„DIE PATRIARCHALEN FORMEN DER POLITIK MIT DRUCK VERÄNDERN“

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Victoria Alen und Karina Chacón sind Teil von Tinta Violeta. Das Kollektiv wurde 2012 gegründet und setzt sich vor allem für die Verteidigung von Frauen ein. Die Mitglieder begleiten Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind – juristisch und emotional. Insbesondere will die Gruppe die Aufmerksamkeit auf die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community lenken. Die Aktivist*innen versuchen den Machismo aber auch mit künstlerischem Ausdruck zu überwinden: Ihr Projekt Amada nutzt kreative Workshops zu Poesie, Tanz und Theater, um der feministischen Bewegung innerhalb der venezolanischen Kultur neue Impulse zu geben. Tinta Violeta gehört zu La Araña Feminista, einem Netzwerk sozialistischer feministischer Kollektive in Venezuela.
(Foto: Maye Josefina)


Wieso habt ihr den feministischen Notstand für Venezuela ausgerufen?
Victoria Alen: In der zweiten Hälfte des letzten Jahres hat unsere Mitstreiterin, die Anthropologin und Feministin Aimee Zambrano, über den sogenannten Feminizid-Monitor die Zahlen der Feminizide in Venezuela für 2019 vorgelegt. Es waren 167 Fälle – eine Zahl, die uns schockiert hat. Wir haben außerdem gemerkt, wie sehr sich Frauen von Gesetzen und staatlichen Institutionen im Stich gelassen fühlen. Seit 2015 hatte es keine offiziellen Angaben zu Feminiziden mehr gegeben, damals waren es 121 Fälle. Das heißt, in den vier Jahren bis 2019 hat sich die Zahl der Feminizide um 38 Prozent erhöht. Nach dieser Erkenntnis haben wir uns mit anderen Kollektiven zusammengetan und beschlossen, eine Art Bündnis zu schaffen. Dieses vereint Gruppen etwa aus dem sozialistischen Netzwerk La Araña Feminista und andere Organisationen, die ebenso wichtige Arbeit machen.

Wir bemühen uns, über ideologische Haltungen hinauszugehen. Nicht alle Kollektive  vertreten eine klar sozialistische Ideologie, arbeiten aber nach ähnlichen feministischen Grundsätzen wie wir. Unser öffentliches Statement unter dem Namen „Feministische Erklärung” war eine sehr spontane Sache, um den Staat und die landesweiten Institutionen unter Druck zu setzen. Danach haben wir uns für eine Pressekonferenz entschieden, um den feministischen Notstand auszurufen. Für uns war dieser Schritt nötig, weil es eine ernstzunehmende Problematik ist, die bisher missachtet worden ist.

 Welche Aktionen sieht eure „Feministische Erklärung” vor, um den Staat unter Druck zu setzen?
Karina Chacón: Die erste Aktion fand bereits am 25. November statt, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Zu diesem Anlass erstellten wir unsere erste Pressemitteilung und brachten diese zum Obersten Gerichtshof, also dem leitenden juristischen Organ in Venezuela. Der rechtliche Rahmen hier gilt  in Genderfragen zwar als einer der fortschrittlichsten in der Region, wenn es um die Formulierungen und das, was berücksichtigt wird, geht. Aber für viele wichtige Gesetze gibt es nicht einmal genaue rechtliche Bestimmungen. Das heißt, wenn man die Anwendung der Gesetze untersucht, stößt man auf sehr schlechte Ergebnisse.

Habt ihr mit der Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof etwas erreicht?
VA: Nun gut, wir haben Maikel Moreno, den Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, dazu gebracht, unmittelbar während unseres Protests nach draußen zu kommen und mit uns zu sprechen. Wir wollten ein Gespräch mit den Institutionen und den verschiedenen Kollektiven vor Ort einleiten. Im Nachhinein hat es Arbeitsgruppen mit verschiedenen Vorsätzen gegeben, es gab drei Treffen, aber es wurde nie etwas erreicht. Es blieb in einem unverbindlichen Rahmen und die Treffen brachten aus verschiedenen Gründen nie Ergebnisse.

Ich weiß nicht, ob es an der Ineffizienz, der Apathie oder den fehlenden Mitteln bzw. der Infrastruktur der Institutionen liegt, jedenfalls kamen wir zu nichts. Tatsächlich hatte Moreno sich am 25. November zu dem Vorhaben verpflichtet, dass es am 8. März bereits etwas Konkretes geben sollte. Der 8. März kam und ging und es ist absolut nichts passiert.

Am Internationalen Frauentag, dem 8. März, habt ihr eine unabhängige Protestaktion veranstaltet…
KC: Wir haben eine Aktion geschaffen, mit der wir uns alle identifizieren konnten, obwohl es innerhalb des Bündnisses sehr unterschiedliche Gedanken und ideologische Strömungen gab. Wir sind uns aber einig über den feministischen Notstand und unsere Forderung nach Gerechtigkeit für alle Frauen. Wir haben mehr als 100 Personen versammelt. Das ist für eine spontane Aktion im kleinen Raum, die unabhängig von Parteistrukturen und offiziellen oder traditionell oppositionellen Institutionen organisiert wurde, gar nicht so wenig und ein erster Erfolg.

Unser wichtigstes Vorhaben ist es, wieder Räume zu schaffen, in denen es eine offene Debatte geben kann, in denen wir uns zuhören und durch die wir Frauenrechte durchsetzen können. So können wir auch Vertrauen schaffen. Eines der Dinge, die wir in der politischen Aktion und ihren Räumen in Venezuela verloren haben, ist die notwendige Diskussion oder Gegenüberstellung auch von politisch abweichenden oder gegensätzlichen Meinungen.

Wie steht es aktuell um Feminizide in Venezuela?
KC: Wir zählen heute 67 Tage in diesem Jahr und – laut dem Feminizid-Monitor von Aimee Zambrano – 51 Feminizide. Das ist eine Zahl, die uns alarmiert. Nehmen wir zum Vergleich unsere spanischen Mitstreiterinnen, die auch den feministischen Notstand erklärt haben: In Spanien waren es in diesem Jahr laut offiziellen Angaben 14 bis 16 Feminizide – und dort leben deutlich mehr Menschen als in Venezuela.

Gibt es irgendeinen Weg, Gerechtigkeit für diese Verbrechen zu schaffen?
KC: Im Allgemeinen gehört es nicht zur venezolanischen Kultur, Verbrechen zur Anzeige zu bringen. Wenn eine Frau, die Gewalt erfährt oder erfahren hat, zu Tinta Violeta kommt, ist unser erster Schritt, ihr zur vermitteln, dass sie nicht allein ist und sie von einer Anzeige zu überzeugen. Wenn Frauen aber allein zur Polizei gehen und eine Gewalttat anzeigen wollen, werden sie von den Beamtinnen und Beamten dort wiederum zum Opfer gemacht. Das bringt viele dazu, eher von einer Anzeige abzusehen. Der Fall wird auf Eis gelegt, die Anzeige zurückgezogen und nicht weiterverfolgt, weil die Frau nicht darauf besteht. Zum Glück sind wir als Organisation eine juristische Person. Das heißt, wir dürfen rechtlich gesehen, Teil einer Anzeige sein. Nur so, mit diesem Druck, gelingt es uns, dass die Beamtinnen und Beamten den Fall bearbeiten und irgendwann Ergebnisse erzielen, auch wenn sie uns erst einmal vier Stunden warten lassen.

Wie war die Situation, bevor die offiziellen Statistiken eingestellt wurden?
VA: In den 2000er Jahren traten mehrere neue Gesetze in Kraft, es gab politische Bewegungen und die staatlichen Institutionen hatten einen Weg gefunden, auf die Problematik zu antworten. Das Problem war nicht so schlimm, wie es heute ist. Die Besorgnis über die Gewalt an Frauen hat die öffentliche Politik beeinflusst. Außerdem haben die Frauen während der gesamten Bolivarischen Revolution mit Hugo Chávez sehr stark an den politischen Prozessen teilgenommen, vor allem in den Basisorganisationen. Natürlich war die Gewalt an Frauen ein Thema, aber die Frauen fühlten sich nicht so im Stich gelassen und hatten Möglichkeiten, politische Lösungen dafür zu finden, weil sie politische Protagonistinnen waren.

Seit 2014 ist die Verzweiflung aber groß. Die Jahre 2015 und 2016 waren eine Zeit der starken Brüche. Nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern alle möglichen Aspekte waren betroffen: in der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Das hatte starke Rückwirkungen auf die Frauen, die am Ende die schwerste Last zu tragen hatten. Es kam zur Feminisierung der Armut. Frauen sind diejenigen, die in ihrem Zuhause direkt betroffen sind, am meisten natürlich von der Gewalt. Diese Umstände haben zu einem bedeutenden Anstieg jeglicher Formen der Gewalt geführt, sei sie symbolisch, politisch oder institutionell.

