschreiben, dass sie niemals eine juristische Untersuchung anstrengen werden.

Wer sind die Gruppen im Widerstand? Sind sie sich einig in ihren Forderungen?
Es gibt verschiedene Organisationen im Widerstand gegen den Putsch: Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiterorganisationen und Frauenorganisationen. Natürlich gibt es Uneinigkeit. Das hängt auch damit zusammen, dass wir mehr als 13 Jahre Teil des Staates gewesen sind, in denen es große Machtkämpfe und sehr viel Konkurrenz gab, etwa um Ministerämter. Viele Anführerinnen und Anführer repräsentieren die Basis nicht mehr. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dass die Massaker nicht hingenommen werden und die Verantwortlichen für die Toten nicht straffrei bleiben dürfen. Wir von Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Antipatriarchaler Feminismus) gehören zum Beispiel nicht zur MAS. Aber wir kämpfen gegen den Staatsstreich, gegen den Faschismus, gegen den Fundamentalismus, gegen die Zwang zur Bibel.

Gleichzeitig müssen wir auch Selbstkritik üben. Uns Feministinnen ist es wichtig, die patriarchalen Pakte von Evos Regierungszeit überwinden zu helfen. Wir haben es nicht geschafft, den Staat zu kontrollieren, die extraktivistische Politik zu beenden, den Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen zur Priorität zu machen. Wir haben es auch nicht geschafft, den Bergbau zu verstaatlichen, denn transnationale US-Unternehmen nehmen sich weiterhin das gesamte Erz des Landes. Ich erzähle das, weil es eine reduzierte Sichtweise des Feminismus gibt, der strukturelle Aspekte ausklammert.

Können Sie das näher ausführen?
Der Feminismus verwechselt oft die Konzepte des Patriarchats und des Machismus. Das hat auch mit der Theorie zu tun, die vor allem in Europa entwickelt wurde, wo zum Beispiel von machistischer Gewalt gesprochen wird. Luis Fernando Camacho etwa, der den Staatsstreich anführt und die reichsten Unternehmer des Landes, die Großgrundbesitzer, vertritt: Menschen wie er haben Kapital und Land, in ihrer täglichen Praxis leben sie von der Ausbeutung von Frauen in ihren Territorien, in ihren Ländern, in ihren Unternehmen, in ihren Fabriken. Sie fördern die Kultur der Gewalt der Bosse; sie vermeiden es Steuern zu zahlen, machen im Bergbau Geschäfte, haben Holzfirmen, fördern den Faschismus. So jemand ist ein Patriarch, auch wenn er wie etwa Camacho in seinen Äußerungen Frauen gegenüber sehr respektvoll ist. Evo Morales ist dagegen bekanntermaßen ein Macho: Er macht Witze über Frauen und glaubt, dass wir Frauen uns doppelt oder dreifach anstrengen müssen, um zu beweisen, dass wir fähig sind. Das ist schlimm für einen Präsidenten, aber dennoch stellt ihn das nicht auf die gleiche Stufe wie die Putschisten. Letztlich ist das Patriarchat etwas Strukturelles, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht, während der Machismus ein Verhalten ist.

Kann der Putsch auch eine Gelegenheit bieten, um Kritiken an Evo Morales‘ Regierung, die aus der indigenen Basis kommen, umzusetzen?
Durch den Putsch haben sich die Organisationen im Kampf, im Widerstand gegen die Unterdrückung auf der Straße getroffen. Dadurch haben wir unsere Zersplitterung erkannt. Es war auch ein Moment der Autonomie, denn nicht alle Protestierenden unterstützten Evo. Wir haben versäumt, die Führungsperson zu wechseln, auch wenn Evo ein wichtiges Symbol in diesem Prozess ist, als indigener Präsident, der von der Straße, aus der Gewerkschaft kommt. Viele haben gesagt, es geht hier nicht nur um Evo, sondern darum, unsere Organisationen wiederaufzubauen, uns wieder zu vereinen mit dem Ziel, den Staatsstreich rückgängig zu machen.

Was können wir von hier aus tun, um Sie zu unterstützen? Was erwarten Sie von Aktivist*innen und den Regierungen in Europa?
Den Putschisten ist es egal, wenn wir im Land protestieren und wenn sie uns töten. Aber die De-facto-Regierung besteht aus Geschäftsleuten, die Rohstoffe durch transnationale Unternehmen aus Europa und den USA ausbeuten lassen wollen. Der internationale Druck tangiert sie. Es ist nötig, dass ihr in Europa und USA gegen diese Unternehmen kämpft, die hier durch Bergbau und Wasserkraftwerke die Wälder zerstören. Mehr noch als uns hier zu unterstützen, brauchen wir, dass ihr dort kämpft, damit diese Unternehmen nicht mehr herkommen. Es ist wichtig, dass der Putsch und die Verbrechen auf internationaler Ebene verurteilt werden und dass die Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Parteien, Regierungen, das EU-Parlament und der US-Kongress die De-facto-Regierung als solche betrachten und nicht als demokratisch gewählte. Dieser Druck ist wichtig.

