FEMINISTISCHE KÄMPFE STEHEN NICHT STILL

Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México Früher Menschenrechtskommission, heute Schutzraum (Foto: B.jars, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0)

Hinter dem polierten Holzschreibtisch in einem Büro der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) steht „Wir werden weder vergeben noch vergessen!“ in schwarzer Schrift auf den kahlen Hintergrund gemalt. Die Farbe ist noch frisch und tropft herunter. Vor dem Schriftzug posiert eine Person mit Sturmhaube, unter der die langen schwarzen Haare hervorschauen. Es ist das Foto, das zum Symbolbild der feministischen Besetzung wird. Anfang September wird diese von Betroffenen exzessiver Gewalt und ihren Angehörigen initiiert, feministische Kollektive schließen sich an.

Am 2. September waren Familien aus dem Bundesstaat San Luis Potosí zur Nationale Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt gekommen, um Aufklärung für zahlreiche Fälle von Gewalt und Verschwindenlassen insbesondere von Frauen und Kindern zu fordern. Darunter ist auch Marcela Alemán, Mutter eines vierjährigen Mädchens, das 2017 in ihrer Vorschule Opfer sexualisierter Gewalt wurde. Der Fall von Alemáns Tochter hatte eine Reihe von Klagen bei verschiedenen Instanzen zur Folge. Obwohl das Mädchen ihre Täter identifizieren konnte, wurden sie nicht verurteilt. Als deutlich wurde, dass sich auch die Nationale Menschenrechtskommission dem Fall nicht annehmen würde, weigerte sich Alemán, den Sitzungssaal zu verlassen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, fesselte sich selbst am Stuhlbein fest und verkündete, dass sie nicht aufstehen würde, ehe der Fall ihrer Tochter aufgeklärt sei. Silvia Castillo, die Mutter eines Jungen, der 2019 in San Luis Potosí getötet wurde und dessen Fall ebenfalls nicht aufgeklärt ist, schloss sich ihr an.

„Wir werden weder vergeben noch vergessen!“

In den folgenden Tagen kamen auf die Initiative von Müttern vor Ort feministische Kollektive sowie weitere Angehörige von verschwundenen und ermordeten Personen und jene, die selbst verschiedene Formen von Gewalt erlebt hatten, dazu. Sie schlossen sich zusammen, um ihre Anliegen vorzubringen und sich gegenseitig zu unterstützen. Dabei forderten sie gemeinsam eine juristische Aufarbeitung aller Fälle.

Als sie vier Tage später, am Sonntag den 6. September, weder eine Antwort erhielten noch juristische Verfahren eingeleitet wurden, formte sich aus der anfänglichen Protestaktion eine politische Besetzung der CNDH, der höchsten staatlichen Institution, in deren Verantwortung der Schutz der Menschenrechte liegt. Kurzerhand änderten die Besetzerinnen den Namen des Gebäudes in Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México („Hausbesetzung Schutzraum Nicht Eine Weniger”). Während der Besetzung dieser öffentlichen Einrichtung bemalten die Frauen Teile des Gebäudes: Auf Wände wurden feministische Parolen gesprüht, historische Gemälde von Männern, die als Helden der Geschichte gelten, wurden mit ironischen und politischen Symbolen überzeichnet. Der Ort wurde von da an zum Schutzraum für Angehörige und für Opfer von Gewalt erklärt.

Bis zum 15. September kam es zu keiner Einigung mit staatlichen Stellen. Im Gegenteil: Die Positionen einzelner Behörden und insbesondere des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador (AMLO) waren geringschätzig und zurückweisend. Der mexikanische Präsident erkannte an, dass die Besetzung der CNDH Ausdruck einer „angemessenen Forderung“ sei. Sie hätte sich jedoch in ein politisches Anliegen verwandelt, das von konservativen Kräften unterstützt werde, die die mexikanische Demokratie in Gefahr bringen würden. AMLO bringt damit die Familien in Zusammenhang mit den Konservativen des Landes wie etwa den politischen und wirtschaftlichen Eliten und der verpönten Mainstreampresse – und diffamiert damit die Besetzung im höchsten Amt der Regierung.

„Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“

Die Besetzung fand jedoch auch viel Zuspruch. So gab es weitere Besetzungen von bundesstaatlichen Menschenrechtskommissionen durch feministische Kollektive unter anderem in Chiapas, Guerrero, Sinaloa oder Chihuahua. Einer der bekanntesten Fälle war die Besetzung der Menschenrechtskommission im Bundesstaat Mexiko (CODHEM) durch verschiedene feministische Gruppen in Ecatepec, die auf gewaltsame Weise am Morgen des 11. Septembers geräumt wurden. Der Bezirk Ecatepec sorgte in der Vergangenheit aufgrund sehr hoher Feminizidraten immer wieder für Aufmerksamkeit.

Bei der Räumung in Ecatepec kam es zu heftigen Repressionen, die das Ausmaß der täglichen Gewalt und die Gefahren des feministischen Kampfes an diesem Ort widerspiegeln. Teilweise wurden Besetzerinnen festgenommen und ihr Aufenthaltsort nach der Verhaftung blieb lange unklar – eine bekannte Einschüchterungsstrategie seitens der Polizei. Denn solange nichts über den Verbleib einer verhafteten Person bekannt ist, ist die Sorge hoch, dass es sich um einen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens handeln könnte.

Eine häufig geäußerte Kritik von Frauen aus feministischen Gruppen in Mexiko lautet: „Die Polizei passt nicht auf uns auf, sie vergewaltigt uns!“. So heißt es auf Demonstrationen, in Aufrufen und im Netz: #NoNosCuidanNosViolan. Die Repressionen gegen die feministischen Proteste, angesichts der Besetzungen der Menschenrechtskommissionen, erinnern daran, dass in einem patriarchalen System – wie es in Mexiko eine Ausprägung findet – Frauen oft nicht als Menschen wahrgenommen werden, deren Rechte es zu schützen gilt.

Der feministische Bloque Negro führt die Besetzung fort

Mitte September kam es zu Differenzen zwischen den verschiedenen Gruppen der Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México. Im Fokus stand Yesenia Zamudio, Mutter von Maria Jesús Jaimes Zamudio (besser bekannt als Marichuy), die Opfer eines Feminizids wurde. Ihr Fall wurde nie aufgeklärt, was ihre Mutter zu einer Aktivistin machte. Heute führt sie das Kollektiv Frente Nacional Ni Una Menos an, das an der Besetzung des CNDH Anfang September beteiligt war.

Yesenia Zamudio kritisierte Mitte September öffentlich Konflikte innerhalb der Besetzung, was zu einer Reihe von gegenseitigen Anschuldigungen zwischen Zamudio und anderen Müttern und dem feministisch-militanten Bloque Negro („Schwarzer Block“) führte, der sich an der Besetzung des CNDH beteiligt. Der Bloque Negro symbolisiert eigentlich eine Taktik auf Demonstrationen und Kundgebungen, um die Anonymität der Mitglieder einer Gruppe zu gewährleisten. Er wird häufig als militant beschrieben, da er den gewaltvollen Konflikt gegen den Staat (und häufig auch Privatbesitz) als unumgänglich ansieht. Im Falle der Besetzung der CNDH ist nicht klar, welche feministischen Gruppen sich hinter dem Bloque Negro verbergen. Das Zerwürfnis zwischen den Müttern und dem Bloque Negro hatte schließlich zur Folge, dass die Angehörigen von Verschwundenen und Opfern von Feminiziden die Okupa Casa Refugio Ni Una Menos México verließen.

Trotz der Konflikte muss jedoch hervorgehoben werden, dass die Angehörigen vor dem Verlassen der besetzten CNDH die Möglichkeit hatten, ihre Forderungen vor den Behörden zu äußern. Yesenia Zamudio ist es sogar gelungen, dass der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ihren Fall überprüfen wird. Gema Antunez Flore vom Kollektiv María Herrera de Chilpancingo sagte: „Ich bin hoffnungsvoll, ich gehe nicht zufrieden, aber mit der Hoffnung, weil die Behörden sich dazu verpflichtet haben, Akte für Akte zu überprüfen.

Wir kamen in diesen Kampf, um die Behörden zu einer Reaktion zu bewegen, denn in der momentanen Situation der Pandemie haben sie uns vollkommen im Stich gelassen und leider gibt es im Bundesstaat Guerrero täglich Fälle von Verschwundenen, Morden, Entführungen. Wir fordern Gerechtigkeit.“ Inwiefern diese Aufklärung wirklich eintreten wird, bleibt abzuwarten. Antunez möchte die Wahrheit über die verschwundenen Personen in Mexiko wissen. In ihrem Fall ist der Aufenthaltsort ihres Sohnes Juan Sebastián García Antunez seit neun Jahren unbekannt. Was sich die Hinterbliebenen wünschen, ist zumindest den Körper zu sehen, um Frieden zu finden.

Der feministische Bloque Negro führt indessen die Besetzung der Nationalen Menschenrechtskommission in Mexiko-Stadt fort. Auf Facebook fordern die Feministinnen Immunität für alle Aktivistinnen des Protestes, damit ihre Aktionen weder verdeckt noch kriminalisiert werden. Hintergrund ist, dass Aktivistinnen immer wieder betonen, dass trotz friedlicher Proteste sexualisierte Gewalt weiterhin eine Bedrohung für alle Frauen und Mädchen im Land darstellt. In Mexiko werden laut Statistiken im Durchschnitt täglich zehn Frauen Opfer eines Feminizids. Nur ein Bruchteil der Fälle landet vor Gericht. Kommt es zu gewaltvollen Ausschreitungen, werden die Proteste von Politiker*innen und Medien diffamiert und kriminalisiert.

Des Weiteren fordern die Aktivistinnen den unmittelbaren Rücktritt der Polizeieinheit, die auf gewaltsame Weise eine Gruppe von Demonstrantinnen in der Menschenrechtskommission in Ecatepec im Bundesstaat Mexiko geräumt hat, und eine gendersensible Schulung der Polizei. Außerdem verlangen sie einen detaillierten, öffentlichen Bericht der Regierung über die Maßnahmen, die bisher ergriffen wurden, um sexualisierte Gewalt zu bekämpfen. Besagter Bericht soll vom mexikanischen Präsidenten und den Gouverneur*innen präsentiert werden. Weiter fordern sie die Regierung dazu auf, einen Leitfaden für gendersensible Berichterstattung zu erstellen, um eine Reviktimisierung von Aktivistinnen und Opfern sexualisierter Gewalt zu verhindern.

Bisher erreichte der feministische Bloque Negro ein Treffen mit María Fabiola Alanís Sámano, nationale Kommissarin für die Prävention und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Sie reichten ihre Forderungen ein und konnten die Freilassung der Studentin Tania Elis erwirken, die bei Protesten gegen sexualisierte Gewalt an der Nationalen Autonomen Universität Mexiko (UNAM, siehe LN 557) einen Monat zuvor festgenommen wurde.

Trotz der Kritik an den feministischen Aktionen seitens der Regierung haben die Besetzerinnen der Menschenrechtskommission Lebensmittel, Kleidung und Medikamente von solidarischen Anwohner*innen erhalten, um ihren Kampf weiterführen zu können. Seit der Pandemie und dem damit einhergehenden ständigen Gesundheitsrisiko ist das alltägliche Leben auch aufgrund verschiedener Ängste lahmgelegt. Die Besetzung der CNDH ruft in Erinnerung, dass diese Ängste jedoch nicht lähmen lassen darf. Denn sie bringt die Kämpfe, die Besetzungen von öffentlichen Orten und die Kraft und den Mut, den verschiedene feministische Kollektive in den letzten Jahren erlebt haben, zurück.


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„DIESER ORT SOLLTE UNSERER SEIN!”

 

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Besetzung als gemeinsamer Kampf und Ausdruck von SolidaritätStudentinnen der MOFE in ihrer besetzten Fakultät,  Foto: Andrea Murcia, Instagram: @usagii_ko

 

Ende August habt ihr nach sechsmonatiger Besetzung eine Einigung mit der Fakultätsleitung erzielt. Was habt ihr erreicht?
Wir konnten unsere wichtigsten Forderungen durchsetzen. Es wird eine Unidad de Género geben, in deren Rahmen Stellen für eine Anwältin, eine Psychologin und eine Sozialarbeiterin mit gendersensibler Perspektive geschaffen werden und Studentinnen auch gynäkologisch betreut werden können. Wir konnten eine Comisión de Género erreichen, in der Studentinnen und Dozent-*innen Workshops und Konferenzen mit feministischer Perspektive geben werden. Außerdem soll die Kommission Vorschläge ausarbeiten, um das Problem der sexualisierten Gewalt im Studienplan zu behandeln. Unser meistdiskutierter Punkt in den Verhandlungen war die Sanktionierung. Viele Dozenten und einige Studenten haben vielfach sexuelle Übergriffe in unterschiedlichsten Formen verübt. Anfangs haben wir gefordert, dass alle sofort aus der Fakultät geworfen werden. Das war allerdings nicht einfach, da kaum offizielle Verfahren liefen. Aber wir konnten durchsetzen, dass die Täter in zukünftigen Anklagen ihren Vergehen entsprechend bestraft werden. Durch den gemeinsamen Druck aller feministischen Besetzungen an der UNAM konnten drei Artikel des Generalstatuts der Universität erneuert werden.

Welche zum Beispiel?
Der erste Artikel besagte zwar schon früher, dass sexualisierte Gewalt ein grober Verstoß ist. Allerdings gab es noch keine Sanktionen für verschiedene Vergehen. Der Direktor einer jeden Fakultät der UNAM konnte sanktionieren, wie es ihm beliebte. In unserer Fakultät gab es Vergewaltigungsfälle, in denen der Aggressor lediglich für acht Tage suspendiert wurde. Das hat uns sehr wütend gemacht. Mit den Reformen ist es jetzt möglich, Übergriffe mit einer Suspension, dem Ausschluss oder der Kündigung des Arbeitsvertrages zu sanktionieren. Zum Beispiel konnten wir durchsetzen, dass der Professor Luis Arizmendi entlassen wurde. Er war viele Jahre lang der Kopf einer sexuellen Sekte an der Fakultät. Studentinnen, die das offenlegten, wurden systematisch eingeschüchtert und hatten ihre Anklagen daraufhin zurückgenommen.

In welchen Kontexten erlebt ihr sexualisierte Gewalt gegen Frauen an der Universität?
Wir erleben diese Gewalt und sexuelle Belästigung nicht nur im Kursraum. Sie bitten uns nicht nur um einen sexuellen Gefallen, damit wir bestehen, sondern wir müssen Zeit mit unserem Aggressor im selben Raum verbringen, was sehr unangenehm ist. Es geht hier nicht nur um die misogynen Witze der Dozenten. Uns haben sie zum Beispiel immer weismachen wollen, dass die Wirtschaftswissenschaften nur was für Männer sind. In unserer Fakultät sind 70 Prozent der Studierenden männlich, wir repräsentieren lediglich 30 Prozent. Diese numerischen Unterschiede haben auch die Atmosphäre in den Lehrveranstaltungen geprägt: Wir wurden immer zum Schweigen gebracht. Auch als wir uns organisieren wollten, ließen sie uns nicht in Ruhe und störten unsere Versammlungen. Wir sprechen hier über etwas, das seit Jahren Gang und Gäbe ist. In der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fakultät filmten sie Studentinnen auf den Toiletten und luden die Videos anschließend auf Pornoseiten hoch. Es geht nicht nur um die Gewalt, die wir erleben müssen, wenn wir uns von zu Hause in den öffentlichen Verkehrsmitteln an die Uni begeben. Auch die Uni umgibt eine misogyne Macho-Atmosphäre und auch hier wird uns Gewalt angetan. In Mexiko sind wir an keinem Ort sicher, manchmal nicht einmal in unserem Zuhause. Die Uni bemüht sich nicht, einen sicheren Ort für uns zu schaffen. Wir reden hier von etwas so Krassem wie dem Feminizid an Lesvy Berlín im Jahr 2017 in der Fakultät für Ingenieurwesen, den die UNAM vehement zu ver-*tuschen versuchte. Diese ganze Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit über den Mord einer Kommilitonin auf dem Campus zu sehen, ist einfach nur empörend. Auch der große Kontext macht Angst: Wir sind zehn Frauen, die täglich in Mexiko ermordet werden. Das alles haben wir satt!

Wie habt ihr es geschafft, euch für die Besetzung zu organisieren?
Es gab bereits eine Gruppe von Studentinnen an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, die tendederos (öffentliches Aufhängen von informellen und formellen Anklagen gegen Aggressoren, Anm. d. Red.) organisierten. Diese haben ihren Ursprung in einem weiteren Fall sexualisierter Gewalt an der Fakultät vor zwei Jahren. Damals wurden drei Vergewaltigungen durch den stellvertretenden Direktor und damaligen Generalsekretär öffentlich und auch formal angeklagt. Wir begannen uns zu mobilisieren, da wir es unglaublich fanden, dass er nicht sanktioniert wurde. Seitdem kannten wir uns vom Sehen. Als im Januar mehr und mehr Fakultäten und Institutionen der UNAM besetzt wurden, organisierten auch wir uns an der Fakultät. Als spezifische Fälle von sexualisierter Gewalt an Studentinnen der verschiedenen Institutionen der UNAM öffentlich wurden, waren wir fassungslos. Uns wurde klar, dass wir, obwohl wir uns noch nicht so gut kannten, den gleichen Kampf gegen die Nachlässigkeit, Unterdrückung und Einschüchterung der Führungsriege der UNAM kämpften, die sich gegen uns und alle Frauen an der Uni richtet. Letztendlich haben wir nicht nur wegen der Fälle an unserer Fakultät, sondern auch in Unterstützung der anderen Gruppen an der UNAM mit der Besetzung begonnen.

Wie konntet ihr die Verhandlungen mit der Fakultätsleitung trotz der Pandemie weiterführen und den Druck aufrechterhalten?
Wir haben unser Forderungspapier am Wochenende vor dem landesweiten Lockdown eingereicht. Daraufhin teilte uns der Direktor der Fakultät mit, dass es wegen unserer gesellschaftlichen Verpflichtung im Pandemiekontext besser sei, den Prozess zu unterbrechen und die Einrichtung freizugeben. Er versprach, dass wir reden würden, sobald die Pandemie vorbei sei. Natürlich haben wir nein gesagt, denn unsere Belange waren schon seit den Protesten unserer Kommilitoninnen vor zwei Jahren aufgeschoben worden. Danach wurden wir mehr als zwei Monate lang komplett ignoriert, bis die UNAM eine Comisión de Género schuf – allerdings vor allem, um sagen zu können, dass etwas getan wurde. Die Koordinatorin richtete ein Kommuniqué an die Direktoren jeder Einrichtung, mit der Bitte, die Forderungen der Frauen möglichst schnell umzusetzen. In diesem Moment trafen wir die strategische Entscheidung, auch ein Kommuniqué zu veröffentlichen, das wir an die höheren Führungsebenen der UNAM richteten, um offenzulegen, wie lange wir schon ignoriert worden waren. Wir erhielten keine eindeutige Antwort, woraufhin wir den Direktor öffentlich zum Dialog einluden. Wir stellten klar, dass er mit einem Nichterscheinen ein eindeutiges Statement gegen die feministische Bewegung und ihre Belange abgeben würde. Er stand unter erheblichem Druck, auch weil immer mehr Besetzungen aufgelöst wurden. Schließlich konnten wir den Verhandlungstisch via Zoom (Videokonferenzsoftware, Anm. d. Red.) erst Mitte Mai beginnen. Die Fakultätsleitung hat also lange auf unsere Zermürbung gesetzt.

