“ES TUT WEH EINE FRAU ZU SEIN”

Legale Abtreibung! Feminist*innen während der Parlamentssitzung zum Abtreibungsverbot (Foto: Asamblea Nacional del Ecuador, Flickr BY-SA 2.0)

„Am 8. Januar 2015 wurde ich von zwei Männern entführt und auf das Schlimmste sexuell missbraucht. Die Ärztin gab mir keine Notfall-Verhütung, um eine ungewollte Schwangerschaft zu verhindern. Um die Medikamente zur AIDS-Abwehr musste ich betteln. Vor einigen Monaten forderte das Parlament die Staats­anwalt­schaft auf, in meinem Fall zu ermitteln – vier Jahre später.“ Mit dieser Schilderung beginnt die Rechtsanwältin Dr. Jéssica Jaramillo am 5. Februar 2019 ihre Rede vor dem ecuadorianischen Parlament. Sie und andere Frauenrechtler*innen wollen die Abgeordneten dazu bewegen, Schwangerschaftsabbrüche nach Vergewaltigungen, sowie bei Inzest und Missbildungen des Fötus zu legalisieren. Bisher ist das nur erlaubt, wenn die Frau durch die Schwangerschaft in Lebensgefahr schwebt oder wenn eine Frau mit Behinderung Opfer einer Vergewaltigung wurde. Mindestens 243 Frauen wurden bislang wegen Abtreibung verurteilt.
Außerdem fordern die Frauenrechtler*innen, dass Sexualstraftäter konsequent verfolgt werden. „Das ist mir geschehen, die ich eine juristische Ausbildung habe“, sagt Jaramillo. „Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es den Mädchen und Frauen ergeht, die in dieser Situation nicht wissen, was sie tun sollen.“ Zwar gibt es seit 2017 ein Gesetz zur Abschaffung der Gewalt gegen Frauen, doch die zu diesem Zweck veranschlagten Gelder von umgerechnet ca. 530.000 Euro reichen laut der Frauenrechtsaktivistin Virginia Gómez bei weitem nicht aus. Offizielle Berechnungen ergaben, dass 17,6 Millionen veranschlagt werden müssten, um alle gefährdeten Frauen angemessen zu versorgen.

Erst im Januar hatte der Fall Martha die Hauptstadt Quito erschüttert. Martha, so der Schutzname der 35-Jährigen, war mutmaßlich von drei ihr bekannten Männern in einer Bar vergewaltigt worden. Dort wurde sie ohnmächtig, nackt und von Hämatomen übersät gefunden. Die Polizei registrierte Blutflecken in ihrem Intimbereich, auf der Kleidung der Männer, einer Bierflasche, einem Glas, an den Wänden, auf dem Billardtisch und an beiden Enden eines Billardqueues, mit dem sie Martha wahrscheinlich intim verletzt hatten. Auf dem Handy eines der Männer entdeckte die Polizei Fotos des Tathergangs. Der Anwalt der Überlebenden, Fabrizzio Mena Ríos spricht von einem noch nie da gewesenen Gewaltakt.

Die Nachricht von Marthas Schicksal rief, wie andere Missbrauchsfälle, eine Welle der Solidarität hervor. Frauenrechtler*innen organisierten am 20. und 21. Januar Protestmärsche vor die Staatsanwaltschaft in Quito. Sie demonstrierten für harte strafrechtliche Konsequenzen für Marthas Aggressoren. Auf Facebook verkündeten Feminist*innen: „Was sie dir getan haben, haben sie uns getan, denn während sie dich vergewaltigen, verletzen sie uns, brechen sie uns und füllen uns wieder neu mit Ängsten. Aber du, Kriegerin, bist nicht stumm geblieben, und uns bleibt nur zu sagen, dass du nicht allein bist! Du bist mutig, du bist wunderbar, du hast Freiheit und Würde verdient. Wir werden wachsam sein, Schwester, wir glauben dir!“

„Lass mich entscheiden!“

Proteste der Frauenrechtler*innen, wie der Abtreibungsgegner*innen, begleiten auch die Parlamentssitzungen zur Reform des Strafrechts seit Januar. Die Feminist*innen sind an ihren grünen Halstüchern zu erkennen mit der Aufschrift #dejamedecidir – „lass mich entscheiden“. Wie Gómez sagt: „Der ecuadorianische Staat hat bei seinen Frauen viele Schulden zu begleichen. Die Abtreibung bei Vergewaltigung ist das Mindeste, was er seinen Frauen schuldig ist.“ Die Aktivist*innen wirken auf verschiedenen Ebenen auf Politiker*innen ein. 2016 sprach Jaramillo vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen vor und erwirkte eine Resolution, die die ecuadorianische Regierung aufforderte, Abtreibung im Fall von Vergewaltigung zu legalisieren. Bereits 2015 hatte die UN-Frauenrechtskommission dasselbe gefordert. Katherine Mosquera und Kolleginnen von der Organisation Mujeres por el Cambio (Frauen für den Wandel) appellierten in der Stadt Cuenca im Süden Ecuadors an die Abgeordneten ihrer Region.

Mosquera stellte in einem Pressegespräch am 21. Januar aktuelle Zahlen der Gewalt an Frauen vor. In den letzten 13 Jahren seien demzufolge knapp 14.000 Frauen vergewaltigt worden, also durchschnittlich elf Frauen am Tag. Mehr als 700 von ihnen waren Mädchen im Alter unter zehn Jahren. 17.448 Mädchen unter 14 wurden zwischen 2009 und 2016 gezwungen, zu gebären, heißt es an anderer Stelle. Die Abtreibungsgegner*innen argumentieren dem zum Trotz, dass der ungeborene Fötus ab der Zeugung ein Recht auf Leben habe.
Mosquera hält dem entgegen, dass „das Abtreibungsverbot bedeutet, die Frauen nicht als Rechtssubjekte, sondern als Objekte zu behandeln. Sie werden aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert, weil nur ihnen diese Sanktionen auferlegt werden. Das Gesetz bestraft nicht die Abtreibung, sondern verurteilt, dass die Frauen keine Mütter sein wollen.“ Wie Jaramillo betont sie, dass durch das Abtreibungsverbot vor allem armen Frauen der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt wird. Vor allem aber sprechen die Feminist*innen in konkreten Bildern, um eine Gesellschaft zu erreichen, „die sich an die Gewalt an Frauen gewöhnt hat“, so Jaramillo. Im November hatte Gómez in einer Rede vor dem Parlament gesagt: „Sie können sich nicht vorstellen, wie die jungen Mädchen leiden, um die Köpfe der Babys durch ihre schmalen Becken zu gebären.“ Immer wieder erinnern die Feminist*innen an die akute Brisanz ihrer Appelle: „Jetzt gerade töten sie uns, vergewaltigen sie uns, bedrängen sie uns.“

Auf Facebook schreibt eine Nutzerin: „Es tut weh, eine Frau zu sein, aber es tut noch mehr weh, die Mutter von drei Töchtern zu sein. Wenn die Männer nicht selbst vergewaltigen, klagen sie die Frau an und rechtfertigen die Aggressoren.“ Rechtliche Beschlüsse können die Frauen unmittelbar in ihrer Unversehrtheit, ihrem nackten Überleben, betreffen. So macht Gómez deutlich, dass bloße Unversehrtheit nicht das Ziel ist: „Wir wollen leben. Mehr noch: Wir wollen leben und glücklich sein – ¡Vivas y felices nos queremos!“

 

“DIE VIELFALT WIRD NICHT MEHR ANERKANNT”

Foto: Martin Schäfer

Der neue Präsident Jair Bolsonaro sagte, alle brasilianischen Aktivist*innen müssten jetzt entweder ins Ausland oder ins Gefängnis. Auf der Berlinale stehen Sie und Ihr Team im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Fühlen Sie sich bedroht?
Ich persönlich fühle hier auf der Berlinale, eine Mission zu haben, das ist neu für mich. Wenn ich im Ausland von der schwierigen Situation in Brasilien erzähle, versuche ich, Fakten statt Meinungen zu kommunizieren. Und ich erschrecke selbst darüber, was ich sage, da ich zum ersten Mal seit Bolsonaros Amtsűbernahme die Geschehnisse mit etwas Distanz betrachte. Zu Beginn der Fragerunde nach der Weltpremiere meines Films erkundigte sich jemand: ,,Glauben Sie, dass der Film in Brasilien gezeigt werden wird?” Und meine erste Reaktion darauf war, zu denken, ,,natürlich, was für eine dumme Frage!”. Aber dann wurde mir klar, dass das Publikum hier weiß, dass wir es mit einer repressiven Regierung zu tun haben.
Um mich selbst habe ich keine Angst, im Gegenteil, die Situation gibt mir mehr Mut, da ich weiß, wie wichtig der Kampf ist. Ich bin privilegiert und könnte im Notfall das Land verlassen, denke aber nicht daran, denn jetzt möchte ich mehr als je zuvor Filme machen. Als Regisseurin bin ich aber besorgt um die jungen Leute im Film, denn die mediale Exposition kann sie schützen, aber gleichzeitig auch in Gefahr bringen.
In Momenten wie diesen ist es sehr wichtig, zu dokumentieren, wie es den Menschen geht. Nach meiner Empfindung haben wir in Brasilien eine kranke Gesellschaft mit vielen Formen der Gewalt: Der Hunger ist eine, die Armut auch, dazu kommt die tatsächliche Gewalt selbst. Das führt zu Leiden. Der Film zeigt Gewalt, und die Verfolgung von Aktivisten ist in Brasilien nichts Neues. Neu ist aber, dass sie jetzt nicht mehr illegal ist, sondern Regierungspolitik. Das macht es noch schrecklicher, als es vorher schon war.

Steht die brasilianische Linke unter Schock?
Der Wahlausgang hat zunächst Entsetzen und Niedergeschlagenheit verursacht. Es gab Fluchtgedanken bei Leuten, die sich das leisten können. Dann beruhigte sich die Stimmung etwas. Natürlich gibt es jetzt Leute, die Angst haben, es hängt davon ab, mit welcher Situation, mit welchen Leuten man konfrontiert ist. Erwartet wird, dass es unter Bolsonaro zu Gewalt kommen wird, soviel ist klar. Es gibt aber nicht eine Stimmung, sondern viele unterschiedliche Stimmungen.

Espero tua (re)volta beginnt mit der Wahl Bolsonaros und ist daher hochaktuell. Wie haben Sie den Film ursprünglich geplant, als diese Entwicklung nicht absehbar war?
Meine Motivation für den Film waren die 200 Schulbesetzungen in São Paulo im Jahr 2015, die wiederum durch einen Dokumentarfilm über die Schulbesetzungen in Chile im Jahr 2006 beeinflusst waren. Die Bilder aus den Jahren 2013 bis 2015 im Film sind nicht von mir, der konkrete Beginn meiner Arbeit am Film war erst im Jahr 2016, nachdem ich das besetzte Parlament von São Paulo besucht hatte. Ich traf mich dort aus einem anderen Grund mit der Produzentin Mariana Genescá und wollte nur kurz bleiben. Dann wollten wir aber beide wissen, was los war, und am Ende übernachteten wir dort. Wir hatten zuvor nie zusammengearbeitet, aber am Ende entwickelten wir die Gewissheit, dass wir darüber gemeinsam einen Film machen wollten, weil es sehr komplex und sehr interessant wirkte.
Wir planten das Ende der Dreharbeiten für Juli 2018 und die Premiere für Oktober. Im August wurden wir zu Festivals in Brasilien eingeladen, aber wir hatten eine Intuition, dass der Film irgendwie nicht fertig war, das Ende stimmte noch nicht. In dem Moment konnten wir uns gar nicht vorstellen, dass Bolsonaro die Wahl gewinnen würde. Als Bolsonaro den ersten Wahlgang gewann und seine im Film gezeigte Rede gegen den Aktivismus hielt, begann ich zu ahnen, dass er gewinnen würde und fing sofort an, das Ende des Films zu ändern. Ich dachte, mein Gott, dieser Film war von Anfang an dafür gemacht, zu erklären, wie es dazu kommen konnte!

Welche Wirkung erwarten Sie von Ihrem Film?
Zuvor hatte ich für den Film ,,Resistencia“, in dem es auch um Besetzungen ging, erstmalig mit Schülern gearbeitet. Es gab damals Probleme damit, den Film im Fernsehen zu zeigen, eine Art Zensur. Wir haben ihn dann über alternative soziale Kanäle verbreitet, allein in den ersten zwei Wochen wurden in 80 Städten Vorführungen organisiert. Als ich mit Interviews überall im Land die Arbeit an meinem neuen Film begann, erzählte ich zwei Mädchen in einem Kollektiv von ,,Resistencia“. Sie waren überrascht und erzählten, dass sie den Film in einer der Vorführungen gesehen und daraufhin beschlossen hatten, ihr Schülerkollektiv zu gründen. Das war in einer sehr kleinen Stadt im Nordosten Brasiliens. Wow, dachte ich, man weiß nie, was mit einem Film passiert, wenn er einmal in der Welt ist.
Um Espero tua (re)volta zu verbreiten, wollen wir wieder Organisationen und Personen kontaktieren, die Vorführungen organisieren, und den Film außerdem über die Online-Plattform ,,Taturana“ allen zum Download zur Verfügung stellen, die selbst eine Vorführung des Films mit anschließender Diskussion organisieren möchten, in Brasilien oder auch im Ausland. So wollen wir viele Menschen erreichen. Dafür wünschen wir uns jeweils ein Feedback über die Veranstaltungen, um zu wissen, was mit dem Film passiert. Natürlich ist es ein Traum, dass ,,Espero tua (re)volta“ dabei hilft, die Leute zu mobilisieren oder zusammenzubringen. Ich wünsche mir auch, dass er den Leuten hilft zu verstehen, was mit den sozialen Bewegungen passiert.

Ihr Film nutzt eine innovative Erzählform: die drei Hauptfiguren führen durch den Film, kommentieren ihn, springen zwischen den Episoden hin und her. Wie sind Sie darauf gekommen, den Film auf diese Weise zu machen?
Das war ein langer Arbeitsprozess. Ich hatte zu Beginn über 100 Stunden Archivmaterial angesehen und dann diejenigen Schüler kontaktiert, die am längsten bei der Besetzung dabei waren. Je mehr Material ich sah, desto mehr verstand ich, wie komplex das Thema war. Daher kam das Konzept, drei Schüler mit sehr verschiedenen Perspektiven den Film erzählen zu lassen. Die Jugendlichen sind unser primäres Zielpublikum und wir wollten den Dokumentarfilm eine von ihnen inspirierte Sprache sprechen lassen. Bei der Kommunikation mit ihnen hatte ich immer das Gefühl, dass sie eine ,,Multitasking-Generation“ sind: Sie haben Ideen und Assoziationen, schauen mal eben etwas auf Google nach oder in einem Video, sie springen von einem Thema zum nächsten. Der Film orientiert sich an dieser ,,Multitasking-Sprache“ in dem Sinne, dass der Erzählfluss nicht linear ist, sondern mit Einschüben, die Ideen folgen und dann wieder zur Geschichte zurückkehren. Das entspricht auch ein bisschen der Art, wie wir Lateinamerikaner nach meiner Wahrnehmung Geschichten erzählen.

Der Feminismus spielt in Ihrem Werk eine wichtige Rolle, so auch in Espero tua (re)volta.
Ich habe eine Neugier, zu verstehen, was mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten passiert, daher ist es logisch, dass mich Frauen interessieren. Ich denke, ich habe schon Filme über feministische Themen gemacht, bevor mir das richtig bewusst wurde. In der Schülerbewegung war der Feminismus im Hinblick auf Geschlecht und Ethnizität ein wichtiges Thema, so dass er aus meiner Sicht im Film eine Rolle spielen musste, um der Bewegung gerecht zu werden. Es lag also nahe, dass zwei der drei Hauptpersonen Frauen sind – eine schwarze und eine nicht hetero-normative Frau.