DIE PUTSCHE UNSERER ZEIT

17.11.2019

Aufgrund der Diskussionen darüber, wie die Geschehnisse in Bolivien politisch einzuordnen sind, wollen wir unsere Position als Redaktion der Lateinamerika Nachrichten transparent machen. Die Ereignisse überschlagen sich derzeit. In der letzten Woche haben wir noch nach einer gemeinsamen Position zum Rücktritt von Evo Morales und dem Putsch gesucht. Angesichts der Rücksichtslosigkeit und Geschwindigkeit, mit der die neuen Machthaber*innen in Bolivien ihre reaktionären Ziele verfolgen, tritt dies nun schon fast in den Hintergrund.
 
Wenn das bolivianische Militär in Zukunft auf Demonstrant*innen schießt, muss es keine Konsequenzen fürchten. Nur wenige Tage nach ihrer Selbsternennung zur Präsidentin von Bolivien unterzeichnete die zweite Senatsvizepräsidentin Jeanine Áñez am 15. November ein Dekret, das  dem Militär bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusichert. Kurz darauf töteten in Cochabamba mutmaßlich Schüsse der Polizei mindestens neun Menschen
 
Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht nochmal deutlich, dass die Übergangsregierung nicht demokratisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Putsches: Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär noch bis Ende Januar gelaufen wäre. Weil er auf den öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hat. Weil er nur Stunden danach durch das Militär gedrängt wurde, zurückzutreten es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet. Schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition jedoch das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.
 
Sehen wir uns die Putsche der letzten Jahre an – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so laufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und ’70er Jahre ab. Keine Militärjunta mehr, die einen Präsidentenpalast stürmt und alle Anwesenden umbringt oder in Folterlager steckt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Aktionen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen und versucht so, ihnen politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. 
 
Das beginnt mit der angeblichen Verteidigung der „Menschenrechte“, der Freiheit” und der „Meinungsfreiheit“, die unter den progressiven Regierungen in Gefahr sei, und führt dann über die Aneignung der Protestformen auf der Straße schließlich zu einer scheinbar demokratischen Legitimität eines Machtwechsels. Dabei sind die Bemühungen rechter Bewegungen und Parteien, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, rein äußerlich und nicht sonderlich nachhaltig. Es geht höchstens um unternehmerische Freiheit. Die Gewalt kommt erst danach, sie ist nicht so öffentlich wie in den 1970ern, aber dennoch real.
 
In El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens direkt neben der Hauptstadt La Paz, mobilisierten an diesem Wochenende Unterstützer*innen von Evo Morales. Sicherheitskräfte schossen scharf auf sie. Gegner*innen der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen. Wiphala-Flaggen wurden verbrannt – das Symbol der Plurinationalität, das die verschiedenen indigenen Sprachen und Kulturen als festen Bestandteil Boliviens anerkennt. Diese und andere Gewalttaten befördert Boliviens neue De-Facto-Regierung. Und es könnte noch schlimmer werden.
 
Die Akteur*innen des rassistischen und klassistischen Umsturzes bezeichnen diesen als verfassungsmäßig. Als Jeanine Áñez sich selbst zur Präsidentin ernannte, stand sie jedoch vor einem nicht funktionsfähigen Parlament: Die Mehrheit der Abgeordneten war abwesend – ob aus Protest oder aus Angst vor Repression. Sie ist nicht demokratisch legitimiert. Und selbst wenn sie es wäre, bestünde ihre Aufgabe als Interimspräsidentin in erster Linie darin, Neuwahlen auszurufen – stattdessen lässt sie politische Gegner*innen verfolgen und krempelt die bisherige Außenpolitik Boliviens um, wie etwa durch den Austritt aus dem Regionalbündnis ALBA. Unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit Evos Regierung ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Machtanspruch erheben, sind keine Demokrat*innen. 

 

// AUFGEWACHT

Nicht zum ersten Mal sagen die Chilen*innen derzeit laut und deutlich, dass das herrschende System sich ändern soll: Im Oktober 1988 stimmte die Mehrheit in einem Plebiszit gegen die Fortführung der Diktatur Pinochets. Das Land bekam danach eine gewählte Regierung, in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht änderte sich jedoch fast nichts. Patricio Bañados, damals Fernsehsprecher der NO-Kampagne, bilanzierte daher im Jahr 2007: „Es haben mehr Leute mit ‚Nein‘ gestimmt, aber gewonnen hat das ‚Ja‘.“ Ähnliches hatten auch die Redakteur*innen der Lateinamerika Nachrichten bereits im Editorial vom Oktober 1988 prognostiziert (siehe hier). Heute fühlen sich viele der seit Wochen in Massen auf der Straße protestierenden Chilen*innen an die Atmosphäre nach dem Sieg des „NO“ erinnert, an das Gefühl, dass der bleierne Ballast vieler Jahre von ihren Schultern abgefallen ist: „Chile Despertó“, Chile ist aufgewacht – endlich!