Haben die anderen Besetzungen ihre Forderungen genauso durchsetzen können wie ihr?
Natürlich waren die Kontexte der Besetzungen der einzelnen Fakultäten und Oberschulen ganz unterschiedlich, weil es verschiedene Arten von Repression gab. Die anderen Besetzungen wurden sehr stark bedrängt. Nachts verschafften sich Unbekannte Zutritt, Sachen wurden gestohlen oder die Einrichtungen mit Fäkalien beschmutzt. In der FES Acatlán (zur UNAM zugehörige Oberschule in der Peripherie, Anm. d. Red.) drangen bewaffnete Personen ein und taten den Studentinnen Gewalt an. Teile der Anlage wurden in Brand gesetzt. All das zielt offensichtlich auf psychische und physische Zermürbung und führte dazu, dass die Studentinnen keine Kraft mehr hatten, die Besetzungen weiterzuführen. So wurden viele ihrer Forderungen nur teilweise angenommen.

Habt ihr solche Angriffe auch erlebt?
Wir erhielten zunächst Drohungen von Dozenten und Kommilitonen. Als die Verhandlungen starteten, begann auch die Repression seitens der Fakultätsleitung und Personen drangen ein. Das versetzte uns in Alarmbereitschaft, weil wir die Sache in FES Acatlán im Hinterkopf hatten und nun die letzte Besetzung waren. Auch wenn nicht jede Forderung der einzelnen Besetzungen durchgesetzt werden konnte, wurde doch deutlich, dass keine einzige Einrichtung an der UNAM frei von der tagtäglichen sexualisierten Gewalt gegen Studentinnen ist. Und jetzt, wo die Besetzungen vorbei sind, geht es erst richtig los, denn viele Fakultäten konnten pandemiebedingt ihre Verhandlungen nicht weiterführen, die Forderungen werden ignoriert.

Hat die Digitalität in der Pandemie eure Bewegung ausgebremst?
Ja, dass die Kurse online weitergeführt wurden und das Semester beendet werden konnte hat uns ein bisschen gebremst. Unter anderen Umständen hätte die Besetzung mehr Druck aufbauen können, da das Semester auf dem Spiel gestanden hätte. Die Pandemie hat aber noch etwas offengelegt: Die Gewalt verschob sich von den Räumen der Fakultät in die Online-Kurse. Kommilitonen sind zum Beispiel vor laufender Kamera aufgestanden und haben ihren Penis ausgepackt. Und es gibt Dozenten, die die nun nötige engere Kommunikation mit uns ausnutzen und über E-Mail, Facebook oder WhatsApp Studentinnen belästigen. Also ja, wir wurden ausgebremst, aber gleichzeitig haben wir neue Beweise für diese Arten von Gewalt bekommen. Jetzt versuchen wir, auch die digitalen Räume zu besetzen und uns zu eigen zu machen. Wir versuchen die digitale Gewalt über unsere Kanäle sichtbar zu machen. Auf unserer Facebook-Seite veröffentlichen wir die Anklagen unserer Kommilitoninnen. Wenn wir den digitalen Raum schon nicht zu einem sicheren Ort machen können, dann wird hier zumindest sichtbar, dass wir immer noch Kurse mit Aggressoren belegen müssen. Die sind zwar hinter dem Bildschirm, aber immer noch da.

Wie habt ihr den Raum der Fakultät feministisch gestaltet?
Wir haben es geschafft, einen Raum, der für viele von uns mit Gewalt assoziiert wurde, mit neuer Bedeutung zu füllen. Während unserer Zeit in der Fakultät wurde uns klar, dass die Uni wirklich unser Ort sein sollte; ein Ort, an dem wir uns sicher und frei fühlen; ein Ort, an dem wir friedlich zusammenkommen und unter uns sein können. Das konnten wir erst bei der Besetzung erfahren, bei der wir sechs Monate lang nur mit Frauen zusammenlebten. Das Gefühl, das wir an diesem Ort gefunden haben, wollen wir an alle Frauen unserer Fakultät weitergeben. Uns diesen Ort anzueignen bedeutet, diese Erfahrung mit den Kommilitoninnen ohne Angst teilen zu können. Alle Frauen, denen Gewalt angetan wurde, wissen jetzt, dass wir da sind und uns hier einander anvertrauen können. Da draußen geben sie uns einen solchen Ort nicht. Und wenn wir ihn nicht aktiv suchen, dann werden wir ihn niemals für uns haben, oder?

Anfang September haben feministische Kollektive die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) in Mexiko-Stadt besetzt (siehe Seite 13). Sind Besetzungen ein legitimes und nützliches Werkzeug für die Durchsetzung feministischer Anliegen?
Uns die Institutionen anzueignen, die uns für so lange Zeit ignoriert haben, ist absolut legitim und notwendig. In unserem Fall hat uns vor der Besetzung niemand beachtet. Es ist eine machtvolle Waffe, um zu sagen „Wir sind da und das gehört uns!“ So können wir sichtbar machen, dass wir Frauen in Mexiko jeden Tag aufs Neue das System, den Machismo, all die Gewalt und die Feminizide überleben müssen. Die Bewegung fängt in den Universitäten an und geht darüber hinaus, denn die Gewalt in Mexiko wird nicht nur hier ausgeübt, sondern im ganzen Land. In jedem Bundesstaat, in jeder Ecke, besonders in der Peripherie herrscht dieser erdrückende Kontext. Trotzdem haben wir einen Präsidenten, der sich dumm stellt und feministische Themen in seinen allmorgendlichen Konferenzen mit keinem Wort erwähnt. Also geht es auch darum, die Gleichgültigkeit der Führungsriege sichtbar zu machen. Eigentlich sollte die CNDH doch über unsere Rechte wachen, aber in Wirklichkeit ist sie total nachlässig. Wenn die Institutionen keine Lösungen finden, gibt es keine andere Möglichkeit als sie zu besetzen und mit ihnen das zu tun, wozu sie bestimmt sind – im Fall der Besetzung der CNDH ein Schutzraum für Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind und für angehörige Frauen der Opfer von Feminiziden.


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“ESTE ESPACIO DEBERÍA SER NUESTRO”

Abrazo sororal Integrantes de las MOFE en la facultad tomada, Foto: Andrea Murcia, Instagram: @usagii_ko

A finales de agosto llegaron a un acuerdo con las autoridades de la Facultad de Economía. ¿Cuáles fueron los resultados del acuerdo?
Alcanzamos que se cumplieran los puntos más fuertes de nuestro pliego petitorio. Logramos que se convocara a una Unidad de Género con una abogada, una psicóloga y una trabajadora social y que se diera atención ginecóloga a las estudiantes. Creamos la Comisión de Género, conformada por alumnas y profesoras encargadas de la difusión del feminismo mediante talleres y conferencias. Además, generan propuestas para incluir la problemática de la violencia de género en el plan de estudios. El punto por el que más discutíamos con las autoridades fue que había muchos profesores y algunos alumnos con varias recurrencias en agresiones de diferentes formas. Nuestro punto inicial era que los sacaran de la facultad. No era del todo posible, porque muchos no tenían procesos formales, pero logramos que se hicieran cambios, y en próximas denuncias los agresores obtendrán la sanción correspondiente a los actos cometidos. La presión de todas las tomas feministas de la UNAM hizo posible reformar tres artículos del estatuto general de la universidad.

¿Cuáles artículos lograron reformar?
El primero reconoce la violencia de género como una falta grave. Fue aceptado por la UNAM, pero no había sanciones. La autoridad de cada facultad o institución podía sancionar como quisiera. En la Facultad de Economía, por ejemplo, había denuncias por violación en los cuales se encontraba culpable al agresor y se le daba ocho días de suspensión. Eso nos generaba mucha rabia. En cambio, ahora, si va a ser sancionado. Puede ser con suspensión, expulsión o la rescisión de contrato. En específico, logramos que saliera el profesor Luis Arizmendi. Durante muchos años encabezaba una secta sexual dentro de la facultad. Si las muchachas denunciaban, eran intimidadas para que quitaran la denuncia.

¿Cómo viven la violencia sexual en contra de las mujeres en la universidad?
Es un contexto mayor, no sólo se vive acoso en las aulas. No sólo te piden algún favor sexual para poder pasar la materia,  no sólo convives con tu agresor en tu salón de clase, lo cual es súper incómodo. No sólo son los chistes misóginos de los profesores. A nosotras que estudiamos Economía, por ejemplo, nos decían que la Economía era para hombres. El 70% de la facultad son alumnos varones, nosotras representamos un 30%. Por diferencias de números es lógico que se acople al ambiente en sus aulas, que teníamos que estar calladas. Al momento de querer organizarnos no nos dejaban y rompían las asambleas. Hablamos de algo que pasa desde hace años. En la UNAM tenemos facultades como Ciencias y Filosofía y Letras, donde grababan a las chicas en los baños y luego estos videos los subían a páginas pornográficas. No sólo es la violencia que tienes que vivir al trasladarte de tu casa a la escuela en el transporte público, sino entrar a la escuela y entrar a un ambiente misógino y machista donde también te están violentando. No estamos seguras en ningún lado, a veces ni siquiera en nuestras propias casas. La universidad tampoco se esfuerza por darnos este lugar seguro. Hablamos de algo tan grande como el feminicidio de Lesvy Berlín en 2017 en la Facultad de Ingeniería que la UNAM se esforzó a encubrir hasta donde pudo. El contexto en general da miedo porque somos diez mujeres asesinadas al día en México. Ver toda su negligencia, ver toda su indiferencia y ver que a ellos no les importa que una compañera haya muerto en la Ciudad Universitaria es indignante. ¡Estamos hartas!

¿Cómo surgió la organización  de la toma?
Ya existía un grupo de mujeres organizadas en la Facultad de Economía con el que hacíamos tendederos. Los tendederos nacen a partir de un caso más en la Facultad de Economía. Al adjunto del director, que también era el secretario general, le llegan tres denuncias por violación. Allí comenzamos a movilizarnos. ¿Cómo es posible que no se le sancione si tiene tres denuncias formales por violación? De allí surge esta red de mujeres. Cuando en enero de este año más y más facultades, preparatorias y CCHs (colegios de preparación para la educación superior de la UNAM, nota de la redacción) se fueron a toma, nos estábamos apenas acoplando entre nosotras para ver qué se iba a hacer en la Facultad de Economía. Nos impactaba mucho cuando empezaban a sonar casos ya muy específicos de violencia en contra de las estudiantes de los diferentes planteles. Empezábamos a cuestionarnos y nos dimos cuenta de que todas teníamos el mismo objetivo: la lucha en contra de estas negligencias, opresiones e intimidaciones que tenían las autoridades de la UNAM hacia nosotras y hacia todas las mujeres de la universidad. Eventualmente realizamos nuestra toma, no solamente por los casos particulares de la facultad sino también en apoyo a los otros planteles.

¿Cómo lograron avanzar el proceso de negociación con las autoridades de la facultad y mantener la presión a pesar de la pandemia?
Nosotras entregamos el pliego petitorio un fin de semana antes de que iniciara el paro de actividades a nivel nacional. En la entrega, el director nos pidió que paráramos el proceso y entregáramos las instalaciones por el deber social que teníamos, y dijo que cuando se terminara la pandemia hablaríamos. Respondimos que no, porque ya llevábamos posponiendo esto desde las primeras protestas hace tres años. Por dos meses y algo más, nos ignoraron por completo. La UNAM, en este afán de decir que estaba trabajando, creó una Comisión de Género. La coordinadora hizo un llamado a los directores de cada facultad para que se resuelvan las demandas de las mujeres en los diferentes planteles. En este momento, decidimos de forma estratégica hacer un comunicado a la rectoría de la UNAM, a la defensoría, a la coordinadora de la Comisión de Género y al director de la Facultad de Economía, diciendo que ya habíamos sido ignoradas por mucho tiempo. Nuestro director nos contestó de forma muy ambigua y decidimos citar públicamente al diálogo. Dijimos si él no se presentaba, era clara la respuesta que tenía en contra del movimiento de mujeres y de nuestras necesidades que expresábamos en el pliego.

Desde que tomamos la facultad el 28 de febrero iniciaron mesas de negociación hasta el 18 de mayo. Por mucho tiempo apostaron al desgaste. Al iniciar las mesas se notó que no habían leído nuestro pliego. Apenas cuando cumplimos un mes de mesas de negociación se empezaron a interesar porque ya se habían soltado las demás tomas y solo quedábamos nosotras.

¿Lograron las otras tomas también imponer sus demandas?
Claramente el contexto para cada toma fue muy diferente porque tenían distintos tipos de represión. A las otras tomas las hostigaron de una forma muy fea. En la noche se metían personas, robaban e, incluso, defecaban dentro de las instalaciones. En FES Acatlán, (una entidad académica multidisciplinaria de la UNAM en la periferia de la Ciudad de México, nota de la redacción), entraron armados a violentar a las chicas y, posteriormente, se incendiaron las instalaciones. Hubo un desgaste psicológico y físico que no les permitió realmente tener la capacidad y la fuerza de seguir con sus tomas. En muchos casos, las demandas sólo fueron cumplidas parcialmente.

¿Ustedes también vivieron este tipo de represión?
Primero recibíamos amenazas por parte de alumnos y de profesores. Luego iniciaron las mesas de negociación y empezó la represión por parte de las autoridades. Esto nos tenía en constante alerta porque ya había pasado lo de FES Acatlán y éramos la única instalación que seguía tomada en la Ciudad Universitaria. Más allá de que se cumpliera el pliego de cada toma, un logro fue hacer notorio que ninguna facultad, ni plantel en la UNAM se salva de la violencia de género que vivimos a diario. A pesar de que se terminaron las tomas, esto apenas está comenzando, porque muchas facultades no pudieron seguir con sus negociaciones por la pandemia y hasta la fecha han sido ignoradas.

¿Creen que la digitalización por la pandemia ha frenado al movimiento?
Sí, nos frenó un poquito, porque el semestre se terminó en línea. En otras circunstancias la toma hubiera generado más presión de que se iba a perder el semestre. Las clases en línea implicaban otro contexto. Nos ha tocado ver como esa violencia que estaba dentro de las aulas de la facultad, ahora se trasladaba a las aulas virtuales. Ha habido casos, por ejemplo, de conferencias en donde los compañeros estaban con la cámara prendida, se paran y se sacan el pene. Hemos tenido casos en donde los profesores acosadores se aprovechan de que necesitamos tener más comunicación, ya sea por correo electrónico, por Facebook o por WhatsApp se la pasan hostigando a las alumnas. En este sentido, sí frenó nuestra lucha, pero también esto nos ha dado la pauta para mostrar que esa violencia existe porque ahora tenemos más pruebas de que realmente eso es lo que hacen los profesores. También estamos intentando tomar esos espacios virtuales y hacerlos nuestros, se está intentando visibilizar esa violencia, que ahora es virtual, mediante los canales que nosotras administramos. Si a estos espacios virtuales no podemos hacerlos seguros, por lo menos visibiliza que todavía estamos tomando clases con agresores, que estos siguen estando atrás de una pantalla, pero al final de cuentas siguen estando allí.

 ¿Cómo hicieron de la facultad un espacio feminista?
Nos dimos cuenta que donde estudias realmente debería ser tu espacio, un espacio donde te deberías sentir segura, un espacio donde deberías sentirte libre, un espacio donde puedas convivir de forma pacífica con todas las demás. No habíamos experimentado algo así hasta la toma, donde convivimos seis meses con puras chicas. Cuando estudias con puros vatos, es un espacio masculinizado y si quieres participar debes tener toda la certeza de lo que vas a decir con diez mil fundamentos. Es probable que si te equivocas ya no tienes oportunidad, nadie te va a tomar en cuenta, ya nadie te va a creer. Entonces también es el hecho de que nos podemos sentir con la libertad de hablar absolutamente cualquier cosa desde cualquier postura, que va a ser tomada en cuenta y que tal vez se va a llevar a discusión. Este sentimiento que nosotras logramos encontrar en ese espacio, buscamos también hacérselo sentir a las demás chicas de la facultad. Este sentimiento va a servir como un espacio seguro en el sentido de que todas nos podamos encontrar. Ahora las compañeras que son violentadas saben que existimos. Si alguna, no solamente de nosotras sino de todas las chicas de la facultad, de las maestras, de las trabajadoras quiere exponer algún tipo de situación, ahora se puede sentir en la confianza de que no se le va a juzgar. Se le va a apoyar. Se va a buscar a hacer todo lo necesario para que ella pueda adquirir todo esto que nosotras hemos aprendido a lo largo de estos meses en un espacio solo de chicas. Así que, apropiarnos de este espacio, fue más que nada apropiarnos de nosotras mismas y de poder compartir eso con las demás sin miedo. Nosotras entendemos que afuera no nos dan este espacio, y si no lo buscamos no lo vamos a tener, ¿no?

A principios de octubre integrantes de colectivas feministas juntas con madres de víctimas tomaron la Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH) en la Ciudad de México para exigir justicia en la atención a los casos de violencia de género, feminicidios y desapariciones (véase LN 557). ¿De qué manera creen que la toma en general es una herramienta legitima y útil para alcanzar demandas feministas?
Es totalmente legítimo, valido y necesario el hecho de apropiarnos de las instituciones que por tanto tiempo nos han ignorado. En nuestro caso, no nos volteaban a ver hasta que estuvo tomada la facultad. Es un arma muy poderosa para decir “¡Aquí estamos y es nuestro!”. Es una forma de visibilizar que las mujeres en México sobrevivimos todos los días a este sistema, a este machismo, a tanta violencia y a tanto feminicidio. El movimiento empieza en las universidades y puede ir más allá. La violencia no es solamente en la universidad, no es solamente el camino de nuestras casas a la universidad, es en todo el país. En cada estado, en cada rincón se encuentra este contexto y sobre todo en las periferias. Sin embargo, en México el presidente se hace bien tonto y ni si quiera menciona los temas del feminismo en sus exposiciones mañaneras sobre los problemas del país. Entonces también se trata de hacer más visible la negligencia de las autoridades. Al final de cuentas la CNDH, es quien debería velar por nuestros derechos, pero realmente es totalmente omiso y negligente. Si las instituciones no nos están aportando las soluciones, no queda otra que tomarlas y hacer lo que tengamos que hacer con ellas. En este caso, se llegó a hacer un refugio para mujeres víctimas de violencia y para mujeres familiares de las víctimas de feminicidios.

*Nota de la redacción: después del cierre de redacción, también fue tomada la Facultad de Química y el CCH Oriente por estudiantes feministas.


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Francisca Fernández Droguett
ist Sprecherin des sozialökologischen Komitees der feministischen Organisation Coordinadora 8M in Santiago de Chile. Gleichzeitig ist sie Aktivistin der MAT, einer Bewegung gegen die Wasserprivatisierung, die in etwa 100 Mitgliedsorganisationen Bäuer*innen- und Landarbeiter*innen mit Anti-Bergbauprotesten und indigenen Organisationen vereint. Die MAT versteht sich als plurinational sowie antipatriarchal und setzt sich gegen die Ausbeutung von Natur und Frauen ein.
(Foto: Luis Antonio Gonzalez)


Bezieht sich der sozialökologische Feminismus auf den Ökofeminismus aus den 1980er Jahren? Werden Frauen hier nicht etwa als Hüterinnen der Natur idealisiert und patriarchale Rollenzuschreibungen eher zementiert?
Sozialökologische Feministin zu sein ist eine komplexe Aufgabe! Ja, es gibt in der ökofeministischen Debatte oft einen sehr romantischen Blick auf Frauen als Hüterinnen des Saatguts oder Schützerinnen der Natur. Das hat aber etwas mit historisch-kulturellen Rollenzuschreibungen zu tun und nichts mit der Natur. Wir gehen davon aus, dass die Natur selbst „entnaturalisiert“ – also von ihren Normen befreit – werden muss, denn dort gibt es ja keine Monokultur der heteronormativen Verhältnisse. Die Natur ist selbst vielfältig. Wir könnten auch sagen: Sie ist queer.