Werden es kritische Filme wie Ihrer unter Bolsonaro jetzt schwer haben, eine Finanzierung zu bekommen oder gezeigt zu werden?
Unter den Regierungen der PT hat es in Brasilien eine große Unterstützung für die Kunstschaffenden gegeben, besonders für das Kino. Das zeigt sich auch an der großen Zahl brasilianischer Filme hier auf der Berlinale und auf anderen Festivals. Fast alle brasilianischen Filme bekamen Fördergeld vom Staat, so auch unser Film. Dadurch hatte sich nicht nur die Qualität der Filme verbessert, auch die Produktionsorte hatten sich diversifiziert – historisch betrachtet kam das brasilianische Kino vor allem aus Rio und São Paulo, ein bisschen aus Recife und Porto Alegre. Durch die neue Vielfalt gab es zuletzt viele verschiedene Stimmen im Kino, und diese Vielfalt ist sehr schön für ein so großes Land wie Brasilien.
Schon seit der Absetzung von Dilma Rousseff gab es jedoch eine Bewegung, diese Vielfalt zu beseitigen, eine Art Diffamierung oder Kriminalisierung der Künstler. Es wird der Eindruck erweckt, dass wir Geld vom Staat erhalten, ohne etwas Sinnvolles damit zu tun. Ganz so, als ob nicht die Arbeit vieler Leute davon abhängen würde, vom Regisseur über den Chauffeur bis hin zum Koch, die davon leben und ihre Mieten bezahlen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf die Abschaffung des Kulturministeriums angekündigt und es dann mit der Unterstützung einer Bevölkerungsmehrheit am ersten Tag seiner Regierung umgesetzt. Das ist gravierend und sagt einiges über den Moment aus, in dem wir uns befinden, denn die Vielfalt wird nicht mehr anerkannt. Das sieht man inzwischen auch an den Auswahlkriterien der Filmförderung. Bisher wurden Projekte nach der Qualität ihrer Ausarbeitung und ihrer Thematik bewertet, aber das ist vorbei. Jetzt ist das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs ein Kriterium für die Förderung eines Films. Wie ist wohl das wirtschaftliche Potenzial eines Regisseurs, der Dokumentarfilme über soziale Bewegungen dreht? Es ist in Ordnung, dass Filme gedreht werden, die Gewinn einbringen, aber wenn es nichts anderes mehr geben soll, ist das für mich ein ernstes Problem. Die Künstler und Kinoleute machen sich also große Sorgen darüber, was nun passieren wird. Es gibt einen Angriff auf die Kultur in Brasilien, nicht nur auf das Kino, sondern auf alles, was für Vielfalt von Meinungen und Perspektiven steht, wie kritische Stimmen oder Gruppen, die im Kapitalismus nicht glücklich sind, z.B. Indigene. Die neue Regierung ist noch keine zwei Monate im Amt, und schon merkt man den Politikwechsel an vielen Fronten.

Für das Kino, für das Sie stehen, wird es also kaum noch Möglichkeiten geben?
Die politische Verfolgung ist bereits sehr stark. Es gibt neue rechte Gruppen, die Bolsonaro unterstützen, sie organisieren demoralisierende Kampagnen, mittels derer sie Verleumdungen über Linke verbreiten. Man sieht das etwa an den Drohungen gegen den Film Marighella, dessen Regisseur Wagner Moura sich mit einem kritischen, linken Denken immer politisch geäußert hat. Wir müssen abwarten, aber ich bin nicht optimistisch.

 

FRAUEN ERWACHEN

Bild: © Betta Films


Isabel, eine 30 Jahre alte Schneiderin, wohnt mit ihrem Mann Alcides und ihren beiden Töchtern in einer costaricanischen Kleinstadt. Sie haben nur sehr wenig Geld, dafür aber viele Verwandte. Familienfeiern und ab und zu ein Ausflug in eine Bar sind ihre größten Abwechslungen vom Alltag.
Ausgehend von dieser für Lateinamerika nicht untypischen Lebenswirklichkeit erkundet das doppelte Debüt El despertar de las hormigas (für Regisseurin Antonella Sudasassi und Hauptdarstellerin Daniela Valenciano ist es jeweils der erste Spielfilm), was es bedeutet, als Frau auf diesem Subkontinent zu leben: Alcides (Leynar Gómez, Narcos) mag es, wenn Isabel ihr Haar lang trägt. Er und seine große Familie erwarten von ihr, dass sie eine gute Hausfrau ist und mäkeln an ihr herum, wenn ihnen etwas nicht passt. Er selbst lässt sich derweil bedienen, kennt sich in seiner eigenen Küche nicht aus und reagiert hilflos bis unwirsch, wenn sie ihn bittet, beim Decken des Tisches zu helfen. Das Wichtigste aber: Isabel soll doch bitte noch einen Sohn bekommen.

© Betta Films

Wie wirkt es sich auf ihre Sexualität aus, wenn angesichts solcher Erwartungshaltungen für ihr eigenes Ich im Leben wenig Platz ist? Mit ihrem Mann schläft Isabel oft eher widerwillig und befriedigt sich lieber selbst. Wenn sie doch Lust auf Sex hat, führt dies zu Frust, weil Alcides nicht gerade mit Feingefühl und Gespür für ihre Lust zur Sache geht.
Isabel fühlt sich zunehmend unwohl damit, nicht selbst über ihr Leben bestimmen zu können. Sie hinterfragt das zu Beginn noch nicht bewusst, stattdessen mündet ihr Frust in Fantasien und Halluzinationen. Sie würde gern ihre Arbeit als Schneiderin vertiefen und dafür einen kleinen Laden mieten. Wenn sie ein weiteres Kind bekäme, hätte sie dafür keine Zeit mehr. Das will Isabel nicht, traut sich aber nicht, dies Alcides zu sagen und kauft sich stattdessen heimlich Verhütungspillen. Auf diese Weise kann sie dem Konflikt mit der Familie – letztlich mit den gesellschaftlichen Strukturen – jedoch nicht ewig aus dem Weg gehen.
Durch ihre lateinamerikanische Sozialisation ist Isabel wie so viele Frauen daran gewöhnt, sich selbst für die Familie hintanzustellen „Ich wollte eine Geschichte erzählen, die diese idealisierte, machistische, mütterliche Liebe neu definiert, die uns dazu bringt, uns um die anderen zu kümmern und uns selbst zu vergessen“, sagt Sudasassi über ihren Film. Er erzählt Isabels Geschichte durchweg auf sehr glaubwürdige und emotional greifbare Weise. Dass die männliche Hauptperson trotz erwähnter Macho-Allüren nicht überzeichnet wird, schadet dem Film dabei keineswegs. So hat Alcides keine Wutausbrüche, wird nicht gewalttätig, und dass seine Frau wie er arbeitet, stellt er auch nie infrage.
El despertar de las hormigas ist Teil eines mehrteiligen Transmedia-Projekts zur weiblichen Sexualität in verschiedenen Lebensetappen: einen Kurzfilm über die Kindheit hat Antonella Sudasassi bereits gedreht, ein Dokumentarfilm über das Alter soll folgen, außerdem sind Künstlerinnen aus der ganzen Welt dazu eingeladen, eigene Beiträge einzubringen. Mit ihrem Projekt thematisiert die Regisseurin, dass das sexuelle Erleben der Frau in ihrer Gesellschaft ein Tabu ist, über das man nicht spricht.
Das Erwachen der Ameisen heißen. Letztere tauchen im Film immer wieder auf – am Waschbecken, in den Haaren, unter der Dusche – und wirken wie eine Störung, eine Reflektion von Isabels zunehmendem Unwohlsein. Sie verursachen Irritation und Unverständnis bei den Zuschauer*innen. Und vielleicht ist genau das beabsichtigt, denn rufen das Erwachen des Verlangens nach mehr weiblicher Selbstbestimmung sowie deren Einforderung oft nicht ebendiese Reaktionen hervor, weil sie die gesellschaftlichen Strukturen infrage stellen und damit zu Konflikten führen?
El despertar de las hormigas läuft 2019 im Berlinale Forum.

 

UNSERE HAUPTBEDROHUNG IST DIE SEXUELLE GEWALT

Du bist Mitglied des feministischen Theaterprojekts Las Amapolas. Auf welche Voraussetzungen geht euer Projekt zurück?

Schon früh wurde ich mir der gegen den Frauenkörper gerichteten Gewalt bewusst. Ich beteiligte mich an allen möglichen Formen der öffentlichen Anklage, z.B. war ich bei allen Demonstrationen dabei. Außerdem erlebte ich seit vielen Jahren die Repression gegen die feministische Bewegung in Nicaragua. Es gab eine konstante Verfolgung bei Mobilisierungen zu nationalen Demonstrationen, immer war die Macht anwesend, ständig waren Polizeieinheiten präsent. Ich war in Estelí aktiv und hatte die Gelegenheit zusammen mit unserem Kollektiv an Demonstrationen teilzunehmen, an Verkehrsblockaden oder vor die Gerichte zu ziehen. In Nicaragua herrscht eine gegen unseren Körper gerichtete Welle der Gewalt, denn es ist ein frauenfeindlicher Staat, wo es jedes Jahr einen hohen Anteil von sexuellem Missbrauch und Frauenmorden gibt. Ich habe mich auch im Bildungsbereich betätigt, in kommunalen Projekten, die Begleitung für Jugendliche und junge Heranwachsende anboten, um Themen wie Gewaltprävention oder Schwangerschaft im Heranwachsendenalter zu bearbeiten. Die staatlichen Institutionen verschlossen uns ihre Türen wie es auch fortwährend Drohungen gegen unserer Arbeit gab. Letztes Jahr am 8. März verweigerte uns das Gemeindeamt die Erlaubnis, auf der Straße eine öffentliche Aktion durchzuführen. Wir nahmen sie uns, denn in Nicaragua gewährte uns der Staat nie einen Raum, man musste ihn sich nehmen: am Ende war da immer die symbolische Gewalt der Polizeipräsenz, sie kamen um uns zu drohen. Ich war auch in der Universität aktiv und äußerte immer offen meine Kritik. Vermutlich war eine Konsequenz daraus, dass ich zum sichtbaren Mittelpunkt wurde und leicht zu identifizieren als die Repression an Intensität zunahm.

(Foto: privat)

Hat dich die massive Artikulation der Proteste am 18./19. April 2018 und die darauf folgende Gewalt überrascht?

Als Aktivistin kam für mich der Ausbruch der Gewalt nicht überraschend, da wir sie bereits vorher in verschiedenem Ausmaß und Ausdruck erlebt hatten. Einen Tag davor hatten wir in Estelí eine Demonstration organisiert, weil das Naturreservat Indio Mais brannte. Später gab es einige Demos wegen der Reform der Sozialversicherung INSS. Schon da wurden wir Opfer polizeilicher Verfolgung in Estelí. Da wir diejenigen waren, die das organisiert hatten, die ihre Stimme hören ließen, Mikrofone und Megafone mitbrachten, fotografierten sie uns − praktisch eine direkt gegen uns gerichtete Drohung. Am 17. und 18. April war ich in Matagalpa, wo es eine Demonstration wegen der Sozialversicherung gab. Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen und Staatsbediensteten und man sah deutlich die Aggressivität, die von denen ausging, während die Polizei sich indifferent verhielt, als ob sie die Situation genießen würde. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Wir wussten jetzt, was in Managua los war und dass es Tote gab.

Am 19. April gab es eine Demonstration in Estelí. Dort schlugen sie auf Jugendliche ein und nahmen sie fest. Am folgenden Tag, am 20. April, änderte sich unser Leben, denn an diesem Tag beschlossen wir, dass wir uns auf Demonstrationen nicht mehr hervortun wollten, da wir nun wussten, was passieren würde und wir hatten ja bereits Repression erlebt. Unter diesen Umständen beschlossen wir medizinisches Material zu beschaffen und im Fall eines Angriffs zu helfen, denn es wurde auch geschossen. An diesem Tag zog sich der Demonstrationszug bis zu einem Kilometer hin. Es kamen viele Leute. An einer breiten Straße standen aufgereiht Paramilitärs, die direkt auf Demonstrant*innen und deren Köpfe zielten. Es kam zu Auseinandersetzungen −wer keine Angst zeigte, wurde verfolgt und nach Ende der Demo schossen sie Tränengas. Es war dies ein Ausdruck der Gewalt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Wir befanden uns in einem Sicherheitshaus, denn wir hatten uns jetzt organisiert und die Aufgabe, Personen zu versorgen, die mit Tränengasvergiftungen kamen. Ungefähr um 10 Uhr abends wurde damit begonnen Barrikaden zu bauen, jetzt war das eine Sache, die nicht mehr zu kontrollieren war. Wir konnten nicht mehr auf die Straße gehen. Wir bewegten uns im Auto fort, um Medikamente oder nach Personen zu suchen, die unsere Hilfe benötigten. Dann kam die Nachricht, dass sie zwei Jugendliche getötet hatten. Denn die Paramilitärs, die nach Estelí kamen, benutzten großkalibrige Waffen, Heckenschützen ermordeten die beiden. Es waren die ersten Toten der Aprilproteste. Trotz alledem gingen wir weiter auf die Straße, jeden Tag gab es Demonstrationen in Estelí, jeden Tag dachte man sich neue Formen des Protestes aus, um standzuhalten. Nach fünf Tagen wurden Straßensperren errichtet.

Welcher war der ausschlaggebende Moment für deine Entscheidung ins Exil zu gehen?

Nach dem Mord an den Jugendlichen, Studenten aus Estelí, erhöhten wir den Druck und begannen Demonstrationen zu organisieren. In dem Moment haben wir uns zu sehr exponiert, denn wir waren sehr sichtbar, wir waren die einzigen Frauen, die in der Öffentlichkeit nach dem Mikrofon griffen und feministische Spruchbänder trugen. Wir machten auch Straßentheater und verschiedene Performance auf den Demonstrationen. Dann kam das Massaker vom 30. April, was ebenfalls ein traumatisches Erlebnis war. In Estelí gab es sieben Morde an einem einzigen Tag. An diesem Tag kamen Paramilitärs zu mir nach Hause und sagten, dass sie wüssten, wo wir wohnen, wer wir sind, seit wann wir da schon mitmachen, dass sie uns töten werden, vergewaltigen − jede Menge Beschimpfungen in nur einer Minute und sie verschwanden. Anschließend begann die Serie in den sozialen Netzwerken, denn wir kollaborierten offen mit den Jugendlichen an den Straßensperren. Dort schrieben sie Dinge wie wir verfügten über große Geldmengen, wir würden von der CIA bezahlt, wir würden andere manipulieren, die in unserem Namen auf die Straße gingen und all das würden wir mit Blei bezahlen. Danach erschienen Fotos von uns: “Lesben, Huren, wir werden sie töten!” Von da an schlief ich nicht mehr zu Hause und wir gingen nicht mehr nach draußen, wie im Gefängnis. Das bedeutete eine Entscheidung zu treffen: entweder sie töten dich oder sie machen etwas mit dir oder du bleibst. Wir waren das perfekte Ziel zu politischen Gefangenen zu werden.

Ich ging am 23. Juni. Es gab Straßensperren und ich musste durch die Berge, um zum Flughafen kommen, wo du dich nicht von deiner Familie verabschiedest. Du nimmst das Gefühl mit, nicht zu wissen, wann du zurück kommst. Auf dem Flughafen überall Militär. Wahrscheinlich hatten sie da die Personen noch nicht registriert, die in irgendwelche Dinge verwickelt waren. Ich konnte das Land ohne Probleme verlassen. Zwei Tage danach begann die Säuberungsaktion in Estelí, als es ein weiteres Massaker gab. Ich nenne diesen Staat terroristisch: fortwährende Kampagnen um Angst zu verbreiten, durch Gewalt an der Macht festhalten, ständige Aggressionen, denen die Menschen ausgesetzt sind.