Welche Forderungen ergeben sich aus eurer „Feministischen Erklärung” in Bezug auf die aktuelle Situation?
KC: Unsere erste Forderung ist die nach offiziellen Statistiken. Die zweite Forderung bezieht sich auf rechtliche Aspekte: Wie schaffen wir es, dass die Beamtinnen und Beamten das geltende Recht umsetzen? Dafür braucht es eine Leitlinie, an die sich gehalten werden muss. Das fängt schon damit an, dass wir nicht durchgelassen werden, um Anzeige zu erstatten, wenn wir ein Kleid tragen. Wenn der Beamte an der Tür nicht mit der Kleidung der jeweiligen Frau einverstanden ist, kommt sie nicht rein und muss stattdessen zurück nach Hause, zurück zu dem Gewalttäter, der sie vielleicht umbringen wird.

Eine andere Forderung richtet sich auf die Entkriminalisierung von Schwangerschafts-abbrüchen – das ginge zum Beispiel durch die Zulassung einer Nichtigkeitsklage. Wir fordern außerdem, dass die Gewaltverbrechen an Bäuerinnen, indigenen Frauen und Mieterinnen nicht als Verbrechen am Eigentum oder Land, sondern als Fälle sexualisierter Gewalt behandelt werden. Diesen Frauen widerfährt keine Gerechtigkeit angesichts solcher Taten. All diese Forderungen gehören zu einem Plan, der jetzt gestaltet werden muss. Dieser Plan muss von den Beamtinnen und Beamten dauerhaft und grundlegend angewandt werden.

Wie steht es um die Aufklärung von Verbrechen gegen Mitglieder der LGBTQ+-Community?
VA: Wir begleiten diese Fälle freihand, weil es keine besonderen Richtlinien gibt. Die Verfassung verbietet jedoch im Artikel 20 und 21 jegliche Form der Diskriminierung, egal in welcher Situation. Darauf basiert unsere Arbeit, denn die Verfassung steht über allem. Fälle, in denen dagegen verstoßen wird, müssen bearbeitet oder zumindest entgegen genommen werden.

KC: Weil Venezuela noch keine Gesetze über die Geschlechtsidentität erlassen hat, sieht das Gesetz beispielsweise transmaskuline Personen als Rechtssubjekte nach ihrem biologischen Geschlecht. Wir haben mehrere solcher Fälle von Menschen betreut, die sich als Männer definieren, vom Gesetz aber als Frauen geschützt werden. Es ist ein sehr komplexes Thema. Wir müssen den Beamtinnen und Beamten erklären, dass die Person eine Frau mit männlicher Identität ist, damit diese Person nicht verletzt oder wiederum zum Opfer wird. Es ist sehr schwierig, weil es immer darum geht, wie die Person zu nennen ist und, weil es viele Vorurteile gibt. Die Betreuung von trans Menschen ist um einiges schwieriger, weil es keinen rechtlichen Rahmen für die geschlechtliche Identität gibt. Verschiedene Organisationen fordern bereits eine Gesetzesreform, tatsächlich existiert sogar schon ein Vorschlag dafür, Gewalt gegen trans Frauen in das Gesetz aufzunehmen. Bisher wird sie das nicht. Mit der Reform würden auch Morde an trans Frauen als Feminizide gezählt werden.

Gibt es Fortschritte der feministischen Bewegung in eurer Region?
KC: Wir vertrauen als feministische Bewegung darauf, dass wir die patriarchalen Formen der Politik, die bis jetzt keine Ergebnisse erzielt haben, verändern können. So lautet die Forderung der feministischen Bewegung in der ganzen Region: eine Alternative zu schaffen, die alle berücksichtigt und einer ganzen Hälfte der Bevölkerung das Recht auf Leben garantiert, was bis heute nicht beachtet wird.


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OHNE SKRUPEL UMS GANZE

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MARIANA GARCÍA, VICTORIA FURTADO Y DANIELA MASSA
sind compañeras im feministischen Kollektiv Minervas aus Montevideo. Mariana ist zudem bei der Cooperativa Comuna und Victoria beim Kommunikationskollektiv ZUR aktiv. (Foto: privat)


Mit welcher Stimmung blickt ihr dem Regierungswechsel entgegen? Wie wird sich die Situation in Uruguay verändern?
Victoria
: Für uns ist zwar klar, dass uns ein stark verändertes Szenario erwartet, das uns vor neue Herausforderungen stellt. Dennoch ist es auch so, dass die feministische Bewegung des Südens und auch die in Uruguay groß geworden ist, als noch progressive Regierungen an der Macht waren. Klar, das wird sich jetzt nochmal verschärfen durch die rechten und konservativen Diskurse, aber wir waren auch schon vorher auf der Straße. Der Konservatismus ist eine Art zu denken, die es nicht nur in der Rechten gibt, sondern durch die ganze Gesellschaft geht. Also gibt es etwas, das sich ändert und etwas, das bleibt.

Daniela: Die Sorgen, die wir haben, gehen eher in eine Richtung, die unseren konkreten Alltag betrifft. Es gab eine gewisse Sicherheit unter den progressiven Regierungen, nicht so sehr für die Bewegungen, aber für unseren konkreten Alltag als Frauen. Jetzt geht es um neue politische Maßnahmen, Kürzungen, die unser Leben, unsere Arbeit, Ausbildung, Wohnen und unsere Gesundheit betreffen. Das wird sich verschärfen. Es gibt eine allgemeine Anspannung mit der neuen Regierung, aber die feministische Bewegung verläuft eher außerhalb dieser konjunkturellen Veränderungen.

Wie geht ihr damit um?
V:
Wir sind wachsam – eins der Themen für den 8. März wird das Gesetz der Urgente Consideración (deutsch in etwa: Dringende Prüfung) sein, wir nehmen das in unsere politische Analyse auf. Neben den sozialen Ängsten kommt auch eine Angst vor mehr Repression gegenüber den sozialen Bewegungen auf. Aus unserer Erinnerung bedeutet die Rückkehr zur Rechten eine Rückkehr zu Regierungen, die die sozialen Bewegungen unterdrückt haben. Die Angst ist da, aber wir versuchen gemeinsam darüber zu sprechen, wie wir uns davor schützen können, ohne dass dieser Regierungswechsel uns paralysiert.

Uruguay hat ja aktuell eher den Ruf eines moderaten, fortschrittlichen Landes. Kam die Rückkehr zu einer rechten Regierung eher unerwartet oder hat sich das abgezeichnet?
Mariana: Der Vorstoß der Rechten kam nicht unerwartet. Das ist ein Prozess, dessen Kraft sich seit vielen Jahren stärker entfaltet, und nicht nur in den traditionellen rechten Kräften in Uruguay, sondern auch in neuen Gruppen, wie dem Cabildo Abierto (neu gegründete rechtsextreme Partei, Anm.d.Red.). Das war kein Überraschungseffekt, das sind Gruppen, die vorher schon latent unter der Oberfläche der Politik geschlummert haben, daher konnten sie sich auch so schnell organisieren.

D: Die Ideen, die die Rechte verkörpert, waren schon vorher in Umlauf und haben bereits einen Prozess angestoßen, in dem die institutionelle Gewalt zugenommen hat. Jetzt gibt es dafür klare Worte und konkrete Politikprogramme. Aber auch in der vorherigen Regierung der Frente Amplio hatte die Repression schon zugenommen.

V: Der Cabildo Abierto, dieser ultrakonservativste Teil der Gesellschaft, hatte schon vorher Macht im Land. Er hatte seine eigenen Organisationen im Staat und im Militär und auch verantwortungsvolle Posten in der Regierung der FA. Das einzige, was sie noch nicht hatten, war eine Partei, die man wählen konnte und jetzt haben sie die. Die Überraschung ist, dass sie in den ersten Wahlen elf Abgeordnete und drei Senatorensitze gewonnen haben, nur sechs Monate nach ihrer Gründung. Die Teile der Gesellschaft, die sie unterstützen, haben sonst die traditionellen Parteien gewählt, wie die Colorado-Partei oder die Partido Nacional. Das bedeutet, dass die traditionellen Parteien nun ihren Interessen nicht mehr genügen.

Warum koalieren die traditionellen Parteien mit der extremen Rechten?
D: Strategie. Die Partido Nacional wusste seit Mitte des Jahres durch Umfragen, dass sie alleine die Präsidentschaft nicht würde gewinnen können, die traditionellen Parteien waren zerstritten. Daher die Strategie, alle rechten Kräfte zu vereinen, das hat funktioniert und für Aufmerksamkeit gesorgt. Nach dem ersten Wahlgang hieß es: ‚Jetzt alle auf Linie und alle an Bord! Alle für die Regierung!‘ Es war sehr klar, was das Ziel war.