Abgefallen scheint selbst die Angst vor den Militärs, die bis in Führungspositionen hinein immer noch die Folterknechte der Diktatur schützen und während der Proteste nun erneut im Verdacht stehen, zu foltern. Ganz anders dagegen die Privilegierten. In einem geleakten Audio eines Gesprächs mit einer Freundin sagte die Präsidentengattin nach Beginn der breiten Proteste: „Wir sind total überfordert, es ist wie eine Invasion Außerirdischer (…). Wir werden wohl auf einen Teil unserer Privilegien verzichten und mit den anderen teilen müssen.“

Eine ganze Generation von Reichen und Mächtigen hat sich in Chile daran gewöhnt, dass das Land ihnen gehört. Strom, Wasser, Gesundheit, Rente, Universitäten, Rohstoffe, Presse, Fernsehen und mehr: fast alles ist heute in den Händen weniger superreicher Familien sowie ausländischer Konzerne. Pinochet hatte die meisten Staatsbetriebe nach dem Sieg des „NO“ noch schnell zu einem Bruchteil ihres Wertes verkauft – an Freund*innen seines Regimes. Unter den Profiteur*innen dieses unverfrorenen Diebstahls von Staatsvermögen: der heutige Präsident Piñera, dem lange ein Fernsehkanal und die nationale Fluglinie gehörten. Der heutige Vorstandsvorsitzende und Mehrheitsaktionär der Firma Soquimich, die die umfangreichen Lithiumvorräte Chiles kontrolliert, war sogar Pinochets Schwiegersohn.

Pinochets Verfassung sorgt dafür, dass diese Umverteilung auf Kosten der Chilen*innen bis heute Bestand hat: dass der Staat kaum die Mittel hat, seiner Verpflichtung zur Daseinsfürsorge nachzukommen, selbst wenn er es denn wollte; dass nur der Profit zählt, nicht aber das Wohl der Menschen; dass Unternehmen beispielweise Anwohner*innen vergiften oder ihnen das Trinkwasser zugunsten von Plantagen wegnehmen dürfen, während die Menschen sich verschulden müssen, um U-Bahn-Fahrkarten und Stromrechnung zu bezahlen. Kein Wunder also, dass sich die Protestierenden heute nicht von ein paar Euro mehr Mindestlohn und Rente abspeisen lassen und eine verfassunggebende Versammlung einfordern.

Die rechte Regierung wird trotz geringfügiger Zugeständnisse alles tun, um das neoliberale System zu retten. Protegiert durch die Diktatur, begannen wichtige Politiker*innen der Regierungsparteien ihre Karrieren und haben sich, wie Piñera selbst, durch die Privatisierungen bereichert. Jaime Guzmán, Gründer der ultrarechten Partei Unabhängige Demokratische Union (UDI), galt sogar als Architekt der aus der Diktatur stammenden Verfassung, seine Gefolgsleute sind bis heute einflussreich.

Die Protestierenden werden also noch einen langen Atem brauchen. Dafür verdienen sie alle Unterstützung. Dass Deutschlands öffentlich-rechtliche Medien bisher ähnlich unausgewogen wie die chilenische Presse über die Proteste berichteten, beschämt uns daher. Und die Bundesregierung wäre gut beraten, in Chile nicht wie bisher nur einen Lieferanten für wichtige Rohstoffe und Freihandel zu sehen, sondern sich auch dann für Menschenrechte und Demokratie einzusetzen, wenn es ihren wirtschaftlichen Interessen zuwiderläuft.

 

„KINDER FÜHREN MILITÄRÜBUNGEN AUS“

Gegen die Militarisierung Protest der Zivilgesellschaft // Foto: Felipe Canova, Flickr

Wie hat sich die Situation seit dem Putsch vor zehn Jahren verändert?
Auf den Putsch folgten unter anderem die Militarisierung, die Unterdrückung der Bevölkerung und eine Verschärfung der vorher schon existierenden Probleme wie Armut, Ungleichheit und eine hohe Auslandsverschuldung. Heute ist Honduras eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, Arm und Reich klaffen weit auseinander. Die Menschen migrieren zu Tausenden in Karawanen in Richtung USA, weil sie keine Möglichkeit finden, in Honduras zu überleben.
Der Staat hat seine sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben vernachlässigt. Mit Blick auf die Kinder und Jugendlichen schätzt die Nationale Pädagogische Universität Honduras, dass mehr als 800.000 Jungen und Mädchen wegen fehlender schulischer Einrichtungen dem Schulsystem fernbleiben. Laut Schätzungen des Ministeriums für Arbeit werden täglich circa 475.000 Jungen und Mädchen wirtschaftlich ausgebeutet. Die Teenagerschwangerschaften sind dramatisch angestiegen: Laut Gesundheitsministerium sind 25 Prozent der Schwangerschaften jährlich von Minderjährigen. Gemäß einer Studie von Save the Children ist Honduras für Kinder und Jugendliche das gewalttätigste Land mit einer Mordrate von mehr als 30 Kindern pro 100.000 Einwohner.

Und was macht die Regierung?

José Guadelupe Ruelas // Foto: Honduras Delegation

Anstatt Antworten zu finden, entledigt sich der Staat seiner Verantwortung. Er konzessioniert Straßen, die Telekommunikation, den Energiesektor, Flüsse, Land und nimmt dadurch den Menschen ihre Räume. Dazu kommt das extraktivistische Wirtschaftsmodell. Honduras hat viele Konzessionen dem metallischen und nicht- metallischen Bergbau erteilt, der die Bevölkerung dazu zwingt, ihre ländlichen Gebiete zu verlassen. Außerdem wurden die Ölpalmplantagen erweitert, die sich auf den fruchtbarsten Böden befinden, gleichzeitig jedoch verringern sich die Anbauflächen von Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung. Es gibt keine integrale Strategie für eine Produktion der Grundnahrungsmittel, die auch einen Zugang zu Anbauflächen für Bauern und Bäuerinnen einschließt.