(Foto: privat)

Seit dem 24. Juni 2018 lebst du in Deutschland. Was bedeutet für dich das Exil?

Als ich nach Deutschland kam, hatte ich klare Überzeugungen: Ich bin eine Person, die das Privileg hat hier zu sein und seitdem habe ich mich damit beschäftigt, die Lage in Nicaragua öffentlich anzuprangern. An verschiedenen Orten zu sprechen, war nicht gerade einfach. Erstens spreche ich nicht die Sprache, zweitens bin ich eine Frau und drittens spüre ich, dass ein konstanter Rassismus vorhanden ist. Ich bin keine politisch anerkannte Persönlichkeit, keine Person, die permanent in den sozialen Netzwerken auftaucht, keine öffentliche Person. Als ich hier ankam, hatte ich mir das Recht zu sprechen erst zu verdienen, denn am Anfang hat es niemanden interessiert, meine Geschichte zu hören. Alles, was ich erreicht habe, wurde durch einen Kraftakt und gewisse Privilegien erreicht, denn ich muss anerkennen, dass eine deutsche Lebensgefährtin zu haben einen anderen Zugang bietet. Und schließlich das Thema Migration: dir wird bewusst, dass Leute, dir ihr Land verlassen müssen, dort ein Leben hatten, eine Geschichte und diese von null auf wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Aktuell hat mir das Theater das Leben gerettet, ich bin auf die besten Gedanken gekommen, es hat mir Kraft gegeben − die Kraft zur Selbstermächtigung. Ich bin Teil einer deutschen Frauentheatergruppe. Wir bearbeiten die Themen, die ich auch vor der Krise in Nicaragua bearbeitet habe, wo es um die sexuellen und reproduktiven Rechte geht − Aufklärung durch das Theater. Aber es ist nicht einfach anzukommen und zu sagen “ich will Mitglied eurer Gruppe sein”. Ich fühlte den Druck beweisen zu müssen, dass ich tatsächlich Ahnung vom Theater habe.

Das Regime Ortega/Murillo versucht der Welt zu beweisen, dass Nicaragua zur Normalität zurückgefunden habe, während die Repression weitergeht.

Vor allem ist die Politik, die sie nach dem Massaker angewendet haben, superzynisch und eine Beleidigung für alle Personen, die Opfer der Repression geworden sind. Während der letzten Woche in Nicaragua haben wir mit verschieden Aktivistinnen audiovisuelles Material entwickelt. Das verwenden wir hier als Anregung für die Leute, die Realität wahrzunehmen, die Nicaragua durchlebt. Die Leute haben vielleicht keine Vorstellung vom Zynismus dieser Regierung, die von Versöhnung spricht, während sie weiter politische Gefangene verschleppen, weiter foltern oder Frauen in der Haft abtreiben. Denn dort sind sie einem System physischer Folter unterworfen, wenn du schwanger bist, holen sie dich unter Schlägen aus der Zelle und provozieren so einen Abort. Manchmal befindest du dich in der schmerzhaften Situation, dass es den Deutschen in Bezug auf die Ereignisse etwas an Empathie fehlt. Es verschleißt viel Energie, den Leuten während einer Veranstaltung erklären zu müssen, dass wir nicht in der Lage sind, darüber nachzudenken, wer der nächste Präsident wird. Denn es gibt eine Krise, etliche Leute haben keine Arbeit und nichts zum Überleben. Viele Jugendliche, die an Demos teilgenommen haben, werden verfolgt, viele gehen zu Fuß bis nach Honduras oder in andere zentralamerikanische Länder. Jeden Tag suchen Menschen nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen. Nicht jede*r kann ein Flugticket kaufen in diesen Zeiten, nichts ist sicher und absolut niemand ist sicher.

Inzwischen hat sich das nationale Bündnis Azul y Blanco gegründet, worin sehr unterschiedliche, teils in ihren Auffassungen gegensätzliche Gruppierungen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Welche Aussichten siehst du für die Feministinnen und deren Forderungen in diesem Bündnis?

Ich finde, dass die Krise auf der Ebene der poder popular auch einen Gewinn bedeutet: das Erwachen der Menschen. Es gibt zur Zeit viele Ideale, aber da es ein gigantisches Monster gibt, das zu besiegen ist, vereinigten sich all diese Sektoren. Obwohl wir Feministinnen eine sehr spezifische Agenda haben, wo es um Frauenrechte geht, glaube ich, dass es sehr wichtig ist, dass wir Teil dieses Entscheidungsprozesses sind, denn die Situation wird nicht jetzt gelöst werden. Das wird ein langer Prozess sein. Das Naheliegende wäre vielleicht eine Übergangsregierung, worin verschiedene Repräsentant*innen der Bewegung Azul y Blanco vertreten sind, unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausdrucks. In dieser Bewegung gibt es ebenfalls große Intellektuelle mit einer langen politischen Geschichte. Und da sind auch die Feministinnen, die dafür kämpfen, in den Raum vorzudringen, wo die Entscheidungen getroffen werden, damit ihre Stimme wirklich berücksichtigt wird, da wir es waren, die diesen Kampf permanent geführt haben. Wer auf die Straße ging, das waren über Jahre hinweg die Frauen und die Bauern- und Bäuer*innenbewegung.

 

 

FEMINISTISCHE IDEENSCHMIEDE

Gemeinsam auf der Straße Das ENM ist eines der größten feministischen Treffen (Yamila Carbajo)

Von wem und wie wird das ENM jeweils organisiert?
Als ich erfahren habe, dass das Treffen in Chubut stattfinden würde, war mir sofort klar, dass ich mithelfen wollte. Am Anfang hatte ich gar keinen Plan, wie die Organisation ablaufen würde. Ich bin dann einfach zu einem der ersten Organisationsplena gegangen. Das war eine unglaublich tolle Erfahrung, es waren hunderte Frauen aus allen möglichen Orten anwesend. Beim ersten Treffen habe ich erfahren, dass alles im Konsens entscheiden wird. Mir hat sehr gut gefallen, dass es keine Hierarchien gibt. An der Planung des Kongresses waren sowohl „unabhängige“ Frauen – das heißt Frauen, die keiner Partei oder Organisation angehören – als auch organisierte Frauen beteiligt. Während des zweiten Treffens haben wir uns in Kommissionen aufgeteilt, die jeweils verschiedene Arbeiten übernahmen.

Welche Kommissionen gab es und wie lief die Arbeit innerhalb deiner Gruppe ab?
Es gab Kommissionen für Unterbringung, Sicherheit, Finanzen, Organisation, Logistik, Workshops, Öffentlichkeitsarbeit, Kultur und für die Kommu-nikation zwischen den Provinzen. Ich bin der Kommission Kultur beigetreten. Mit zwei Kolleginnen haben wir 17 Theateraufführungen, sieben Tanzaufführungen und fünf Performances koordiniert. Wir waren insgesamt echt wenige Menschen für die Organisation eines so großen Events. Angefangen haben wir mit mehr als 100 Leuten, am Ende waren wir nur noch 50-60. Am Ende des Kongresses haben wir vor Erleichterung geweint, dass wir die Organisation doch so gut geschafft haben.

Einige Tage vor dem Ereignis wurde ein Dokument der Mapuche über Social Media geteilt. Sie fühlten sich von der Kongressbezeichnung „nacional“ nicht repräsentiert und wünschten sich eine Änderung in „plurinacional“. Das Plenum habe aber ihre Anliegen ignoriert.
Nein, ignoriert haben wir das nicht. Das wurde sehr viel diskutiert und respektiert. Uns als Organisationsteam steht das gar nicht zu, den Namen zu ändern. Wir sind nur 50 Leute und können gar nicht entscheiden, wie der Kongress in Zukunft heißen soll (siehe Infokasten, Anm. d. Red.).

Wie war die Zusammenarbeit mit der Stadt? Dutzende Schulen öffneten ja zum Beispiel ihre Türen für Übernachtungen und Workshops. Und dann müssen am Wochenende mal 50.000 Feminist*innen mehr aufs Klo…
Chubut hat sich nicht freiwillig für den Kongress gemeldet, sondern jedes Jahr stimmen die Teilnehmenden des ENM über den nächsten Ort ab. 2019 wird das Treffen zum Beispiel in La Plata, im Bundesstaat Buenos Aires, stattfinden. Dort, wo der Kongress dann stattfindet, muss die Stadt die Versorgung gewährleisten, ob sie will oder nicht. Das heißt, die Gesundheitsversorgung muss gewährleistet sein und für die Sicherheit gesorgt werden. Auch das Abwassersystem wird beispielsweise mehr belastet als sonst. Grundsätzliche Dinge, derer du dir erst bewusst wirst, wenn du selber so ein Event mitorganisierst.

Was waren die Reaktionen der Anwohner*innen in Chubut? Also derjenigen, die nicht am Kongress teilgenommen haben? Auf Twitter wurde ja beispielsweise die Angst verbreitet, dass manche Teilnehmer*innen planen würden, frisch geborene männliche Babys in den Krankenhäusern zu töten.
Ich denke, der Kongress hat gezeigt, wer wir sind. Jeder Ort, an dem das ENM stattfindet, macht die Menschen dort sichtbar. Es gibt einige Menschen in Chubut, die begeistert am Kongress teilgenommen haben. Auf der anderen Seite gibt es eben auch Leute, die so einen Scheiß glauben. Das Treffen an sich war auf jeden Fall eine unglaubliche Party. Und was nicht eingetroffen ist, war jene Twittermeldung, die vorab über die Feministinnen in den Medien verbreitet wurden. Was aber geschah, ist, dass die staatlichen Organisationen versagt haben. Alles was die Regierung uns versprochen hat, hat gefehlt. Es gab viel Gewalt gegenüber uns Frauen.

Laut für den Feminismus Trotz Repressionen waren Tausende auf der Abschlussdemonstration (Foto: Yamila Carbajo)

Was ist passiert?
Die Regierung hat uns Sicherheit versprochen, die gab es nicht. Vor allem die gefährlicheren Viertel der Stadt wurden nicht bewacht. Im ohnehin sicheren Teil gab es drei Patrouillen. Dagegen gab es in den drei unsicheren Vierteln zusammen nur eine. Eine Schule, in der Kongressteilnehmerinnen übernachteten, wurde um sieben Uhr morgens mit Steinwürfen attackiert, eine andere Schule ausgeraubt. Alles wurde mitgenommen, Rucksäcke, Klamotten, selbst die Schlafsäcke und Isomatten waren weg.

Wie hat die Polizei sich sonst verhalten?
Die riesige Abschlussdemo am Sonntagabend war spektakulär, wir hatten unsere grünen Tücher dabei. Die Polizei hatte sich nicht mal darum gekümmert, Straßen für die Demo abzusperren. Das einzige, was wir von der Polizei erfahren haben, waren Repressionen. Am Ende der Demo sind sie mit einem Riesenaufgebot angerückt, unter anderem die Bundespolizei und das Militär, wobei es sich um ein sehr hartes Vorgehen handelte und die Repression zudem eine scheußliche symbolische Bedeutung erhält: Bekanntlich war das argentinische Militär für das Verschwinden und Ermorden von Menschen in der letzten Diktatur verantwortlich. Auch heute noch bringen Polizei und Militär Menschen um und lassen Leute verschwinden. Sie haben zehn Frauen mitgenommen. Die Situation war für die Verhafteten sehr beängstigend. Die Beamt*innen haben sich nicht ausgewiesen und die Frauen zunächst in einen vermeintlichen Raum der Feuerwehr gebracht, in dem sie schikaniert wurden. Unser Orgateam hat zum Glück gute Anwält*innen, wodurch die Frauen bald wieder auf freiem Fuß waren. Es gibt in Argentinien viel Gewalt gegen Frauen, rund alle 30 Stunden einen Femizid. Das Encuentro Nacional de Las Mujeres soll dieser Situation etwas entgegensetzen.


Viktoria
Viktoria ist als Künstlerin im Theaterbereich und Kulturproduktion in Chubut tätig, was sie dazu motiviert hat, beim ENM 2018 in der Organisation mitzumachen. Zwar hatte sie sich vorher nie als Feministin labeln lassen wollen, aber nach der Erfahrung des ENM, würde sie sich auch selbst so nennen.

„WIR WERDEN NICHT EINEN MILLIMETER ZURÜCKWEICHEN”

Gemeinsam unterwegs: Die JUNTAS wollen im Kollektiv die Politik verändern (Foto: Juntas_Baixa3)

JUNTAS ist ein kollektives, feministisches Mandat im Abgeordnetenhaus von Pernambuco – warum hat sich JUNTAS gegründet?
JUNTAS wurde als Antwort auf das gescheiterte Parteiensystem gegründet. Ein Drittel der Bevölkerung hat nicht gewählt, weil es kein Vertrauen mehr in unser politisches System hat. Die Idee kommt aus der feministischen Bewegung, die wir auch schon kollektiv aufgebaut haben. Alle sozialen Bewegungen, an denen wir uns beteiligen, organisieren wir als Kollektiv. Die Idee wurde außerdem von dem allerersten kollektiven Mandat der MUITAS aus Belo Horizonte inspiriert, von der nationalen Bewegung PartidA, die Frauen dabei unterstützt, mehr politische Räume zu erobern, und von der nationalen Bewegung Ocupa política (Besetzt die Politik, Anm. d. Red.), die überparteilich Kandidaturen unterstützt. Unsere Einschätzung war, dass wir hier in Pernambuco mit einer feministischen, kollektiven Kandidatur antreten können, weil es sehr viele Frauen gab, die sich das zutrauten und das gerne machen wollten. Wir haben uns dann zu JUNTAS zusammengeschlossen.

Aber rein formal hat Jô Cavalcanti das Mandat erhalten? Wie ist die rechtliche Situation?
Ja, Jô stand auf dem Wahlzettel. Kollektive Kandidaturen sind nicht verboten, aber sie sind auch noch nicht anerkannt. Es gibt dazu ein Gesetz im Kongress, aber damit geht nichts voran.

Die fünf Kandidatinnen sind sehr unterschiedlich, in Bezug auf ihr Alter, ihre Berufe – eine trans Frau ist auch dabei – erhöht das die Unterstützung?
Wir verstehen den Feminismus, die Feminismen, als intersektional. JUNTAS ist ein Kollektiv, gebildet von einer weißen feministischen Frau, Mutter und Journalistin – das bin ich –, von einer schwarzen Frau, Anwältin aus der Favela, von einer Lehrerin und Gewerkschafterin, von einer schwarzen Straßenhändlerin und politischen Aktivistin und von eine sehr jungen Frau aus dem Agreste im Landesinneren von Pernambuco. Ich würde sagen, ja, wir repräsentieren Diversität.
Wir glauben daran, dass wir diese politischen Räume besetzen können. Und es hat funktioniert, 39.000 Menschen waren auch der Meinung, dass wir das tun können. Uns wurde immer verweigert, was uns zusteht. Eine schwarze Frau kann ein Mandat erhalten, eine trans Frau kann ein Mandat erhalten. Und dies kollektiv zu erobern entspricht dem, was wir auch schon im Alltag in anderen Zusammenhängen tun.