Woran orientiert sich der Ansatz dann?
Wir beziehen uns eher auf vielfältige theoretische Bezüge aus Lateinamerika bzw. Abya Yala als aus Europa. Dabei haben wir viel vom feminismo comunitario (gemeinschaftlicher Feminismus, Anm. d. Red.) aus Bolivien und dem dekolonialen Feminismus unserer migrantischen Schwestern aus Kolumbien oder Haiti gelernt. Heute ist es eine große feministische Herausforderung, die Rassifizierung des Extraktivismus zu verstehen. Allgemein von einer Unterdrückung der Frau zu sprechen, macht die Unterdrückungserfahrungen von Mapuche, Migrantinnen, Schwarzen Frauen oder Queers unsichtbar. Deshalb wollen wir verschiedene Kämpfe einbeziehen und den Feminismus dekolonialisieren.

Wie äußert sich das in konkreten Diskussionen im sozialökologischen Komitee?
Diese alltäglichen Diskussionen sind nicht weniger komplex. Wir arbeiten einerseits mit jungen veganen Frauen aus dem Antispeziesismus (radikale Tierrechtsbewegung, Anm. d. Red) zusammen, die in besetzten Häusern in den Städten leben. Andererseits sind Mapuche-Bäuerinnen dabei, die sich dafür einsetzen, Saatgut zu schützen und für die der Kampf für ihre Familie und ihre comunidad essenziell ist. Da gibt es Konflikte: Zum Beispiel sagen die Mapuche-Genossinnen: „Wir sind dagegen, Tiere auszubeuten. Wir gehen andere Beziehungen zu ihnen ein als die industrielle Tierhaltung. Aber wir essen sie.“ Die Tierrechtlerinnen finden es dagegen respektlos, wenn eine Bäuerin zum Treffen dulce de leche, eine Süßigkeit aus Milch, mitbringt.

Ein anderes Thema ist die Mutterschaft: Wir unterstützen sowohl Queers, die für alternative Formen der Mutterschaft kämpfen, als auch den Kampf für Abtreibungsrechte. Manche von uns sagen: „Abtreibung ist nicht unser Hauptproblem. Wir haben uns schon immer mit bestimmten Pflanzen selbst helfen können. Wir kämpfen eher dafür, überhaupt Mütter werden zu können.“ Denkt an die großen Zwangssterilisations-Kampagnen im ländlichen Raum in Peru. Wir haben auch einmal intensiv die Frage einer Mapuche-Genossin diskutiert: „Bis wann werden wir Frauen immer nur sopaipilla (Teigwaren) zubereiten, während die Männer die politischen Entscheidungen treffen?“ Für eine andere war die Küche ein wichtiger Ort für Sorgenetzwerke – und ohne Nahrung sei auch kein politischer Kampf möglich. Wir haben uns darauf geeinigt, dass die Küche ein politischer Ort ist und jede selbst entscheiden können muss, ob sie sie als ihren Ort ansieht oder nicht.

Warum sprecht ihr in einem eurer Radiospots vom Kampf gegen Extraktivismus als „maskulinisierte Ökonomie“?
Maskulinisierte Ökonomie ist ein neues Konzept. Wir möchten sichtbar machen, dass der Extraktivismus ein Ergebnis moderner westlicher Entwicklungsvorstellungen ist – egal ob neoliberal, realsozialistisch oder links-progressiv. Es geht um eine Enklavenökonomie: Ein bestimmtes Gebiet wird in die kapitalistische Lieferkette integriert und gleichzeitig zerstört. Dies führt zu maskulinisierenden Effekten auf allen Ebenen – Produktion, Sorgearbeit und auch Politik. In der Produktion sind die Frauen den schlechtesten und gesundheitsschädlichsten Arbeitsbedingungen ausgeliefert, in Chile sind das etwa die temporeras, migrantische Saisonarbeiterinnen in der Agrarindustrie. Auch im Bergbau verdienen Frauen sehr viel weniger als Männer. Zudem tragen Frauen die viel größere Last der Sorgearbeit. Das ist zwar ein globales Phänomen, aber im Rahmen des Extraktivismus bedeutet es eine extreme Überlastung. Allein die Wasserversorgung! 137 Kommunen im Land haben kein Wasser mehr und die Menschen müssen sich dort mit Wasser von Lastwagen (Aljibe-Wasser) versorgen. Zudem müssen die Frauen sich mit den Folgen von Umweltverschmutzung befassen und um Kranke kümmern. Obendrein müssen sie den Widerstand am Laufen halten. Die monatelangen Straßenblockaden in Caimanes in der Provinz Choapa gegen das Kupfer-Bergbauunternehmen Los Pelambres haben zu 90 Prozent Frauen aufrechterhalten. Wenn es aber um politische Verhandlungen geht, dann ist das eine Sphäre der Männer. Im großen Kampf gegen die Wasserverschmutzung durch die Lachs­industrie in Chiloé etwa haben nur Männer mit der Regionalregierung verhandelt; die im Kampf aktiven Frauen wurden unsichtbar gemacht.

Was heißt eine solche Analyse für feministische Utopien?
Für uns ist die Idee einer territorialen, lokalen und solidarischen Ökonomie zentral. Nur so können wir die kapitalistischen Import- und Exportketten auf globaler Ebene unterbrechen – von der Produktion über den Vertrieb bis zum Konsum. Wir setzen uns für die Nutzung herkömmlichen Saatguts ein und für Konsumkooperativen. Aber wir vertreten keine antitechnologische Position, wie uns oft vorgeworfen wird. Wir sagen niemandem: „Hör auf, ein Smartphone zu benutzen“, wohl aber: „Kauf dir nicht alle sechs Monate ein Neues!“ Wir sind dafür, Berufe zu fördern, die auf Reparatur und Wiederverwertung ausgerichtet sind, wie Recycling von Kleidung. Schließlich bedeutet die Produktion jeder Jeans einen enormen Wasserverbrauch und Umweltverschmutzung.

Im Deutschen verbinden wir mit Territorium eher Vorstellungen von Nationalstaat oder Besitzansprüchen auf ein Gebiet. Was meint das Konzept „Körper-Territorium“ genauer?
Das ist vielleicht auch ein Übersetzungsproblem. Wir wollen verstehen, dass und wie wir unterschiedliche Räume bewohnen. Der feminismo comunitario ist auf den Kampf gegen den Extraktivismus ausgerichtet und dafür, unser Territorium, also den Raum, der uns umgibt und in dem wir leben, zurückzugewinnen. Nur so können wir eigene Formen entwickeln, uns mit unserer Umgebung in Beziehung zu setzen. Zudem verstehen wir unsere Körper als allererstes und enorm umkämpftes Territorium. Was in Corona-Zeiten sehr deutlich wird: Wenn wir für unsere Gesundheit kämpfen, können wir das nur tun, wenn wir verstehen, dass unsere Körper Teil kollektiver Prozesse sind und wir immer von anderen abhängig sind. Das Konzept verweist auch auf ein anderes Naturverständnis: Wir bewohnen die Natur, weil wir ein Teil von ihr sind und mit anderen Organismen koexistieren.

Wie arbeitet ihr in der Wasserbewegung mit dem Konzept der Rechte der Natur?
In Chile ist das Wasser durch die Verfassung aus Zeiten der Diktatur privatisiert. Der chilenische Staat vergibt private Nutzungsrechte, mit denen Wasser verkauft, vermietet und sogar mit Hypotheken belegt werden kann. In San Pedro de Melpilla zum Beispiel besitzt das Schweinemast-Unternehmen Agrosuper 90 Prozent der Wasserrechte, die Gemeinde dagegen nur 10 Prozent, was absolut nicht ausreicht. Wir finden deswegen auch die hiesige Debatte über den Klimawandel eher entpolitisierend. Oft wird nicht deutlich, dass der Klimawandel von einem bestimmten wirtschaftlichen Modell verursacht wird und dass nicht alle Menschen dafür verantwortlich sind, sondern mächtige Interessengruppen. Es gibt eben auch andere Gründe für das Austrocknen von Seen als weniger Regen. Deswegen sagen wir in unserer Bewegung: No es sequía, es saqueo! („Nicht die Trockenheit, sondern der Raubbau ist das Problem!“).

Was macht die MAT dagegen?
Seit unserer Gründung vor sieben Jahren ist uns klar, dass wir ohne eine Verfassungsreform nichts erreichen können. Damals wussten wir nicht, dass diese Forderung durch den Aufstand seit 2019 politisch so aktuell werden würde. Uns ging es zunächst um die Forderung nach einem Men­schenrecht auf Wasser. Wir wollten aber auch über diesen anthropozentrischen Blick auf Wasser als Ressource hinausgehen. Die Debatten in Ecuador und Bolivien sind dafür unsere Vorbilder. Denn auch die Erhaltung und Wiederherstellung von Ökosystemen ist angesichts der dramatischen aktuellen Krise des Biozids eine zentrale Forderung. Wir arbeiten viel mit dem Konzept „Itrofill Mongen“, das bei den Mapuche übersetzt in etwa „alle diese Leben“ heißt und das so etwas wie Biodiversität meint. Über andere Handlungsformen zu sprechen als die menschlichen ist nicht einfach. Aber wir tun dies nicht allgemein, sondern aus den spezifischen Perspektiven der Aymara, Quechua oder in Chile eben der Mapuche heraus. Es sind die indigenen Organisationen in der Wasserbewegung, die das möglich gemacht haben.


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MISOGYNIE ALS MODERNE KRIEGSFORM

Foto: Traficantes de Sueños

Feminist*innen aus aller Welt griffen 2019 den Tanz „Un violador en tu camino“ des chilenischen Kollektivs Las Tesis auf, der auf den Texten Rita Segatos basiert. Einer ihrer Essays kritisiert die Systematik hinter der aktuellen Misogynie.

Zuerst waren es nur ein paar Dutzend Frauen und Queers in Chile. Dann aber folgten Tausende weltweit, die die Performance „Un violador en tu camino“ (auf Deutsch: Ein Vergewaltiger in deinem Weg) aufführten. Anlass war der Internationale Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 27. November 2019, an dem sich Feminist*innen weltweit auf den Straßen versammelten. Die Performance des chilenischen Kollektivs Las Tesis prangert die Mittäterschaft des Staates und seiner Repräsentanten an sexualisierter Gewalt an – und ging damit viral.

Weniger bekannt ist, dass der Text der Performance auf die Schriften der Anthropologin Rita Segato zurückgeht. Selten gelingt es, dass theoretische Arbeiten direkte Ideengeber und Inspirationsquellen für Protestaktionen sind. Umso interessanter scheint die Auseinandersetzung mit Rita Segatos Werk.

Die Entstellung der Körper von ermordeten Frauen, deren Leichen an öffentlichen Plätzen förmlich ausgestellt werden, zeichnen ein Muster entgrenzter Grausamkeit und Gewalt. Woher kommt diese übermäßige Grausamkeit, die in Teilen Lateinamerikas zu beobachten ist? Wer übt sie aus? Und zu welchem Zweck? Diesen Fragen geht Segato in ihrem Essay Las nuevas formas de la guerra y el cuerpo de las mujeres (auf Deutsch: Die neuen Formen des Krieges und der Körper der Frauen) nach, der inzwischen ein Grundlagentext für feministische Theoretiker*innen und Aktivist*innen ist, aber bislang weder ins Englische noch ins Deutsche übersetzt wurde.

Die neuen Kriege, von denen sie schreibt, sind keine Kriege mehr, die sich zwischen Nationalstaaten und auf Schlachtfeldern oder in Schützengräben abspielen. Es sind Kriege zwischen mafiösen Banden, parastaatlichen Milizen und privaten Sicherheitskräften. Durch mangelnde Rechtsstaatlichkeit haben sie nur selten eine Bestrafung zu fürchten. Denn bei aller nötigen Unterscheidung je nach Region und Kontext erlauben es Korruption und Straflosigkeit den jeweiligen Akteuren, die sich in einem Gefüge aus staatlichen Institutionen, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen bewegen, jeweilige Interessen, seien sie ökonomisch oder machtpolitisch, ohne juristische Konsequenzen zu verfolgen. Staatliche Institutionen sind somit nicht unfähig, sondern dulden die „neuen Kriege“, um jenes Gefüge zu stabilisieren. Was Segato als die neuen Kriege bezeichnet, folgt somit auch der Logik eines entfesselten Ordnungsregimes, das auf kapitalistischer Verwertung und globaler Ökonomie fußt: „So sind Verbrechen und die Akkumulation von Kapital mit illegalen Mitteln keine Ausnahmeerscheinung, sondern sind strukturell und zugleich strukturierend für Politik und Ökonomie“ (S. 76).

So sind die neuen Kriege durch eine hohe Informalität geprägt, nicht nur hinsichtlich der Akteure, sondern auch hinsichtlich ihrer Ziele. Es sind nicht wie früher klar abgesteckte, nationalstaatliche Territorien, deren Eroberung Ziel des Krieges ist. Dennoch bleibt die Notwendigkeit erhalten, den Gegner zu besiegen. Der Sieg wird nun durch die moralische Zerstörung des Feindes errungen.

Wenn die Pädagogik der Grausamkeit regiert

Auf den Kriegsschauplatz der Frauenmorde übertragen heißt das: Mittels sexualisierter Gewalt zerstörte Identitäten des Feindes definieren einen Sieg über den Gegner.

Sexualisierte Gewalt, so die These Segatos, ist kein Nebenschauplatz des Krieges, sondern sein strategisches Ziel. Hierfür reicht die Ermordung von Frauen nicht aus, denn nur entstellte und öffentlich verübte Feminizide verdeutlichen die Offensive gegen den Feind. Wenn Angreifer und Gesellschaft die gleichen Vorstellungen von Geschlechterverhältnissen haben, sprechen sie die gleiche Sprache und können sich verstehen. Täter, die brutale Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum anrichten, kommunizieren einer Gruppe von Gleichrangigen ihre Machtposition in einem sozialen Gefüge. Sie stellen zur Schau, zu welcher Form des Beherrschens sie fähig sind. Weibliche Körper werden zum Medium der Machtdemonstration. Den Opfern gilt die Botschaft, dass ihre Körper wertlos und ihre Lebensformen zu zensieren seien. Diese Strategie nennt Segato Pädagogik der Grausamkeit: „Es ist die Vernichtung des Feindes im Körper der Frau, und der weibliche oder feminisierte Körper ist (…) genau das Schlachtfeld, auf dem die Insignien des Sieges festgenagelt sind und das die physische und moralische Verwüstung darstellt“ (S. 81).

Pädagogisch ist die Gewalt im doppelten Sinne: Einerseits, indem sie den Ausübenden des Krieges jegliches Mitgefühl entzieht, um anhand größtmöglicher Desensibilisierung die Täter auf die Ausübung von Grausamkeit zu trimmen. Die Pädagogik der Grausamkeit, die andererseits an Frauenkörpern ausgeübt wird, ist unerlässlich, um gehorsame und wenig widerständige Subjekte zu erziehen.

Für die Strategie feministischer Kämpfe ergibt sich hieraus die Chance und Notwendigkeit, sexualisierte Gewalt auf eine Art zu politisieren, die Rolle, Leben und schließlich Überleben von Frauen in den Mittelpunkt stellt, indem die moralische Botschaft sexualisierter Gewalt entlarvt wird. Las Tesis findet dafür direkte Worte: El patriarcado es un juez // Que nos juzga por nacer // Y nuestro castigo // Es la violencia que no ves (Das Patriarchat ist ein Richter / Der uns für unsere Geburt verurteilt / Und unsere Strafe / Ist die Gewalt, die du nicht siehst).

Gewalt gegen Frauen und Queers ist immer auch eine Reaktion auf deren steigende Autonomie und Selbstbestimmung. Entziehen sich Frauen und Queers einer männlichen Dominanz, führt das bei Männern zu einem Gefühl der Entmachtung. Sie setzt eine Gewaltspirale in Gang, die unter bestimmten Umständen in Hass und Gewalt gegen Frauen umschlägt. Segato gelingt es sehr eindrücklich darzustellen, welche kommunikative Funktion sexualisierte Gewalt hat. Sie vernachlässigt dabei jedoch, auch Frauen in diesem Gefüge als Akteur*innen in den Blick zu nehmen: Ohne die Verantwortung bei Frauen und Queers zu suchen, ist ihre aktive Rolle in Betracht zu ziehen, um zu verstehen, wie etwa die Transformation von Geschlechterverhältnissen einen Einfluss auf Gewaltdynamiken haben.

Entmachtung, die in Hass umschlägt

Weniger gut gelingt es Segato, die unterschiedlichen sozialen Identitäten einzubeziehen, die Frauen und Queers jeweils anderen Formen der Gewalt aussetzen. Aus ihrer Analyse kann deshalb nur unzureichend erklärt werden, weshalb die Opfer der brutalen Feminizide insbesondere junge proletarische Frauen, häufig Migrant*innen sind. Auch die Dynamik von Transfeminiziden vermag ihr Ansatz zumindest in diesem Essay nicht ausreichend zu erklären; in ihrer Analyse bezieht sich Segato fast ausschließlich auf cis Frauen (also Frauen, deren zugeschriebenes Geschlecht bei Geburt mit der sich entwickelnden Geschlechtsidentität zusammenfällt).

In Europa wird ein solcher informeller Krieg nicht in dieser Form geführt. Parastaatliche Strukturen gibt es nur punktuell. Feminizide existieren, aber ihre Systematik ist eine andere: Meist finden sie nicht auf der Straße, sondern im Zuhause statt, Opfer und Täter sind in den häufigsten Fällen zusammen oder verwandt. Aber die Lektüre von Segatos Essay ist auch für den hiesigen Kontext sehr erhellend.

Mit ihren Theorien ist es möglich, diese Gewalttaten nicht als Kollateralschaden des Patriarchats und schon gar nicht als tragische Beziehungstat oder Eifersuchtsdrama abzutun, sondern in ihrer Systematik zu begreifen: Feminizide geschehen hierzulande entweder in Fällen von ökonomischer Abhängigkeit oder in Umbruchsituationen, besonders wenn Frauen versuchen, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Die männlichen Täter sehen sich und ihre Lebensformen in Gefahr, wenn Frauen und Queers sich ihrer individuellen oder strukturellen Unterwerfung widersetzen. Die sexualisierte Gewalt oder der Feminizid sind der Versuch des Täters, seine Macht zurückzugewinnen, seine Überlegenheit zur Schau zu stellen. Segato gelingt es, femizidale Gewalt im Kontext ökonomischer Ausbeutung zu analysieren und so die Funktion von Gewalt gegen Frauen für eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft auch über den lateinamerikanischen Kontext hinaus sichtbar zu machen.


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„FRAUEN HATTEN MACHT“

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Edith (42, links) war 20 Jahre lang aktives Mitglied der FARC und Camila (32, rechts) 15 Jahre lang (Illustration: Lena Roßner)

Was bewegte euch dazu, sich der FARC anzuschließen?