Inwiefern hat sich die Rolle des Militärs verändert und welche Folgen hat dies für Kinder und Jugendliche?
Honduras hat einen enormen Militarisierungsprozess durchlebt. Dieser beruht nicht nur auf der Sicherheitsstrategie, der Prozess reicht weit in das gesellschaftliche Leben. Es gab eine Militarisierung des öffentlichen Raumes. Per Dekret wurde die Militärpolizei gegründet, die in den Straßen patrouilliert, Anzeigen entgegennimmt und Haftbefehle gegen Zivilisten ausführt. Dazu kommt die Erhöhung des Verteidigungsbudgets, der Erlass des Tazón, einer Besteuerung der Bankgeschäfte, wobei 90 Prozent dieser Gelder in den Verteidigungshaushalt fließen. Im Jahr 1994, als es noch den verpflichtenden Militärdienst gab, gehörten ungefähr 9.000 Soldaten der Armee an. Heute, 25 Jahre nach Abschaffung des Militärdienstes, gibt es mehr als 15.000.
Die Militärpolizei bewacht öffentliche Instituti-onen, darunter auch circa 40 Prozent der Schulen. Besorgniserregend ist die Ausbildung von Tausenden Mädchen und Jungen aus armen Familien im Alter zwischen 7 bis 12 Jahren innerhalb des Programms Guardianes de la Patria („Bewacher des Vaterlandes“, Anm. der Red.). Die Kinder werden samstags von Soldaten in Themen wie Gehorsamkeit, Respekt und Werten aus Militärperspektive unterrichtet. Öffentlich bekannt wurde, dass den Kindern der Umgang mit Waffen gezeigt wird und sie Militärübungen ausführen.

Was zeichnet die Regierungen der letzten Jahre aus?
Das Regime hat an Legitimität verloren, es wird des Betruges bezichtigt und ist verfassungswidrig. Die honduranische Verfassung verbietet ausdrücklich die Wiederwahl eines Präsidenten. Im Jahr 2015 wurde ein Artikel durch die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs gestrichen, was dem aktuellen Präsidenten Juan Orlan- do Hernández zur Wiederwahl verhalf. Die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 wurden von nationalen und internationalen Akteuren kritisiert und als Wahlbetrug deklariert. Bis heute hat es die Regierung nicht geschafft, die Rechtmäßigkeit dieser Wahl nachzuweisen.
Bezeichnend sind auch die uferlose Korruption und die Verbindungen zwischen dem Regime und der organisierten Kriminalität. Unternehmer, Politiker und Polizei haben mit dem Drogenhandel Allianzen gebildet. Viele wurden bereits in die USA ausgeliefert. Dem wegen Drogenhandels in New York inhaftierte Bruder des aktuellen Präsidenten wird vorgeworfen, tonnenweise Kokain durch Honduras geschmuggelt zu haben. Es gibt Korruptionsvorwürfe gegen die Familien des vorherigen und des aktuellen Präsidenten, gegen Abgeordnete des Parlaments und Funktionäre des Staates. Letztere haben mehr als 300 Millionen US-Dollar aus dem honduranischen Sozialversicherungssystems veruntreut. Statt einer integralen Sozialpolitik, die Gesundheit, Bildung und Sicherheit einschließt, wendet das Regime eine Art Philanthropie gegen die Armut an. Dem Fehlen von Lebensmitteln begegnet es mit dem Verteilen von „bolsas solidarios“ (Lebensmittelpakete, Anm. d. Red.).
Charakteristisch ist die Brutalität des Regimes gegen die landesweiten Proteste. Durch die „Reform“ der Strafgesetzgebung wurde das Recht zu protestieren unter Strafe gestellt. Es ist nicht mehr erlaubt, vor dem Parlament oder Präsidentenpalast zu demonstrieren, generell wurden gegen friedlich Protestierende Gerichtsverfahren eingeleitet. Seit dem Wahlbetrug von 2017 gibt es wieder politische Gefangene, Menschen im Exil und viele Tote.

Wie verhält sich die Bevölkerung?
Frauenkollektive, Indigene, Afroindigene, Organisationen von Bauern und Bäuerinnen, Gemeinden, die durch den Bergbau betroffen sind, haben sich organisiert, um gegen die Ressourcenausbeutung vorzugehen. Zu Tausenden gehen sie gegen die offensichtliche Korruption, gegen die extraktivistischen Projekte, Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitssystem auf die Straße.
Die sozialen Bewegungen haben mehrere Versuche unternommen, die verschiedenen Akteure landesweit zu vereinen und die bestehenden Differenzen untereinander abzubauen. In der breiten Opposition hat sich jedoch bis heute keine legitime Führung hervorgetan, die einen gemeinsamen Kampf vereinen könnte. Die Akteure haben alle eine Forderung: den Rücktritt des Regimes, Neuwahlen, die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung und die Beendigung des extraktivistischen Wirtschaftsmodells.