V: Uruguay war immer schon ein konservatives Land. In diesen Jahren der progressiven Regierungen wurde das Soziale etwas mehr in den Vordergrund gerückt. Aber weder auf der wirtschaftlichen Ebene, noch auf der kulturellen ist es zu grundlegenden Veränderungen gekommen: kein neues Wirtschaftsmodell, keine wirkliche Kulturdebatte. Die konservativen Stimmen haben immer den Diskurs bestimmt und diese Grundstimmung ist eher stärker geworden, jetzt sind sie sichtbarer. Der Feminismus ist die einzige Bewegung, die es geschafft hat, mit ein paar Dingen zu brechen und sie zu hinterfragen, im Rest der Linken ist das nicht passiert. Es gab gar nicht das Ziel, in diesen Jahren des Progressismus, irgendetwas tiefgehend zu verändern oder neue gemeinsame Werte aufzubauen, die nicht auf einer individualistischen, neoliberalen Konsumlogik basieren.

Um welche Diskurse und Ideen der konservativen Kreise geht es vor allem?
V: Typische konservative Diskurse, zum Beispiel das, was sie „Genderideologie“ nennen. Diskurse, die an die traditionelle Rolle der Frau in der Familie als Mutter appellieren, aber auch eine unternehmerische Vorstellung von öffentlicher Verwaltung und Aussagen über die Diktatur, die gewaltsam Verschwundenen, die Menschenrechte, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Relevanz absprechen wollen. Im jetzigen Wahlkampf ging es zudem viel um das Thema Kriminalität und auch um das Versprechen von mehr Sicherheit und einer „harten Hand“.

Was hat die neue Regierung als Erstes vor?
D: Eine der ersten Maßnahmen, die die neue Regierung angekündigt hat, ist ein Paket mit dem Namen „Ley de Urgente Consideración“, das bereits Teil der Wahlkampagne war, dessen Inhalt jedoch bis vor Kurzem nicht veröffentlicht wurde. Ds Gesetz hat fast 500 Artikel, es ist ein Maßnahmenpaket, das ganz verschiedene Sachverhalte und Bereiche zugleich betrifft.

M: Dringend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dafür ein Mechanismus eingesetzt wird, mit dem diese 500 Artikel innerhalb der ersten drei Monate der Regierung verabschiedet werden, nur 45 Tage für jede Kammer des Parlaments. Die Regierung beginnt also mit einem starken Schachzug. Man könnte sich fragen, welche Dinge so dringend sein könnten, dass sie am ersten Tag der Regierung behandelt werden müssen – ganz klar ist jedoch, dass das nicht 500 Artikel sein können. Es ist auch der Versuch der Regierung, das Maßnahmenpaket direkt zu verabschieden, bevor es Brüche und Mei-nungsverschiedenheiten in der Koalition gibt. Wenn das in den nächsten Jahren passiert, sind zumindest diese Maßnahmen, die sie einst zusammengeführt haben, schon mal verabschiedet.

D: Dieses Gesetz ist eigentlich das Regierungsprogramm. Während der Wahlkampagne gab es kein konkretes Programm, nur ein paar lose Ideen. Das Gesetz behandelt Soziales und Kürzungen in Bildung, Gesundheit und Wohnen, bis hin zu Minderheitenrechten, die eigentlich gesetzlich garantiert waren… Ein Mischmasch von unzähligen Artikeln, bei denen es zumeist um Kürzungen von Ressourcen und Rechten geht.

Könnt ihr noch ein paar Beispiele dafür geben, welche Bereiche das Gesetz betrifft?
V: Die Themen sind so zahlreich, dass wir dafür eigentlich ein eigenes Interview machen müssten. Es ist aber ganz klar ein neoliberaler Vorstoß ohne Skrupel. Es geht um die Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen, Änderungen im Zugang zu Land, mehr Gewicht für die privaten Institutionen in der Bildung, um Bestimmungen, die Repression bei Demonstrationen ermöglichen, größere Macht für Geheimdienste, wobei es auch um Ermittlungen in Bezug auf die „innere Sicherheit“ geht, also z.B. für die Organisation von Demonstrationen, um Änderungen zur Aushandlung von Tarifen und Arbeitsbedingungen, Änderungen in den Gesetzen, welche die Medien regulieren im Sinne unternehmerischer Interessen, und vieles mehr. Auch die designierten Minister der neuen Regierung tragen zu dem Gefühl bei, dass die neue Regierung ohne Skrupel sein wird. Viele ihrer Namen sind bekannt durch frühere Posten in anderen rechten Regierungen, durch Korruptionsanklagen, mit einer belasteten Vergangenheit. Es kommen nicht fünf lange Jahre einer langsamen Rechtsentwicklung, nein. Das ist eine Bombe. Alles wird sehr schnell gehen, es geht ums Ganze, ohne Skrupel. Für uns in den sozialen Organisationen bedeutet das, dass wir alle Kampagnen gegen das Gesetz auffahren müssen. Das zerstreut unsere Energien, weil es so viele Themen berührt – es macht viele Fronten gleichzeitig auf. Ich glaube, das ist auch intendiert.

Was wollt ihr jetzt dagegen tun? Der 8. März wird ja die erste große Demo unter der neuen Regierung sein…
D: Es gab die Idee, die Route der Demo zu ändern und zur Torre Ejecutiva, dem Präsidentensitz, zu laufen, aber wir haben uns entschieden, die gleiche Route wie immer zu machen.

V: Das hat damit zu tun, dass unsere Forderungen nicht nur an die Präsidentschaft gerichtet sind, sondern an die gesamte Gesellschaft, es geht um das gesamte System. Das Patriarchat drückt sich ja nicht nur in der Regierung aus, deswegen war uns wichtig, jetzt ganz explizit die Route beizubehalten, um damit einer Perspektive Ausdruck zu geben, die über die Forderungen an den Staat hinausgeht. Wir blenden natürlich nicht aus, dass der Staat eine Rolle spielt, und dass es jetzt eine rechte Regierung gibt, aber jenseits davon geht es uns auch darum, dass wir selbst Dinge aufbauen und uns nicht nur etwas entgegenstellen. Daher auch das Festhalten an der Route. Wir wollen nicht alle Forderungen der Bewegung an die Präsident- schaft richten. Die Bewegung ist viel mehr als das, in dem, was sie anklagt und auch in dem, was sie erschafft.


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„DAS SCHWEIGEN IST FATAL“

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SANDRA PALESTRO CONTRERAS
ist Soziologin, feministische Aktivistin und seit zehn Jahren Teil der nationalen Koordination des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen (Red Chilena contra la Violencia hacia las Mujeres) (Foto: Alea Rentmeister)


Warum zielt die Bestrafung des Patriarchats für die politische Partizipation von Frauen* auf ihre Sexualität ab?
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass du so deine Intimität verlierst. Selbst brutale Schläge vergehen mit der Zeit, verwischen in der Erinnerung. Aber die sexuelle Aggression bleibt ein Leben lang in der Erinnerung. Das liegt wohl daran, dass die Sexualität etwas sehr Intimes ist, etwas, worüber wir die Kontrolle haben möchten, von dem wir wollen, dass es nur uns gehört und nur wir darüber entscheiden.

Die Männer wissen, dass die sexualisierte Gewalt die stärkste Aggression ist, die wir Frauen erleben können und deshalb setzen sie sie als Waffe bei Verhaftungen, in Kriegen und in bewaffneten Konflikten ein. Auch, um eine Botschaft an die Männer der Gruppe, zu der die Frauen gehören, zu senden: In Kriegen und Konflikten werden Frauen wie Beute behandelt.

Sie wurden während der Pinochet-Diktatur inhaftiert und haben politische sexualisierte Gewalt erfahren. Wie haben Sie es geschafft, aus der Position des Opfers herauszukommen und eine Kämpferin zu bleiben?
Das war sehr schwierig. Ich wurde im Oktober 1973, fast direkt nach dem Putsch, für einen Monat lang im Nationalstadion gefangen gehalten. Das war brutal. Mein Leben teilt sich in ein Vorher und ein Nachher, ich kann mich davon nicht mehr erholen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich wieder aufzubauen. 14 Jahre lang habe ich niemandem erzählt, was passiert ist.

Dann bin ich zum Psychiater gegangen, weil ich körperliche Symptome hatte: Etwas drückte auf meinen Kopf, ich litt unter Schlaflosigkeit. Ich war drei Jahre lang in Therapie und als es mir endlich gelang, das freizugeben, was mein Gehirn mir nicht zeigen wollte, habe ich die Überlebensphase begonnen.

Den Aktivismus haben Sie dennoch nie aufgegeben…
Während der 14 Jahre habe ich habe mich bis zur Erschöpfung in den Aktivismus gestürzt. Ich war zehn Jahre im Exil, 1983 kam ich zurück nach Chile. Ich habe mich mit allem in die Proteste gegen die Diktatur eingebracht und mich nicht um mich gekümmert. Erst später habe ich gemerkt, dass mir mein Aktivismus dazu diente, nicht darüber nachzudenken, was ich erlebt hatte. Ich habe auch verstanden, dass sie mich, wenn ich nicht mit dem Aktivismus weitermachen würde, tatsächlich besiegen würden.