Camila: Mich bewegte die linke Bewegung, die in den barrios im Süden, den verarmten Peripherien der Stadt, aktiv war. Aufgrund der prekären Lebensumstände, in denen wir dort lebten, begann ich die Ideologie des sozialen Kampfes zu verstehen. Wir hatten keinen Zugang zu Wasser, keine Elektrizität und die Entfernungen zwischen der Stadt und der Peripherie waren sehr groß. Die Lebensbedingungen waren hart. Als sich mir durch meine politischen Netzwerke die Möglichkeit bot, beschloss ich der FARC beizutreten.

Edith: Mich motivierte das, was wir auf dem Land erlebten, was wir als Kinder gesehen hatten. Wegen der vorherrschenden Gewalt konnten wir nicht studieren gehen, teilweise nicht einmal die Schule beenden; es gab kaum Perspektiven für uns. Wenn ich Teil dieser Gesellschaft geblieben wäre, wäre ich heute ein anderer Mensch. Als ich hörte, dass es in der Organisation Frauen gab, beschloss ich der FARC beizutreten. Ich bin sehr dankbar, dass ich eine guerrera war und dass ich als Rundfunkbeauftragte und Krankenschwester vieles gelernt habe.

Was bedeutete es, eine Frau in der FARC zu sein?

Edith: Die Rolle der Frau in der Guerilla war sehr wichtig. Wir wurden nicht diskriminiert, sondern respektiert. Frauen hatten Macht. Frauen hatten diverse Positionen: als Kommandantinnen der Guerilla, als Rundfunksprecherinnen, als Krankenschwestern, als Ärztinnen, als Musikerinnen. Es wurde gesagt, eine Organisation ohne Frauen könne nicht funktionieren. Der Mann trug die Waffe, ebenso die Frau. Wir sprachen über Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Geschlechter.

Dieses Rollenbild stand im Gegensatz zum Rest der kolumbianischen Gesellschaft mit ihrem Machismo, in der die Rechte der Frauen nicht respektiert werden. Der Kampf von uns Ex-Guerilleras ist unter anderem, dass sich dies in unserem Land verändert. Wir sprechen mit Frauen über Freiheit und dass sie sich von ihren Männern nicht schlecht behandeln lassen müssen.

Camila: Unsere Rolle bestand nicht darin – wie oft dargestellt wird –, dass wir Frauen gezwungen und unterdrückt wurden, dass wir keine Ahnung hatten, was wir dort taten. Dem war nicht so. Wir sind Frauen, die politische Übersicht haben und vor allem sind wir politische Subjekte!

Welche Rolle spielte Feminismus in der FARC?

Camila: Zunächst muss klargestellt werden, dass wir den Begriff vor dem Friedensabkommen nicht gebrauchten. Im Grunde lebten wir durch unsere egalitären Geschlechterverhältnisse und durch die stetige Arbeit an diesen unsere Form des Feminismus: Wir kämpften in den ländlichen und städtischen Gebieten, wir waren durch unsere Aktivitäten in die Struktur der FARC eingebunden und besprachen Themen wie Sexismus und die Rolle der Frau in unseren Gruppenarbeiten.

Was wir infolge des Abkommens, das den Begriff „Feminismus” einführte, taten, war unsere gelebten Praktiken in theoretische Konzepte zu überführen. Wir wollten unsere eigene Theorie von Feminismus, den feminismo insurgente (aufständischer Feminismus; LN), innerhalb des globalen Diskurses erschaffen, um zu beschreiben wer die „mujeres farianas” (etwa: FARC-Frauen, LN) sind und was uns bewegt.

Was definiert den feminismo insurgente?

Camila: Zunächst entstand der Begriff, weil wir uns weder mit dem westlich-liberalen noch dem rechten Feminismus identifizieren konnten. Wir sagten uns, unser Feminismus sei ein Aufstand, da unsere Geschichte von Widerstand geprägt ist.

Dieser Feminismus wird von radikalen Frauen innerhalb der revolutionären Prozesse der linken Bewegung in Kolumbien gelebt. Von Frauen, die zur Waffe griffen, um für Landrecht zu kämpfen. Von Frauen, die verstanden haben, dass die Rolle der Hausfrau keine Option ist. Und von Frauen, die erkannt haben, dass wir als kritisch denkende Menschen auf der Welt sind, um einen Beitrag zu leisten.

Der FARC wird von mehreren Frauen, wie den Mitgliedern der Opferorganisation „Corporacion Rosa Blanca”, vorgeworfen innerhalb der FARC und in den Gemeinden sexuelle Gewalttaten begangen zu haben. Wie wurden diese Fälle innerhalb der FARC behandelt?

Edith: Da ich persönlich nichts dergleichen erlebt habe und auch nichts davon hörte, zweifle ich sehr an diesen Anschuldigungen. Ich glaube eher, dass die Frauen, die sich dort geäußert haben, keine Guerilleras waren. Vielleicht wurden sie für diese Aussagen bezahlt. Wenn ein Compañero das getan hätte, wäre er innerhalb der FARC hart verurteilt worden. Gewalt gegen Frauen wurde weder innerhalb noch außerhalb der Guerilla akzeptiert.

Camila: Für solche Fälle ist das Sondergericht des Friedensprozesses zuständig. Ich hoffe, dass die Klägerinnen ehrlich sind. Denn ich war innerhalb meiner Zeit in der FARC immer mit Männern unterwegs und mir ist weder etwas passiert, noch habe ich jemals etwas dergleichen von meinen Compañeras gehört. Dass Gewalt gegen Frauen für uns eine generelle Strategie war, ist eine Lüge. Es ist möglich, dass es Einzelfälle gibt, von denen wir nichts wissen. Wir können auch nicht behaupten, dass wir ihnen nicht glauben. Das wäre schlicht gegen unsere Vorstellung von Feminismus. Und wenn die Anschuldigungen berechtigt sind, müssen die Schuldigen vor Gericht verurteilt werden. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass es sich hierbei auch um eine Strategie der Rechten handeln könnte.

Wie bewertet ihr den momentanen Friedensprozess?

Edith: Seit vielen Jahren wollte die FARC aktiv an der kolumbianischen Politik teilnehmen. Wir griffen nicht zu den Waffen, weil wir es wollten. Wir sahen uns gezwungen, uns selbst und die Bevölkerung zu verteidigen. Heute können wir sagen: Der Prozess ist nicht das, was wir uns erhofft hatten. Wir dachten, dass das Leben danach anders sein würde. Nun passieren Morde an indigenen und afrokolumbianischen sozialen Vorkämpfer*innen, an Ex-Kämpfer*innen, an Zivilist*innen (LN  547), es herrscht mehr Angst auf dem Land und in den Städten. Die Regierung sagte, die Terroristen seien wir, doch nun ist die Zahl der Gewalttaten in Kolumbien deutlich gestiegen.

Eine der Aufgaben unserer politischen Führer*innen aus der FARC-Partei ist es uns Gehör zu verschaffen. Viele der jungen Menschen aus der FARC brauchen Arbeit und ein Zuhause. Schuld an all dem trägt die Regierung. Denn diese glaubte, wenn die FARC ihre Waffen niederlegt, sei alles getan. Das sei Frieden. Aber das ist kein Frieden. Wir wollen Wohnraum, wir wollen Bildung und vor allem ein würdiges Leben. Das ist Frieden!

Camila: Die kolumbianische Bevölkerung ist es leid, jeden Tag an verschiedenen Orten Menschen sterben zu sehen. Wir haben kein Friedensabkommen für die FARC geschlossen, sondern ein Friedensabkommen für die gesamte kolumbianische Bevölkerung. Und bis jetzt ist es uns nicht gelungen, das Recht auf Land zu erhalten. Und das war der grundlegende Kampf der FARC. Wir konnten allerdings nicht länger zulassen, dass der Kauf unserer Waffen ein Mittel zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus ist.

Heute fühle ich mich wie eine Gefangene in Kolumbien. Wir müssen uns jeden Monat bei den Behörden melden und dürfen das Land nicht ohne Erlaubnis verlassen.

Welche Rolle spielt der deutsche Staat im Friedensprozess?

Camila: Als Befürworter des Friedensprozesses sollte Deutschland überprüfen, dass die kolumbianische Regierung die Projekte tatsächlich unterstützt. Wie das Geld verwendet wird und wo es innerhalb dieser Projekte bleibt. Es herrscht Vetternwirtschaft und Korruption. Die für die Finanzierung der Sozialprojekte bestimmten Gelder fließen in die hohen Gehälter der Vorgesetzten und es bleibt kaum etwas für die Projekte übrig.

An welchen Projekten arbeitet ihr aktuell?

Edith: In Quibdó haben wir ein Restaurant geführt mit Frauen aus der Guerrilla und die Fußballmannschaft „Pare colombia” [Stopp Kolumbien; LN] gegründet, in dem ausschließlich weibliche Ex-Kämpfer*innen spielen. Wir wollen auch Schulen in den Gemeinden bauen. Das Ziel ist die Integration der Ex-Kämpfer*innen in die Zivilbevölkerung.

Camila: Meine Arbeit bestand darin, eine genderspezifische Ausbildung für Frauen in den Wiedereingliederungszonen durchzuführen. Geführt wird dieses Projekt von der nationalen Genderkommission unter der Leitung von Victoria Sandino. Ein weiteres Projekt ist die Internetseite „mujer fariana“, sie dient als interne Plattform für die Ex-Guerrilleras.

Was habt ihr euch von der Reise nach Deutschland erhofft?

Edith: Wir suchen nach finanzieller und politischer Unterstützung, damit wir mit den Projekten in den Wiedereingliederungszonen fortfahren können. Es besteht kaum noch Hoffnung diese Projekte eigenständig umzusetzen. Es gibt immer wieder Sitzungen und Treffen, hier ein Protokoll, dort ein Protokoll. Doch nichts passiert und die Menschen sind die Lügen und leeren Versprechungen leid.

Camila: Was ich mir wünsche ist, dass globale linkspolitische und besonders feministische Netzwerke entstehen. Wir wollen den direkten und konstanten Kontakt zu den Vereinen halten, die wir hier kennengelernt haben. Ich habe den starken Wunsch nach Kooperationen, die es uns ermöglichen, die Arbeit der Frauen im Rahmen des Friedensabkommens zu stärken.

Was ist eure Vision für Kolumbien?

Edith: Ich will, dass Kolumbien sich verändert; dass es ein Land mit sozialer Gerechtigkeit wird. Ein Land in dem es Arbeitsplätze, Wohnraum, Bildung und ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt. All das bleibt uns in Kolumbien verwehrt. Vor den Krankenhäusern sterben Menschen, weil sie nicht die nötigen finanziellen Mittel haben.

Camila: Wir sind es leid, dass von den drei Farben der kolumbianischen Flagge das Rot am deutlichsten hervortritt. Ich will, dass das Blutvergießen der kolumbianischen Bevölkerung ein Ende hat. Wir wollen ein menschenwürdiges Leben. Wir wollen frei sein.


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DER MACHISMUS IN MEXIKO UNTERLIEGT KEINER QUARANTÄNE

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Bunter Protest Am 8. März in Mexiko Stadt (Foto: Lina Hayek)

Nach Jahren der Gewalt durch ihren Ehemann, nach der erfolglosen Erstattung von Anzeigen wegen Körperverletzung bei der Staatsanwaltschaft, die sie nur zu Versöhnung angehalten hatte, wusste Marcela Benítez*, dass sie nicht ungeschoren aus der vorgeschriebenen Isolation des Gesundheitsnotstandes herauskommen würde. 27 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und ansässig in Mexiko Stadt, stand Benítez in Kontakt mit der Frauenrechtsorganisation Espacio Mujeres para una Vida Digna y Libre de Violencia, die ihr rechtlichen und psychologischen Beistand verschafften. In der letzten Märzwoche, nachdem sie wieder Schläge von ihrem Partner erlitten hatte, dachte sie: „Mein Mann wird mich umbringen, wenn ich all die Tage Zuhause bleibe“. So nahm sie ihren kleinen Koffer, den ihr das Frauen*haus empfohlen hatte vorzubereiten. Sie nutze die Gelegenheit als ihr Aggressor unter der Dusche stand, rief ihre Kinder und zusammen machten sie sich heimlich davon.

Dies ist eine Geschichte von vielen, die zahlreiche Frauen* in Mexiko in der aktuellen Situation der Isolation aufgrund des Coronavirus erleben. Frauen* sind wesentlich stärker von den Folgen der Pandemie betroffen, da viele ihren Gewalttätern Zuhause schutzlos ausgeliefert sind. Wie vom Nationalen Institut für Statistik und Geographie in Mexiko festgestellt, ist der Haushalt der gefährlichste Ort für Frauen*, aufgrund von Gewalt die sie dort erfahren. In der Zeit der Isolation sind die Fälle von sexualisierter Gewalt in Mexiko angestiegen und mehr Frauen* sind durch Feminizide ums Leben gekommen als durch das Coronavirus.

Für viele ist es schwieriger im Falle von Gewalt Notfallnummern anzurufen

Bis Mitte April diesen Jahres sind in Mexiko 406 Menschen an Covid-19 gestorben, davon waren 122 Frauen*. Im gleichen Zeitraum wurden 490 Frauen* Opfer von Feminiziden. Jeden Tag werden 10 Frauen* in Mexiko ermordet, alle zweieinhalb Stunden eine. In den Monaten Januar und Februar dieses Jahres sind die Fälle der Feminizide um 9,1% angestiegen, im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres. Inzwischen sind in Mexiko über 35.000 bestätigte Corona-Infizierungen gemeldet, davon sind mehr als 3.400 gestorben. Zahlen zu dem Anteil von Frauen waren bis Redaktionsschluss unbekannt. Die Fallzahlen zu Personen, die in Mexiko am Coronavirus gestorben sind, sind sehr unzuverlässig. Unter anderem wegen der Schwierigkeit einen Test zu erhalten, da es nicht genügend gibt und sie sehr teuer sind. Einer Untersuchung der New York Times zufolge, ignoriert die mexikanische Regierung hunderte, vielleicht tausende von Toten, die in Mexiko Stadt am Coronavirus gestorben sind.

Trotz des dramatischen Ausmaβes der Gewalt gegen Frauen* in Mexiko, hat der Staat auch dazu keine verlässlichen und aufgeschlüsselten Zahlen oder möchte sie nicht publik machen. Dies erläutert der Bericht „Straflosigkeit von Feminiziden. Untersuchung der offiziellen Daten zur Gewalt gegen Frauen (2017-2019), von dem Menschenrechtsnetzwerk Red Todos Los Derechos Para Todas Y Todas (Alle Rechte Für Alle).

Die Pandemie erschwert die Situation für viele Frauen*, die Gewalt erleben, da weniger Frauenhäuser geöffnet sind, die Polizei weniger einschreitet und der Zugang zu rechtlichem Beistand erschwert wird . Für viele ist es schwieriger im Falle von Gewalt Notfallnummern anzurufen, aufgrund der Isolation Zuhause mit der Familie.

Nicht genügend Tests Die Fallzahlen sind deshalb sehr unzuverlässig (Foto: Ernesto Eslava, Pixabay)

Darüber hinaus ist der Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung eingeschränkt. Das Nationale Zentrum für Geschlechtergerechtigkeit und reproduktive Gesundheit (Centro Nacional de Equidad de Género y Salud) hat für den Zeitraum von April bis Juni 2020 circa 260.000 Fälle von Geburtshilfe, 235.000 Geburten, 25.000 Schwangerschaftsabbrüche, 1 Million 150.000 pränatale Kontrollen und 200.000 medizinische Beratungen während des Wochenbetts prognostiziert. All diese Fälle sind von den Einschränkungen betroffen. Vor allem im Hinblick auf Schwangerschaftsabbrüche wird es schwerwiegende Folgen für viele Betroffene geben, von körperlichem Leid bis hin zum Tod. In den meisten Bundesstaaten Mexikos ist der Schwangerschaftsabbruch ohnehin verboten und nun durch die Isolation sind einige Kliniken geschlossen und Schwangerschaftsabbrüche bis auf Weiteres eingestellt. Außerdem ist der Zugang dazu immer schon eine finanzielle Frage und abhängig von der sozialen Klasse.

Seit Beginn der Pandemie ist die Gewalt gegen Pflegepersonal und Ärzt*innen drastisch angestiegen und viele erleiden Angriffe auf dem Weg zur Arbeit. Sie werden als Repräsentant*innen des Coronavirus und Gefahr der Ansteckung betrachtet. 80% des Pflegepersonals und 40% der Ärzt*innen in Krankenhäusern in Mexiko sind Frauen*. Insofern trifft diese Form von Gewalt wieder vor allem diese Bevölkerungsgruppe*.

In der Pandemie verstärken sich Diskriminierung und Ausbeutung

Wie die Zahlen bereits zeigen, arbeiten zum größten Teil Frauen* in Pflegeberufen. Hinzu kommt Care-Arbeit (Pflegearbeit, soziale Reproduktionsarbeit) im eigenen Haushalt. Auf diese Weise befinden sich Frauen* in direkter Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus. Besonders stark betroffen von der Gefahr einer Infektion und den Folgen der Isolation sind Arbeiterinnen*. Über 60% der mexikanischen Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor und leben von der Hand in den Mund. Mehr als 54% davon sind Frauen*. Diese können sich den Luxus der Isolation gar nicht leisten, da sie keine Rücklagen, geschweige denn ein sicheres Einkommen haben. Arbeiterinnen* leisten zudem die Care-Arbeit in Haushalten der Mittel- und Oberschicht. Dies geschieht häufig unbezahlt und ohne Arbeitsvertrag. Die Frauen* haben weder Arbeitnehmerinnenrechte, noch Sozial- oder Krankenversicherung. Als Haushaltsarbeiterinnen* sind indigene Frauen* überrepräsentiert und stehen damit in Fortsetzung kolonialer Gesellschaftsverhältnisse, die stark von Rassismus geprägt sind.

Indigene Frauen* gehören zu der vulnerabelsten Gruppe in Mexiko, sowie Frauen* in Armut, Migrantinnen*, Mädchen, Opfer von Menschenhandel und Frauen* mit Beeinträchtigungen. Indigene Gemeinden leiden überproportional unter der Krise des Coronavirus, aufgrund der prekären Bedingungen in denen sie auch schon vor der Pandemie lebten , mit schlechtem Zugang zu Gesundheits- und Trinkwasserversorgung. In vielen Fällen sind sie betroffen von Landraub und -Zerstörung durch Extraktivismusprojekte von transnationalen Firmen. Zudem erfahren sie Rassismus durch ihren Sprachgebrauch und durch die Ausübung kultureller Traditionen, wie zum Beispiel durch das Tragen von traditioneller Kleidung. Informationen zur Situation der Pandemie wurden in vielen Fällen nicht in den indigenen Sprachen zur Verfügung gestellt.

Am 8. März zum Frauen*kampftag Ringen um Aufmerksamkeit (Foto: Pilar Suárez, CC BY-NC-SA 2.0)

Die aktuelle Situation der Coronavirus-Pandemie verdeutlicht uns die soziale Ungleichheit und Geschlechterungerechtigkeit in vielen Ländern der Welt. Denn die Ansteckung und die Folgen der Isolation verlaufen entlang der Strukturen von Macht- und Herrschaftssystemen, wie Geschlecht, Klasse und ethnischer Herkunft. Aufgrund der patriarchalen Strukturen der Gesellschaft macht das insbesondere Frauen* zur Zielscheibe der Pandemie, da Care-Arbeit, repräsentativ für den Haushalt, das Private, die Familie, traditionell weiblich konnotiert und meist unbezahlt sind.
Dieses Konzept basiert auf überlieferten Geschlechterrrollen, die wiederum von dieser Einteilung geprägt werden. Durch die Schließung von Schulen lastet die Betreuung der Kinder in Zeiten der Isolation zumeist auf den Schultern der Frauen*, da es als ihre Aufgabe begriffen wird. Die idealisierte Vorstellung von einem trauten Heim und Familie erzeugt eine falsche Idee von Sicherheit. Die vor allem in der Situation der Isolation für viele Frauen* zum Verhängnis wird, da diese Vorstellung häusliche Gewalt und Feminizide verdeckt.