 

ERNEUTES FIASKO

„Die Gegenwart heißt kämpfen” Präsident Nicolás Maduro will Chavez’ Erbe in die Zukunft retten ( Foto: John Mark Shorack)

 

Das Video schien es in sich zu haben: Am frühen Morgen des 30. April zeigte sich der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó gemeinsam mit seinem eigentlich unter Hausarrest stehenden Mentor Leopoldo López und einer Reihe von Soldaten auf Twitter. Er behauptete, maßgebliche Teile des Militärs hinter sich zu haben und erweckte den Eindruck, bereits die Luftwaffenbasis La Carlota im Osten der venezolanischen Hauptstadt Caracas zu kontrollieren. Die Endphase der so genannten „Operación Libertad“ (Operation Freiheit) habe begonnen, um die „Usurpation“ des Präsidentenamtes durch Nicolás Maduro zu beenden. Das übrige Militär wurde von Guaidó dazu aufgerufen, überzulaufen; seine Anhänger*innen bat er, sich zum Luftwaffenstützpunkt zu begeben. López, den die Opposition bis dahin als den prominentesten politischen Gefangenen des Landes betrachtete, war in der Nacht anscheinend mit Hilfe seiner Bewacher*innen entkommen. Bis zu seiner Verhaftung im Februar 2014 koordinierte er die Oppositionspartei Voluntad Popular, der auch Guaidó angehört. Wegen seiner Rolle bei den gewalttätigen Straßenprotesten Anfang 2014 war López in einem umstrittenen Verfahren zu fast 14 Jahren Gefängnis verurteilt worden, die er seit Mitte 2017 im Hausarrest absaß.

Wahrscheinlicher ist, dass Guaidó ohne Hilfe von außen wohl nicht so schnell an die Macht kommen wird

Für ganz kurze Zeit wirkte es, als stehe der Sturz von Präsident Maduro dieses Mal tatsächlich bevor. Doch es dauerte nicht lange, bis der Bluff aufflog. In Wahrheit waren es nur wenige Dutzend einfache Soldaten, die sich auf der Stadtautobahn nahe der Militärbasis postiert hatten. Einige von ihnen zogen sich von dort später zurück und gaben an, von ihren Vorgesetzten aus der Kaserne beordert worden zu sein, ohne zu wissen, dass es sich um einen Einsatz unter der Leitung Guaidós handelte. Offenbar wollte der venezolanische Oppositionsführer mit den machtvoll inszenierten Bildern eine Kettenreaktion in Gang setzen, um den durch seine Selbstausrufung zum Interimspräsident am 23. Januar eskalierten Machtkampf zu entscheiden. Die Folgen wären unkalkulierbar gewesen: Hätten sich tatsächlich größere Truppenkontingente hinter Guaidó gestellt, andere jedoch weiterhin die Regierung gestützt, wären Tote wohl unvermeidlich gewesen. Die Aufrufe an den Rest des Militärs verhallten jedoch ungehört und auch Guaidós Anhänger*innen strömten nur in geringer Anzahl auf die Straße, wo es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam. Verteidigungsminister Vladimir Padrino stellte sich einmal mehr hinter Präsident Maduro und versicherte, im Militär sei landesweit alles ruhig. Maduro bekräftigte, sämtliche Kommandanten hätten ihm ihre „absolute Loyalität“ versichert. Vor dem Präsidentenpalast Miraflores im Westen von Caracas versammelten sich tausende Regierungsanhänger*innen, um Maduro gegen den von der Regierung als Putschversuch gewerteten Vorfall zu schützen.

Vertreter der US-amerikanischen Regierung unterstützten das Vorgehen Guaidós. Auch andere Regierungen, die sich im Machtkampf früh hinter Guaidó gestellt hatten, stärkten diesem den Rücken. Etwa der deutsche Außenminister Heiko Maas, der sich gerade auf einer viertägigen Lateinamerikareise befand, die ihn nach Brasilien, Kolumbien und Mexiko führte. John Bolton, der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, drohte dem venezolanischen Verteidigungsminister und anderen Funktionären auf Twitter, dies sei die „letzte Chance“, die Seiten zu wechseln. US-Außenminister Mike Pompeo behauptete in einem Fernsehinterview, Maduro habe in einem bereits auf dem Rollfeld wartenden Flugzeug das Land in Richtung Kuba verlassen wollen, sei von der russischen Regierung jedoch davon abgehalten worden. Elliot Abrams, der US-Sondergesandte für Venezuela erklärte, Maduros Abgang sei ausgehandelt gewesen, die verantwortlichen venezolanischen Funktionäre hätten aber plötzlich ihre Mobiltelefone ausgeschaltet.