Deshalb habe ich trotz allem, trotz der Angst, weiter in Chile gekämpft. Erst 30 Jahre nach dem Putsch, als ich im Abschlussbericht der Wahrheitskommission Valech die Zeugenaussagen der Frauen gelesen habe, habe ich verstanden: Das ist uns allen passiert. Das Ungeheure daran war das jahrelange Schweigen der Frauen darüber.

Woher kommt dieses Schweigen?
Frauen erzählen nicht. Freundinnen von mir, die auch während der Diktatur inhaftiert waren, haben bis heute nie erzählt, was sie erlebt haben. Ich denke, das hat viel mit der Sozialisierung von Frauen und der androzentrischen Kultur zu tun. Wir stellen uns selbst immer hinten an. Als ich den Valech-Bericht gelesen habe, habe ich das deutlich gespürt:

Viele von uns dachten, dass das, was uns passiert war, weniger wichtig war als die gewaltsam Verschwundenen und Hingerichteten. Wir haben also nie über die Folter und die sexualisierte Gewalt gesprochen, weil es noch Schlimmeres gab.

Frauen werden zum Muttersein sozialisiert, zur Fürsorge für die anderen. Ihnen wird ansozialisiert, dafür zu sorgen, dass die eigenen Kinder oder die Nichten und Neffen nicht erfahren, dass es diese Grausamkeiten gibt. Das ist Teil der patriarchalen Kultur. Aber wenn Frauen nicht reden und die Gewalt nicht thematisieren, dann tut sich nichts, dann bleibt sie verborgen.

Es ist so schwer darüber zu reden, es zu sagen. Aber das Schweigen ist in jeder Hinsicht fatal. Wir müssen reden, wir müssen aussprechen, was mit uns geschieht. Wir müssen keine Schuld oder Scham empfinden, nicht wir sind dafür verantwortlich, sondern andere.

Halten Sie es für wichtig, die Erinnerung an politische sexualisierte Gewalt während der Diktatur mit dem Kampf gegen die heutige zu verbinden?
Ich glaube, es ist besser, die politische sexualisierte Gewalt als ein Kontinuum zu denken. Denn es gibt eine Tendenz, zu vergleichen und dann zu sagen, dass wir uns jetzt auch in einer Diktatur befinden. Ich glaube aber, dass sich die Gesellschaft seit der Diktatur bis heute sehr verändert hat. Die Diktatur dauerte 17 Jahre und hat nichts respektiert, es gab nicht eine funktionierende Institution. Es gab keinerlei Volksvertretung, selbst Klagen wurden vom Obersten Gerichtshof abgewiesen, niemand hat uns verteidigt.

Jetzt haben wir die Möglichkeit, uns zu äußern, anzuklagen, zu fordern, es gibt das Nationale Institut für Menschenrechte, es gibt internationale Beobachter. Durch die Technik gibt es heute die Möglichkeit, zu filmen und Beweise zu liefern. Ich glaube, die Aggressionen sind nicht miteinander vergleichbar, aber sie haben den gleichen Inhalt: Sie sollen Frauen eintrichtern, dass ihnen der öffentliche Raum, der Raum für Protest und Anklage, nicht zusteht. Dass ihr Raum im Haus ist, wo sie sich um die Kinder kümmern sollen.

Sie sind sind Teil des Chilenischen Netzwerks gegen Gewalt an Frauen. Wie bekämpfen das Netzwerk und andere feministische Organisationen diese Form der Gewalt?
Wir können die Gewalt nicht verhindern, weil es nicht in unserer Hand liegt, die Polizei zu beeinflussen. Aber wir können den Frauen sagen, wie sie sich verteidigen, wie sie sich schützen und wie sie sich selbst bestärken können. In den letzten Jahrzehnten hat der Feminismus in Chile einen enormen Aufschwung erlebt. Zuletzt haben die feministischen Uni-Besetzungen 2018 und das Ausmaß der Demonstrationen und Streiks am 8. März 2019 ganz Chile überrascht. Und was man bei den jetzigen Protesten am häufigsten sieht, sind die grünen Tücher der Feministinnen und Mapuche-Flaggen.

Es macht sich ein Wandel in der Gesellschaft bemerkbar: Frauen nehmen jetzt als Frauen Teil, sie sind Feministinnen, sie demonstrieren und wissen, wofür sie dabei kämpfen. Das ist ein Wandel, den vor allem wir Feministinnen über Jahre hinweg bewirkt haben. Wir können zwar nicht direkt auf die Institutionen einwirken, aber wir beeinflussen die Gesellschaft und die Kultur.

Die Regierung reagiert auf die aktuellen Proteste wieder mit Repression und Menschenrechtsverletzungen. Wie gehen Sie damit um?
Die ersten Tage der Proteste, als die Regierung das Militär auf die Straßen schickte, waren ein Schock für mich. Ich hatte eine schreckliche Angst um die jungen Leute, die die Erfahrung der Diktatur nicht gemacht haben und waghalsiger sind. Sie blieben trotz der Sperrstunde draußen und ich hatte Angst, dass die Militärs sie töten würden.

Diese Tage waren sehr hart. Die Systematik der politischen sexualisierten Gewalt und der Augenverstümmelungen. Das alles wieder? Mir kam die Grausamkeit in den Sinn, die ich damals im Stadion erlebt habe: eine unverständliche und unbekannte Grausamkeit. Wir waren damals sehr jung, ich war 22 Jahre alt. Eine solche Grausamkeit kannten wir nicht. Ich habe über all die Jahre der Demokratie nachgedacht, in denen versucht wurde, die Parole „nie wieder“ zu verbreiten.

Und jetzt: wieder diese Grausamkeit, wieder diese Gewalt. Das macht mich ein bisschen hoffnungslos. Es ist, als ob die Geschichte sich im Kreis drehen würde. Es dient mir aber auch dazu, den Kampf fortzusetzen, nachzudenken und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen darüber zu sprechen.

Welchen Einfluss hat die politische sexualisierte Gewalt auf die aktuellen Proteste?
Mich besorgt, dass wir Demonstrant*innen durch die politische sexualisierte Gewalt oder die Verstümmelung von Menschen eine immer defensivere Haltung einnehmen. Der Fokus hat sich verschoben, es geht jetzt nicht mehr um unsere sozialpolitischen Forderungen – wie ein besseres Renten- und Gesundheitssystem, eine nicht-sexistische Erziehung und so weiter – sondern vor allem um Menschenrechte, um Strafanzeigen und Anklagen. Wir verlieren also.

Wir waren Kämpferinnen gegen ein schikanierendes System und werden nun durch die Repression zu Opfern, das ist sehr beunruhigend. Das ist ein Konflikt, in dem die Regierung an Boden gewinnt. Ich denke, die Menschen, die gestorben sind oder verstümmelt wurden, müssen uns dazu motivieren, weiter für die Anliegen zu kämpfen, die die Protestbewegung ausgelöst haben.


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„NIEMAND WIRD FÜR DICH KÄMPFEN, AUSSER UNS”

Gerechtigkeit Demonstrierende fordern, dass der Mord an Isabel Cabanillas de la Torre aufgearbeitet wird (Foto: Favia Lucero / YoCiudadano)

Im Januar habt ihr zu Aktionen auf der mexikanisch-US-amerikanischen Grenzbrücke aufgerufen. Ihr habt einen der am stärksten bewachten Grenzübergänge weltweit für mehrere Stunden besetzt, um auf den Feminizid an eurer Freundin Isabel Cabanillas und allen ermordeten Frauen aufmerksam zu machen. Wie fühlt sich das an?
Wir waren so wütend, dass wir angekündigt haben, alles niederzubrennen. Das haben viele wörtlich verstanden. Als wir auf die Brücke gelaufen sind, sahen wir schon die Barrikaden auf der US-amerikanischen Seite mit elektrischen Drahtkonstruktionen. Das hatte etwas Apokalyptisches. Begleitet von unserer Wut und ein paar unabhängigen Journalistinnen, hatte man das Gefühl, dass die ganze Welt auf uns schaut. Die Stimme, die wir gemeinsam erhoben haben und die Beiträge, die zweisprachig vorgelesen wurden, waren Teil der Aktion an diesem starken Ort. Juárez als Grenzstadt mit Texas auf der anderen Seite hat eine lange Geschichte, die geprägt ist von schrecklicher Gewalt gegen Frauen. Ich hatte das Gefühl, dass das gerade einschlägt. Diese Nachricht bleibt nicht unbeachtet. Es war auf eine Art kathartisch. Während der Demo haben wir viel Kraft und Wut gespürt. Wir wollen eine schnelle Aufklärung und transparente Ermittlungen. Dabei sind wir uns aber auch bewusst, dass die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist und mit uns auf der Straße steht. Wir werden keinen Schritt zurück gehen: Solange es keine Aufklärung gibt, gehen wir weiter auf die Straße.