Gibt es schon Gesetzesvorhaben, die die JUNTAS vorbereiten?
Die große Sache bei dieser kollektiven Kandidatur ist die Veränderung des Formats. Wir haben schon die Wahlkampagne mit der feministischen Bewegung abgesprochen, mit der LGBTI-Bewegung, mit der Bewegung für Wohnraum, der informellen Arbeit, der agro-ökologischen Bewegung und der Jugendbewegung. Wir haben eine Vielzahl an Vorschlägen und ab Januar werden wir die ersten 100 Tage des Mandats planen. Ein konkretes Beispiel: Im Kulturbereich haben wir den Vorschlag, dass alle Ausschreibungen gleichmäßig nach Genderkriterien vergeben werden. In Bezug auf Jugendliche ist unser Vorschlag, dass die Schließung von Schulen im Landesinneren von Pernambuco überprüft werden soll. In Bezug auf informelle Arbeit fordern wir die Anerkennung der Arbeit der Straßenhändler*innen als Beruf. All dies in Form von Gesetzesvorhaben, so als wären wir eine Brücke der Bewegungen in die parlamentarische Arbeit. Aber wir wissen gleichzeitig, dass wir nicht die Bewegungen sind, auch wenn viele von uns in sozialen Bewegungen aktiv sind. Wir wollen den Bewegungen in der legislativen Arbeit eine Stimme geben und die Gelegenheit, diese zu erheben. Gleichzeitig brauchen wir wiederum die Kraft der Bewegungen, um im Parlament etwas zu erreichen.

Trotz des Schocks über den Wahlerfolg von Bolsonaro und seiner Partei ist der Kongress doch wesentlich diverser geworden als er vorher war. Wie bewerten die JUNTAS die letzten Parlamentswahlen?
Unserer Meinung nach gab es – trotz der vielen Sitze, die die Partei von Bolsonaro errungen hat – Fortschritte bei den Parlamentswahlen. Unsere Fraktion von der P-SOL hat die Anzahl der Sitze im Kongress von sechs auf zehn erhöht und fünf davon sind Frauen. Der Anteil der Frauen in allen Parlamenten hat sich von zehn Prozent auf fünfzehn Prozent erhöht, das ist für uns schon eine sehr positive Veränderung, auch wenn die Anzahl der Abgeordneten in Bezug auf das Geschlecht gleich sein sollte. Es gibt heute drei trans Abgeordnete, zwei in São Paulo, Erica Malunguinho und Alexya Salvador, und Robbeyoncé Lima, die Teil der JUNTAS in Pernambuco ist. Das bedeutet, dass die Leute sich tatsächlich mit den Kandidat*innen identifizieren können, sich repräsentiert fühlen.
Wir sind uns bewusst, dass es eine Zunahme des Konservativismus auf globalem Niveau gibt und gleichzeitig sehen wir auch schon die Anworten darauf, zum Beispiel in den USA: Es gibt mehr Frauen, die sich politisch engagieren, mehr Frauen aus Lateinamerika, mehr schwarze Frauen, mehr homosexuelle Männer. Gleichzeitig brauchen wir mehr Beteiligung der gesamten Bevölkerung an der Politik. Es reicht nicht aus, alle vier Jahre wählen zu gehen. Und die kollektiven Mandate erreichen genau das: mehr Partizipation.

Wie sehen die JUNTAS die Rolle der Frauen in der aktuellen politischen Situation?
Für mich sind die Frauen, besonders die schwarzen Frauen, der Schlüssel dieser Revolution. Die schwarzen Frauen in Brasilien haben nie in einer Demokratie gelebt. Sie hatten nie Zugang zu Trinkwasser, zur Gesundheitsversorgung, sie sind diejenigen, die am häufigsten in den Krankenhäusern sterben. Die Gewalt gegen Frauen ist im weißen Bevölkerungsteil gesunken, die gegen schwarze Frauen ist gestiegen. Diese Frauen haben keine Angst vor dem, was gerade passiert. Es ist das, was sie schon immer erleben. Sie sind organisiert und sie brauchen dringend einen Wandel, weil sie die Rückschritte am meisten betref­fen. Wenn zum Beispiel der Preis für Kochgas steigt, dann sind es die schwarzen Frauen mit geringem Einkommen, die anfangen, mit Alkohol zu kochen und sich dabei verbrennen. Sie spüren die ökonomische Verschlechterung buchstäblich am eigenen Leib.
In Pernambuco wurden im vergangenen Jahr 5.427 Menschen ermordet. 90 Prozent dieser Menschen sind schwarz. Und wenn ein schwarzer Mann ermordet wird, dann gibt es eine schwarze Tochter, eine schwarze Mutter oder eine schwarze Schwester dieser Männer. Die Anzahl der weiblichen Inhaftierten hat sich seit 2010 um 600 Prozent erhöht und mehr als die Hälfte von ihnen hat noch nicht einmal vor Gericht gestanden. Sie dürften gar nicht inhaftiert sein. Die Mehrzahl dieser Frauen ist schwarz. In der Presse und in der Öffentlichkeit heißt es immer die Favelas seien gewalttätig. In Wirklichkeit wird die Bevölkerung der Favelas täglich vergewaltigt: Weil sie keinen Zugang zu Bildung hat oder zur Gesundheitsversorgung.

Wie analysieren die JUNTAS die Bedrohungslage unter einer von Bolsonaro geführten Regierung?
Wir handeln als Netzwerk, gemeinsam mit den anderen Frauen, die gewählt wurden. Wir sind natürlich sehr besorgt über die möglichen Entwicklungen. Dabei ist die Rolle der internationalen Öffentlichkeit äußerst wichtig, damit die Welt erfährt, was hier passiert, wenn etwas passiert. Aber wir werden nicht einen Millimeter zurückweichen, wir gehen keinen Schritt zurück. Natürlich haben wir auch Angst, aber das ist eher etwas, was uns antreibt. Wir erleben hier einen historischen Moment, wir werden uns nicht verstecken, wir sind das historische Subjekt. Aber wir müssen uns natürlich auch schützen, am Besten durch die internationale Öffentlichkeit.

 

KOLLEKTIVITÄT ALS SCHUTZ GEGEN TERROR

Weiblicher Widerstand Feminist*innen kämpfen gegen die Regierung (Foto: Flickr.com Jorge Mejía Peralta CC BY 2.0)

Eine Gruppe von Frauen spielt Theater. Ein Mann tritt mit einem Gewehr ein. Die Frauen spielen weiter, der Mann geht nach einiger Zeit. Der Mann gehörte jedoch nicht zum Stück. Der Mann ist Teil des Terrors, den die Menschen in Nicaragua im Alltag spüren. Immer wieder treten Anhänger Ortegas wie er an solchen Orten auf, um mit Waffengewalt Angst einzuflößen. Feminist*innen erhalten Drohungen, werden beschimpft, in den sozialen Medien verleumdet und ein feministisches Zentrum wurde beschossen. Bei der Theaterprobe ließen sie sich nicht einschüchtern, doch die Bedrohung und Angst ist überall greifbar.

„Es ist eine humanitäre Krise“, sagt Edith* aus Matagalpa. Die Diktatur Ortega-Murillo durchdränge mit dem Terror die ganze Gesellschaft. „Die Regierung hat bei den Menschen immer weniger Rückhalt, aber sie hat Macht. Die Macht der Waffen!“, sagt Edith, die Feministin. Die letzten Barrikaden, welche die Protestierenden im ganzen Land errichtet hatten, und die Besetzungen der Universitäten beseitigte die Regierung Mitte Juli gewaltsam im Rahmen der „Operation Säuberung“. Zeitgleich verabschiedete das Parlament das „Gesetz gegen Geldwäsche, die Finanzierung von Terrorismus und die Verbreitung von Waffen“. Auf der Grundlage dieses „Anti-Terrorgesetzes“ werden nun zahlreiche Protestierende verurteilt und kritische Organisationen gefährdet. Präsident Ortega startete eine Medienkampagne, um auf internationaler Ebene zu verkünden, dass das Land wieder zur Normalität zurückgekehrt sei (siehe Artikel S.38). María*, eine Feministin aus der Hauptstadt Managua, beschreibt hingegen, dass die Verfolgung, Einschüchterung und Angst im August ein neues Niveau erreichte: „Dieser Zustand ist schlimmer! Wenn du an den Barrikaden oder bei Demonstrationen warst, wusstest du, was du riskierst. Jetzt bist du zu Hause und weißt nicht, ob und wann sie kommen und dich nach El Chipote verschleppen.“ Das Gefängnis El Chipote war das berüchtigste Folter-Zentrum der Somoza-Diktatur.

 

Feminist*innen sind seit Beginn der Proteste zentrale Akteur*innen des Widerstands

 

Feminist*innen sind seit Beginn der Proteste Mitte April zentrale Akteur*innen des Widerstands. Die Gruppen kämpfen schon seit Jahren gegen die Regierung und für ihre Rechte und sind deshalb landesweit organisiert und vernetzt. Sie beschreiben, dass Diskriminierungen aufgrund von Homophobie und Sexismus in den letzten Wochen zunahmen. Viele der Kollektive haben aus ihrer Arbeit zu sexualisierter Gewalt Erfahrung mit Gewaltsituationen, der Schikanierung der Opfer und falschen Anschuldigungen durch die Täter. Dadurch schaffen sie es auch, angesichts der aktuellen Situation gegenseitig auf sich zu achten und handlungsfähig zu bleiben. „Kollektivität ist der stärkste Schutz gegen die Vereinzelung und Spaltung durch den Terror“, sagt Edith. „Sie kämpfen für das Leben und wollen den Terror nicht gewinnen lassen”, kündigt sie kämpferisch an.

Viele Menschen können sich vor ihrer Angst, dem zunehmenden ökonomischen Druck (insbesondere für informelle Arbeiter*innen) oder vor politischer Verfolgung nicht schützen und fliehen vor der Gewalt. Insbesondere in Costa Rica, aber auch in Panama, Mexiko und den USA stieg die Anzahl der Anträge auf politisches Asyl enorm an. In Deutschland und Spanien suchen Nicaraguaner*innen ebenfalls Schutz vor politischer Verfolgung. Nach Angaben der Regierung Costa Ricas beantragten 23.000 Nicaraguaner*innen seit Ausbruch der Proteste Asyl. Die offiziellen Zahlen geben aber nur einen Teil der tatsächlich Geflüchteten an.

23.000 Menschen haben in Costa Rica Asyl beantragt

Auch innerhalb Nicaraguas gibt es viele Menschen, die sich in anderen Landesteilen verstecken. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR ruft zu internationaler Solidarität mit den Staaten auf, die seit April 2018 Geflüchtete aus Nicaragua aufnehmen. Inzwischen ist es für politisch Verfolgte jedoch fast unmöglich, nach Costa Rica oder Honduras zu fliehen, da schon der Weg zur Grenze gefährlich ist. Der Student und LGBT-Aktivist Bayardo Siles aus Matagalpa wurde beispielsweise am 9. August auf dem Weg zur Grenze zu Costa Rica verschleppt. Feministische Gruppen forderten Ortega auf, seine physische und psychische Integrität zu wahren und ihn sofort freizulassen. Die Polizei hielt Siles für zehn Tage in drei verschiedenen Gefängnissen, darunter El Chipote, gefangen. Nach seiner Entlassung gelang es Siles nun Ende August aus dem Land zu fliehen.

„Die Situation ist so schwerwiegend, dass wir uns verbünden müssen, um der grausamen Diktatur zu entgegnen“, sagt María. Das breite Bündnis der Zivilgesellschaft mit der Unternehmer*innenschaft und der Kirche zieht immer wieder Kritik auf sich. Ortegas Unterstützer*innen im In- und Ausland sehen darin den Beweis für die Steuerung oder Vereinnahmung des Protests durch die nationale Bourgeoisie, das internationale Kapital und den Imperialismus. Es wäre allerdings ignorant, nicht anzuerkennen, dass die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ihrerseits ebenfalls strategisch und überlegt mit den Bündnissen umgehen. Sie entscheiden bewusst, welche Allianzen sie zu welchem Zweck (nicht) eingehen.

Edith macht sich keine Illusion, wer aus den Protesten gestärkt hervor gehen wird. „Die Katholische Kirche wird ihre Agenda hervor holen. Das wird ein Rückschlag für die ganze feministische Bewegung“, sagt sie. Auch María weiß, dass die Kirche gestärkt aus dem Konflikt hervorgehen wird, da sie angesichts der Regierungsgewalt von der Bevölkerung als Schutzmacht wahrgenommen wird.
Die katholische Kirche wird gestärkt aus den Protesten hervorgehen
Aus jahrelangem linken, anti-kapitalistischen und feministischen Kampf wissen die feministischen Gruppen sehr genau, dass sie sich mit der Rechten nicht verbünden dürfen. Deren ökonomische Interesse gehen immer auf Kosten des weiblichen Körpers. Die Feminist*innen lassen sich nicht leicht täuschen und vereinnahmen. Aufgrund ihrer herrschaftskritischen Analysen kritisierten sie bereits vor dem 18. April Ortega-Murillo, Unternehmer*innen und die Kirche aufs Schärfste. María findet es allerdings makaber, wenn Linke Ortegas Regierung immer noch für links halten und meinen, die Diktatur Ortegas sei weniger schlimm als eine rein neoliberale Regierung.

Ende August verkündete das zivilgesellschaftliche Bündnis Alianza Cívica por la Justicia y Democracia, dass es den nationalen Dialog wieder aufnehmen wolle. Das Bündnis, in dem Organisationen von Studierenden, Bäuer*innen, Unternehmen und Kirche zusammenkommen, hatte sich im vergangenen Mai angesichts der Krise gegründet. Liberale und rechte Parteien versuchen Teil dieser Gespräche zu werden, wogegen es Widerstand gibt. Azahálea Solis, Feministin und Mitglied der Allianz, kommentierte gegenüber der Presse, die politischen Parteien sollten nicht davon ausgehen, ihre alte Politik fortführen zu können.
Bei allen Diskussionen darum, wie es weitergeht, wiederholen verschiedene Nicaraguaner*innen immer wieder, dass das Wichtigste sei, zunächst Ortega-Murillo und die verheerende Gewalt zu stoppen. Danach könne erst richtig begonnen werden sich neu zu organisieren. María und Edith wissen, dass die Herausforderungen für den Feminismus groß sind.

* Namen der Personen und Gruppen wurden aus Sicherheitsgründen geändert bzw. nicht genannt.

PROGRESSIVE WELLE

Oben ohne Gegen Sexismus und Abtreibungsverbot (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Für einen Großteil der Bevölkerung und des politischen Establishments völlig unerwartet nimmt die feministische Bewegung in Chile rasant an Wirkungsmacht zu und bestimmt mit ihren Themen die öffentliche Debatte. Bestärkt von der Durchsetzung der seit September vergangen Jahres legalen Abtreibung in drei Fällen (siehe LN 523) und der Mobilisierung der internationalen Frauenbewegung mit globalen Kampagnen wie #NiUnaMenos und #MeToo, nahmen Studentinnen das Ruder in die Hand und besetzten eine Reihe von Fakultäten und Universitäten. Rosario Olivares, Feministin, Schuldirektorin und Mitglied der Partei Sozialismus und Freiheit (SOL, Frente Amplio), sieht die aktuelle Mobilisierung als Ergebnis zweier verschiedener und sich nun kreuzender Ent­wicklungen: „Einerseits die historischen Forderungen der Frauenbewegung in einer konservativen Gesellschaft wie der unseren, und andererseits die Studierendenproteste von 2006 und 2011, die den Frauen neue Räume eröffneten, um als politische Subjekte zu agieren“.

Es fegt eine Welle feministischer Mobilisierung durchs Land.

In einigen Fällen sind die Besetzungen und Streiks eine direkte Reaktion auf universitätsinterne Fälle von sexueller Belästigung und Missbrauch, andere finden sowohl aus Solidarität statt als auch mit dem Ziel, der Frauenbewegung auf nationaler Ebene Ausdruck und Gewicht zu verleihen. Den Anfang machten Student*innen der Universidad Austral in Valdivia am 17. April mit der Besetzung der Fakultät für Philosophie und Geisteswissenschaften. Direkter Auslöser war die schleppende Bearbeitung und Gleichgültigkeit der Verantwortlichen gegenüber den Anschuldigungen von sexueller Belästigung, die sowohl Lehrende, als auch Studenten und Funktionäre betrafen. Zehn Tage später folgte die Besetzung der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile in Santiago. Den nötigen Zündstoff bot in diesem Fall ein Uni-versitätsbeschluss, der den Professor und ehemaligen Präsidenten des Verfassungs-gerichtshofs Carlos Carmona vom Vorwurf der sexuellen Belästigung einer Studentin ausnahm und ihn lediglich wegen der „Verletzung der administrativen Redlichkeit“ für drei Monate vom Dienst suspendierte.