Informationen zur Pandemie wurden in vielen Fällen nicht in den indigenen Sprachen zur Verfügung gestellt

Wie die feministische Gruppe Marea Verde in Mexiko es ausdrückt, macht der Machismus keine Quarantäne und die mexikanische Frau* stirbt eher durch die Isolation als am Virus. Aus verschiedenen Gründen sind Frauen* stärker von den Folgen der Pandemie betroffen. Die überproportionale Arbeit in Pflegeberufen, die Care-Arbeit in fremden Haushalten und im eigenen, häusliche Gewalt, der fehlende Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung sind nur ein paar davon. In der Zeit der Pandemie verstärken sich die prekären Bedingungen und Strukturen von Diskriminierung und Ausbeutung. In diesem Sinne sind Arbeiterinnen* und indigene Frauen* am stärksten von den sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Coronavirus betroffen.

Insofern gilt es strukturelle Veränderungen zu erlangen, die das Patriarchat, den Kapitalismus und Rassismus betreffen. Care-Arbeit bzw. soziale Reproduktion muss bezahlt und sollte nicht als in erster Linie weibliche Aufgabe verstanden werden. Eine Umverteilung von Reichtum und ein Sozialsicherungs- und Gesundheitssystem, das alle mit einschließt ist essentiell. Konzepte wie Heim, Haushalt und Geschlechterrollen müssen neu gedacht werden, um patriarchale Strukturen und somit auch die Gewalt gegen Frauen zu überwinden. Damit Frauen wie Marcela Benítez* in Zukunft auch sicher Zuhause bleiben können.

*Name von der Redaktion geändert


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„WIR HABEN UNS DIE IDEE DES LEBENS ZU EIGEN GEMACHT“

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„Fuera el temor (Weg mit der Angst)” Gegen Angst und für kollektive Sorgearbeit: Javiera Manzi (Foto: privat)

LN: Auf was für Bedingungen trifft die Corona-Krise aktuell in Chile?
JM: Wir durchleben gerade nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine wirtschaftliche, politische und soziale Krise. In Chile im Besonderen erleben wir sie im Kontext eines Aufstands, eines offenen Prozesses. Der Großteil der Bevölkerung ist gegen die Vertiefung der neoliberalen Politik der letzten 30 Jahre und das Erbe der Diktatur, wie die Verfassung, aufgestanden. Vieles hat sich seitdem verändert: Der soziale Zusammenhalt ist wiederbelebt worden – das ist etwas sehr Starkes. In den Vierteln ist eine Zusammenarbeit über nachbarschaftliche Versammlungen, die asambleas, entstanden. Es gibt einen grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Leben und ein kritisches offenes Bewusstsein. Diese Art der politischen Organisierung greift sowohl direkt die Regierung von Sebastián Piñera als auch alle vorherigen Übergangsregierungen an. Über allem steht ein kritisches Bewusstsein gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens, der Bildung, der Renten, für die fehlende soziale Sicherheit. Das hat einem radikalen Protest den Weg bereitet. Es ist ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens. So sehen wir diesen kritischen Moment aus einer ganz eigenen Perspektive.

Im Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12 hast du gesagt, dass die Maßnahmen der Regierung „Verachtung dem Leben gegenüber“ ausdrücken. Warum?
Diese Verachtung bezieht sich auf das Leben der einfachen Leute. Nicht alle Leben sind es wert, in dieser Krise versorgt, geschützt oder anerkannt zu werden. Wir haben diese Regierung schon seit ihrem Antritt als kriminell bezeichnet – wegen der Menschenrechtsverletzungen, für die sie verantwortlich ist. Die Regierung und die Unternehmerschaft haben sich nochmal radikalisiert. Eine Koexistenz ihrer kapitalistischen Wirtschaft und einem Leben, in dem wir alle leben können, wird damit immer unmöglicher. Gleichzeitig werden andere Leben überproportional beschützt. Als feministische Bewegung haben wir nicht nur die Idee verfolgt, dass das Leben unser Kampf ist, wir haben uns die Idee des Lebens zu eigen gemacht.

Das Konzept des Lebens im Mittelpunkt ist grundlegend für lateinamerikanische Feminismen. Wie wird das in der Krise deutlich?
Wir haben als 8. März-Bündnis die Frage nach dem Leben ausführlich besprochen. Unsere Demonstrationen drehen sich um die Prekarisierung des Lebens. Dabei sprechen wir nicht nur von Arbeit, sondern von einer breiteren Prekarisierung des Lebens in seiner Gesamtheit. Was wir in all den Jahren diskutiert haben, ist die Frage, wie wir unser Leben als politisches Problem greifbar machen, um uns Möglichkeiten vorzustellen, wie wir es verändern können. Welchen Wert nimmt das Leben in dieser Gesellschaft ein? Welche Alternative kann der Feminismus bringen?

Diese Fragen sind nun drängender geworden, viele unserer Befürchtungen werden nach und nach Wirklichkeit. Die Möglichkeit einer Alternative ist von einem Wunsch zu einer Notwendigkeit geworden. Heute konzentrieren wir uns darauf, wie wir eine strukturelle Veränderung verstehen, die das gut gelebte Leben in den Mittelpunkt stellt: Buen Vivir. Das stellt für uns notwendigerweise die kapitalistische und patriarchale Organisierung in Frage.

Vor diesem dunklen Panorama hat die Coordinadora 8M einen feministischen Notfallplan entwickelt. Wie kam es zu der Idee?
Am 8. März haben wir die größte Demo in der Geschichte Chiles organisiert. Allein in Santiago waren wir zwei Millionen Menschen. Das ist wichtig, um sich klar zu machen, aus welcher Position wir diese möglichen Alternativen entwickeln und die Verantwortung, die wir dafür übernommen haben. Die Demo, die ein feministischer Generalstreik war, hatte drei zentrale Themen:

Zuerst die Idee der primera línea (erste Reihe der Demonstrationen, Anm. d. Red.) gegen den Staatsterrorismus. Die primera línea ist ein Puffer gegen die Polizeirepression. Ihre Kriminalisierung ist etwas sehr Mächtiges. Die Konfrontation, der direkte Kampf wurde von den sozialen Bewegungen eingefordert.

Die zweite Idee war die des Lebens als politisches Problem. In Chile haben wir den Feminismus in seiner Vielfalt aufgebaut, mit der Diversität unserer Körper, von dort aus, woher wir kommen. Für den Streik gibt es Sprecherinnen von Umweltbewegungen, aus dem Bildungssektor, dem Kampf der Mapuche, Transfrauen, Migrantinnen, Opfer von Polizeigewalt, die ihre Augen verloren haben.

Und drittens die Idee der Prekarisierung des Lebens. Am 8. März haben wir den Aufstand feministisch wiedereröffnet. Der Feminismus kann das schaffen. Ein paar Tage danach kam die Quarantäne. Ein Teil der Aufgaben des Notfallplans hat mit diesen drei direkten Verantwortungen zu tun.

Worum geht es in dem Plan genau?
Der Plan hat vier grobe Linien.

Die erste besteht im Aufbau von Sorgenetzwerken in den Nachbarschaften. Wir dürfen die vielen asambleas, die sich gegründet haben, jetzt nicht fallenlassen. Wir müssen vermeiden, dass die physische Distanz in soziale Isolierung übergeht.

Die zweite Linie verfolgt den Aufbau einer feministischen Vernetzung gegen patriarchale Gewalt. In Kürze starten wir dazu eine Kampagne. Wir wollen nicht nur die staatlichen Antworten, sondern vor allem die der sozialen Bewegungen in den Mittelpunkt stellen. Das schließt auch Formen der Gewalt ein, die der Staat nicht als politische Probleme sieht.

Drittens gibt es Maßnahmen, die wir „unsere Sorge gegen eure Profite“ genannt haben. Wenn gesellschaftliche Rechte mehr und mehr privatisiert werden, wie wir es in Chile erleben, werden sehr schnell Dinge zu Privilegien erklärt, die in Wirklichkeit fundamentale Rechte sind: ein gesicherter Arbeitsplatz, gesundheitliche und hygienische Bedingungen, der Zugang zu Wasser. Es gibt komplette Nachbarschaften ohne fließendes Wasser. Wie wäscht man sich da die Hände? Die Regierung versteht Sorge als individuelle Aufgabe und nicht im transformatorischen Sinn. Doch Sorge muss kollektiv gedacht werden, es ist Arbeit, die organisiert und sozialisiert werden muss.

Viertens braucht es ein radikales politisches Vorstellungsvermögen: Wie stellen wir uns Aktionen in der Krise vor? Normalerweise machen wir Demos, Straßenblockaden, Kochtopfproteste (cacerolazos). Aber im Lockdown? Jetzt müssen wir bedenken, dass der öffentliche Raum eingeschränkt ist und dass es Menschen gibt, die nicht in Quarantäne sein können, weil sie arbeiten müssen. Derzeit gibt es so viele Kündigungen, dass es schwierig ist, auf dem Arbeitsplatz überhaupt Forderungen zu stellen oder zu protestieren. Deswegen rufen wir zum Streik für das Leben auf.

Lauter Protest für die Würde Mit dem Kochtopf in der Hand (Foto: FM La Tribu)

Was wollt ihr bestreiken und wen ruft ihr dazu auf, Arbeiten niederzulegen?
Dieser Streik ist ein produktiver Streik, da die reproduktive Arbeit und Sorgearbeit nicht stillsteht. Es ist also mehr eine Unterbrechung nicht nur im produktiven Sinne der Arbeit, sondern auch in den Vierteln. Gerade arbeiten wir zusammen mit den asambleas, mit den organisierten Oberstufenschüler*innen, denen, die für die Befreiung von politischen Gefangenen kämpfen, Gesundheitsbewegungen und queeren Organisationen. Ein solches Netz ist erst durch den Aufstand möglich geworden. Wir haben Aktionen in sozialen Netzwerken organisiert, Kochtopfproteste von zu Hause aus und Nachrichten in die Fenster und Arbeitsstellen gehängt, damit dort minimale Hygienestandards gewährleistet werden. Während des Aufstandes gingen wir immer freitags auf die Plaza de la Dignidad („Platz der Würde“, ehemals Plaza Italia und liegt im Zentrum von Santiago, siehe LN 547, Anm.d.Red.). Würdevolle Zustände zu fordern bedeutet nicht nur „Quarantäne jetzt” zu sagen, sondern auch die Bedingungen dafür zu schaffen. Die Freitage sind noch immer die Tage der Demonstrationen, die Freitage für das Leben und die Freitage für die Würde.

An wen richtet sich der Notfallplan?
In erster Linie soll der Plan kollektive Aktionen auslösen. Er dient auch uns selbst zur Orientierung. Wir suchen in unseren Nachbarschaften Strategien, um die gegenseitige Unterstützung und kollektive Sorgearbeit in der eigenen Umgebung anzustoßen. Wir haben es geschafft, dieses Netzwerk stetig zu vergrößern. Trotz aller Schwierigkeiten, die jetzt auf uns zukommen, wollen wir nicht das verlieren, was uns während des Aufstands vereint hat. Auch die Kämpfe gegen die Straflosigkeit und politische Haft sind immer noch aktuell. In den Versammlungen wird eine neue politische Stimme geschaffen.

Die asambleas sind sozialer Kitt, den es in Chile nicht mehr gab, seitdem die Diktatur und die Neoliberalisierung in den 90ern dieses Geflecht zerstört hatte. Wie werden nun diese asambleas zu Versammlungen von kollektiver Sorge? Als Feministinnen hinterfragen wir immer die Unterscheidung des Öffentlichen und des Privaten. Mit welchen Strategien können wir Sorgearbeit kollektivieren? Zum Beispiel, indem wir das Einkaufen, die Versorgung der Alten und Kinder oder die Beschaffung von Medikamenten gemeinsam organisieren. Wir wollen aus den asambleas Instanzen gegen die Bedrohungen machen, denen wir gegenüberstehen. Virtuell ist das schwierig, aufrechtzuerhalten. Die wichtigste Aufgabe ist, zu verhindern, dass wir uns wieder verlieren, jetzt, da wir uns gefunden haben.

Wo lang führt der Weg aus der Krise?
Ich komme immer wieder zum Aufstand zurück, weil es für uns sehr wichtig ist, diese Kontinuität aufzuzeigen. Wir sehen uns heute global mit einer Situation konfrontiert, in der es kein Zurück gibt. Wir können diese Phase nicht einklammern oder zu einem Davor zurückkehren. Während des Aufstands haben wir gesagt: Die Normalität war schon immer das Problem. Der Notfallplan greift das auf. Wir müssen eine eigene Exitstrategie für diese Pandemie herausarbeiten und verbreiten, eine Strategie, die das Leben der Mehrheit der Bevölkerung ins Zentrum stellt, ganz besonders das Leben der am meisten Prekarisierten. Dafür müssen wir Alternativen aufbauen, die unsere langjährigen Formen der Produktion und Akkumulation radikal verändern. Im Notfallplan findet sich der tiefgreifende und radikale Wunsch wieder, dass wir ab jetzt die Bedingungen und Regeln verändern müssen – nicht nur in Chile, denn das hier ist eine globale Krise. Wir müssen die Art, wie sich der neoliberale Kapitalismus in diesen Jahren manifestiert hat, verändern. Am Ende verfolgt der Plan die Strategie, aus dem Aufstand heraus eine internationale feministische Zusammenarbeit zu schaffen, die grenzüberschreitend ist, einen feminismo transfronterizo (zum ersten grenzüberschreitenden Aufruf an diesem 8.März siehe LN 549, Anm.d.Red.). Dort sprechen wir mit feministischen Organisationen aus der ganzen Welt, vor allem aber aus Lateinamerika, über mögliche Formen der Organisierung, die es uns erlauben, gemeinsam aus dieser Krise herauszugehen, das System zu verändern und das Leben zu transformieren. Noch vor wenigen Tagen war die Frage, welche Möglichkeiten der Internationalismus dafür hat. Heute sehen wir, dass der Feminismus das stärkste Werkzeug ist, uns in diesem Moment zu organisieren.


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„ICH DACHTE, ES WÜRDE UNS SO GUT GEHEN“

Barbi Recanati bei einem Konzert in Santa Fé (Foto: TitiNicola via wikimedia commons (CC BY-SA 4.0))

Ausgerechnet am 20. März, dem ersten Tag der Corona-bedingten Ausgangssperre in Argentinien (siehe LN 550), erschien mit Ubicación en Tiempo Real das erste Soloalbum der Gitarristin, Sängerin und Produzentin Barbara „Barbi“ Recanati. Der Titel lässt sich als „Live-Standort“ übersetzen, also jene viel genutzte Option von Smartphones, den eigenen Standort in Echtzeit zu teilen. Recanati selbst befand sich an diesem Tag bereits in häuslicher Quarantäne, zusammen mit Bandkollegen und ihrem Sohn. Auf die Mexiko-Tour im März hätte eigentlich ein Konzert auf dem großen SXSW-Festival in Texas folgen sollen. Trotz dessen Absage folgte auf den Rückweg über die USA die zwingende kollektive Quarantäne.

Barbi Recanati ist schon lange in der Alternativ-Rockszene in Argentinien aktiv und wurde als Lead-Sängerin der Utopians bekannt. Die Band löste sich auf, nachdem Recanati einen der Gitarristen rausschmiss, dem teilweise noch minderjährige Fans übergriffiges Verhalten vorgeworfen hatten.

Recanati stellt die alte Riege machistischer Musiker bloß

Seitdem kämpft sie für die Sichtbarkeit von FLINT*-Personen in der argentinischen Musikszene. Auf ihrem eigenen Label Goza Records, gegründet in Kooperation mit dem Community-Internetradiosender Futurock, ermöglicht Recanati jeden Monat einer Musikerin oder Band, ein Album zu produzieren. Dies soll einen Einstieg in die Musikszene abseits der etablierten und cis-männlich dominierten Strukturen erleichtern.

Die Erneuerinnen des argentinischen Rock eignen sich mit spielender Leichtigkeit dessen tausendfach reproduzierten und männlich konnotierten Gesten an. Wie Marilina Bertoldi, Paula Maffía und die Band Eruca Sativa stellt Recanati somit die alte Riege machistischer Musiker und Produzenten bloß, die über vermeintlich mangelndes Talent von Musikerinnen und das Ende letzten Jahres verabschiedete Mercedes-Sosa-Gesetz, welches eine Quote für weibliche Acts auf den Bühnen großer Musikveranstaltungen festschreibt (siehe LN 545), jammern.

Auf Goza Records erscheint nun auch Barbi Recanatis erstes eigenes Album, Ubicación en Tiempo Real. Trotz des modernen Titels der Platte schöpft sie musikalisch aus der Vergangenheit. War ihre vorher veröffentlichte EP Teoria Espacial („Raumtheorie“) noch von nach vorne preschendem, wütendem Rock dominiert, sind die sieben Songs auf Ubicación en Tiempo Real schleppender und eindrücklicher.

Inspiriert vom New Wave und Alternative Rock der 80er Jahre dominieren verzerrte Gitarren und hallende Synthesizer über dem Fundament einer präzise arbeitenden Rhythmussektion. Die Lieder und ihre Texte mögen zunächst einfach wirken. Doch die behutsamen und ausgefeilten Arrangements ziehen bei mehrmaligem Hören immer hypnotisierender in ihren Bann.

Hipsterfressende Hexen im Musikvideo

Die prägnanten Titel der sieben Lieder passen genauso zur schnörkellosen Musik wie die direkten, persönlichen Texte: „En la Frente“ („Auf die Stirn“). „Ich hoffe, du nimmst es nicht persönlich, ich hasse dich wirklich“, singt Recanati in „¿Qué Le Ves?“ („Was siehst du in ihm?“) über eine Person, die andere schlecht behandelt und sich damit herausredet, eigentlich ganz anders zu sein. „Los Demás“ kritisiert das ständige Reden über „die Anderen“ statt über sich selbst. „Para Darte“ („Um dir zu geben“) baut auf einer wuchtig, treibenden Basslinie auf und die schleppend schönen Ballade „Los Días Que No Estás” („Die Tage, an denen du nicht da bist“) wird vom einzigen Gast des Albums gesungen, Paula Trama der Popgruppe Los Besos. „Ich habe geglaubt, es würde uns so gut gehen“, singt Recanati in „Que No“ („Nein!“). Im dazugehörigen Video, von den Regisseurinnen Malena Pichot und Lucia Valdemoros inszeniert, tanzen Hexen durch ihr Haus, am Ende überlässt ihnen Barbi einen Hipster, der zu Besuch vorbeikommt, zum Fraß.

Eigentlich sollte Ubicación en Tiempo Real auch als Schallplatte erschienen, was die knapp gehaltene Songauswahl erklärt. Vorerst ist dieser Quarantäne-Musiktipp jedoch nur online, beispielsweise auf Spotify oder Youtube, zu hören.