Wie schützt ihr euch gegen die Gewalt in Juárez?
Die Situation in Mexiko ist sehr schlimm. Es ist sehr schmerzhaft zu ertragen, was mit Isabel passiert ist, weil sie uns sehr nahe stand. Aber genau wie uns Isabel schmerzt, schmerzt uns auch das Mädchen, dem die Organe geraubt wurden. Uns schmerzt auch das zwölfjährige Mädchen, das vergewaltigt wurde. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, erinnern wir uns daran, wie wichtig Sicherheitsprotokolle für uns sind, präventives Handeln, Netzwerke und so weiter. Manchmal passiert es dann doch, dass wir fahrlässig sind. Dabei müssen wir ständig aufpassen. Kürzlich haben wir uns wieder mit ein paar Frauen getroffen und über vorbeugende Mechanismen gesprochen, über Gruppen, um uns gegenseitig zu schützen.

Wir sind in einer sehr verwundbaren Position. Daher ist es ganz konkret wichtig zu wissen, wer sich gerade wo aufhält, dass man weiß, die Freundin nimmt diesen oder jenen Bus. Man holt sich gegenseitig ab oder trifft sich an bestimmten Orten. Das bedeutet allerdings auch, dass man Ressourcen braucht. Es braucht bestimmte Ressourcen, um sich gegenseitig begleiten zu können. Wenn das nicht geht, gibt es nicht viel. Das bringt vor allem Arbeiterinnen und Studentinnen in sehr vulnerable Situationen, weil sie häufig vereinzelter leben.

Es wird kurz unruhig, das Skype-Gespräch wird von einer der „Hijas“ unterbrochen: „Unsere Nachbarin hat gerade erzählt, dass vor zehn Minuten nur zwei Straßen von hier eine Frau erschossen wurde. Ihr wurde in den Kopf geschossen und der Täter wird gerade gesucht. Deswegen hörst du vielleicht die Sirenen der Polizei im Hintergrund. Das nur am Rande. Du kannst das ja in deinem Interview erwähnen, dass während wir hier über Feminizide sprechen zwei Straßen weiter eine Frau ermordet wird.“ Später stellt sich heraus, dass die Radiojournalistin Teresa Aracely Alcocer getötet wurde. Das Kollektiv entscheidet, das Gespräch weiterzuführen. Es nütze nichts, sich davon einschüchtern zu lassen. Es sei ein Krieg niederer Intensität. „Es fallen keine Bomben, die Gebäude stehen noch, die Leute gehen zur Arbeit und in die Schule. Aber jeden Tag gibt es so viel Gewalt, gibt es Morde, gibt es Feminizide.“

Euer Kollektiv heißt „Töchter von Fabrikarbeiterinnen“. Wie habt ihr euch gegründet und wie kam es zu diesem Namen?
Wir haben uns zunächst „Feministische Initiative“ genannt. Damals haben Mütter von gewaltsam verschwundenen und ermordeten Frauen eine Karawane in die Landeshauptstadt Chihuahua organisiert, die wir unterstützt haben, um den Müttern zur Seite zu stehen, die ihre Töchter verloren hatten. Bei dieser Aktion haben wir festgestellt, dass die Mütter einiger aus der Gruppe selbst in den Weltmarktfabriken (den sogenannten Maquilas, Anm. d. Red.) wie sie hier typisch für die Grenzregion sind, arbeiten oder gearbeitet haben.

In den Grenzgebieten funktionieren Wirtschaft und Handel immer in Bezug auf die Grenzpolitik. Man rechnet mit billiger Arbeitskraft von Migrantinnen und anderen Personen, die aus allen Teilen unseres Landes dorthin gekommen sind und unter äußerst prekären Bedingungen arbeiten und leben. Die große Mehrheit der Angestellten sind Frauen. Die Unternehmen setzen die Arbeiter*innen einer zunehmenden Prekarität aus, um zu sehen, wie weit sie noch gehen können. Diese Situation trifft auf Gewalt, Drogenhandel, Machismo und Militarisierung und schwächt das soziale Gefüge.

Das heißt ihr seht eine Verbindung zwischen der Ausbeutung in den Weltmarktfabriken und sexualisierter Gewalt?
Genau, weil die Maquilas vor allem Frauen einstellen. Wir leben in einem relativ großen Bundesstaat. Die Bevölkerung fluktuiert stark, deswegen gibt es keine Stabilität und keine Organisation. Die Menschen kommen bereits prekarisiert hier an, wollen arbeiten und etwas zum Leben haben, ihr eigenes Haus und so weiter. Aber viele gehen wieder zurück. Wenn du alle Ressourcen eines Ortes ausschöpfen willst, kommt es dir recht, dass die Leute sich nicht organisieren können, zum Beispiel, weil sie von den langen Arbeitstagen erschöpft sind, weil sie keine finanziellen Mittel und keinen guten Zugang zu Bildung haben. Das kommt den Unternehmen, zum Beispiel den ausbeuterischen Leinenfabriken oder den Frackingfirmen, zu Gute.

Wie arbeitet ihr als Kollektiv und was unternehmt ihr dagegen?
Wir organisieren uns in asambleas (Versammlungen) und arbeiten horizontal. Grundlegend gehen wir davon aus, dass jede von uns jeweils unterschiedliche Feminismen für sich beansprucht. Was uns darin eint, sind Kämpfe für die Rechte von Frauen, für die Rechte von lesbischen, bisexuellen Menschen. Wir arbeiten mit dem Projekt migrantischer trans Frauen Respetttrans zusammen. Wir haben immer wieder unterschiedliche Projekte, das können auch Kleinigkeiten sein, bei denen wir uns gegenseitig helfen.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Proteste und Aktionen, die eine enorme Wut sichtbar gemacht haben. Wie schafft ihr es, diese Wut und den Schmerz in produktive Kraft umzuwandeln?
Wir glauben, die Wut lässt sich nur umwandeln, wenn es mit anderen Frauen zusammen passiert. Das ist die Kraft der Frauen: Keine kämpft allein. Die Gemeinschaft öffnet sich für dich, bekräftigt dich. Und dann fühlst du dich sicher und sagst: „Na los, ich bin nicht allein!“ In Mexiko ist ein Leben nichts wert. Egal von wem, weil sie Männer töten, weil sie Frauen töten, weil sie Kinder töten. Das sind Leben, die nichts wert sind. Das Leben von Menschen kümmert niemanden. Vielmehr zählt alles, was die Infrastruktur und ähnliches betrifft. In Mexiko kümmert es niemanden, wenn sie eine Frau umbringen. Niemand wird für dich kämpfen, außer uns. Und es gibt keine Gerechtigkeit. Wir suchen sie, aber es gibt sie einfach nicht. Natürlich fordern wir sie ein, aber es sind so wenige Fälle, die überhaupt vor Gericht kommen. Es gibt keine Aufarbeitung der Verbrechen, die Institutionen funktionieren nicht und tun nichts. Deswegen müssen wir vieles selbst machen. Wie unseren Aufruf, alles niederzubrennen.

Seid ihr in Kontakt mit anderen Kollektiven aus Mexiko oder in anderen Ländern?
Ja, wir haben Verbindungen zu Gruppen in Deutschland, mit einigen Frauen aus den USA, mit Kollektiven in Mexiko-Stadt und aus ganz Mexiko oder zum Beispiel mit einem lesbischen Kollektiv namens Radio HumedaLes aus Chile. Es ist vielleicht keine regelmäßige oder beständige Zusammenarbeit, aber wir wissen, dass wir ihnen vertrauen können und, dass sie da sind und uns helfen, wenn wir darum bitten. Und so sind wir alle als Kollektive verbunden.

Was erwartet ihr von der internationalen Berichterstattung und den feministischen Bewegungen in anderen Ländern?
Zuerst einmal, dass sie ein Medium für uns sind. Dass sie uns unterstützen und unsere Informationen verbreiten. Viele wissen zum Beispiel nicht einmal, wo Ciudad Juárez ist. Dass es ähnliche Probleme in Tijuana gibt, dass es ähnliche Situationen sind wegen der Grenze.

Wir wollen, dass alle Welt davon hört. In einem bestimmten Maß hilft uns die Berichterstattung, Druck aufzubauen und unsere Anliegen zu verbreiten. Dass internationale Institutionen verfolgen, was passiert und darüber berichten, ist wichtig. Denn es passiert schon so lange, ohne dass sich etwas ändert. Es war nicht nur Isabel, sondern es sind immer mehr Frauen, die in Mexiko getötet werden. Wichtig ist, diese Dinge sichtbar zu machen: Dass wir immer noch keine Gerechtigkeit haben und dass es weiter Feminizide gibt.