Seitdem fegt eine Welle feministischer Mobilisierung durchs Land, die aktuell 15 besetzte Universitäten, 30 streikende Fakultäten und zahlreiche Aktionen von Schüler*innen einiger Sekundärstufen zählt. Höhepunkt war bislang die massive Demonstration, die, von 40 feministischen Student*innenversammlungen und der Studierendenförderation Confech organisiert, am 16. Mai in verschiedenen Städten des Landes stattfand und allein in Santiago laut Angaben der Organisator*innen 170.000 Menschen auf die Straße brachte. Die Protagonist*innen waren dabei ganz klar die Frauen: Nur sie hielten Reden und gaben Interviews, während die Männer unterstützend im Hintergrund blieben.

Die Teilnahme der Männer wird in der Bewegung kritisch diskutiert. „Wenn wir davon ausgehen, dass die aufgezwungene Differenz nicht natürlich, sondern sozial und politisch konstruiert ist, dann können die Männer an bestimmten Diskussionen und Mobilisierungen teilnehmen, weil es ein Thema ist, dass auch sie betrifft. Die auf dem Patriarchat basierenden Privilegien machen es jedoch notwendig, dass die Männer in der Lage sind, ihre Identität zu dekonstruieren und bestimmte Räume und die Protagonist*innenrolle der Bewegung nur uns Frauen überlassen“, so Rosario Olivares.


Für Polemik sorgte eine Gruppe von Student*innen, die genau auf der Demonstration vor dem zentralen Gebäude der erzkonservativen katholischen Universität ihre Brüste entblößte. Barbusig und das Gesicht mit bunten Mützen bedeckt, grenzten sie einige, die Polizei provozierende, männliche Studenten aus, um eine gewalttätige Eskalation zu verhindern und zu guter Letzt das Denkmal Johannes Pauls des Zweiten zu erklimmen. Während nackte Brüste in Werbung und Alltag keineswegs kritisch hinterfragt werden, scheint die Entblößung in einem politischen Rahmen für einen großen Teil der Bevölkerung anstößig zu sein. Deshalb symbolisiert dieser Akt genau das, worum sich die Proteste drehen: Das Verdeckte und Tabuisierte zu entblößen, das lange Schweigen zu brechen, die alteingesessenen patriarchalen Machtstrukturen aufzubrechen.

Die Kernforderung einer „nicht-sexistischen Bildung“ betont folglich nicht nur die Notwendigkeit, sexuelle Gewalt innerhalb der Bildungseinrichtungen sichtbar zu machen, den Opfern eine angemessene Betreuung und Schutz zuzusichern und härtere Sanktionen für die Täter durchzusetzen. Darüber hinaus schwingt der Anspruch mit, die Grundlage für einen kulturellen Wandel zu schaffen, der es Frauen und LGBTI ermöglicht, über ihre Körper und ihr Leben selbst zu entscheiden. Dafür bedarf es laut den Aktivist*innen einer Änderung der Lehrpläne an Schulen und Universitäten, in denen eine aufgeschlossene und die Vielfalt respektierende sexuelle Erziehung selbstverständlich sein muss. Sie fordern die Hinterfragung der konservativen, patriarchal geprägten Rollenbilder und ein auf der Genderperspektive aufbauendes kritisches Grundverständnis in allen Fächern und Studiengängen. Daraus ergeben sich Forderungen nach der Anerkennung von Trans*-Menschen und Einführungen in die Thematik für Studienanfänger*innen, aber auch die Geschlechterparität und gleiche Bezahlung in leitenden Positionen der Bildungsinstitutionen, Verwaltung und Wissenschaft.

Laut Rosario Olivares impliziert die Umsetzung einer nicht-sexistischen Bildung, „das gesamte Bildungssystem konzeptuell neu zu denken und institutionell neu zu strukturieren. Das schließt die Lehrpläne ein, ebenso die Nutzung von Sprache und die alltäglichen Arbeits- und Verhaltensweisen, die Sensibilisierung des Lehrpersonals und die Demokratisierung der Bildung. Wir brauchen ein Bildungsprojekt, das säkulär, feministisch, einheitlich und kontextbezogen ist, und unvoreingenommen von der Krippe bis in die Universitäten Wissen vermittelt.“

Einige Referent*innen der Bewegung sprechen von „feministischer Bildung“, um zu verdeutlichen, dass das Ziel nicht nur die Verringerung der männlichen Vorherrschaft ist, sondern es darum geht, die gesellschaftlichen Beziehungen von Grund auf zu verändern. Eine alternative, emanzipatorische Logik des menschlichen Zusammenlebens zu ermöglichen, die auf weniger Hierarchien und mehr Horizontalität beruht, auf Freundschaft, auf Solidarität, auf Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit und auf der Anerkennung der menschlichen Vielfalt und ihrer Lebensvorstellungen. Da den Bildungsinstitutionen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung und Festigung gesellschaftlicher Werte und Rollenverständnisse zukommt, trifft diese Forderung mit all ihren Facetten ins Herz des Patriarchats.

Die radikale Vorgehensweise und die tiefgreifenden Forderungen zeigen erste Erfolge.

Die radikale Vorgehensweise und die tiefgreifenden Forderungen der Mobilisierung zeigen erste Erfolge. An einigen Universitäten wurden die Besetzungen und Streiks vorerst aufgehoben, nachdem die Forderungen der Studierenden zumindest teilweise akzeptiert wurden. Für hochgezogene Augenbrauen sorgte dabei eine Tonaufnahme von einer Versammlung der Rektoren der traditionellsten Universitäten des Landes, in der eine reine Männerrunde über Maßnahmen zur Inklusion von Frauen diskutierte. Gut einen Monat nach der ersten Besetzung sah sich selbst die Regierung zu einer Reaktion genötigt: Präsident Sebastián Piñera gestand persönlich sein „machohaftes Verhalten“ ein und kündigte ein Paket von Maßnahmen zur Gleichstellung „unserer Frauen“ an. Nachdem unter der Präsidentschaft Michelle Bachelets (2014-2018) ein gewisser Fortschritt in Sachen Frauenrechte zu verzeichnen war, der sich in der Gründung des Ministeriums für Frauen und Geschlechtergleichberechtigung und der Legalisierung der Abtreibung in drei Fällen zeigte, konnte in den ersten Wochen der Amtszeit Piñeras eher eine gegenläufige Tendenz beobachtet werden. So ist die neue Frauenministerin Isabel Plá gegen die Legalisierung der Abtreibung und sorgte gemeinsam mit dem Gesundheitsministerium für eine Klausel, die es öffentlichen Kliniken erlaubt, eine legale Abtreibung aus „Gewissensgründen“ verweigern zu dürfen.

Obwohl laut einer Umfrage des privaten Umfragedienstes Cadem 71 Prozent der Bevölkerung der Mobilisierung gegen den Machismus und die (sexuelle) Gewalt gegen Frauen zustimmen, stellen die angekündigten Maßnahmen der Regierung für die sich soeben erst der feministischen Debatte öffnenden chilenischen Gesellschaft und für den rechts-konservativen Teil des politischen Spektrums ein großes Zugeständnis dar. Eine Verfassungsänderung, um gleiche Rechte von Frauen und Männern zu garantieren, die Anerkennung und Verfolgung von Gewalt gegen Frauen in jeder Art von Beziehungen, die Förderung von Frauen in Führungspositionen – all das sind Vorschläge der Regierung, die im Grunde nicht viel mehr darstellen, als die Gewähr einiger grundlegender Rechte. Den Feminist*innen geht das nicht weit genug: „Der Feminismus ist eine Einheit politischer Theorie und Praxis der eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft zu Grunde liegt, die weder den Vorstellungen der amtierenden noch der vergangenen Regierung entspricht, denn beide haben ihren Anteil am neoliberalen Aufbau unserer Gesellschaft. Deshalb sind die Maßnahmen Piñeras nicht feministisch, denn sie ändern nichts an der Wurzel des Systems und basieren auf bereits existierenden Gesetzen. Beispielhaft dafür ist der Vorschlag des Präsidenten, die Krankenkassenbeiträge auch für Männer zu erhöhen, statt die für Frauen zu reduzieren“, so Rosario Olivares.

Die Vorschläge der Regierung haben also weniger mit Feminismus als mit der Erhaltung des Status quo zu tun. Die feministische (Studierenden-)Bewegung hat hingegen mit ihrem Ansatz einer nicht- sexistischen bzw. feministischen Erziehung einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft im Sinn, der wie jeder kulturelle Umbruch viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Ein rasches Ende der Mobilisierung ist deshalb nicht abzusehen.

„DIE KLEINEN RÄUME DER FREIHEIT“


Sie werden international oft dafür gefeiert, als weibliche Rapperin in der männerdominierten Hiphop-Szene mitzuhalten. Doch eigentlich geht es in Ihrer Musik und Ihrem Aktivismus um viel mehr. Was sind die Themen, die Sie aktuell beschäftigen?
Feminismus und der Kampf um Frauenrechte sind für mich die zentralen Themen, einfach weil Frausein in Zentralamerika bedeutet, in einem permanenten Krieg zu leben. Ein wichtiges Thema ist aber auch die Aufarbeitung der Vergangenheit in Guatemala und ganz Zentralamerika. Nach all den Kriegen, die stattgefunden haben und immer noch stattfinden, muss immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit gestellt werden. Noch immer existieren Diktaturen in Zentralamerika. Letztes Jahr kam in Honduras eine illegitime Regierung durch Wahlbetrug an die Macht und militarisiert weiterhin die Gesellschaft. In Guatemala weiß ich nicht mal, welche Bezeichnung ich für die Regierung wählen möchte. Auch hier handelt es sich um eine illegitime Regierung. Als junger Mensch in El Salvador zu leben, ist praktisch ein Todesurteil, vor allem wenn man zur Hiphop-Szene gehört. Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres wurden in El Salvador fünf compañeros aus der Hiphop-Szene ermordet. Mein Aktivismus hat viel damit zu tun, über diese Dinge zu sprechen. Über die Situation in Zentralamerika. Und auch über das Überleben. Wir müssen nämlich Tag für Tag sehen, wie wir überleben.

Am 1. April verstarb Ríos Montt, der guatemaltekische Ex-Diktator. Seine Verbrechen blieben damit ungestraft. Was bedeutet das für die guatemaltekische Gesellschaft?
Ich denke nicht, dass sich mit dem Tod von Ríos Montt viel verändert. Momentan stirbt jene politische Klasse, die die Korruption etabliert hat. In Guatemala gibt es ein Sprichwort, das besagt: „Wie traurig, dass der Tod vor der Gerechtigkeit kommt.“ Doch immer noch halten viele Menschen an der Vorstellung fest, dass diese Männer unsere Retter gewesen seien, weil sie Guatemala vor dem Kommunismus bewahrt hätten. Es gibt vor allem wegen des vergangenen Bürgerkrieges (1960-1996 zwischen der guatemaltekischen Regierung und vier linken Guerillaorganisationen, Anm.d.Red.) starke rechte, militärische und antikommunistische Kräfte in Guatemala. Und es ist besorgniserregend, dass wir nur eine kleine Minderheit sind, die sich für die Aufarbeitung der Vergangenheit, für Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit einsetzt.

Was sind in diesem Kontext die konkreten Herausforderungen der feministischen Bewegungen?
Die größte Herausforderung sind die Feminizide. Uns Frauen wird konstant und systematisch das Leben genommen. Außerdem ist es schockierend, wie viele Mädchen sexuellen Missbrauch erleben. Im Durchschnitt sind die Mädchen zwischen sieben und zwölf Jahre alt, wenn sie zum ersten Mal sexuell missbraucht werden. Und das Schlimmste daran ist, dass die meisten Vergewaltigungen im eigenen Zuhause stattfinden. Es ist der Vater, der Bruder, der Cousin, der Großvater und nicht irgendein Verrückter auf der Straße. Mädchen erleben mit sieben die ersten sexuellen Übergriffe und werden mit zehn schwanger. Alle diese Schwangerschaften sind das Resultat von Vergewaltigungen. Guatemala ist ein Land, in dem es keine Sexualerziehung gibt. Wenn man in Guatemala versucht, Aufklärungsmaterial zu verbreiten, hat man direkt mit juristischen Konsequenzen zu rechnen. So Selbstverständliches ist verboten, wie unsere Körper kennenzulernen und uns zu informieren, wie wir uns schützen können. Hier wird uns Frauen das Recht genommen, selbst über unsere Körper zu bestimmen. In El Salvador, Honduras und Nicaragua ist die Situation noch schlechter, es herrscht ein absolutes Abtreibungsverbot. Als Frau ist es schwierig, in einem solchen Umfeld zu überleben, weil ein Krieg gegen uns und unsere Körper geführt wird, von klein auf. In unserer Region Feministin zu sein, bedeutet, sich vielen Gefahren auszusetzen. Und für all diese strukturellen Probleme sind die Staaten verantwortlich.

Trotzdem setzen Sie dieser Gewalt etwas entgegen, indem Sie zum Beispiel Hiphop-Workshops für Frauen geben. Wie kann Hiphop zum Empowerment von Mädchen und Frauen beitragen?
Das Empowerment beginnt in dem Moment, wo du einer Frau einen Zettel und einen Stift in die Hand drückst und sagst: „Erzähl mir von dir.“ Dann entstehen diese kleinen Räume der Freiheit. Die Mädchen und Frauen erzählen ihre Geschichten, teilen ihre Trauer, aber auch ihre Kämpfe und Stärken. Ich gebe in meinen Workshops keinen „Feminismus-Unterricht“, sondern die Frauen empowern sich gegenseitig. Das ist ein Schlüssel des Hiphop. Viele Rapperinnen haben so angefangen, ihre Geschichten zu erzählen, aufzustehen und die Stimme zu erheben.

In Ihrem neuen Album Obsidiana setzen Sie sich unter anderem mit dem feminismo comunitario, dem kommunitären Feminismus, auseinander – ein Konzept, das hier in Europa kaum bekannt ist. Im Song Tzk’at sind Passagen von Lorena Cabnal, der bekannten indigene Feministin aus Guatemala, zu hören. Warum ist es Ihnen wichtig, mit diesem Konzept zu arbeiten?
Das Besondere am feminismo comunitario hier in Zentralamerika ist, dass die bestehenden Kämpfe um Territorien mit der Verteidigung des weiblichen Körpers verbunden werden. Dies ist indigenen Frauen zu verdanken, die seit Langem gemeinsam mit ihren männlichen compañeros im Kampf um Territorien, Land und Flüsse organisiert sind. Sie stießen eine Diskussion darüber an, dass auch die Körper von Frauen einer ständigen Gefahr ausgesetzt sind und ebenso als Territorium des Kampfes angesehen werden müssen. Und sie setzten sich mit der Rolle der Frau in den verschiedenen indigenen Kosmovisionen Zentralamerikas, der Maya, Lenca und Xinca auseinander.
Es wird oft so dargestellt, als sei der Machismo erst durch die Kolonialisierung nach Lateinamerika gebracht worden. Es stimmt zwar, dass Frauen vor der Kolonialisierung nicht das gleiche Ausmaß an Ausbeutung und Unterdrückung erlebten wie danach. Aber dennoch gab es auch in den früheren Gesellschaftsformen Ungleichheit und patriarchale Strukturen. Es ist unglaublich mutig und schwierig, diese Fragen aufzuwerfen, denn es bedeutet, jene Überzeugungen und Traditionen herauszufordern, um deren Erhalt gleichzeitig gekämpft wird. Der feminismo comunitario ist damit ganz anderen Fragen und Realitäten ausgesetzt als westliche Feminismen. Es geht nicht um individuelle Rechte und die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen, sondern ganz grundsätzlich um die Ablehnung kapitalistischer Ausbeutung und des Zwangs zur Entwicklung nach europäischem Vorbild. Die Gemeinden sind ständig mit dem strukturellen Rassismus von Seiten des Staates konfrontiert. Wie können Frauen in diesem Kontext Kritik üben und feministische Forderungen stellen, ohne dass es zur Spaltung der Gemeinschaft führt? Auch darin unterscheidet sich der feminismo comunitario von westlichen Feminismen, die Ziele können nämlich nur gemeinsam mit der ganzen Gemeinschaft erreicht werden.