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EINE ANDERE WELT IST MÖGLICH

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Wir säen Organisation, um ohne Angst zu leben Aktion am 8. März in Solidarität mit den Zapatistas (Foto: Santiago Arau)

Was bedeutet der 8. März 2020 für die Kollektive Mujeres y la Sexta und Mujeres que Luchan “Porque Acordamos Vivir”, denen du angehörst?
Der 8. März ist für uns ein sehr, sehr wichtiges Datum, weil es die Relevanz des Kampfes der Frauen gegen das Patriarchat (Anm. d. Interviewerin: männliche Vorherrschaft) zum Vorschein bringt. Für uns ist es der Tag der Frauen, aber nicht nur der Frauen, die kämpfen. Es ist weder eine Feier für uns, noch eine Mahnung an all das, was uns im Kampf gegen das Patriarchat noch fehlt. Vielmehr ist der Weltfrauen*kampftag ein wichtiger Gedenktag, der uns an all unsere Genossinnen erinnert, die im Kampf gefallen sind. Das waren zuletzt sehr viele. Die Gewalt gegen Frauen betrifft nicht nur die in einem offenen Kampf und politischem Aktivismus, sondern alle Frauen. Der Machismus gibt vor, dass Frauen Besitz seien. Sei es in partnerschaftlichen Beziehungen, Freundschaften oder bei unbekannten Zusammentreffen auf der Straße. Vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten Situation von Gewalt an Frauen in Mexiko und dem Anstieg an Feminiziden erscheint uns der 8. März sehr wichtig.

2019 war das Jahr mit den meisten Feminiziden in der jüngsten Geschichte Mexikos …
Mit der neuen Regierung hat sich die Situation zu einer regelrechten Epidemie entwickelt. Im Durchschnitt werden 10 Frauen pro Tag ermordet. Das ist offen gesagt etwas sehr Schwerwiegendes. Es handelt sich um Frauen unterschiedlichen Alters, vor allem im Alter von 20 bis 40 Jahren. Doch gibt es auch viele Fälle von verschwundenen Mädchen, wahrscheinlich im Rahmen von Organhandel.

Für uns ist dieses gemeinsame Erwachen sehr wichtig, um zu erkennen, dass das Patriarchat ein systemisches Problem ist, das uns vernichtet. Es sind keine einzelnen Aktionen von Verrückten. Die Angst hält uns Zuhause gefangen, ohne Teilhabe am öffentlichen Leben einzufordern. Es verwehrt uns das Recht auf Leben. Die Zapatista-Genossinnen haben uns gezeigt, dass es gilt, die Angst zu verlieren, um unseren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Eine neue Gesellschaft ohne Patriarchat.

Wie kam es zu dem Anstieg an Feminiziden in den letzten Jahren?
Es fängt mit dem Frauenbild an, das in den Medien vermittelt wird und das Frauen als Sexobjekte und Männern untergeordnet darstellt. Dies führt zu der Sichtweise, dass Frauen gehorchen müssen und Männer mit ihnen machen können, was sie wollen. Das geschieht auch im Bereich der Politik und sogar in Gewerkschaften oder Kreisen von Aktivisten, die sich als links begreifen.

Die Abwertung der Frau, die Verschärfung des Machismus und die Straflosigkeit bei Verbrechen an Frauen sind Samen und Frucht des Kapitalismus und bringen die Frau in diese prekäre Lage. Die Ausbeutung im Kapitalismus und Neoliberalismus sind gewissermaßen Basis für die Ausbeutung der Frau, deren Arbeit in vielen Fällen unbezahlt ist, weswegen dies noch nicht einmal als Ausbeutung begriffen wird.

Die wohl vulnerabelste Gruppe sind in Mexiko indigene Frauen. Wie wird im Kampf gegen sexualisierte Gewalt mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen der Frauen umgegangen? Wie werden alle sichtbar gemacht?
Der Kampf gegen die Gewalt an Frauen und das Patriarchat in Mexiko ist nicht homogen. Die Genossinnen aus den indigenen Gemeinden, wie zum Beispiel die Zapatista-Frauen, führen den Kampf als Kollektiv und nicht als Individuen. Nicht eine wird zurückgelassen. Die Zapatista-Frauen waren immer sehr stark in ihrem Kampf und haben uns einiges gelehrt. Es haben sich viele Gemeinden vereint, Indigene der Tzotzil, Tzeltal, Ch‘ol, Mam und viele andere. Die Zapatistas haben es geschafft, Differenzen zu überwinden, und für höhere Ziele, wie Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit, zu kämpfen. Die indigenen Gemeinden haben sehr viel von verschiedenen mexikanischen Regierungen und Kolonialmächten erlitten, die ihnen ein Leben in Ausbeutung, Missbrauch, Missachtung, Plünderung, Unterdrückung und Rivalität zueinander aufgezwungen haben. Wie sie diese harten Umstände überwunden haben, ist wirklich sehr beeindruckend. Die Zapatistas sinnen nicht auf Vergeltung gegen das Patriarchat, sondern sie verändern es jeden Tag. Es ist sehr wertvoll zu sehen, dass eine andere Form des Lebens, abseits des Kapitalismus und Individualismus, existiert und uns eine andere Vision bietet, die Zukunft zu gestalten. Ich glaube an diese Vision der Zukunft, dass eine andere Welt möglich ist (Anm. d. Interviewerin: Eine der grundlegenden Ideen der Zapatistas und Parole ihres Kampfes ist: „Eine andere Welt ist möglich, eine Welt, in die viele Welten passen“).

 

Mehr Demonstrierende als je zuvor Proteste gegen sexualisierte Gewalt am 8.März in Mexiko-Stadt (Foto: Finja Henke)

War der Weltfrauen*kampftag dieses Jahr anders als in den Jahren zuvor?
Dieses Jahr war die Demonstration am 8. März sehr viel größer als in den letzten Jahren. Wir waren schätzungsweise 250.000 Frauen in Mexiko-Stadt. In zahlreichen anderen Städten des Landes gab es auch Demonstrationen. Es war wie ein Erwachen. Das heiβt aber nicht, dass alle, die da waren, gegen das Patriarchat kämpfen. Vielmehr kämpfen alle für mehr Sicherheit und dafür, nicht ermordet zu werden. Es geht darum, ohne Angst auf die Straße gehen zu können. Viele Frauen waren zum ersten Mal dabei. Nicht nur die offizielle Route der Demonstration, sondern auch jegliche anliegenden Straßen waren bevölkert von Frauen in Mexiko-Stadt. Abseits der Demonstration fanden auch viele Aktivitäten statt, wie Tanz und Musik.

Am 9. März streikten landesweit viele Frauen in Mexiko. Was war der Grund dafür?
Die Idee für den Streik am 9. März wurde aus anderen Ländern übernommen. Der Streik wurde hauptsächlich in urbanen Gebieten umgesetzt. Ich denke, dass die Ankündigung der Zapatistas am Streik teilzunehmen, den Impuls für viele gegeben hat, dies auch zu tun. Bis hin zu der mexikanischen Regierung und großen Unternehmen, die vorgaben am Streik teilzunehmen und Teil der Bewegung zu sein. Doch dies bewegte sich mehr innerhalb des Diskurses des Machismus mit Äußerungen wie, dass auf die Frau, die schöne Königin, unsere geliebte Prinzessin, die Hübsche, aufgepasst werden müsse. Insofern sind das Vorstellungen, die unseren Kampf gegen das Patriarchat und für eine neue Gesellschaft verfälschen. Hingegen die Zapatista-Genossinnen gingen auf die Autobahnen mit ihren Lichtern und der Forderung, die Gewalt gegen Frauen und die indigenen Gemeinden zu stoppen. Das war etwas sehr Schönes.

Was bleibt zu tun, um im Kampf gegen die Gewalt an Frauen Fortschritte zu erzielen?
Wenn wir Autonomie erzielen würden, wären wir näher dran, etwas als Kollektiv zu erreichen. Mit Autonomie beziehe ich mich auf den sozialen Pakt, in dem die Zapatista-Gemeinden leben. Sie leben in großer Akzeptanz und Toleranz für jede Person, die Teil der Gemeinschaft sein möchte, egal welchen Geschlechts oder welches Wissen die Person mitbringt. Das bringt eine wahrhaftige Gleichberechtigung hervor. In unserer derzeitigen Gesellschaft haben wir nicht diese Form von Autoregulierung, da das Patriarchat so tief verwurzelt ist, dass Männer die Gewalttaten und Morde, die sie begangen haben, sogar feiern können. Insofern ist Bildung ein fundamentales Element.

Wir müssen auch schauen, was wir von anderen Gesellschaften lernen können, in denen es nicht so viele Feminizide gibt. Außerdem ist es wichtig, uns von diesem Rechtssystem der Straflosigkeit zu befreien und andere Normen und Sanktionen zu entwickeln, die Gewalt und Wiederholungstaten verhindern.

Die Autonomie lässt sich nicht von dem kapitalistischen System trennen, in dem wir heute leben. Das wäre utopisch und nicht einfach. Wir müssen wie Moos anfangen, in der Erde zu wachsen und sich dann auszubreiten. Das hängt von der Vernetzung verschiedener Formen des Widerstands ab. Es geht um kollektives Handeln und Solidarität, Muster von Diskriminierung abzulehnen und nicht zu reproduzieren. Der Kampf der Frauen ist Leitbild, denn wenn wir nicht das Patriarchat abschaffen, werden wir keine andere Form von Gesellschaft aufbauen können. Die Voraussetzung dafür ist Gleichberechtigung und davon ausgehend ist eine andere Welt möglich, nach der auch unsere Zapatista-Genossen streben.


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„DIE PATRIARCHALEN FORMEN DER POLITIK MIT DRUCK VERÄNDERN“

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Victoria Alen und Karina Chacón sind Teil von Tinta Violeta. Das Kollektiv wurde 2012 gegründet und setzt sich vor allem für die Verteidigung von Frauen ein. Die Mitglieder begleiten Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – juristisch und emotional. Insbesondere will die Gruppe die Aufmerksamkeit auf die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community lenken. Die Aktivist*innen versuchen den Machismo aber auch mit künstlerischem Ausdruck zu überwinden: Ihr Projekt Amada nutzt kreative Workshops zu Poesie, Tanz und Theater, um der feministischen Bewegung innerhalb der venezolanischen Kultur neue Impulse zu geben. Tinta Violeta gehört zu La Araña Feminista, einem Netzwerk sozialistischer feministischer Kollektive in Venezuela.
(Foto: Maye Josefina)


Wieso habt ihr den feministischen Notstand für Venezuela ausgerufen?
Victoria Alen: In der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat unsere Mitstreiterin, die Anthropologin und Feministin Aimee Zambrano, über den sogenannten Feminizid-Monitor die Zahlen der Feminizide in Venezuela für 2019 vorgelegt. Es waren 167 Fälle – eine Zahl, die uns schockiert hat. Wir haben außerdem gemerkt, wie sehr sich Frauen von Gesetzen und staatlichen Institutionen im Stich gelassen fühlen. Seit 2015 hatte es keine offiziellen Angaben zu Feminiziden mehr gegeben, damals waren es 121 Fälle. Das heißt, in den vier Jahren bis 2019 hat sich die Zahl der Feminizide um 38 Prozent erhöht. Nach dieser Erkenntnis haben wir uns mit anderen Kollektiven zusammengetan und beschlossen, eine Art Bündnis zu schaffen. Dieses vereint Gruppen etwa aus dem sozialistischen Netzwerk La Araña Feminista und andere Organisationen, die ebenso wichtige Arbeit machen.

Wir bemühen uns, über ideologische Haltungen hinauszugehen. Nicht alle Kollektive  vertreten eine klar sozialistische Ideologie, arbeiten aber nach ähnlichen feministischen Grundsätzen wie wir. Unser öffentliches Statement unter dem Namen „Feministische Erklärung” war eine sehr spontane Sache, um den Staat und die landesweiten Institutionen unter Druck zu setzen. Danach haben wir uns für eine Pressekonferenz entschieden, um den feministischen Notstand auszurufen. Für uns war dieser Schritt nötig, weil es eine ernstzunehmende Problematik ist, die bisher missachtet worden ist.

 Welche Aktionen sieht eure „Feministische Erklärung” vor, um den Staat unter Druck zu setzen?
Karina Chacón: Die erste Aktion fand bereits am 25. November statt, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Zu diesem Anlass erstellten wir unsere erste Pressemitteilung und brachten diese zum Obersten Gerichtshof, also dem leitenden juristischen Organ in Venezuela. Der rechtliche Rahmen hier gilt  in Genderfragen zwar als einer der fortschrittlichsten in der Region, wenn es um die Formulierungen und das, was berücksichtigt wird, geht. Aber für viele wichtige Gesetze gibt es nicht einmal genaue rechtliche Bestimmungen. Das heißt, wenn man die Anwendung der Gesetze untersucht, stößt man auf sehr schlechte Ergebnisse.

Habt ihr mit der Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof etwas erreicht?
VA: Nun gut, wir haben Maikel Moreno, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dazu gebracht, unmittelbar während unseres Protests nach draußen zu kommen und mit uns zu sprechen. Wir wollten ein Gespräch mit den Institutionen und den verschiedenen Kollektiven vor Ort einleiten. Im Nachhinein hat es Arbeitsgruppen mit verschiedenen Vorsätzen gegeben, es gab drei Treffen, aber es wurde nie etwas erreicht. Es blieb in einem unverbindlichen Rahmen und die Treffen brachten aus verschiedenen Gründen nie Ergebnisse.

Ich weiß nicht, ob es an der Ineffizienz, der Apathie oder den fehlenden Mitteln bzw. der Infrastruktur der Institutionen liegt, jedenfalls kamen wir zu nichts. Tatsächlich hatte Moreno sich am 25. November zu dem Vorhaben verpflichtet, dass es am 8. März bereits etwas Konkretes geben sollte. Der 8. März kam und ging und es ist absolut nichts passiert.

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März, habt ihr eine unabhängige Protestaktion veranstaltet…
KC: Wir haben eine Aktion geschaffen, mit der wir uns alle identifizieren konnten, obwohl es innerhalb des Bündnisses sehr unterschiedliche Gedanken und ideologische Strömungen gab. Wir sind uns aber einig über den feministischen Notstand und unsere Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen. Wir haben mehr als 100 Personen versammelt. Das ist für eine spontane Aktion im kleinen Raum, die unabhängig von Parteistrukturen und offiziellen oder traditionell oppositionellen Institutionen organisiert wurde, gar nicht so wenig und ein erster Erfolg.

Unser wichtigstes Vorhaben ist es, wieder Räume zu schaffen, in denen es eine offene Debatte geben kann, in denen wir uns zuhören und durch die wir Frauenrechte durchsetzen können. So können wir auch Vertrauen schaffen. Eines der Dinge, die wir in der politischen Aktion und ihren Räumen in Venezuela verloren haben, ist die notwendige Diskussion oder Gegenüberstellung auch von politisch abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen.

Wie steht es aktuell um Feminizide in Venezuela?
KC: Wir zählen heute 67 Tage in diesem Jahr und – laut dem Feminizid-Monitor von Aimee Zambrano – 51 Feminizide. Das ist eine Zahl, die uns alarmiert. Nehmen wir zum Vergleich unsere spanischen Mitstreiterinnen, die auch den feministischen Notstand erklärt haben: In Spanien waren es in diesem Jahr laut offiziellen Angaben 14 bis 16 Feminizide – und dort leben deutlich mehr Menschen als in Venezuela.

Gibt es irgendeinen Weg, Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu schaffen?
KC: Im Allgemeinen gehört es nicht zur venezolanischen Kultur, Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau, die Gewalt erfährt oder erfahren hat, zu Tinta Violeta kommt, ist unser erster Schritt, ihr zur vermitteln, dass sie nicht allein ist und sie von einer Anzeige zu überzeugen. Wenn Frauen aber allein zur Polizei gehen und eine Gewalttat anzeigen wollen, werden sie von den Beamtinnen und Beamten dort wiederum zum Opfer gemacht. Das bringt viele dazu, eher von einer Anzeige abzusehen. Der Fall wird auf Eis gelegt, die Anzeige zurückgezogen und nicht weiterverfolgt, weil die Frau nicht darauf besteht. Zum Glück sind wir als Organisation eine juristische Person. Das heißt, wir dürfen rechtlich gesehen, Teil einer Anzeige sein. Nur so, mit diesem Druck, gelingt es uns, dass die Beamtinnen und Beamten den Fall bearbeiten und irgendwann Ergebnisse erzielen, auch wenn sie uns erst einmal vier Stunden warten lassen.

Wie war die Situation, bevor die offiziellen Statistiken eingestellt wurden?
VA: In den 2000er Jahren traten mehrere neue Gesetze in Kraft, es gab politische Bewegungen und die staatlichen Institutionen hatten einen Weg gefunden, auf die Problematik zu antworten. Das Problem war nicht so schlimm, wie es heute ist. Die Besorgnis über die Gewalt an Frauen hat die öffentliche Politik beeinflusst. Außerdem haben die Frauen während der gesamten Bolivarischen Revolution mit Hugo Chávez sehr stark an den politischen Prozessen teilgenommen, vor allem in den Basisorganisationen. Natürlich war die Gewalt an Frauen ein Thema, aber die Frauen fühlten sich nicht so im Stich gelassen und hatten Möglichkeiten, politische Lösungen dafür zu finden, weil sie politische Protagonistinnen waren.

Seit 2014 ist die Verzweiflung aber groß. Die Jahre 2015 und 2016 waren eine Zeit der starken Brüche. Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern alle möglichen Aspekte waren betroffen: in der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Das hatte starke Rückwirkungen auf die Frauen, die am Ende die schwerste Last zu tragen hatten. Es kam zur Feminisierung der Armut. Frauen sind diejenigen, die in ihrem Zuhause direkt betroffen sind, am meisten natürlich von der Gewalt. Diese Umstände haben zu einem bedeutenden Anstieg jeglicher Formen der Gewalt geführt, sei sie symbolisch, politisch oder institutionell.

Welche Forderungen ergeben sich aus eurer „Feministischen Erklärung” in Bezug auf die aktuelle Situation?
KC: Unsere erste Forderung ist die nach offiziellen Statistiken. Die zweite Forderung bezieht sich auf rechtliche Aspekte: Wie schaffen wir es, dass die Beamtinnen und Beamten das geltende Recht umsetzen? Dafür braucht es eine Leitlinie, an die sich gehalten werden muss. Das fängt schon damit an, dass wir nicht durchgelassen werden, um Anzeige zu erstatten, wenn wir ein Kleid tragen. Wenn der Beamte an der Tür nicht mit der Kleidung der jeweiligen Frau einverstanden ist, kommt sie nicht rein und muss stattdessen zurück nach Hause, zurück zu dem Gewalttäter, der sie vielleicht umbringen wird.

Eine andere Forderung richtet sich auf die Entkriminalisierung von Schwangerschafts-abbrüchen – das ginge zum Beispiel durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklage. Wir fordern außerdem, dass die Gewaltverbrechen an Bäuerinnen, indigenen Frauen und Mieterinnen nicht als Verbrechen am Eigentum oder Land, sondern als Fälle sexualisierter Gewalt behandelt werden. Diesen Frauen widerfährt keine Gerechtigkeit angesichts solcher Taten. All diese Forderungen gehören zu einem Plan, der jetzt gestaltet werden muss. Dieser Plan muss von den Beamtinnen und Beamten dauerhaft und grundlegend angewandt werden.

Wie steht es um die Aufklärung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community?
VA: Wir begleiten diese Fälle freihand, weil es keine besonderen Richtlinien gibt. Die Verfassung verbietet jedoch im Artikel 20 und 21 jegliche Form der Diskriminierung, egal in welcher Situation. Darauf basiert unsere Arbeit, denn die Verfassung steht über allem. Fälle, in denen dagegen verstoßen wird, müssen bearbeitet oder zumindest entgegen genommen werden.