Jenseits der kreativ wirkenden US-Behauptungen und zahlreicher Gerüchte blieb weitgehend unklar, was tatsächlich hinter dem improvisiert und dilettantisch wirkenden Umsturzversuch steckt. Die Aktion fand genau einen Tag vor einer für den 1. Mai geplanten Großdemonstration statt, die Guaidó großspurig als die größte „in der Geschichte Venezuelas“ angekündigt hatte. An Spekulationen über seine Motive mangelt es nicht: Warum wartete Guaidó nicht bis zum 1. Mai? Wollte er einer möglicherweise geplanten Verhaftung zuvorkommen? Dachte er wirklich, dass die Militärführung mitziehen würde? Wollte er gar eine gewalttätige Reaktion der Maduro-Regierung provozieren, um eine US-Militärintervention zu rechtfertigen?  Fest steht, dass Guaidó nach 100 Tagen als selbsternannter Interimspräsident unbedingt die Aussicht auf einen Regierungswechsel aufrecht erhalten muss, damit sich die rechte Opposition nicht wieder intern zerstreitet. Doch der Tag endete damit, dass Guaidó untertauchte und Leopoldo López zunächst in der chilenischen Botschaft und anschließend in der Residenz des spanischen Botschafters Zuflucht suchte und fand.

Später am Abend veröffentlichte Guaidó dann ein weiteres Video, in dem er zur Teilnahme an der Großdemonstration am 1. Mai aufrief und versicherte, dass Maduro „nicht die Unterstützung der Streitkräfte“ habe. Dieser wiederum wendete sich in einer Fernsehansprache nach stundenlangem Schweigen an die Bevölkerung. Er warf den Strippenziehern des Putschversuches vor, ein „Massaker“ provozieren zu wollen und sagte, diese Aktionen könnten „nicht straffrei“ bleiben. Die Behauptung, er habe das Land verlassen wollen, wies Maduro im Beisein des Verteidigungsministers Padrino zurück.

Auch am 1. Mai kam es zu Ausschreitungen. Laut den oppositionellen Menschenrechtsorganisationen Provea und Foro Penal kamen an den beiden Tagen insgesamt 5 Menschen ums Leben, mindestens 130 wurden verletzt und 273 festgenommen. Insgesamt gingen offenbar weitaus weniger Menschen auf die Straße, als Guaidó gehofft hatte. Er kündigte an, den Druck aufrecht zu erhalten und mit einer Reihe „gestaffelter Streiks“ auf einen Generalstreik hinzuarbeiten. Leopoldo López, der mittlerweile per Haftbefehl gesucht wird, versicherte gegenüber der Presse, sich in seinem Hausarrest mit zahlreichen Militärs getroffen zu haben und prognostizierte weitere Erhebungen. Tatsächlich ist nicht ausgeschlossen, dass Teile des Militärs früher oder später doch noch die Seiten wechseln, zumal sich die ohnehin schon schwierige wirtschaftliche Lage durch die US-Sanktionen rasch zu einer humanitären Krise auswachsen könnte. Doch wahrscheinlicher ist, dass Guaidó ohne Hilfe von Außen wohl nicht so schnell an die Macht kommen wird. Da der Machtkampf festgefahren zu sein scheint, bleibt der einzig gangbare Ausweg ein Dialog. Doch auch die Rufe nach einer US-Militärintervention werden seit dem 1. Mai wieder lauter.

 