Welche Verbindung haben Sie zu den Kämpfen dieser indigenen Frauen?
Ich bin selbst nicht Teil der Kämpfe des feminismo comunitario, da ich nicht auf indigenem Territorium lebe. Ich bin Ladina, so bezeichnet man Menschen, die nicht indigen sind, und komme aus der Stadt, wo ich mit vielen Privilegien aufgewachsen bin. Zum Beispiel hatte ich Zugang zur höheren Bildung und wurde in meinem eigenen Land nie diskriminiert. Meine Verbindung zu den indigenen Aktivistinnen ist, dass ich unglaublich viel von ihnen lernen kann. Es ist eine Herausforderung für uns Ladinas, die Kämpfe indigener Frauen sichtbar zu machen und sie zu unterstützen, ohne dabei das Wort an uns zu reißen, ohne unsere Bedürfnisse über ihre zu stellen. Die indigenen Frauen Guatemalas sind die Gruppe, die am stärksten diskriminiert wird. Daher versuche ich, die Plattformen zu nutzen, zu denen ich Zugang habe, um ihre Themen aufzugreifen.

Gibt es für Sie auch eine Verbindung zwischen den Kämpfen hier in Europa und Ihrem Aktivismus in Zentralamerika?
Nicht wirklich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass unsere Realitäten sehr unterschiedlich sind. Hier in Europa geht es viel um Begriffe und politische Korrektheit und das erschwert manchmal das Verständnis für den Kontext, aus dem ich komme, der komplex und sehr konfliktiv ist. Ich erinnere mich an einen Vortrag, den ich in Spanien gehalten habe. In dem Moment, als es darum ging, dass der weiße Feminismus nicht den Bedürfnissen aller Frauen auf der Welt gerecht wird, rasteten die weißen Frauen total aus. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass alle Bücher, die sie gelesen hatten, nichts wert sein sollten. Aber darum geht es gar nicht. Natürlich haben diese Bücher ihren Wert in dem Kontext, in dem sie geschrieben wurden. Aber nicht alles steht in Büchern. Es ist sehr europäisch, dem rationalen Wissen mehr Bedeutung zuzuschreiben als den Alltagserfahrungen der Frauen um uns herum. Manchmal bringt es mehr, sich zusammenzusetzen, einander zuzuhören und Erfahrungen zu teilen. Auch das ist sehr feministisch.

KEINE POSTKARTE FÜR TOURIS


Als Rebeca Lane (siehe Interview) Anfang Mai in Berlin die Bühne der Kantine am Berghain betritt, jubelt die Menge. Fast alle sprechen Spanisch, sind textsicher und feiern die guatemaltekische Rapperin. Diesmal stellt Rebeca ihr neues Album Obsidiana vor, bereits ihr viertes als Solokünstlerin. Ihre Messages kommen auch in Deutschland an.

„Der Rap ist für mich ein Werkzeug, um über Dinge zu sprechen, die ‚man nicht sagt‘. Ich möchte die Dinge ans Licht bringen, über die meiner Meinung nach in der guatemaltekischen Gesellschaft gesprochen werden müsste.“ Rebeca Lane ist bekannt als Rapperin, politische Aktivistin und Feministin. Dies spiegelt sich in den Texten ihres neuen Albums wider, genauso wie in ihrer Auseinandersetzung mit den indigenen Traditionen Guatemalas: Der Obsidian, wie der titelgebende Song auf deutsch übersetzt heißt, ist ein Vulkangestein, das in der Kosmovision der Maya eine vielschichtige Bedeutung hat – als Werkzeug und in spiritueller Hinsicht. Der Obsidian hilft, verborgene Dinge ans Licht zu bringen.

Das Element Wasser taucht innerhalb des neuen Albums wiederholt auf – im Wortsinn, musikalisch und metaphorisch. Wasser ist für Lane die Verbindung zu vielen Kämpfen, „die aktuell in Zentralamerika geführt werden.“ In Llora el cielo („Der Himmel weint“) prangert die Rapperin die alltägliche Gewalt und den Machismo in ihrer Heimat Guatemala-Stadt an. Es fließen Tränen der Trauer und der Wut. Tzk’at thematisiert den Feminismo Comunitario (dt. komunitärer Feminismus, siehe Interview), wie er in den indigenen Gemeinden im guatemaltekischen Hochland entwickelt und praktiziert wird. Entstanden ist er nicht nur aus dem Kampf gegen den Machismo, er steht auch immer in Verbindung mit der Verteidigung des Territoriums und der Flüsse.

In Soy Centroamérica („Ich bin Zentralamerika“) dominieren Klänge der Karibik, es klingt nach dem Plätschern des türkisblauen Meeres, Palmen und Postkartenidyll. Unterstützt vom salvadorianischen Musiker Zaki rappt sie über diese existierenden Klischees, um ihnen gleichzeitig die andere Realität Zentralamerikas gegenüberzustellen. So heißt es im Song: „Unser Territorium ist umstritten // Unsere Gemeinden befinden sich im Kampf // Wir sind nicht passiv, wie in den Tourismusprospekten // Wir sind keine Postkarte, um in euren Zeitschriften zu erscheinen.“

Das neue Album verzichtet auf die für den Hiphop üblichen Samples, Musiker*innen spielten die Musik ein. Damit emanzipiert sich die Künstlerin von dem gängigen US-amerikanischen Sound des Rap und gibt ihren Songs einen eigenen Klang. Viele Lieder sind von traditioneller lateinamerikanischer Musik inspiriert, die Marimba aus Zentralamerika ist ebenso zu hören wie Rhythmen aus dem andinen Raum, die Produzent*innen des Albums kommen aus verschiedenen zentral- und südamerikanischen Ländern: Ihr Rap klingt nach Lateinamerika.
Daraus ist eine eklektische Mischung entstanden, die nicht nur durch ihre gelungene Verbindung von lateinamerikanischen Musikstilen und Hiphop überzeugt. Ihre politischen und feministischen Texte legen dort den Finger in die Wunde, wo die Regierungen Guatemalas und Zentralamerikas die Dinge lieber in den Mantel des Schweigens gehüllt lassen.

// ALLES ÄNDERN

Der 8. März ist seit rund 100 Jahren weltweit als Internationaler Frauentag bekannt. Dass Frauen* an
diesem Tag keine Blumen, sondern Rechte wollen, ist schon lange klar. Aber durch die immer größer
werdende NiUnaMenos-Bewegung bekommt der Tag eine neue Bedeutung. An diesem 8. März wird
gestreikt – zum zweiten Mal organisieren Frauen* in 54 Ländern einen internationalen Frauenstreik.
Die tragenden Kräfte für die Mobilisierung sind in Lateinamerika, aber auch in den USA, Spanien und
Italien werden hunderttausende Frauen* am 8. März ihre Arbeit niederlegen. Und mit Arbeit ist nicht
nur Lohnarbeit gemeint, sondern auch unbezahlte und unsichtbare Arbeit in Haushalt, Fürsorge und
Pflege. Es reicht nicht mehr, nur zu demonstrieren, es wird gestreikt, sabotiert und blockiert, um auf
die verschiedenen Formen der Ungleichheit aufmerksam zu machen und Forderungen zu stellen.

„Aber was wollt ihr eigentlich genau?“ wurde die argentinische Aktivistin und NiUnaMenos-
Gründerin Marta Dillon gefragt. „Wir wollen alles ändern.“ Ganz einfach: alles. Denn patriarchale
Machtstrukturen durchziehen alle Bereiche unserer Gesellschaft – Politik und Wirtschaft,
Wissenschaft und Kultur, öffentliche Räume und Schlafzimmer, nehmen Einfluss auf unsere Liebesund
Arbeitsbeziehungen, die Autonomie über unsere Körper, die Verteilung von Macht und Reichtum.
Der neue Feminismus ist ein Feminismus, der die verschiedenen Kämpfe gegen Ungleichheit in sich
vereint und seine Kraft aus dieser Diversität schöpft. Er will die alten Grenzen überwinden und sucht
in der Zerstörung des Patriarchats zugleich die Zerstörung des Kapitalismus. Mehr Frauen* in
Chefpositionen reichen nicht aus, um die Welt besser zu machen. „Eine Revolution ist im Anmarsch“,
skandieren die Organisatorinnen des Streiks. Und das Potential, das sich in dieser Bewegung in
Lateinamerika formiert, ist überwältigend. Seit Anfang Februar finden überall in Lateinamerika
öffentliche Versammlungen zur Vorbereitung des 8. März statt, an denen in Buenos Aires über 1000
Frauen* teilnahmen. Die Redner*innenliste zählte über 100 Anmeldungen. Nicht nur Logistik und
Kommunikation des 8. März werden dort organisiert, die Versammlungen werden zu einem aktiv
handelndem Kollektiv, in dem sich die verschiedenen persönliche Erfahrungen einzelner zu einem
massiven gemeinsamen Widerstand verknüpft haben, der all die vielfältigen Kämpfe einschließt:
Kämpfe gegen sexualisierte Gewalt, gegen Feminizide, gegen die Feminisierung der Armut, gegen
rassistische und koloniale Gewalt und gegen Gewalt an von der Norm abweichenden Körpern. Aber
auch gegen die aktuellen neoliberalen Reformen und Sozialkürzungen, gegen staatliche Repression
und Ausbeutung.

In Argentinien ist der neue Feminismus zu einem unerwarteten politischen Akteur geworden, der
nicht mehr überhört und übersehen werden kann. Die rechtskonservative Regierung hat nun die längst
überfällige Debatte über die Legalisierung von Abtreibung zugelassen, wenn auch nur aus
Opportunismus. Eine Reaktion auf die Popularität der Bewegung und ihre massive Präsenz in der
Öffentlichkeit.

Deutschland hinkt hier etwas hinterher. Von dem rebellischen Kampfgeist der lateinamerikanischen
Frauen* können wir viel lernen. Hier gehen am 8. März nicht hunderttausende Frauen* auf die Straße,
um zu streiken. Vermeintlich sind die Notwendigkeiten nicht so drängend. Aber auch in Deutschland
ist sexualisierte Gewalt alltäglich: Im Jahr 2017 gab es mehr als 150 Feminizide und 211 versuchte
Morde an Frauen* – ein Anschlag pro Tag. Nur zehn Prozent aller Vergewaltigungen werden zur
Anzeige gebracht, nur ein Bruchteil führt zur Verurteilung. Die Lohnungleichheit ist eklatant und der
unzeitgemäße Paragraph 219a hat unlängst zur skandalösen Verurteilung einer Ärztin geführt, die
Abtreibungen durchführt. Nicht zuletzt hat #metoo deutlich gemacht, wie alltäglich Sexismus überall
ist, auch in linken Räumen. In den Erfahrungen und in den Körpern aller Frauen* liegen genug
Gründe, etwas zu ändern. Und nicht nur etwas. Einfach alles.

„WIR MÜSSEN UNORDNUNG SCHAFFEN“

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, wo es Glauben an den Staat und die Gesetze gibt. Dinge, bei denen sich meiner Meinung nach erwiesen hat, dass sie nicht ans Ziel führen, weder hier noch dort! Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staats-gründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe. Die Staaten stehen daher außerhalb dessen, was sie regieren.

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen, sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sich sehr an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionellen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanische und indigene Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht. Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibung und ich glaube, das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat, weil Frauen gezwungen werden, ein Stück Fleisch in sich zu tragen, das sie nicht möchten. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf 6 Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

In Ihren Abhandlungen schreiben Sie, dass Patriarchismus dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: In einem primordialen Moment gibt es demnach eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Und die Frau, das Weibchen, begeht dann einen Fehler, ist ungehorsam, auf diverse Art und Weisen: Sie kümmert sich nicht richtig um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut… Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.

In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ transformieren, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht und Gesetze braucht, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.

Das ist aber optimististisch, oder? Denn das heißt ja, dass das Beste uns noch bevorsteht.
Ja, ein bisschen. Entweder, wir schaffen es aus dieser patriarchalen Frühzeit der Menschheit heraus oder unsere Spezies wird verschwinden. Aber mein Denken ist nicht utopisch im Sinne eines utopischen Autoritarismus. Utopien können nämlich sehr autoritär sein. Das dekoloniale Denken geht von dem aus, was existiert, und nicht von einer Idee einer Gesellschaft, die von einem bärtigen Deutschen entworfen wurde (lacht laut). Nicht von einem „so sollte es sein“, das es nicht gibt. Das, wovon wir reden, gibt es wirklich. Natürlich hat es viele Mängel, die korrigiert werden müssen.

Wie wird in indigenen Gemeinschaften zum Beispiel der Gender-Binarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarismus abgeschafft.

Diesen Binarismus bekämpfen auch westliche LGTBI*. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen oder Klassen.

In Ihren Abhandlungen sagen Sie: Statt einer Politisierung des Häuslichen braucht es eine Verhäuslichung des Politischen.
Wir könnten Knoten sein in einem Faden der Erinnerung, die durch den Prozess des Kolonialismus sehr angegriffen wurde. Das heißt, zurückfinden zu Formen, in denen Frauen kollektive Probleme lösten. Domestizierung würde dann heißen, dass Das Andere seine Art zu sein durchsetzt.

Und so kann man den Binarismus überwinden?
Ich glaube schon. Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Zuerst müssen wir Unordnung schaffen. Wir müssen Unordnung schaffen.

TROTZ ALLEM: EIN FEST

Verónica Gago ist Aktivistin, Journalistin und Mitglied im Kollektivverlag Tinta Limón. Gago lehrt als promovierte Sozialwissenschaftlerin an den öffent­lichen Universitäten UBA und UNSAM in Buenos Aires (Foto: Florencia Tricheri)

Frau Gago, Sie sind seit der Entstehung von Ni Una Menos im Jahr 2015 in der Bewegung aktiv. Wie hat sich diese entwickelt und was ist das Neue an diesem Feminismus, der es schafft, hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen?
Die Bewegung ist größer und massiver geworden, aber auch mehr im Mainstream angekommen. Das bedeutet, die Fähigkeit der Femi­nismen, sich mit einer ‚sozialen Konfliktivität’ zu verbinden, ist gewachsen. Soziale Konfliktivität meint die sozialen Probleme, mit denen die Gesellschaft heute konfrontiert ist. Die Parole Ni Una Menos (Keine einzige weniger) hat eine große Reichweite und schafft es, das Problem der Feminizide in die Öffentlichkeit zu bringen. In diesem Rahmen fanden die massenhaften Proteste von 2015 und 2016 statt. Im Oktober 2016 haben wir zum ersten Mal zu einem Frauenstreik aufgerufen. Das war eine Wende, weil wir aus dem Drehbuch ausgebrochen sind. Da wurden wir gefragt: Aber was hat ein Streik mit einem Feminizid zu tun? Mit dem Instrument des Streiks konnten wir sagen: Es reicht mit der Gewalt.
Aber um Gewalt gegen Frauen zu verstehen, muss ein ganzes Muster an Gewalt verstanden werden, das mit der ökonomischen, politischen und sozialen und der repressiven Gewalt des Staates verbunden ist. Wenn wir nicht verstehen, wie die Formen der Ausbeutung, die Kürzungen der Sozialleistungen oder die aktuelle Sozialreform, die die Regierung von Mauricio Macri systematisch vorantreibt, den Alltag beeinflussen, können wir nicht verstehen, warum Frauenkörper zu einem privilegierten Territorium für verschiedene Formen von Gewalt werden.