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„SIE ERMORDEN UNS WEITERHIN“

Sicherer Raum Zapatistische Frauen verteidigen ihr Treffen demonstrativ mit Bögen und Stöcken (Foto: Aline Juárez Contreras)

„Sie sagen, dass es Geschlechtergleichheit gibt, denn in den schlechten Regierungen gibt es gleichermaßen Männer wie Frauen, die herrschen, aber sie ermorden uns weiterhin. Mit mehr Brutalität, mit mehr Bösartigkeit, Wut, Neid und Hass. Und das immer ungestörter.“ Mit diesen Worten begannen die zapatistischen Frauen das Zweite Internationale Treffen der Frauen, die kämpfen, wie es übersetzt heißt. Teilnehmerinnen aus 50 Ländern kamen vom 26. bis 29. Dezember vergangenen Jahres ins Caracol Morelia, ein politisches Verwaltungszentrum der Zapatistas in den Bergen des südöstlichen mexikanischen Bundesstaates Chiapas.

Die einleitenden Worte zeigten den Widerspruch auf, der in Mexiko und allen Teilen der Welt zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frau und Mann besteht. Denn natürlich gibt es vielerorts Fortschritte in den Gesetzgebungen und verschiedenste Initiativen für die Gleichstellung der Geschlechter. Gleichzeitig steigt aber die Zahl der gegen Frauen begangenen Gewalttaten unaufhörlich an. Besonders verheerend ist ihre Situation in Mexiko. Von Januar bis Dezember 2019 wurden in dem mittelamerikanischen Land 3.426 vorsätzliche Tötungsdelikte an Frauen registriert. Nur 890 (25 Prozent) werden als Femizide untersucht, obwohl verschiedene Frauen- und Menschenrechtsorganisationen darauf hinweisen, dass viele dieser Taten mit großer Brutalität und unter Anwendung von sexueller und körperlicher Folter begangen worden sind.

Besonders klar wurde auf dem Kongress, dass auch die Haltung der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft mit ihrer Gleichgültigkeit und der Normalisierung des Problems zu der jetzigen Situation von Straflosigkeit und Ungerechtigkeit beigetragen hat.Trotz alledem hat die mexikanische Regierung bisher keinen konkreten Aktionsplan zum Thema vorgelegt. Zwar gibt es unzählige Beschwörungen von offizieller Seite, das Problem anzugehen und Mechanismen wie den Alarm zur Anzeige von Gewalt gegen Frauen (AVGM). Dieser Mechanismus existiert seit 2007 und kommt in den Regionen zum Einsatz, die zu Brennpunkten der Gewalt gegen Frauen geworden sind. Doch bisher hat der AVGM keinerlei Wirksamkeit gezeigt. Vor allem, da es nach der Auslösung des Alarms zu häufig bei der Erstellung von Berichten und Stellungnahmen von Expert*innen bleibt, während die dann vorgeschlagenen Maßnahmen kaum umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die zuständigen Sicherheitskräfte zumeist Teil des Problems sind und es an öffentlichen Stellen mangelt, die mit entsprechenden Kompetenzen für eine effektive Bekämpfung des Problems ausgestattet sind.

Drei Tage feministische Utopie

Und so ist auch die statistische Erfassung von Femiziden und anderen Gewalttaten gegen Frauen von Unklarheiten geprägt. Bundesstaaten wie Guanajuato, Baja California und Veracruz melden Morde an Frauen nicht als Femizide, sondern lediglich als vorsätzliche Tötungsdelikte. Ein weiterer Mechanismus, den die Behörden zur Verschleierung der Zahlen nutzen, ist die Tarnung des Mordes an Frauen als Selbstmord. Mütter von ermordeten Frauen erzählten, wie die Leichen ihrer Töchter auf der Straße oder in Häusern mit Anzeichen von Gewalt gefunden wurden, und doch heißt es im forensischen Bericht: Selbstmord.

Besonders betroffen von der täglichen Gewalt sind indigene Frauen. Bislang gibt es keine Angaben darüber, wie viele indigene Frauen verschwinden, getötet oder vergewaltigt werden. In den meisten Fällen wird der Mord, die Vergewaltigung oder das Verschwinden staatlichen Stellen gegenüber nicht gemeldet, da die Staatsanwaltschaften meilenweit von den Gemeinden entfernt sind und es keinen Übersetzungsdienst gibt, der den indigenen Frauen eine effektive Geltendmachung ihrer Rechte ermöglicht. Der Zugang zur Justiz ist im mexikanischen Staat eng mit dem sozialen Status und der ethnischen Zugehörigkeit verbunden.

Doch der Raum, den die zapatistischen Frauen auf dem Treffen eröffneten, machte keinen Unterschied zwischen Herkunft und sozialer Klasse. Und so nahmen auch indigene Frauen, persönlich oder im Kollektiv, das für alle offene Mikrofon in die Hand, um von der Gewalt zu berichten, die sie erleiden. Sie sagten, dass sie für ein Leben kämpfen, in dem keine Mädchen mehr verkauft oder zur Heirat und zum Kinderkriegen gezwungen werden. Ein Leben, in dem sie nicht geschlagen oder von ihren Ehemännern straffrei missbraucht werden können. Dabei erzählten sie auch von den Organisierungsprozessen, die sie in ihren Dörfern begonnen haben, um ihre Situation zu ändern.

Viele betonten, dass der zapatistische Aufstand vom 1. Januar 1994 eine tiefgreifende Veränderung für sie bedeutete, da sie sahen, wie auch Frauen zu den Waffen griffen und Seite an Seite mit den Männern für ein Ende von Ausbeutung und Unterdrückung kämpften. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der verschiedenen feministischen Kämpfe sehr unterschiedlich sind. Trotzdem war die Vernetzung und der Austausch zwischen den Teilnehmerinnen ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen Prozesses, der bereits im März 2018 mit dem ersten zapatistischen Frauentreffen begonnen hatte.

Zum Abschluss erzählten die Zapatistinnen, dass es in ihren Territorien im Laufe des letzten Jahres keinen Femizid gegeben hatte. Und tatsächlich war es den zapatistischen Frauen gelungen, einen sicheren Ort inmitten der Gewalt zu schaffen. Immer wieder waren im Laufe des Frauentreffens Stimmen zu hören, die sagten, dass sie sich noch nie so sicher gefühlt haben wie in dem Caracol „Huellas del caminar de la Comandanta Ramona“, das für drei Tage zu einer konkreten feministischen Utopie wurde.

Es waren die zapatistischen Kämpferinnen, die mit ihren Bögen und Stöcken einen sicheren Raum für Denunziation, Kunst und Organisation boten, an dem sich mehr als viertausend Frauen beteiligten. Etwas, das die mexikanischen Regierungen seit 17 Jahren mit Militär, Polizei und ihren großkalibrigen Waffen in den meisten Teilen des Landes nicht schaffen.


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„DER VERGEWALTIGER BIST DU!“


Foto: Germán Andrés Rojo Arce

Worum geht es bei eurer aktuellen Performance?
Paula Cometa:
„Un violador en tu camino“ ist unsere zweite Performance, basierend auf Thesen der argentinischen Feministin Rita Segato, die auf die Verantwortung staatlicher Institutionen an der systematischen Verletzung der Rechte von Frauen und Minderheiten aufmerksam machen. Eigentlich ist das ganze Teil einer längeren Intervention, deren Erstaufführung aber der aktuellen Proteste wegen verschoben werden musste. Vor gut drei Wochen baten uns die Organisatoren von fuego barricadas, acciones en cemento (kreative Protestaktionen im Format einer Straßensperre in Valparaiso, Anm. der Redaktion) um einen kurzen Beitrag.

Daffne Valdés: Daraufhin haben wir unsere aktuelle Arbeit auf den Punkt gebracht, Frauen und Minderheiten eingeladen, mitzuwirken und den Text an die derzeitigen Verhältnisse angepasst. Deshalb enthält der aktuelle Text ein Zitat der Hymne der Polizei, in dem sie schwören, den seligen Schlaf des unschuldigen Mädchens zu beschützen, und das im Angesicht der sexualisierten Polizeigewalt und Menschenrechtsverletzungen der letzten Wochen zynisch anmutet.

Eure Performance wurde inzwischen von Feministinnen auf allen fünf Kontinenten interpretiert, täglich machen neue Videos die Runde. Was gibt euch das für ein Gefühl?
Daffne:
Wir sind vollkommen überrascht und überwältigt. Aber klar, es macht auch Sinn, denn auf der ganzen Welt gibt es Frauen, die sich mit der Botschaft identifizieren. Es betrifft uns alle auf irgendeine Art und Weise und zeigt, dass unabhängig von den nationalen Grenzen in vielen Ländern die Rechte der Frauen nicht institutionell garantiert werden.

Paula: Es ist die Angst vor der Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, die überall existiert. In all den Ländern, in denen die Performance interpretiert wurde, haben die Nationalstaaten bestimmte Herrschaftsformen, staatliche Akteure und Institutionen, die die Unterdrückung festigen. Gleichzeitig war auch der Sinn, dass die Performance nicht nur nachgeahmt, sondern interpretiert und an den jeweiligen Kontext angepasst werden sollte. Das ist absolut gelungen und stellt eine große Bereicherung unserer Arbeit dar.