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

„Vor vielen, vielen Monaten, als ich noch Vize-Präsident war, haben wir ein Dokument herausgebracht, das ‚Eine Brücke in die Zukunft‘ hieß. Wir hatten festgestellt, dass es unmöglich wäre, den von der Regierung eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Wir haben sogar vorgeschlagen, dass die Regierung unsere Vorstellungen, die wir in dem Dokument aufzeigten, übernehmen könnte. Weil dies nicht möglich war, leiteten wir den Prozess ein, der nun in meiner Amtsübernahme als Präsident der Republik gipfelte“, sagte Michel Temer Ende September während eines Vortrages vor Unternehmer*innen und Investor*innen in New York. Verbreitet wurde dieses Statement des amtierenden rechtskonservativen Präsidenten, einschließlich einer Videoaufnahme der Originalrede, von The Intercept Brasil unter der Leitung des US-amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald.
Nur drei Wochen nach dem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff (siehe LN 507/508) bestätigte ihr Nachfolger damit den Verdacht, dass es bei dem Verfahren nicht um Haushaltstricks und „kriminelle Handlungen“ der Präsidentin ging, sondern darum, ein neoliberales Programm durchzusetzen, über das im Oktober 2014 nicht an den Wahlurnen abgestimmt worden war. Obwohl außer Frage steht, dass Temer diese Rede gehalten hat, wurde sie in den brasilianischen Leitmedien nicht aufgenommen, insbesondere der Medienriese Globo ignorierte die Meldung.
Das Programm „Eine Brücke in die Zukunft“ sieht unter anderem vor, Mittel für die öffentliche Gesundheitsversorgung, den staatlichen Bildungssektor und die Sozialprogramme zu kürzen. Das Alter für den Renteneintritt soll heraufgesetzt und die Renten von der Entwicklung der Höhe des Mindestlohns abgekoppelt werden. Kernstück des neoliberalen Programms ist die Förderung von „Partnerschaften“ mit dem privaten Sektor und eine allgemeine Öffnung des Landes für ausländische Investor*innen. Damit war „Eine Brücke in die Zukunft“ eine Blaupause für die Politik, die Temer seit Mai dieses Jahres umsetzt. Aktuellstes Beispiel ist die jüngste Entscheidung des Parlaments, die bisher vorgeschriebene Beteiligung des staatlichen Erölunternehmens Petrobras an der Förderung der Erdölvorkommen vor der Küste von Rio de Janeiro zu beenden. Dort liegen, in einer Tiefe von bis zu 7.000 Metern unter der Wasseroberfläche und einer kilometerdicken Salzkruste, die als pré-sal bezeichneten, auf 100 Milliarden Barrel Öl geschätzten Vorkommen – ein Riesengeschäft (siehe LN 426).
2010 hatte das brasilianische Parlament beschlossen, dass mit der Vergabe der Förderkonzessionen für das pré-sal die internationalen Erdölunternehmen nicht zu Eigentümer*innen des Öls werden, sondern das staatliche Erdölunternehmen Petrobras zu 30 Prozent an der Ausbeutung der Erdölvorkommen beteiligt werden muss und für die operative Durchführung der Bohrungen und Förderung verantwortlich ist. Die Milliardeneinnahmen aus der Erdölförderung, die sogenannten royalties, werden nach einem gesetzlich festgelegten Schlüssel unter den Bundesstaaten und Gemeinden mit Erdölvorkommen sowie an den Bundeshaushalt verteilt. Seit 2011 werden sie vor allem genutzt, um staatliche Ausgaben für Bildung und Gesundheitsversorgung zu finanzieren.
Am 5. Oktober entschied das Parlament mit 292 gegen 101 Stimmen und einer Enthaltung, dass die Beteiligung von Petrobras an der Ausbeutung und Förderung der Erdölvorkommen nicht länger verpflichtend ist. Die neue Regierung argumentierte, der durch den Lava-Jato genannten Korruptionsskandal schwer angeschlagene Erdölkonzern sei nicht länger in der Lage, die Förderung des pré-sal voranzutreiben. Die linke Opposition hatte seit dem 3. Oktober alle parlamentarischen Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Abstimmung zu verhindern. Sie schätzt, dass dem Staat durch diese Gesetzesänderung umgerechnet rund 82 Milliarden Euro verloren gehen werden. Pikantes Detail ist in diesem Zusammenhang, dass der Originalentwurf für das Gesetz von Senator José Serra von der rechtskonservativen PSDB stammt. Nach der Veröffentlichung von Telegrammen des US-Außenministeriums aus dem Jahr 2010 durch Wikileaks wurde bekannt, dass US-amerikanische Konzerne mit dem brasilianischen Gesetz zur Erdölförderung ausgesprochen unzufrieden waren – und der damalige Präsidentschaftskandidat José Serra versprach, die gesetzlichen Regelungen rückgängig zu machen, sobald die PT nicht mehr an der Macht sei.
Schon durch ein am 22. September von Temer erlassenes Präsidial-Dekret, das den Lehrplan in der Sekundarstufe neu regelt, sollte die Finanzierung der staatlichen Bildungsprogramme ausgehöhlt werden. Neben Sport und Kunst sollten auch Soziologie, Spanisch und Philosophie nicht mehr zu den Pflichtfächern gehören. Temer bestritt, dass das Gesetz mit der geplanten Decklung der Sozialausgaben, der fiskalpolitischen Haushaltsbremse, in der heutigen Höhe für die nächsten 20 Jahre (ohne Inflationsausgleich) zusammenhänge. Das Dekret wurde weithin kritisiert, weil es ohne jede vorherige Absprache mit Vertreter*innen von Schulen, Lehrkräften oder Fachleuten des Erziehungsministeriums zustande kam. Am deutlichsten fiel die Kritik des Frontmannes Fausto Silva der beliebten Fernsehsendung Domingão do Faustão aus. Der ehemalige Sportreporter sagte während seiner Live-Sendung vor Millionen Zuschauern wörtlich: „Diese Scheiß-Regierung hat nicht mal angefangen, sie kann nicht kommunizieren. Sie macht eine Schnellreform, ohne sich mit irgendjemanden abzusprechen. Und, einfach so, streichen sie den Sportunterricht, der grundlegend für die Bildung der Bürger ist.“ Der Staatssekretär für Bildung, Rossieli Soares, reagierte auf die Kritik und behauptete, der in den Medien zirkulierende Text sei nicht korrekt. In der später im Amtsblatt der Regierung veröffentlichten offizielle Version werden die bisherigen Pflichtfächer beibehalten.