Wie hat die Bewegung den Alltag von Frauen in Argentinien verändert? Gibt es ein vor und ein nach bzw. während Ni Una Menos?
Heute können wir dem Grauen der Gewalt die Fähigkeit zur Mobilisierung entgegensetzen. Das erzeugt ein Bild, ein Gefühl und eine Erfahrung von kollektiver Kraft auf zwei Ebenen. Es geht um Trauer und Wut, aber auch um Schmerz und um einen Kampf. Trotz allem ist es ein Fest: Dieses ermächtigende Gefühl, gemeinsam auf der Straße zu sein. Dort verurteilen wir die Feminizide, die die größte Stufe der Gewalt darstellen, aber auch die anderen alltäglichen Formen der Gewalt, die mit Familienbeziehungen und zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch mit staatlicher Gewalt zu tun haben.
Dieses Gefühl hat die alltägliche Erfahrung verändert. Dieser massive öffentliche Moment gemeinsamer Stärke kann damit verbunden werden, wie diese Stärke übersetzt wird. Das heißt, wie sie sich in unseren alltäglichen Beziehungen verbindet, sich konkretisiert und materialisiert, in den Formen, die wir haben, um diese Gewalterfahrungen zu erzählen. Und sie, während wir sie erzählen, auch auf bestimmte Weise zu konzeptualisieren. Das bedeutet zum Beispiel, dass in Argentinien nicht mehr von Verbrechen aus Leidenschaft gesprochen wird. Der Feminizid wird als politisches Verbrechen verstanden.

Die argentinische Frauenbewegung beschäftigt sich heute nicht nur mit explizit feministischen Themen, sondern bezieht Stellung zur aktuellen Regierungspolitik, positioniert sich zum Sozialabbau, staatlicher Repression oder Landkonflikten und ist dadurch heute zur größten oppositionellen Bewegung im Land geworden. Wie habt ihr es geschafft, diese Vielfalt an Themen in die Bewegung aufzunehmen und eine gemeinsame Position dazu zu finden?
Die feministische Bewegung hat es geschafft, eine Vielzahl von Stimmen, Beschwerden und Forderungen in sich zu vereinen und verschiedene Themen auf besondere Art zu artikulieren. Zum Beispiel die Landkonflikte der indigenen Mapuche, die kriminalisiert und verfolgt werden, mit denen feministische Organisationen Bündnisse eingegangen sind. Wir wollen wissen, was diese Aggression und Gewalt gegen Körper und Territorium ausmacht.

Es geht um die Fähigkeit, die aktuelle Sozialreform aus einer feministischen Diagnose heraus zu verstehen, warum sie ganz besonders Frauen betrifft – als vormalige Empfängerinnen von Kindergeld oder von Rentenansprüchen aus unbezahlter oder informeller Arbeit als Hausfrauen oder Hausangestellte. Oder es geht darum, die Gewerkschaften zu hinterfragen und uns dabei mit den Genossinnen zu verbünden, die die vertikalen Strukturen in den Gewerkschaften bekämpfen und sie für interne Demokratisierungsprozesse öffnen wollen. Wir befassen uns mit dem patriarchalen Justizsystem, mit dem Zugang zum Gesundheitssystem und mit den Forderungen der Migrantinnen, die auf die rassistische Politik dieser Regierung hinweisen. Wir haben ein ganzes Geflecht aus Forderungen geknüpft, mehr als nur das, es ist ein Geflecht aus Kämpfen. Was diesen Grad der Politisierung der feministischen Bewegung ermöglicht hat, ist, dass wir aus den Grenzen ausgebrochen sind, aus jener Begrenzung, die uns oft auf eine ‚Gender-Agenda’ limitieren will. Als könnten wir nur über geschlechterspezifische Themen sprechen, die ihre Sprache, ihre Kodes und vor allem ihre Grenzen haben.

Wir haben damit gebrochen und einen sehr langen und arbeitsreichen Prozess öffentlicher Versammlungen angestoßen, in dem der Streik als politischer Prozess entwickelt wurde. Der Streik vom 8. März hat wie ein organisatorischer Horizont für die Vielfalt an Forderungen und Beschwerden und vor allem der verschiedenen Kämpfe funktioniert. Diese verwebte Artikulation untereinander macht aus dieser Bewegung eine absolut politische, radikale, massive und transversale Bewegung.

Angesichts der Größe der Bewegung scheint es fast unmöglich für konservative oder reaktionäre Teile der Gesellschaft, feministische Forderungen zu ignorieren. Wie sind die Reaktio­nen aus diesen Kreisen und wie positio­nieren sich auch gerade konservative Frauen zu den Forderungen der Bewegung?
Es gibt zwei Reaktionen, eine traditionellere aus den konservativen Teilen der Gesellschaft und einen Versuch der neoliberalen Übernahme unserer Forderungen durch die Regierung. Eine starke Diskussion gibt es um die Forderung nach Entkriminalisierung und Legalisierung der Abtreibung, gegen die konservative Teile der Gesellschaft unter starker Beachtung bestimmter Medien demonstrieren. Das ist eine klare Reaktion auf die Ausmaße, die der Ruf nach Recht auf Schwangerschaftsabbruch mittlerweile in unserem Land angenommen hat. Auch weil diese Forderung das Potenzial hat, verschiedene Debatten über Kirche, Selbstbestimmung der Körper und rassistische und klassistische Dimen­sionen der Abtreibung zu verbinden. Denn auch wenn Abtreibung illegal ist, können Frauen aus Mittel- und Oberschicht in privaten Kliniken sicher ihre Schwangerschaft abbrechen.

Die Reaktion der Regierung ist neoliberal. Es wird versucht, Präsident Macri als jemanden zu inszenieren, der offen für eine feministische Agenda sei. Er hat gesagt: ‚Ich bin ein später Feminist’. Die regierungstreuen Medien haben diesen Versuch der Regierung, die feministische Agenda zu kapern, gefeiert. Präsident Macri hat in einigen Parlamentssitzungen den Mutterschutz und die Lohnungleichheit angesprochen und Gesetzesprojekte eingebracht. Wir finden, das ist eine opportunistische Nutzung unserer Forderungen, die in einem Kontext von Massenentlassungen und totaler Prekarisierung von angestellten und informellen Arbeiterinnen und Gewerkschafterinnen, einer massiven Kürzung von staatlichen Sozialleistungen und der aktuellen Sozialreform zu sehen ist.

Die großen Mobilisierungen zum Frauen*streik am 8. März und anderen Demonstrationen sprühen vor Kampfgeist und Freude und beschwören eine Revolution. Wie geht es weiter?
Durch die Veränderung der sozialen Beziehungen und der Machtbeziehungen, die durch diesen Prozess ständig ausgeübt werden, ist er unumkehrbar geworden. Es ist eine Revolution auf den Straßen, in den Betten, auf den öffentlichen Plätzen und in den Häusern. Die feministische Dynamik hat auch die Schülerinnen eingenommen, heute stellen sie sich einer Bildungsreform entgegen oder machen klar, wie wichtig integrale Sexualkunde ist – ein anderes Projekt, das die Regierung abschaffen will. Am Streik haben auch Kleinbäuerinnen teilgenommen, denn eine ganze Dimension des Feminismus beschäftigt sich mit sozialen und territorialen Konflikten und großen neoextraktivistischen Projekten in der Region.

Wenn dieser umfassende und vielfältige Feminismus sich in Verbindung mit einer wach­senden sozialen Konfliktivität weiterentwickelt, hat er die Fähigkeit, weiterhin eine gemeinsame Ebene hervorzubringen, in der Kämpfe zusammenwachsen, in der es ein konkretes materielles Muster verschiedener verknüpfter Institu­tionen und Initiativen gibt, um Erfahrungen zu artikulieren. Der Feminismus als gemeinsamer Code, der heute eine politische Orga­nisations­­kraft ­in den Stadtvierteln, Gewerk­schaften und Uni­versitäten hervorbringt. Wir sehen auch, dass diese so mächtige und kämpfer­ische Stärke eine schwere Gegenoffensive erlebt.

Seit längerem charakterisieren wir das Problem der Feminizide als den Moment, in dem der Körper der Frau als Feld der Auseinandersetzung und als Kriegsbeute offensichtlich wird. Zum Beispiel die kürzliche Ermordung der brasilianischen Politikerin Marielle Franco, aber auch die Ermordung der Menschenrechtsaktivistin Gavis Moreno in Ecuador oder die Inhaftierung verschiedener indigener Genossinnen, die seit Jahren wegen Rückforderungen ihrer Territorien im Konflikt stehen. Wir beobachten durch die Ermordungen von wichtigen Führungsfrauen ein Aufrüsten der politischen, polizeilichen und kirchlichen Kräfte in diesem Krieg. Es war kein Zufall, dass Marielle Franco eine Frau war, die den Nukleus rassistischer Gewalt, die Militärpolizei in den Favelas, diskutiert hat. Hier in Argentinien passiert das Gleiche mit den Müttern, die die Übergriffe der Polizei auf Kinder und Jugendliche in den Armenvierteln öffentlich machen. Frauen, die die kollektive Kraft nutzen und daraus eine mächtige Stimme machen, werden zum Ziel der Kontraoffensive einer misogynen Reaktion auf diese politische Kraft.

Zwar sind die Verhältnisse in Deutschland anders, aber auch hier müssen wir gegen sexualisierte Gewalt kämpfen. Was können wir von eurer Bewegung lernen?
Nach und nach übersetzen sich die Erfahrungen der Organisierung, der Radikalisierung und der Art und Weise, die soziale Konfliktivität zu verstehen, und finden zueinander. Und gleichzeitig taucht in jedem Ort und jedem Konflikt die Frage auf, was es bedeutet, sich diesen Konflikt in der feministischen Bewegung zu eigen zu machen. Die Hauptaufgabe ist es, die sozialen Konflikte aufzuzeichnen, über Strategien für Bündnisse nachzudenken und ausgehend von diesen konkreten und ungewöhnlichen Allianzen einzugreifen. Ungewöhnlich in dem Sinne, dass ganz verschiedene Akteurinnen und Kräfte miteinander kommunizieren können, sich zusammenfinden und vermischen. Und dann für eine Aktion zu mobilisieren, aus gerade dieser Vielfalt heraus, aus der sich heute die Kraft des Feminismus zusammensetzt.

ES KOMMT IMMER ETWAS NEUES

Nein heißt Nein Marielle Franco (Foto: privat)

Im Jahr 1975 organisierten Frauen in der Brasilianischen Pressevereinigung (ABI) in Rio de Janeiro eine Veranstaltung über die Situation der Frauen in Brasilien. Mehr als 400 Menschen nahmen teil. Daraus entstand die erste feministische Organisation Brasiliens, das Zentrum der Brasilianischen Frau (CMB). Mehr als vier Jahrzehnte danach besetzten wir denselben Ort, jetzt als Frauen, Schwarze, Trans, Favela-Bewohnerinnen, Lehrerinnen, Frauen aus dem Nordosten, Mütter – also als Frauen in ihrer ganzen Diversität.

Während der damaligen Veranstaltung kritisierten Schwarze Frauen die ABI: Obwohl dort wichtige Persönlichkeiten im Kampf gegen die Diktatur vertreten waren, gab es keine Debatte über die verschiedenen Formen des Frauseins. Ende November 2017 verwandelten wir die ABI in einen Raum der politischen Debatte. Eine sehr lebendige Debatte, voller Nuancen, in der 500 von uns bekräftigten, dass wir die Politik erobern werden, die Herrschaftsräume, jedoch nicht bloß über Quoten. Es gibt zweifellos einen neuen Moment, einen Weg als Reifeprozess der Frauen hin zur Aneignung der Getriebe der Macht.

Wir gelangten in das Jahr 2018, indem wir die Früchte des jahrzehntelangen Frauenkampfes für bessere Lebensbedingungen und mehr Gleichberechtigung in Entscheidungsräumen ernteten. In diesem Zeitraum wurde der Feminismus zweifellos diverser, vor allem was Forderungen zu Rassismus, sexueller Orientierung und Geschlechteridentität angeht, aber auch verschiedenen Erfahrungen des Frauseins, wie etwa Mutterschaft. Diese Diversität fand auf der Straße Ausdruck, bei den Kundgebungen und in den sozialen Netzwerken, durch Websites, Apps, Blogs und Videos.

Es wird viel darüber gesprochen, dass wir eine neue Welle des Feminismus erleben, dabei impliziert das Bild einer Welle die Idee von einem Bruch, der in der Geschichte so nicht passiert. Die Medien verbreiten die Idee, dass es einen „neuen Feminismus“ gibt, aber in Wahrheit ist das, was wir erleben, die Übereinstimmung verschiedener Formen von Feminismus. Denn selbst bei sehr unterschiedlichen Handlungsstrategien haben wir die gemeinsame Überzeugung, dass das Internet ein Ort des Dialogs und der politischen Vernetzung ist. Der brasilianische Feminismus von heute ist nicht nur jung und ermächtigt. Die Hashtag-Feministinnen und die historischen Feministinnen treffen sich in der gemeinsamen Aktion. Der Feminismus als Ganzes ist vielfältig, divers und kann Gemeinsamkeiten hervorbringen.

Unsere Präferenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel

Seit der Wahl 2010 erleben wir eine politische Phase, die durch tiefgreifende Widersprüche gekennzeichnet ist. Man bezeichnet diese Widersprüche als Genderfragen. Demonstrationen und Kampagnen zeigten: Diversität muss politisch repräsentiert werden. Frauen zeigten sich als politische Kraft im gesellschaftlichen Machtgefüge, besonders die Schwarzen und die indigenen Frauen. Wir übernahmen die Rolle, aufzuzeigen, was wirklich „neu“ in der Politik wäre: Das Spiel umzudrehen, aus der Position der Unterordnung in der Gesellschaft herauszukommen, um die Räume des Diskurses, der programmatischen Entwicklung, der Projekte und der Entscheidungsfindung zu besetzen.

Obwohl wir einige wichtigen Orte besetzt haben, sind Frauen in der Politik weiterhin unterrepräsentiert, und Schwarzen Frauen erst recht. Wir Schwarze Frauen bilden zirka 25 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, wie eine Volkszählung des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) von 2010 zeigt. Laut der „Darstellung der Ungleichheiten von Gender und Rasse“ (Ipea, 2015), bilden wir auch den größte Anteil der Arbeitslosen, derjenigen, die ohne Sozialversicherung arbeiten, als Hausangestellte oder mit dem geringsten Haushaltseinkommen pro Kopf. Dies ist keine zufällige Situation, sie ist Frucht einer zivilisatorischen Entwicklung, die es geschafft hat, den Körper der Schwarzen Frauen zu entmenschlichen und zu einem Objekt zu machen.

Inmitten von so viel Ungleichheit, so viel Rassismus und Sexismus, die darauf bestehen, uns zu vergewaltigen, ist es erstaunlich, wie viele schwarze Frauen es in die Institutionen geschafft haben. Unsere Präsenz erstaunt den männlichen, weißen und heteronormativen Klüngel. Gleichzeitig stehen wir vor der Herausforderung, ein politisches Projekt zu konstruieren, das die Frauen, die uns bis hierher geführt haben, nicht ausschließt, sie nicht zweitrangig macht. Ein Projekt, bei dem die Kämpfe der verschiedenen Bewegungen gleichzeitig geführt werden.