KC: Weil Venezuela noch keine Gesetze über die Geschlechtsidentität erlassen hat, sieht das Gesetz beispielsweise transmaskuline Personen als Rechtssubjekte nach ihrem biologischen Geschlecht. Wir haben mehrere solcher Fälle von Menschen betreut, die sich als Männer definieren, vom Gesetz aber als Frauen geschützt werden. Es ist ein sehr komplexes Thema. Wir müssen den Beamtinnen und Beamten erklären, dass die Person eine Frau mit männlicher Identität ist, damit diese Person nicht verletzt oder wiederum zum Opfer wird. Es ist sehr schwierig, weil es immer darum geht, wie die Person zu nennen ist und, weil es viele Vorurteile gibt. Die Betreuung von trans Menschen ist um einiges schwieriger, weil es keinen rechtlichen Rahmen für die geschlechtliche Identität gibt. Verschiedene Organisationen fordern bereits eine Gesetzesreform, tatsächlich existiert sogar schon ein Vorschlag dafür, Gewalt gegen trans Frauen in das Gesetz aufzunehmen. Bisher wird sie das nicht. Mit der Reform würden auch Morde an trans Frauen als Feminizide gezählt werden.

Gibt es Fortschritte der feministischen Bewegung in eurer Region?
KC: Wir vertrauen als feministische Bewegung darauf, dass wir die patriarchalen Formen der Politik, die bis jetzt keine Ergebnisse erzielt haben, verändern können. So lautet die Forderung der feministischen Bewegung in der ganzen Region: eine Alternative zu schaffen, die alle berücksichtigt und einer ganzen Hälfte der Bevölkerung das Recht auf Leben garantiert, was bis heute nicht beachtet wird.


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OHNE SKRUPEL UMS GANZE

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MARIANA GARCÍA, VICTORIA FURTADO Y DANIELA MASSA
sind compañeras im feministischen Kollektiv Minervas aus Montevideo. Mariana ist zudem bei der Cooperativa Comuna und Victoria beim Kommunikationskollektiv ZUR aktiv. (Foto: privat)


Mit welcher Stimmung blickt ihr dem Regierungswechsel entgegen? Wie wird sich die Situation in Uruguay verändern?
Victoria
: Für uns ist zwar klar, dass uns ein stark verändertes Szenario erwartet, das uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es auch so, dass die feministische Bewegung des Südens und auch die in Uruguay groß geworden ist, als noch progressive Regierungen an der Macht waren. Klar, das wird sich jetzt nochmal verschärfen durch die rechten und konservativen Diskurse, aber wir waren auch schon vorher auf der Straße. Der Konservatismus ist eine Art zu denken, die es nicht nur in der Rechten gibt, sondern durch die ganze Gesellschaft geht. Also gibt es etwas, das sich ändert und etwas, das bleibt.

Daniela: Die Sorgen, die wir haben, gehen eher in eine Richtung, die unseren konkreten Alltag betrifft. Es gab eine gewisse Sicherheit unter den progressiven Regierungen, nicht so sehr für die Bewegungen, aber für unseren konkreten Alltag als Frauen. Jetzt geht es um neue politische Maßnahmen, Kürzungen, die unser Leben, unsere Arbeit, Ausbildung, Wohnen und unsere Gesundheit betreffen. Das wird sich verschärfen. Es gibt eine allgemeine Anspannung mit der neuen Regierung, aber die feministische Bewegung verläuft eher außerhalb dieser konjunkturellen Veränderungen.

Wie geht ihr damit um?
V:
Wir sind wachsam – eins der Themen für den 8. März wird das Gesetz der Urgente Consideración (deutsch in etwa: Dringende Prüfung) sein, wir nehmen das in unsere politische Analyse auf. Neben den sozialen Ängsten kommt auch eine Angst vor mehr Repression gegenüber den sozialen Bewegungen auf. Aus unserer Erinnerung bedeutet die Rückkehr zur Rechten eine Rückkehr zu Regierungen, die die sozialen Bewegungen unterdrückt haben. Die Angst ist da, aber wir versuchen gemeinsam darüber zu sprechen, wie wir uns davor schützen können, ohne dass dieser Regierungswechsel uns paralysiert.

Uruguay hat ja aktuell eher den Ruf eines moderaten, fortschrittlichen Landes. Kam die Rückkehr zu einer rechten Regierung eher unerwartet oder hat sich das abgezeichnet?
Mariana: Der Vorstoß der Rechten kam nicht unerwartet. Das ist ein Prozess, dessen Kraft sich seit vielen Jahren stärker entfaltet, und nicht nur in den traditionellen rechten Kräften in Uruguay, sondern auch in neuen Gruppen, wie dem Cabildo Abierto (neu gegründete rechtsextreme Partei, Anm.d.Red.). Das war kein Überraschungseffekt, das sind Gruppen, die vorher schon latent unter der Oberfläche der Politik geschlummert haben, daher konnten sie sich auch so schnell organisieren.

D: Die Ideen, die die Rechte verkörpert, waren schon vorher in Umlauf und haben bereits einen Prozess angestoßen, in dem die institutionelle Gewalt zugenommen hat. Jetzt gibt es dafür klare Worte und konkrete Politikprogramme. Aber auch in der vorherigen Regierung der Frente Amplio hatte die Repression schon zugenommen.

V: Der Cabildo Abierto, dieser ultrakonservativste Teil der Gesellschaft, hatte schon vorher Macht im Land. Er hatte seine eigenen Organisationen im Staat und im Militär und auch verantwortungsvolle Posten in der Regierung der FA. Das einzige, was sie noch nicht hatten, war eine Partei, die man wählen konnte und jetzt haben sie die. Die Überraschung ist, dass sie in den ersten Wahlen elf Abgeordnete und drei Senatorensitze gewonnen haben, nur sechs Monate nach ihrer Gründung. Die Teile der Gesellschaft, die sie unterstützen, haben sonst die traditionellen Parteien gewählt, wie die Colorado-Partei oder die Partido Nacional. Das bedeutet, dass die traditionellen Parteien nun ihren Interessen nicht mehr genügen.

Warum koalieren die traditionellen Parteien mit der extremen Rechten?
D: Strategie. Die Partido Nacional wusste seit Mitte des Jahres durch Umfragen, dass sie alleine die Präsidentschaft nicht würde gewinnen können, die traditionellen Parteien waren zerstritten. Daher die Strategie, alle rechten Kräfte zu vereinen, das hat funktioniert und für Aufmerksamkeit gesorgt. Nach dem ersten Wahlgang hieß es: ‚Jetzt alle auf Linie und alle an Bord! Alle für die Regierung!‘ Es war sehr klar, was das Ziel war.

V: Uruguay war immer schon ein konservatives Land. In diesen Jahren der progressiven Regierungen wurde das Soziale etwas mehr in den Vordergrund gerückt. Aber weder auf der wirtschaftlichen Ebene, noch auf der kulturellen ist es zu grundlegenden Veränderungen gekommen: kein neues Wirtschaftsmodell, keine wirkliche Kulturdebatte. Die konservativen Stimmen haben immer den Diskurs bestimmt und diese Grundstimmung ist eher stärker geworden, jetzt sind sie sichtbarer. Der Feminismus ist die einzige Bewegung, die es geschafft hat, mit ein paar Dingen zu brechen und sie zu hinterfragen, im Rest der Linken ist das nicht passiert. Es gab gar nicht das Ziel, in diesen Jahren des Progressismus, irgendetwas tiefgehend zu verändern oder neue gemeinsame Werte aufzubauen, die nicht auf einer individualistischen, neoliberalen Konsumlogik basieren.

Um welche Diskurse und Ideen der konservativen Kreise geht es vor allem?
V: Typische konservative Diskurse, zum Beispiel das, was sie „Genderideologie“ nennen. Diskurse, die an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Mutter appellieren, aber auch eine unternehmerische Vorstellung von öffentlicher Verwaltung und Aussagen über die Diktatur, die gewaltsam Verschwundenen, die Menschenrechte, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Relevanz absprechen wollen. Im jetzigen Wahlkampf ging es zudem viel um das Thema Kriminalität und auch um das Versprechen von mehr Sicherheit und einer „harten Hand“.

Was hat die neue Regierung als Erstes vor?
D: Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung angekündigt hat, ist ein Paket mit dem Namen „Ley de Urgente Consideración“, das bereits Teil der Wahlkampagne war, dessen Inhalt jedoch bis vor Kurzem nicht veröffentlicht wurde. Ds Gesetz hat fast 500 Artikel, es ist ein Maßnahmenpaket, das ganz verschiedene Sachverhalte und Bereiche zugleich betrifft.

M: Dringend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dafür ein Mechanismus eingesetzt wird, mit dem diese 500 Artikel innerhalb der ersten drei Monate der Regierung verabschiedet werden, nur 45 Tage für jede Kammer des Parlaments. Die Regierung beginnt also mit einem starken Schachzug. Man könnte sich fragen, welche Dinge so dringend sein könnten, dass sie am ersten Tag der Regierung behandelt werden müssen – ganz klar ist jedoch, dass das nicht 500 Artikel sein können. Es ist auch der Versuch der Regierung, das Maßnahmenpaket direkt zu verabschieden, bevor es Brüche und Mei-nungsverschiedenheiten in der Koalition gibt. Wenn das in den nächsten Jahren passiert, sind zumindest diese Maßnahmen, die sie einst zusammengeführt haben, schon mal verabschiedet.

D: Dieses Gesetz ist eigentlich das Regierungsprogramm. Während der Wahlkampagne gab es kein konkretes Programm, nur ein paar lose Ideen. Das Gesetz behandelt Soziales und Kürzungen in Bildung, Gesundheit und Wohnen, bis hin zu Minderheitenrechten, die eigentlich gesetzlich garantiert waren… Ein Mischmasch von unzähligen Artikeln, bei denen es zumeist um Kürzungen von Ressourcen und Rechten geht.

Könnt ihr noch ein paar Beispiele dafür geben, welche Bereiche das Gesetz betrifft?
V: Die Themen sind so zahlreich, dass wir dafür eigentlich ein eigenes Interview machen müssten. Es ist aber ganz klar ein neoliberaler Vorstoß ohne Skrupel. Es geht um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Änderungen im Zugang zu Land, mehr Gewicht für die privaten Institutionen in der Bildung, um Bestimmungen, die Repression bei Demonstrationen ermöglichen, größere Macht für Geheimdienste, wobei es auch um Ermittlungen in Bezug auf die „innere Sicherheit“ geht, also z.B. für die Organisation von Demonstrationen, um Änderungen zur Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen, Änderungen in den Gesetzen, welche die Medien regulieren im Sinne unternehmerischer Interessen, und vieles mehr. Auch die designierten Minister der neuen Regierung tragen zu dem Gefühl bei, dass die neue Regierung ohne Skrupel sein wird. Viele ihrer Namen sind bekannt durch frühere Posten in anderen rechten Regierungen, durch Korruptionsanklagen, mit einer belasteten Vergangenheit. Es kommen nicht fünf lange Jahre einer langsamen Rechtsentwicklung, nein. Das ist eine Bombe. Alles wird sehr schnell gehen, es geht ums Ganze, ohne Skrupel. Für uns in den sozialen Organisationen bedeutet das, dass wir alle Kampagnen gegen das Gesetz auffahren müssen. Das zerstreut unsere Energien, weil es so viele Themen berührt – es macht viele Fronten gleichzeitig auf. Ich glaube, das ist auch intendiert.

Was wollt ihr jetzt dagegen tun? Der 8. März wird ja die erste große Demo unter der neuen Regierung sein…
D: Es gab die Idee, die Route der Demo zu ändern und zur Torre Ejecutiva, dem Präsidentensitz, zu laufen, aber wir haben uns entschieden, die gleiche Route wie immer zu machen.

V: Das hat damit zu tun, dass unsere Forderungen nicht nur an die Präsidentschaft gerichtet sind, sondern an die gesamte Gesellschaft, es geht um das gesamte System. Das Patriarchat drückt sich ja nicht nur in der Regierung aus, deswegen war uns wichtig, jetzt ganz explizit die Route beizubehalten, um damit einer Perspektive Ausdruck zu geben, die über die Forderungen an den Staat hinausgeht. Wir blenden natürlich nicht aus, dass der Staat eine Rolle spielt, und dass es jetzt eine rechte Regierung gibt, aber jenseits davon geht es uns auch darum, dass wir selbst Dinge aufbauen und uns nicht nur etwas entgegenstellen. Daher auch das Festhalten an der Route. Wir wollen nicht alle Forderungen der Bewegung an die Präsident- schaft richten. Die Bewegung ist viel mehr als das, in dem, was sie anklagt und auch in dem, was sie erschafft.


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„DAS SCHWEIGEN IST FATAL“

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SANDRA PALESTRO CONTRERAS
ist Soziologin, feministische Aktivistin und seit zehn Jahren Teil der nationalen Koordination des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen (Red Chilena contra la Violencia hacia las Mujeres) (Foto: Alea Rentmeister)


Warum zielt die Bestrafung des Patriarchats für die politische Partizipation von Frauen* auf ihre Sexualität ab?
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass du so deine Intimität verlierst. Selbst brutale Schläge vergehen mit der Zeit, verwischen in der Erinnerung. Aber die sexuelle Aggression bleibt ein Leben lang in der Erinnerung. Das liegt wohl daran, dass die Sexualität etwas sehr Intimes ist, etwas, worüber wir die Kontrolle haben möchten, von dem wir wollen, dass es nur uns gehört und nur wir darüber entscheiden.

Die Männer wissen, dass die sexualisierte Gewalt die stärkste Aggression ist, die wir Frauen erleben können und deshalb setzen sie sie als Waffe bei Verhaftungen, in Kriegen und in bewaffneten Konflikten ein. Auch, um eine Botschaft an die Männer der Gruppe, zu der die Frauen gehören, zu senden: In Kriegen und Konflikten werden Frauen wie Beute behandelt.

Sie wurden während der Pinochet-Diktatur inhaftiert und haben politische sexualisierte Gewalt erfahren. Wie haben Sie es geschafft, aus der Position des Opfers herauszukommen und eine Kämpferin zu bleiben?
Das war sehr schwierig. Ich wurde im Oktober 1973, fast direkt nach dem Putsch, für einen Monat lang im Nationalstadion gefangen gehalten. Das war brutal. Mein Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher, ich kann mich davon nicht mehr erholen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich wieder aufzubauen. 14 Jahre lang habe ich niemandem erzählt, was passiert ist.

Dann bin ich zum Psychiater gegangen, weil ich körperliche Symptome hatte: Etwas drückte auf meinen Kopf, ich litt unter Schlaflosigkeit. Ich war drei Jahre lang in Therapie und als es mir endlich gelang, das freizugeben, was mein Gehirn mir nicht zeigen wollte, habe ich die Überlebensphase begonnen.

Den Aktivismus haben Sie dennoch nie aufgegeben…
Während der 14 Jahre habe ich habe mich bis zur Erschöpfung in den Aktivismus gestürzt. Ich war zehn Jahre im Exil, 1983 kam ich zurück nach Chile. Ich habe mich mit allem in die Proteste gegen die Diktatur eingebracht und mich nicht um mich gekümmert. Erst später habe ich gemerkt, dass mir mein Aktivismus dazu diente, nicht darüber nachzudenken, was ich erlebt hatte. Ich habe auch verstanden, dass sie mich, wenn ich nicht mit dem Aktivismus weitermachen würde, tatsächlich besiegen würden.

Deshalb habe ich trotz allem, trotz der Angst, weiter in Chile gekämpft. Erst 30 Jahre nach dem Putsch, als ich im Abschlussbericht der Wahrheitskommission Valech die Zeugenaussagen der Frauen gelesen habe, habe ich verstanden: Das ist uns allen passiert. Das Ungeheure daran war das jahrelange Schweigen der Frauen darüber.

Woher kommt dieses Schweigen?
Frauen erzählen nicht. Freundinnen von mir, die auch während der Diktatur inhaftiert waren, haben bis heute nie erzählt, was sie erlebt haben. Ich denke, das hat viel mit der Sozialisierung von Frauen und der androzentrischen Kultur zu tun. Wir stellen uns selbst immer hinten an. Als ich den Valech-Bericht gelesen habe, habe ich das deutlich gespürt:

Viele von uns dachten, dass das, was uns passiert war, weniger wichtig war als die gewaltsam Verschwundenen und Hingerichteten. Wir haben also nie über die Folter und die sexualisierte Gewalt gesprochen, weil es noch Schlimmeres gab.

Frauen werden zum Muttersein sozialisiert, zur Fürsorge für die anderen. Ihnen wird ansozialisiert, dafür zu sorgen, dass die eigenen Kinder oder die Nichten und Neffen nicht erfahren, dass es diese Grausamkeiten gibt. Das ist Teil der patriarchalen Kultur. Aber wenn Frauen nicht reden und die Gewalt nicht thematisieren, dann tut sich nichts, dann bleibt sie verborgen.

Es ist so schwer darüber zu reden, es zu sagen. Aber das Schweigen ist in jeder Hinsicht fatal. Wir müssen reden, wir müssen aussprechen, was mit uns geschieht. Wir müssen keine Schuld oder Scham empfinden, nicht wir sind dafür verantwortlich, sondern andere.

Halten Sie es für wichtig, die Erinnerung an politische sexualisierte Gewalt während der Diktatur mit dem Kampf gegen die heutige zu verbinden?
Ich glaube, es ist besser, die politische sexualisierte Gewalt als ein Kontinuum zu denken. Denn es gibt eine Tendenz, zu vergleichen und dann zu sagen, dass wir uns jetzt auch in einer Diktatur befinden. Ich glaube aber, dass sich die Gesellschaft seit der Diktatur bis heute sehr verändert hat. Die Diktatur dauerte 17 Jahre und hat nichts respektiert, es gab nicht eine funktionierende Institution. Es gab keinerlei Volksvertretung, selbst Klagen wurden vom Obersten Gerichtshof abgewiesen, niemand hat uns verteidigt.

Jetzt haben wir die Möglichkeit, uns zu äußern, anzuklagen, zu fordern, es gibt das Nationale Institut für Menschenrechte, es gibt internationale Beobachter. Durch die Technik gibt es heute die Möglichkeit, zu filmen und Beweise zu liefern. Ich glaube, die Aggressionen sind nicht miteinander vergleichbar, aber sie haben den gleichen Inhalt: Sie sollen Frauen eintrichtern, dass ihnen der öffentliche Raum, der Raum für Protest und Anklage, nicht zusteht. Dass ihr Raum im Haus ist, wo sie sich um die Kinder kümmern sollen.

Sie sind sind Teil des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen. Wie bekämpfen das Netzwerk und andere feministische Organisationen diese Form der Gewalt?
Wir können die Gewalt nicht verhindern, weil es nicht in unserer Hand liegt, die Polizei zu beeinflussen. Aber wir können den Frauen sagen, wie sie sich verteidigen, wie sie sich schützen und wie sie sich selbst bestärken können. In den letzten Jahrzehnten hat der Feminismus in Chile einen enormen Aufschwung erlebt. Zuletzt haben die feministischen Uni-Besetzungen 2018 und das Ausmaß der Demonstrationen und Streiks am 8. März 2019 ganz Chile überrascht. Und was man bei den jetzigen Protesten am häufigsten sieht, sind die grünen Tücher der Feministinnen und Mapuche-Flaggen.