Valparaiso hat zwar viele Ausbildungsangebote für Künstler*innen, aber wenig Aufführungsorte. Wie geht ihr damit um?
Daffne:
Um mit unserer Botschaft ein möglichst breites Publikum zu erreichen, konzipieren wir unsere Stücke interdisziplinär, damit wir sie an verschiedene Orte und Gegebenheiten anpassen können. Dann führen wir sie dort auf, wo wir eingeladen werden, und manchmal laden wir uns auch selbst ein. Das kann auf Partys sein, auf der Strasse, auf Märkten, auf Konferenzen, die sich thematisch anschließen. Unser erstes Stück, das auf Thesen Silvia Federicis (marxistisch-feministische Theoretikerin, Anm. d. Red.) beruht, hatte letztes Jahr seine Uraufführung beim Theaterfestival der Frauen hier in Valparaiso.

„Un violador en tu camino” Performance von LasTesis in Antofagasta (Foto: Germán Andrés Rojo Arce)

Die aktuellen Proteste sind vom Protagonismus der Jugend und v.a. der jungen Frauen geprägt. Welche Rolle spielt die feministische Bewegung in den Protesten?
Daffne: Die Forderungen, die momentan auftauchen, haben viel mit den Forderungen der feministischen Bewegung zu tun. Bei der Protestwelle letztes Jahr im Mai wurden sie bereits auf den Tisch gebracht und auch in den Vorjahren.

Paula: Die aktuelle Krise basiert auf dem patriarchalen und kapitalistischen System, hier in Chile auf den Auswirkungen des Neoliberalismus. Genau diese Strukturen kritisiert der Feminismus. Bis zu unserer Performance schien die feministische Bewegung zu schlafen, aber das ist ein Trugschluss. Der Feminismus schließt lückenlos an die Forderungen der aktuellen Proteste an. Deshalb ist es auch ein Irrtum, die Forderungen nach höheren Renten und die nach einem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem davon zu trennen. Der Feminismus zielt auf einen Wandel eben dieser Bereiche der Reproduktion des täglichen Lebens ab. Auf einen Wandel der gesellschaftlichen Beziehungen, darauf, wie wir uns als soziale Wesen zueinander in Beziehung setzen, und auch auf die Herrschaft des Staates über unsere Körper:

Wie schätzt ihr die Bedeutung der Kunst für die aktuellen Proteste ein?
Paula:
Die Künste erlauben es dir, auf kreative Art und Weise eine Botschaft kundzutun. Diese Botschaft kann erhört werden oder nicht, kann vom Publikum angeeignet werden, so wie es in diesem Fall geschehen ist. In Krisenzeiten gibt es viel mehr Raum und Aufmerksamkeit für solche kreativen Botschaften. Deshalb ist die Rolle der verschiedenen Künste in solchen Momenten grundlegend.

Daffne: Derzeit denke ich, dass die Kunst, die kreativen Protestformen, uns dabei helfen, uns nicht so allein zu fühlen. Viele Frauen haben sich durch die Performance ermutigt gefühlt, Missbrauch und Gewalt gegen sie anzuzeigen. Denn auf eine bestimmte Art und Weise haben sie erkannt, dass die Gewalt viele betrifft, vielleicht sogar uns alle. Sie haben das Gefühl bekommen, sich auf dieses Kollektiv stützen zu können, dass es uns Schutz gibt und dass wir zusammenhalten.

Paula: Alle, die sich keiner Partei zugehörig fühlen, aber trotzdem organisiert sind und protestieren, Künstler, Musiker und natürlich viele andere Menschen, sind Teil dieses Kollektivs. Zusammen stellen wir vieles auf die Beine.

Was kann die feministische Theorie und Praxis zu den Lösungen der aktuellen sozialpolitischen Krise beitragen?
Paula:
Der Feminismus kann einen konkreten Beitrag zur Überwindung der alltäglichen Gewalt leisten, zur Entmystifizierung des Vergewaltigers. Feminismus hilft, die alltägliche Gewalt gegen die Körper, die Subjekte, die Kinder zu erkennen. Der Staat verbietet es uns, abzutreiben, über unsere eigenen Körper zu entscheiden. Durch die feministische Analyse können wir die Unterdrückung durch bestimmte Strukturen und Institutionen erkennen und bestenfalls überwinden, denn diese Institutionen lassen uns nicht leben. Der Feminismus öffnet den Menschen die Augen, um diese Realitäten zu sehen, wahrzunehmen. Realitäten, die durch patriarchale Strukturen geschützt und versteckt sind.

Und was bringt sie im Hinblick auf eine mögliche neue Verfassung?
Paula:
Der Kapitalismus basiert auf der Ausbeutung der Frauen, der Arbeitskraft, der Sexualität und der Reproduktion. Dieses System ist nicht mehr tragbar, definiert aber die staatliche Politik. In der Bildung brauchen wir beispielsweise sexuelle Früherziehung, die nicht sexistisch geprägt ist und für LGBTI sensibilisiert. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir Parität, gerechte Gehälter und Renten. Im Gesundheitsbereich müsste über Gewalt während der Schwangerschaft und der Geburt aufgeklärt und selbige verhindert werden. Insgesamt ist es eine Bandbreite an Bereichen, in denen das feministische Gedankengut Wurzeln schlagen sollte. Das macht den Männern, den Regierungen, Angst. Bei der Diskussion um eine neue Verfassung haben wir große Schritte vor uns.


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DER FEMINISTISCHE KAMPF FORDERT EINEN ECHTEN WANDEL

Am Montag den 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, sind wir von Victoria Alada aus zum Zócalo im Zentrum von Mexiko-Stadt marschiert. Als wir ankamen, hörten wir die Kundgebung der gemeinsamen Erklärung der Autonomen Feministischen Versammlung und der Hauptstädtischen Feministischen Versammlung: „Wir leben in Zeiten des Krieges, Schwestern, compañeras. Zeiten der Krisen und Notfälle. Sie töten uns, sie vergewaltigen uns, sie zwingen uns, zu gebären, sie verurteilen uns zum Tode, weil wir nicht gehorchen. Sie wollen uns hungrig, sie wollen uns ängstlich, traurig, müde, fügsam. Sie wollen uns spalten, Schwestern, compañeras.“

„Das ist die feministische Welle“

Das ist unsere Antriebskraft und ein Zurück gibt es nicht mehr. Das ist die feministische Welle. Sie speist sich aus kleinteiliger Arbeit: aus Sitzungen, organisatorischer Praxis, Wissensaustausch und verschiedenen Blickpunkten. Sich in den Versammlungen sehen, sich mit anderen treffen, die Entrüstung miteinander teilen, aber auch Unterschiede ertasten.

Sie kam plötzlich. Wie vulkanisches Magma, das die Straßen im Protest einnimmt, das uns mit einem Regen aus Gesängen, Parolen und Performances durchnässt. Aus Schreien, Trommeln und Forderungen. Sie verpasst den Straßen einen neuen Anstrich, sie will die nicht erzählten Geschichten und nicht erhörten Schreie furchtlos auf den Denkmalen verewigen. Jetzt, da wir vereint sind, jetzt, wo sie uns endlich sehen.
Dieses Jahr war ein bewegtes. Sein Zeitstrahl zeigt eindeutig auf, dass sich die Geschlechtergewalt in Mexiko-Stadt verschärft hat.

Im Januar waren es die Entführungsversuche in U-Bahn Stationen, bekannt unter dem Namen „Cálmate mi amor“ („Beruhige dich, meine Liebe“). Diese hatten zum Ziel, unter den Umstehenden Misstrauen gegenüber den Hilferufen der Frauen auszulösen. Diese beteuerten, dass ein Unbekannter, der behauptete, ihr Partner zu sein, versuchen würde, sie zu entführen. Feministische Aktivistinnen konnten durch partizipatives Mapping 31 Stationen identifizieren, an denen dies in den letzten zwei Jahren passiert war.

Kurze Zeit später schlug Ana Miriam Ferráez, lokale Abgeordnete aus Veracruz, im Angesicht des Anstiegs von Femiziden in ihrem Bundesstaat vor, ab 22 Uhr eine Ausgangssperre für Frauen einzuführen. Unter dem Hashtag #LaNocheEsNuestra („Die Nacht gehört uns“) versammelten sich daraufhin Frauen im ganzen Land zu Fahrraddemonstrationen.