Ironischerweise befanden sich die Frauen, die sich 1975 versammelten, im Kampf gegen die Militärdiktatur. Heute stehen wir einer illegitimen Regierung gegenüber, die die täglichen Angriffe auf unsere Rechte und Freiheiten bestärkt. In einer Gesamtsituation voll schwerer Rückschritte und konzertierter Aktionen der religösen Kräfte im Parlament schaffen Frauen es trotzdem, Veränderungen in der Gesetzgebung durch sehr unterschiedliche Feminismen und durch gegenseitige Stärkung zu verhindern. Wir üben Widerstand gegen die täglichen rassistischen Attacken und versuchen Wege zu finden, um die Situation des Elends zu überwinden, in die Menschen aus den Favelas, der Peripherie und auf dem Land durch die Krise gekommen sind. Gleichzeitig stärken wir Initiativen der Solidarökonomie und Bewegungen wie die der Obdachlosen und der Landlosen.

Dank Gruppen wie PretaLab (Initiative Schwarzer und indigener Frauen in neuen Technologien, Anm. d. Redaktion), dank der Ausbildung über digitale Sicherheit der Freien Feministischen Universität, des MariaLab (Kollektiv feministischer Hackerinnen, Anm.d. Red.) und der Schwarzen Bloggerinnen, üben wir Widerstand gegen die Verbreitung des Hassdiskurses und gegenüber neuen Formen von Gewalt, die im Virtuellen stattfinden. Wenn wir den Slam das Minas („Wettstreit der Mädchen“, Anm. d. Red.) hören, die die Poesie der Frauen aus verschiedenen Regionen aufgreifen und die Idee der „Battles“ neu erfinden – anstatt im Poetry Slam zu konkurrieren, stehen sie Seite an Seite, und ergänzen sich in der Performance – dann wissen wir, wer wir sind: Stimmen, die sich zuhören, sich annehmen, die die ganze Zeit Politik machen. Dieser Widerstand ist auch in seiner Ästhetik neu!

Die Bewegung A PartidA Feminista mobilisiert, um Kandidatinnen aufzustellen und eine Debatte darüber zu führen, wie wichtig es ist, engagierte Feministinnen für die Projekte des Wandels zu wählen. Die Bewegung, die 2015 entstand als Aktivistinnen sich versammelten, um den Sinn und die Möglichkeit einer feministischen brasilianischen Partei zu diskutieren, vereinigt Kollektive von Frauen verschiedener Parteizugehörigkeit und verschiedener Bewegungen aus ganz Brasilien. Anders formuliert: Die Wahlen von 2018 werden durch organisierte Gespräche geschwängert. Initiativen für eine vielfältigere Repräsentierung sollen erneuert werden, ebenso wie Instrumente für die kollektive Finanzierung von Kampagnen.

Bei unserem kürzlichen Treffen in der ABI gingen wir von der Idee aus, dass „eine Frau die nächste mit sich zieht“ – einer der Slogans des Protestmarsches der Schwarzen Frauen von 2017. Wir versammelten Frauen, die sich auf dem politischen Schauplatz von Rio de Janeiro hervorhoben und die potenzielle Kandidatinnen in Machträumen sind: In Länder- und Bundesparlamenten, Gewerkschaften, Parteien und verschiedenen Vereinen. Dabei ging es vor allem um Schwarze Frauen. 2016 haben wir diese Botschaft verbreitet, und hier in Rio de Janeiro bleiben wir an der Spitze der Kommission der Frau, um die Debatte über Gender im Parlament aus unserer Perspektive anzuführen.

Talíria Petroni steht vor der Herausforderung, als einzige Frau im Stadtparlament von Niterói ein Schwarzes Regierungsmandat zu konstruieren, feministisch und an der Basis orientiert. Áurea Carolina in Belo Horizonte schafft die Neuheit eines „weiblichen Parlamentsbüros“, offen für die verschiedensten Kämpfe und gleichzeitig offen für Zärtlichkeit, Poesie und Selbstfürsorge. Wir lernen zusammen, wir suchen Formen, Politik zu machen, die keine reine Reproduktion des Immergleichen ist, weil uns dies stärker macht, um die Räume in den Institutionen zu besetzen, trotz aller Rückschritte. Aber wir möchten nicht alleine in diesem Raum bleiben, wir wollen mehr Menschen, die die Politik verändern.

Die kürzliche Veranstaltung in der ABI wurde durch ein parlamentarisches Mandat initiiert, aber nicht nur. Ein Netzwerk von unabhängigen Frauen mit Parteizugehörigkeit, schloss sich zusammen, um dieses Treffen zu fordern und zu organisieren. Nur für sich betrachtet enthüllt diese Initiative schon einen neuen Moment. Das politische System, so wie es heute (nicht) funktioniert, muss dringend verändert werden. Wir setzen darauf, dass andere Frauen gestärkt werden, um Herrschaftsräume zu besetzen. Und deshalb kann kein politisches Projekt der Linken die Fragen ignorieren, die wir aufwerfen. 2018 – wir kommen!

ATTACKEN IM INTERNET

Mit Luchadoras, Kämpferinnen, sind nicht nur Sie und die anderen Mitwirkenden der Plattform gemeint, sondern auch all diejenigen, deren Geschichte Sie erzählen. Wie kam es dazu?
Luchadoras sind für uns all die Frauen, die Tag für Tag für ihre Rechte kämpfen und Widerstand leisten. Damit sind nicht nur Aktivistinnen oder Menschenrechtsverteidigerinnen gemeint, sondern all die, die den Binarismus der Geschlechter sprengen und Frauen ein würdevolles Leben ermöglichen wollen. Die Idee entstand aus dem Wunsch unserer Mitstreiterin Lulú Barrera, von denjenigen Frauen zu erzählen, die in ihren jeweiligen Gemeinden unglaubliche Änderungen hervorgerufen haben, die aber in den mexikanischen Massenmedien nicht repräsentiert wurden. Die Webseite entstand mit dem Ziel, ein Archiv dieser Geschichten aufzubauen.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?
Die Sektionen der Webseite orientieren sich an den Ideen der feministischen Bewegungen in Lateinamerika. Im Bereich „Vivas nos queremos“ („Wir wollen uns lebendig“) finden sich Beiträge zu Feminiziden. Wir möchten dabei jedoch nicht die Opferperspektive oder die des Schmerzes einnehmen, sondern die Geschichten aus dem Leben heraus erzählen und sie in Ehren halten. Mich interessiert zudem besonders das Thema Sport. Wir haben beispielsweise die Geschichte von Daniela Velasco aufgegriffen, einer Athletin und paralympischen Medaillenträgerin, um diese aus einer nicht paternalistischen Perspektive zu erzählen, die ihre Stärken und Fähigkeiten hervorhebt. Die Firma Nike hat uns schließlich zu einem Forum eingeladen, auf dem unser Video gezeigt wurde. Sie kannten die Geschichte Danielas zuvor nicht und haben daraufhin entschieden, sie bei den paralympischen Spielen in Japan 2020 zu unterstützen. Für uns ist es toll, dass unsere Arbeit einen solchen Einfluss haben kann.

In Mexiko haben große Teile der Bevölkerung noch immer keinen Zugang zu Internettechnologien. Inwiefern haben diese die feministischen Bewegungen dennoch beeinflusst?
Globale Bewegungen wie „Me too“ haben uns an den Hashtag „Mi primer acoso“ („meine erste Belästigung“. s. LN 513) in Mexiko und die darauffolgenden landesweiten Demonstrationen erinnert. Die Auswirkungen dieses Hashtags waren unglaublich, Frauen begannen auf Twitter ihre Geschichten zu teilen und ohne diesen wären viele von ihnen vielleicht nicht sicher gewesen, dass das, was der Onkel, der Cousin oder der beste Freund getan hatte Gewalt war – und nicht in Ordnung. Die Geschichten der anderen haben uns die Kraft gegeben, um über die eigenen Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Analyse des Hashtags sagt Schlimmes über unsere Gesellschaft aus. Die meisten Vergehen wurden im Familien- und Bekanntenkreis begangen, und in den meisten Fällen waren die Betroffenen im Kindesalter oder Jugendliche. Dementsprechend war die Demonstration zwei Tage später die größte an der ich jemals teilgenommen habe. Hunderte von Missbrauchsfällen wurden so öffentlich gemacht. Natürlich längst nicht alle, unter anderem weil nicht alle Menschen in Mexiko Zugang zu Twitter haben. Es gibt jedoch Initiativen. Zum Beispiel hat eine Gemeinde in Oaxaca, die bisher vom Telefonnetz ausgeschlossen war, ihr eigenes Netz aufgebaut.

Der Hashtag „Mi primer acoso“ hat jedoch nicht nur gezeigt, dass das Internet sich für die Vernetzung von Frauen eignet, sondern wieder einmal auch, dass es keineswegs ein gewaltfreier Ort ist. Wie unterscheidet sich Gewalt im Netz von anderer Gewalt?
Richtig, bei „Mi primer acoso“ gab es unter jedem Tweet Beleidigungen und Drohungen. Das war für uns jedoch nichts Neues, denn Gewalt im Netz folgt den selben Mechanismen wie jede andere Gewalt. Online und offline sind als Kontinua und keineswegs als getrennte Sphären zu betrachten. Strukturelle Gewalt gegen Frauen und Körper, die nicht in die Norm passen, findet sich im Internet genau so wie in der „realen“ Welt. Im Netz wie im Alltagsleben werden wir sexualisiert, unsere Körper attackiert. Das Netz ist also nur ein Spiegel der Gesellschaft. Der größte Unterschied ist, dass sich die Aggressoren unter dem Schirm der Anonymität schützen. Für uns hat das oft zur Folge, dass wir diese Technologien meiden, die Plattformen verlassen und User blockieren. Das löst allerdings das Problem nicht. Blockierst du einen Aggressor, sprießen hundert neue aus dem Boden. Dies führt manchmal dazu, dass wir die Kontrolle über die Technologien verlieren, da es so viele Kanäle gibt, auf denen du angegriffen werden kannst. Die „Machitrolls“, wie wir sie nennen, sind gut organisiert. Und die Auswirkungen solcher Online-Attacken sind sowohl psychisch als auch physisch spürbar.

Wie können wir uns gegen solche virtuellen Angriffe schützen?
Füttere den Troll nicht. Davon lebt er. Er ernährt sich von deiner Wut, die ihn wachsen lässt. Anstatt zu antworten, sollten wir damit beginnen, die Aggression per Screenshot zu dokumentieren und uns für die Dokumentation ein System zu überlegen. Den Vorfall immer bei der Plattform melden und eine Reaktion ihrerseits fordern. Wir füttern die sozialen Netzwerke mit Informationen und sie machen Millionen mit uns, dafür müssen sie Verantwortung übernehmen. Schließlich ist es wichtig, dass wir miteinander über die Vorfälle sprechen. Sehr offensichtlich aber ebenso grundlegend ist es, sich lange und alphanumerische Passwörter zu überlegen und diese ständig zu wechseln. Kurzum: Prävention, nicht reagieren, dokumentieren, melden und teilen. So wie wir lernen, uns im Alltag zu verteidigen, lernen wir das auch im Netz. Wir werden uns immer klarer darüber, was Gewalt ist und wie wir damit umgehen können. Die selben Strategien wenden viele Organisationen, Aktivist*innen und Journalist*innen übrigens gegen Spionageangriffe seitens des Staates an!

Wie reagieren die staatlichen Autoritäten in Mexiko auf Gewalt im Netz?
Unsere staatlichen Organismen sind absolut ineffizient. Der Staat hat beispielsweise begonnen, Sexting (das Senden von Nachrichten mit erotischen Inhalten, Anm. d. Red.) unter Strafe zu stellen. Er erkennt dabei aber nicht, dass das Sexting an sich nicht das Problem ist, sondern die Gewalt, die beispielsweise durch die ohne Einwilligung erfolgte Verbreitung des Materials ausgeübt wird. Deswegen liegt es an den zivilen Organisationen dafür zu sorgen, dass jedes Mädchen und jede junge Frau – die größte Zielgruppe für Gewalt im Netz – über das nötige Wissen verfügt, sich im virtuellen Raum verteidigen zu können. Das Problem wird nicht verschwinden, aber wenn wir weiterhin über die Gewalt sprechen, uns austauschen und organisieren, Strategien teilen, werden wir immer besser wissen, wie wir auf Angriffe im Netz reagieren können.

Wie funktioniert die Kooperation zwischen feministischen Organisationen und solchen, die für digitale Rechte eintreten?
Die feministische Szene und die digitale Szene sind in Mexiko sehr gut vernetzt. Diesen Januar haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen, die seit vielen Jahren Gewalt dokumentieren, einen Bericht über Gewalt gegen Frauen im Netz präsentiert. Vor allem in Mexiko-Stadt gibt es ein großes und dichtes Netz aus Organisationen die für digitale Rechte eintreten. Und sie kooperieren an vielen Orten eng mit der feministischen Szene, zum Beispiel in der Koalition „Internet es nuestra“ („Internet gehört uns“).

Und alle diese Organisationen lassen sich trotz der verschiedenen Schwerpunkte und Perspektiven aufeinander ein?
Den Luchadoras wird oft gesagt: „Ihr streitet euch ja nie mit irgendwem.“ Uns ist klar, dass es nicht einen einzigen Feminismus gibt. Es gibt nicht nur den, der normalerweise in den Medien repräsentiert wird. Es gibt viele Formen von Feminismus und alle sind wertvoll. Uns geht es eben darum, möglichst alle Kämpfe sichtbar zu machen. Unser aller Ziel ist es doch, diese Welt für Mädchen, Frauen und alle anderen Geschlechter lebenswerter zu machen. Zusammen sind wir stärker und unser Wirken hat größeren Einfluss. Auch bei den Luchadoras gibt es verschiedene Sichtweisen, aber unser gemeinsames Ziel ist es, sexistische Beiträge in den digitalen Medien zu reduzieren und zu sehen, wie Frauen sich letztere zu eigen machen, um ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssen Dialoge fördern, denn Fakt ist, dass wir tagtäglich umgebracht werden. Jede von uns kann eine Feministin sein.

Und die Männer?
Können natürlich auch Feministen sein. Jedes Lebewesen, das an die Gleichheit der Rechte glaubt, kann Feminist sein. Es ist wichtig, dass die Männer uns in unserem Kampf begleiten. Eine Form, dies zu tun, ist zu schweigen, uns zuzuhören und Solidarität zu zeigen, ohne sich in den Vordergrund zu drängeln. Dies passiert in Mexiko auch in linken Kreisen ziemlich häufig. Die gesamte Geschichte wurde von Männern erzählt, nun sind sie mit Zuhören dran. Sie sollten unsere Geschichten nicht in Frage stellen, kein Mansplaining betreiben, nicht die Protagonisten unseres Kampfes sein wollen und sich auch verletzlich zeigen können. Das impliziert auch, dass sie die von ihnen selbst ausgeübte Gewalt hinterfragen. Sie müssen herausfinden, wie es in einer Gesellschaft, die sie tagtäglich zum Macho-Dasein auffordert, möglich sein kann, diese Realität zu dekonstruieren. Unsere Aufgabe ist es wiederum, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und das kann durchaus ein liebevoller, gewaltfreier Prozess sein. Denn uns ist klar, dass dieser Weg auch für sie schwierig sein kann.

Im März kommen Sie zur Ausstellung „Wir sind vernetzt“ nach Berlin. Was erwarten Sie sich vom Austausch mit deutschen Aktivistinnen?
Wir haben viel von den feministischen Bewegungen in anderen Teilen der Welt gelernt und mich interessiert besonders, inwiefern sich die Gewalt im Netz in Deutschland von der in Mexiko unterscheidet und welche Strategien und Organisationsformen existieren. Welche Selbstverteidigungsmethoden kennen sie? Wie können wir uns die Technologien noch besser zu eigen machen? Zudem werde ich einen Workshop mit Jugendlichen durchführen. Ich möchte ihre Kontexte und ihre Perspektiven auf Widerstand kennenlernen. Denn auch wenn uns das nicht immer so bewusst ist, besonders nicht im Jugendalter: auf irgendeine Art und Weise leisten wir immer Widerstand.

 

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