Es macht sich ein Wandel in der Gesellschaft bemerkbar: Frauen nehmen jetzt als Frauen Teil, sie sind Feministinnen, sie demonstrieren und wissen, wofür sie dabei kämpfen. Das ist ein Wandel, den vor allem wir Feministinnen über Jahre hinweg bewirkt haben. Wir können zwar nicht direkt auf die Institutionen einwirken, aber wir beeinflussen die Gesellschaft und die Kultur.

Die Regierung reagiert auf die aktuellen Proteste wieder mit Repression und Menschenrechtsverletzungen. Wie gehen Sie damit um?
Die ersten Tage der Proteste, als die Regierung das Militär auf die Straßen schickte, waren ein Schock für mich. Ich hatte eine schreckliche Angst um die jungen Leute, die die Erfahrung der Diktatur nicht gemacht haben und waghalsiger sind. Sie blieben trotz der Sperrstunde draußen und ich hatte Angst, dass die Militärs sie töten würden.

Diese Tage waren sehr hart. Die Systematik der politischen sexualisierten Gewalt und der Augenverstümmelungen. Das alles wieder? Mir kam die Grausamkeit in den Sinn, die ich damals im Stadion erlebt habe: eine unverständliche und unbekannte Grausamkeit. Wir waren damals sehr jung, ich war 22 Jahre alt. Eine solche Grausamkeit kannten wir nicht. Ich habe über all die Jahre der Demokratie nachgedacht, in denen versucht wurde, die Parole „nie wieder“ zu verbreiten.

Und jetzt: wieder diese Grausamkeit, wieder diese Gewalt. Das macht mich ein bisschen hoffnungslos. Es ist, als ob die Geschichte sich im Kreis drehen würde. Es dient mir aber auch dazu, den Kampf fortzusetzen, nachzudenken und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen darüber zu sprechen.

Welchen Einfluss hat die politische sexualisierte Gewalt auf die aktuellen Proteste?
Mich besorgt, dass wir Demonstrant*innen durch die politische sexualisierte Gewalt oder die Verstümmelung von Menschen eine immer defensivere Haltung einnehmen. Der Fokus hat sich verschoben, es geht jetzt nicht mehr um unsere sozialpolitischen Forderungen – wie ein besseres Renten- und Gesundheitssystem, eine nicht-sexistische Erziehung und so weiter – sondern vor allem um Menschenrechte, um Strafanzeigen und Anklagen. Wir verlieren also.

Wir waren Kämpferinnen gegen ein schikanierendes System und werden nun durch die Repression zu Opfern, das ist sehr beunruhigend. Das ist ein Konflikt, in dem die Regierung an Boden gewinnt. Ich denke, die Menschen, die gestorben sind oder verstümmelt wurden, müssen uns dazu motivieren, weiter für die Anliegen zu kämpfen, die die Protestbewegung ausgelöst haben.


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„NIEMAND WIRD FÜR DICH KÄMPFEN, AUSSER UNS”

Gerechtigkeit Demonstrierende fordern, dass der Mord an Isabel Cabanillas de la Torre aufgearbeitet wird (Foto: Favia Lucero / YoCiudadano)

Im Januar habt ihr zu Aktionen auf der mexikanisch-US-amerikanischen Grenzbrücke aufgerufen. Ihr habt einen der am stärksten bewachten Grenzübergänge weltweit für mehrere Stunden besetzt, um auf den Feminizid an eurer Freundin Isabel Cabanillas und allen ermordeten Frauen aufmerksam zu machen. Wie fühlt sich das an?
Wir waren so wütend, dass wir angekündigt haben, alles niederzubrennen. Das haben viele wörtlich verstanden. Als wir auf die Brücke gelaufen sind, sahen wir schon die Barrikaden auf der US-amerikanischen Seite mit elektrischen Drahtkonstruktionen. Das hatte etwas Apokalyptisches. Begleitet von unserer Wut und ein paar unabhängigen Journalistinnen, hatte man das Gefühl, dass die ganze Welt auf uns schaut. Die Stimme, die wir gemeinsam erhoben haben und die Beiträge, die zweisprachig vorgelesen wurden, waren Teil der Aktion an diesem starken Ort. Juárez als Grenzstadt mit Texas auf der anderen Seite hat eine lange Geschichte, die geprägt ist von schrecklicher Gewalt gegen Frauen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade einschlägt. Diese Nachricht bleibt nicht unbeachtet. Es war auf eine Art kathartisch. Während der Demo haben wir viel Kraft und Wut gespürt. Wir wollen eine schnelle Aufklärung und transparente Ermittlungen. Dabei sind wir uns aber auch bewusst, dass die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist und mit uns auf der Straße steht. Wir werden keinen Schritt zurück gehen: Solange es keine Aufklärung gibt, gehen wir weiter auf die Straße.

Wie schützt ihr euch gegen die Gewalt in Juárez?
Die Situation in Mexiko ist sehr schlimm. Es ist sehr schmerzhaft zu ertragen, was mit Isabel passiert ist, weil sie uns sehr nahe stand. Aber genau wie uns Isabel schmerzt, schmerzt uns auch das Mädchen, dem die Organe geraubt wurden. Uns schmerzt auch das zwölfjährige Mädchen, das vergewaltigt wurde. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, erinnern wir uns daran, wie wichtig Sicherheitsprotokolle für uns sind, präventives Handeln, Netzwerke und so weiter. Manchmal passiert es dann doch, dass wir fahrlässig sind. Dabei müssen wir ständig aufpassen. Kürzlich haben wir uns wieder mit ein paar Frauen getroffen und über vorbeugende Mechanismen gesprochen, über Gruppen, um uns gegenseitig zu schützen.

Wir sind in einer sehr verwundbaren Position. Daher ist es ganz konkret wichtig zu wissen, wer sich gerade wo aufhält, dass man weiß, die Freundin nimmt diesen oder jenen Bus. Man holt sich gegenseitig ab oder trifft sich an bestimmten Orten. Das bedeutet allerdings auch, dass man Ressourcen braucht. Es braucht bestimmte Ressourcen, um sich gegenseitig begleiten zu können. Wenn das nicht geht, gibt es nicht viel. Das bringt vor allem Arbeiterinnen und Studentinnen in sehr vulnerable Situationen, weil sie häufig vereinzelter leben.

Es wird kurz unruhig, das Skype-Gespräch wird von einer der „Hijas“ unterbrochen: „Unsere Nachbarin hat gerade erzählt, dass vor zehn Minuten nur zwei Straßen von hier eine Frau erschossen wurde. Ihr wurde in den Kopf geschossen und der Täter wird gerade gesucht. Deswegen hörst du vielleicht die Sirenen der Polizei im Hintergrund. Das nur am Rande. Du kannst das ja in deinem Interview erwähnen, dass während wir hier über Feminizide sprechen zwei Straßen weiter eine Frau ermordet wird.“ Später stellt sich heraus, dass die Radiojournalistin Teresa Aracely Alcocer getötet wurde. Das Kollektiv entscheidet, das Gespräch weiterzuführen. Es nütze nichts, sich davon einschüchtern zu lassen. Es sei ein Krieg niederer Intensität. „Es fallen keine Bomben, die Gebäude stehen noch, die Leute gehen zur Arbeit und in die Schule. Aber jeden Tag gibt es so viel Gewalt, gibt es Morde, gibt es Feminizide.“

Euer Kollektiv heißt „Töchter von Fabrikarbeiterinnen“. Wie habt ihr euch gegründet und wie kam es zu diesem Namen?
Wir haben uns zunächst „Feministische Initiative“ genannt. Damals haben Mütter von gewaltsam verschwundenen und ermordeten Frauen eine Karawane in die Landeshauptstadt Chihuahua organisiert, die wir unterstützt haben, um den Müttern zur Seite zu stehen, die ihre Töchter verloren hatten. Bei dieser Aktion haben wir festgestellt, dass die Mütter einiger aus der Gruppe selbst in den Weltmarktfabriken (den sogenannten Maquilas, Anm. d. Red.) wie sie hier typisch für die Grenzregion sind, arbeiten oder gearbeitet haben.

In den Grenzgebieten funktionieren Wirtschaft und Handel immer in Bezug auf die Grenzpolitik. Man rechnet mit billiger Arbeitskraft von Migrantinnen und anderen Personen, die aus allen Teilen unseres Landes dorthin gekommen sind und unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten und leben. Die große Mehrheit der Angestellten sind Frauen. Die Unternehmen setzen die Arbeiter*innen einer zunehmenden Prekarität aus, um zu sehen, wie weit sie noch gehen können. Diese Situation trifft auf Gewalt, Drogenhandel, Machismo und Militarisierung und schwächt das soziale Gefüge.

Das heißt ihr seht eine Verbindung zwischen der Ausbeutung in den Weltmarktfabriken und sexualisierter Gewalt?
Genau, weil die Maquilas vor allem Frauen einstellen. Wir leben in einem relativ großen Bundesstaat. Die Bevölkerung fluktuiert stark, deswegen gibt es keine Stabilität und keine Organisation. Die Menschen kommen bereits prekarisiert hier an, wollen arbeiten und etwas zum Leben haben, ihr eigenes Haus und so weiter. Aber viele gehen wieder zurück. Wenn du alle Ressourcen eines Ortes ausschöpfen willst, kommt es dir recht, dass die Leute sich nicht organisieren können, zum Beispiel, weil sie von den langen Arbeitstagen erschöpft sind, weil sie keine finanziellen Mittel und keinen guten Zugang zu Bildung haben. Das kommt den Unternehmen, zum Beispiel den ausbeuterischen Leinenfabriken oder den Frackingfirmen, zu Gute.

Wie arbeitet ihr als Kollektiv und was unternehmt ihr dagegen?
Wir organisieren uns in asambleas (Versammlungen) und arbeiten horizontal. Grundlegend gehen wir davon aus, dass jede von uns jeweils unterschiedliche Feminismen für sich beansprucht. Was uns darin eint, sind Kämpfe für die Rechte von Frauen, für die Rechte von lesbischen, bisexuellen Menschen. Wir arbeiten mit dem Projekt migrantischer trans Frauen Respetttrans zusammen. Wir haben immer wieder unterschiedliche Projekte, das können auch Kleinigkeiten sein, bei denen wir uns gegenseitig helfen.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste und Aktionen, die eine enorme Wut sichtbar gemacht haben. Wie schafft ihr es, diese Wut und den Schmerz in produktive Kraft umzuwandeln?
Wir glauben, die Wut lässt sich nur umwandeln, wenn es mit anderen Frauen zusammen passiert. Das ist die Kraft der Frauen: Keine kämpft allein. Die Gemeinschaft öffnet sich für dich, bekräftigt dich. Und dann fühlst du dich sicher und sagst: „Na los, ich bin nicht allein!“ In Mexiko ist ein Leben nichts wert. Egal von wem, weil sie Männer töten, weil sie Frauen töten, weil sie Kinder töten. Das sind Leben, die nichts wert sind. Das Leben von Menschen kümmert niemanden. Vielmehr zählt alles, was die Infrastruktur und ähnliches betrifft. In Mexiko kümmert es niemanden, wenn sie eine Frau umbringen. Niemand wird für dich kämpfen, außer uns. Und es gibt keine Gerechtigkeit. Wir suchen sie, aber es gibt sie einfach nicht. Natürlich fordern wir sie ein, aber es sind so wenige Fälle, die überhaupt vor Gericht kommen. Es gibt keine Aufarbeitung der Verbrechen, die Institutionen funktionieren nicht und tun nichts. Deswegen müssen wir vieles selbst machen. Wie unseren Aufruf, alles niederzubrennen.

Seid ihr in Kontakt mit anderen Kollektiven aus Mexiko oder in anderen Ländern?
Ja, wir haben Verbindungen zu Gruppen in Deutschland, mit einigen Frauen aus den USA, mit Kollektiven in Mexiko-Stadt und aus ganz Mexiko oder zum Beispiel mit einem lesbischen Kollektiv namens Radio HumedaLes aus Chile. Es ist vielleicht keine regelmäßige oder beständige Zusammenarbeit, aber wir wissen, dass wir ihnen vertrauen können und, dass sie da sind und uns helfen, wenn wir darum bitten. Und so sind wir alle als Kollektive verbunden.

Was erwartet ihr von der internationalen Berichterstattung und den feministischen Bewegungen in anderen Ländern?
Zuerst einmal, dass sie ein Medium für uns sind. Dass sie uns unterstützen und unsere Informationen verbreiten. Viele wissen zum Beispiel nicht einmal, wo Ciudad Juárez ist. Dass es ähnliche Probleme in Tijuana gibt, dass es ähnliche Situationen sind wegen der Grenze.

Wir wollen, dass alle Welt davon hört. In einem bestimmten Maß hilft uns die Berichterstattung, Druck aufzubauen und unsere Anliegen zu verbreiten. Dass internationale Institutionen verfolgen, was passiert und darüber berichten, ist wichtig. Denn es passiert schon so lange, ohne dass sich etwas ändert. Es war nicht nur Isabel, sondern es sind immer mehr Frauen, die in Mexiko getötet werden. Wichtig ist, diese Dinge sichtbar zu machen: Dass wir immer noch keine Gerechtigkeit haben und dass es weiter Feminizide gibt.


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„SIE ERMORDEN UNS WEITERHIN“

Sicherer Raum Zapatistische Frauen verteidigen ihr Treffen demonstrativ mit Bögen und Stöcken (Foto: Aline Juárez Contreras)

„Sie sagen, dass es Geschlechtergleichheit gibt, denn in den schlechten Regierungen gibt es gleichermaßen Männer wie Frauen, die herrschen, aber sie ermorden uns weiterhin. Mit mehr Brutalität, mit mehr Bösartigkeit, Wut, Neid und Hass. Und das immer ungestörter.“ Mit diesen Worten begannen die zapatistischen Frauen das Zweite Internationale Treffen der Frauen, die kämpfen, wie es übersetzt heißt. Teilnehmerinnen aus 50 Ländern kamen vom 26. bis 29. Dezember vergangenen Jahres ins Caracol Morelia, ein politisches Verwaltungszentrum der Zapatistas in den Bergen des südöstlichen mexikanischen Bundesstaates Chiapas.

Die einleitenden Worte zeigten den Widerspruch auf, der in Mexiko und allen Teilen der Welt zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frau und Mann besteht. Denn natürlich gibt es vielerorts Fortschritte in den Gesetzgebungen und verschiedenste Initiativen für die Gleichstellung der Geschlechter. Gleichzeitig steigt aber die Zahl der gegen Frauen begangenen Gewalttaten unaufhörlich an. Besonders verheerend ist ihre Situation in Mexiko. Von Januar bis Dezember 2019 wurden in dem mittelamerikanischen Land 3.426 vorsätzliche Tötungsdelikte an Frauen registriert. Nur 890 (25 Prozent) werden als Femizide untersucht, obwohl verschiedene Frauen- und Menschenrechtsorganisationen darauf hinweisen, dass viele dieser Taten mit großer Brutalität und unter Anwendung von sexueller und körperlicher Folter begangen worden sind.

Besonders klar wurde auf dem Kongress, dass auch die Haltung der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Gleichgültigkeit und der Normalisierung des Problems zu der jetzigen Situation von Straflosigkeit und Ungerechtigkeit beigetragen hat.Trotz alledem hat die mexikanische Regierung bisher keinen konkreten Aktionsplan zum Thema vorgelegt. Zwar gibt es unzählige Beschwörungen von offizieller Seite, das Problem anzugehen und Mechanismen wie den Alarm zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen (AVGM). Dieser Mechanismus existiert seit 2007 und kommt in den Regionen zum Einsatz, die zu Brennpunkten der Gewalt gegen Frauen geworden sind. Doch bisher hat der AVGM keinerlei Wirksamkeit gezeigt. Vor allem, da es nach der Auslösung des Alarms zu häufig bei der Erstellung von Berichten und Stellungnahmen von Expert*innen bleibt, während die dann vorgeschlagenen Maßnahmen kaum umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die zuständigen Sicherheitskräfte zumeist Teil des Problems sind und es an öffentlichen Stellen mangelt, die mit entsprechenden Kompetenzen für eine effektive Bekämpfung des Problems ausgestattet sind.

Drei Tage feministische Utopie

Und so ist auch die statistische Erfassung von Femiziden und anderen Gewalttaten gegen Frauen von Unklarheiten geprägt. Bundesstaaten wie Guanajuato, Baja California und Veracruz melden Morde an Frauen nicht als Femizide, sondern lediglich als vorsätzliche Tötungsdelikte. Ein weiterer Mechanismus, den die Behörden zur Verschleierung der Zahlen nutzen, ist die Tarnung des Mordes an Frauen als Selbstmord. Mütter von ermordeten Frauen erzählten, wie die Leichen ihrer Töchter auf der Straße oder in Häusern mit Anzeichen von Gewalt gefunden wurden, und doch heißt es im forensischen Bericht: Selbstmord.

Besonders betroffen von der täglichen Gewalt sind indigene Frauen. Bislang gibt es keine Angaben darüber, wie viele indigene Frauen verschwinden, getötet oder vergewaltigt werden. In den meisten Fällen wird der Mord, die Vergewaltigung oder das Verschwinden staatlichen Stellen gegenüber nicht gemeldet, da die Staatsanwaltschaften meilenweit von den Gemeinden entfernt sind und es keinen Übersetzungsdienst gibt, der den indigenen Frauen eine effektive Geltendmachung ihrer Rechte ermöglicht. Der Zugang zur Justiz ist im mexikanischen Staat eng mit dem sozialen Status und der ethnischen Zugehörigkeit verbunden.

Doch der Raum, den die zapatistischen Frauen auf dem Treffen eröffneten, machte keinen Unterschied zwischen Herkunft und sozialer Klasse. Und so nahmen auch indigene Frauen, persönlich oder im Kollektiv, das für alle offene Mikrofon in die Hand, um von der Gewalt zu berichten, die sie erleiden. Sie sagten, dass sie für ein Leben kämpfen, in dem keine Mädchen mehr verkauft oder zur Heirat und zum Kinderkriegen gezwungen werden. Ein Leben, in dem sie nicht geschlagen oder von ihren Ehemännern straffrei missbraucht werden können. Dabei erzählten sie auch von den Organisierungsprozessen, die sie in ihren Dörfern begonnen haben, um ihre Situation zu ändern.

Viele betonten, dass der zapatistische Aufstand vom 1. Januar 1994 eine tiefgreifende Veränderung für sie bedeutete, da sie sahen, wie auch Frauen zu den Waffen griffen und Seite an Seite mit den Männern für ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung kämpften. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der verschiedenen feministischen Kämpfe sehr unterschiedlich sind. Trotzdem war die Vernetzung und der Austausch zwischen den Teilnehmerinnen ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen Prozesses, der bereits im März 2018 mit dem ersten zapatistischen Frauentreffen begonnen hatte.

Zum Abschluss erzählten die Zapatistinnen, dass es in ihren Territorien im Laufe des letzten Jahres keinen Femizid gegeben hatte. Und tatsächlich war es den zapatistischen Frauen gelungen, einen sicheren Ort inmitten der Gewalt zu schaffen. Immer wieder waren im Laufe des Frauentreffens Stimmen zu hören, die sagten, dass sie sich noch nie so sicher gefühlt haben wie in dem Caracol „Huellas del caminar de la Comandanta Ramona“, das für drei Tage zu einer konkreten feministischen Utopie wurde.

Es waren die zapatistischen Kämpferinnen, die mit ihren Bögen und Stöcken einen sicheren Raum für Denunziation, Kunst und Organisation boten, an dem sich mehr als viertausend Frauen beteiligten. Etwas, das die mexikanischen Regierungen seit 17 Jahren mit Militär, Polizei und ihren großkalibrigen Waffen in den meisten Teilen des Landes nicht schaffen.


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