Die Kritik und der Protest auf der Straße gegen die Präsidentschaft von Michel Temer haben sich bei den Kommunalwahlen am 2. Oktober kaum an den Wahlurnen niedergeschlagen. Insgesamt hat sich vor allem die Zahl der Nichtwähler*innen erhöht, die bei bestehender Wahlpflicht ungültige oder nicht ausgefüllte Wahlzettel abgaben. In 18 der 50 größten Städte und Gemeinden war die Anzahl der ungültigen Stimmen höher als die der abgegebenen Stimmen, auch in den Megametropolen São Paulo und Rio de Janeiro.
Die Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) und die Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB) gewannen bei den Wahlen die meisten Mandate. Die rechtskonservative PMDB wird zukünftig 7.568 Abgeordnete in den Kommunalparlamenten stellen, die neoliberale PSDB 5.731. Bei 213 der gewählten Kandidat*innen der PMDB ist allerdings bisher nicht geklärt, ob sie die Wahl auch annehmen werden können, weil gegen sie wegen Korruptionsvorwürfen ermittelt wird. Dies gilt auch für 146 Kandidat*innen der PSDB und 66 Kandidat*innen der Arbeiterpartei (PT). In den Großstädten schlossen vor allem die PMDB und PSDB Allianzen für die Bürgermeisterwahlen; in den vergangenen Jahren waren sie meist gegeneinander angetreten. Die PT verlor 60 Prozent der Bürgermeisterposten, in die bisher Parteimitglieder gewählt wurden: Waren es vor vier Jahren noch 638 gewählte PT-Bürgermeister*innen, so werden es ab 2017 nur noch 263 sein. In den Großstädten gewann die PT allein in Rio Branco, im nordwestlichen Bundesstaat Acre, mit Marcus Alexandre bereits den ersten Wahlgang mit 54 Prozent der Stimmen.
Besonders schwer wog die Niederlage in São Paulo: Dort erhielt der Millionär João Dória von der PSDB 53 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang. Er ist einer von 23 Millionär*innen, die als Bürgermeister der Großstädte gewählt wurden. Der PT-Kandidat und jetzige Bürgermeister Fernando Haddad erlitt mit nur 16 Prozent der Stimmen eine deutliche Niederlage. Haddad steht für eine eher fortschrittliche Stadtpolitik und erfreut sich gerade in der intellektuellen, alternativen Mittelschicht großer Beliebtheit. Der Sohn eines libanesischen Einwanderers hat außerdem, was die vielen Korruptionsskandale angeht, eine weiße Weste vorzuweisen.
In Rio de Janeiro erreichte der Kandidat der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL), Marcelo Freixo, mit 18,4 Prozent der Stimmen überraschend deutlich die Stichwahl für das Amt des Bürgermeisters. Freixo engagiert sich seit vielen Jahren als Aktivist und Wissenschaftler für die Stärkung der Menschenrechte in allen Stadtteilen (siehe LN 433/434). Er lebte jahrelang unter Morddrohungen der sogenannten milícias, paramilitärische, bewaffnete Einheiten, oft mit evangelikalem Hintergrund und Verbindungen ins Drogengeschäft, die in Favelas Schutzgelder erpressen. Bei der Stichwahl am 30. Oktober steht ihm Marcelo Crivella von der Brasilianischen Republikanischen Partei (PRB) gegenüber, ein Bischof der evangelikalen Igreja Universal do Reino de Deus. Crivella kam im ersten Wahlgang auf 27,6 Prozent der Stimmen. In der amazonischen Millionenstadt Belém kam der Kanditat der PSOL, Edmilson Rodigues, mit fast 30 Prozent der Stimmen in die Stichwahl. Insgesamt geht die 2005 von PT-Dissident*innen gegründete PSOL auch mit Zugewinnen bei den Abgeordnetenwahlen gestärkt aus den Kommunalwahlen hervor. In der politischen Krise dieses Jahres ist es der PSOL gelungen, zahlreiche integre Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft zu gewinnen.
Die starke politische Polarisierung und Personalisierung der Wahlen in Brasilien zeigte sich auch an den Ergebnissen für die Abgeordneten der Stadtparlamente, die in den größten Städten die meisten Stimmen erhielten. In Rio de Janeiro war dies der ultrareaktionäre Carlos Bolsonaro von der Sozialchristlichen Partei (PSC), vor Tarcísio Motta von der PSOL. In São Paulo erhielt der ehemalige PT-Senator Eduardo Suplicy die meisten Stimmen, obwohl seine Partei klar die Bürgermeisterwahl verlor. In Salvador de Bahia wurde der Konservative Antônio Carlos Magalhães Neto, Spross der Politikerdynastie Magalhães, mit 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt.
Die Kommunalwahlen machten die tiefe Krise der ehemaligen Regierungspartei PT erneut deutlich. Kommentator*innen der Linken mahnten einen „Selbstreflektionsprozess“ der Partei an. Beigetragen zu dem schlechten Ergebnis hat aber vermutlich auch die spektakuläre Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft gegen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva und die Verhaftung seiner ehemaligen Finanzminister Antônio Palocci und Guido Mantega durch den im Korruptionsskandal Lava-Jato ermittelnden Richter Sérgio Moro. Die PT spricht von einer „Hexenjagd“ gegen die Partei – so wurde Mantega im Krankenhaus verhaftet, wo seine Frau gerade operiert worden war, und nur wenige Stunden später wieder freigelassen. Moro als ermittelnder Richter sei an Verfahren gegenüber Politiker*innen anderer Parteien, insbesondere der PSDB, wenig interessiert. Und auch ohne an die völlige Korruptionsfreiheit der Politik-Ikone Lula zu glauben, nähren die Aktionen der Staatsanwaltschaft den Verdacht, dass eine mögliche Wiederwahl Lulas 2018 um jeden Preis verhindert werden soll. Der „formvollendete parlamentarische Putsch“ in Brasilien ist bis heute alles andere als abgeschlossen – er setzt sich juristisch, wirtschafts- und sozialpolitisch und in der Repression gegen Medien und Proteste auf den Straßen fort.

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