Glitzer als Symbol einer neuen feministischen Bewegung

Im März erreichte die #MeToo-Welle Mexiko, ausgehend von Anklagen im Literaturbereich, die unter dem Hashtag #MeTooEscritores („MeToo Schriftsteller“) gesammelt wurden. Kurz darauf sind weitere gleichnamige Kanäle für die Bereiche Journalismus, Musikindustrie, Kino, Wissenschaft und soziale Organisationen aufgetaucht. Mehr als 130 Schriftsteller und etwa 300 im journalistischen Bereich Tätige wurden angezeigt. Das Anzweifeln der Legitimität der Anschuldigungen in sozialen Netzwerken war nicht nur im öffentlichen, machistischen Diskurs präsent, sondern auch innerhalb von Sektoren des Feminismus der „alten Schule“.

Am 3. August löste die Anzeige der Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen durch Polizisten im Bezirk Azcapotzalco Empörung in den Medien und sozialen Netzwerken aus. Die Besetzung des öffentlichen Raumes, die Monate zuvor mit #MeToo im Internet stattfand, verlagerte sich nun auf die Straßen.

Die „Brillantinada“, („Glitzerschlacht“), eine Reihe von Protesten im August (siehe LN 543/544), wurde auf Twitter unter dem Slogan #NoMeCuidanMeViolan („Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“) bekannt, allerdings erst, als Demonstrantinnen die Glastür des hauptstädtischen Verwaltungsgebäudes zerschlugen und den Staatssekretär für Sicherheit von Mexiko-Stadt, Jesús Orta, mit pinkem Glitzer bewarfen. Dieser Glitzer wurde zum Symbol einer neuen feministischen Welle im Land.

„Sie hassen uns, weil wir Frauen sind“

Das Ausmaß der Empörung über Konfetti in der Luft ist lächerlich, aber repräsentativ für eine Debatte, die die schwere Krise der Gewalt gegen Frauen immer wieder aus dem Mittelpunkt des Gesprächs verdrängt. Genauso repräsentativ für diese Debatte ist, dass der eigentlich so festliche Glitzer, der im Kampf gegen männliche Gewalt ein Symbol der Einforderung eines genussvollen und freudigen Lebens ist, zu einem destabilisierenden Element gemacht wurde.

Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, bezeichnete die Zerstörungen als „Provokation“, wodurch die feindliche und aggressive Haltung den feministischen Bewegungen gegenüber verschärft wurde und letztendlich in den sozialen Medien dominierte. Einmal mehr wurden Feministinnen im Netz attackiert. „Wir alle waren es“, war die Antwort auf Kriminalisierung und Drohungen.

Eine überwältigende Mehrheit der Frauen in Mexiko hat im Laufe ihres Lebens irgendeine Form von Gewalt erlebt: 66 Prozent laut dem Nationalen Institut für Statistik und Geographie. Die Angriffe auf Frauen haben eine tödliche Absicht. Ein Hassverbrechen, für das wir einen Namen schaffen mussten, um das Unverständliche zu verstehen: Femizid.

Sie hassen uns, weil wir Frauen sind. Sie hassen uns, weil wir nicht bereit sind, zu gehorchen.

Die Malereien und Graffitis bilden das ab, was zum Schweigen gebracht wurde, die Anklagen, die keinen Weg durch die Rohre einer ineffizienten Justiz fanden. Laut der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik der Vereinten Nationen war Mexiko 2018 das Land der Region mit der zweithöchsten Anzahl von Femiziden. 898. Laut UNO neun pro Tag. Die Wände werden gereinigt. Die Getöteten kommen nicht zurück.
Nun hat Sheinbaum wegen der Gewalt gegen Frauen für Mexiko-Stadt den Notstand ausgerufen. Die Wendung in ihrem zuvor bestrafenden Duktus wurde vielfach kritisiert. Es ist allerdings unwiderlegbar, dass diese die Folge eines unaufhaltsamen und entschlossenen feministischen Kampfes ist, der dieses Jahr geprägt hat. Sie töten uns und wir verteidigen uns. Es wird fallen. Und wir werden es zum Fallen bringen.


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„DIE WAHLEN SIND EINE FALLE“

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Adriana Guzmán Arroyo
ist Aymara, lesbisch und Feministin. Sie gehört der Organisation Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Anti­patriar­chaler Feminismus) an, die sich in Folge des Massakers im Gas-Krieg 2003 gebildet hat. Die Organisation verortet sich in den Protestbewegungen der Straße und kämpft gegen geschlechterbasierte Gewalt und für die Verteidigung indigener Territorien. (Foto: privat)


Wie würden Sie die aktuelle Situation in Bolivien beschreiben?
Wir erleben in Bolivien einen rassistischen Staatsstreich und Putsch gegen die sozialen Organisationen. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es sich um einen Putsch handelt, weil wir andernfalls eine Regierung akzeptieren würden, die sich als demokratisch ausgibt, sich aber mittels Massakern, Kugeln, illegalen Festnahmen und Prozessen durchsetzt, die zu politischen Gefangenen führen. Die De-facto-Regierung hat erzwungen, dass die Geschäfte wieder öffnen und die Kinder wieder zur Schule gehen, um zu zeigen, dass Normalität herrscht. Gemeinsam mit den von ihr kontrollierten Medien hat die De-facto-Regierung eine Kampagne gestartet, in der die sozialen Organisationen, vor allem die Frauen und Indigenen, als diejenigen dargestellt werden, die Konflikte und Chaos wollen. Das stimmt nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Es gibt keine Normalität, nicht nachdem mindestens 34 Menschen ermordet wurden und Straffreiheit herrscht.

Welche Formen der Repression gibt es derzeit durch die De-facto-Regierung?
Das Militär hat sich nicht vollständig zurückgezogen. In bestimmten Stadtvierteln und Gemeinden führen Polizisten viele Kontrollen durch. Polizisten in Zivil, die Mitgliedern von sozialen Organisationen die ganze Zeit folgen, die uns fotografieren, die beobachten, mit wem wir in der Öffentlichkeit sprechen. Sogar heute noch, am 9. Dezember, können sie dich anhalten, dein Handy durchsuchen und dich in eine Gefängniszelle stecken. Viele politische Anführerinnen und Anführer wurden unter erfundenen Vorwänden festgenommen. Wir leben in permanenter Angst und müssen uns ständig überlegen, worüber wir im Bus oder auf der Straße sprechen. Das betrifft sowohl indigene Frauen als auch Männer, aber besonders indigene Frauen.

Inwiefern sind indigene Frauen besonders betroffen?
Nur einen Monat nach dem Putsch haben wir als Frauen bereits viel verloren. Die Angriffe, die Gewalt, die Erniedrigung von indigenen Frauen, die pollera [Anm. der Redaktion: Rock der Aymara- und Quechua-Frauen] tragen. Aufgrund eines neuen Dekrets darf im Außenministerium zum Beispiel niemand mehr in pollera oder mit aguayo [Anm. der Redaktion: Umschlag- und Tragetuch aus gewebter Wolle] arbeiten, alle müssen Anzug und Krawatte tragen.

Die Frauen, die sich gegen Faschismus und Rassismus stellen, wurden dafür bestraft. Vor allem Aymara-Frauen, sowohl in der Stadt als auch in den indigenen Gemeinden. Wir können nicht mehr ohne Angst durch die Straßen laufen wie vor zwei Monaten, weil sich der Rassismus verschärft hat. Vor dem Putsch hat auch Rassismus existiert, aber er war nicht straffrei. Da es einen plurinationalen Staat gab, konnten sie dir nicht einfach sagen „scheiß India“ oder „geh studieren, bevor du mit mir sprichst“. Heute können sie dich voller Abscheu anschauen und den Sitzplatz wechseln. Heute können sie dich überall misshandeln und demütigen. Viele Menschen, die den Putsch nicht direkt unterstützen, nutzen den Moment, um ihren zuvor unterdrückten Rassismus herauszulassen. Heute Morgen ging ich zur Bank und hatte dort einen Streit, weil sie mir sagten, dass ich mit meinen umgebundenen Tragetüchern nicht in der Bank sein darf. Sie fragten mich, warum ich nicht lernen würde, wie man zur Bank geht? Schon jetzt hat sich unser Leben grundlegend geändert.

Welche Rolle spielt die Justiz in dieser Situation?
In dieser Zeit des Putsches mit bewaffneten Gruppen und illegalen Verhaftungen gibt es kein Gesetz. Sie, der Putsch, sind das Gesetz. Du hast niemanden, bei dem du dich beschweren kannst. Wenn ich zum Beispiel verfolgt werde, wen soll ich dann anzeigen und wo? Die Polizei, die tötet? Das Militär? Bei der Justiz, die zu Unrecht Menschen ins Gefängnis bringt? Zwei unserer Genossinnen sind im Gefängnis und werden wegen Terrorismus verfolgt. Eine von ihnen hat mit einer wiphala, der Flagge der indigenen Völker, an einem Protestmarsch teilgenommen, die andere ist ohne Anlass auf der Straße verhaftet worden.

Diese Justiz hat zum Beispiel die Mitglieder des Wahlgerichtshofes inhaftiert, obwohl noch keine Untersuchung einen Wahlbetrug nachgewiesen hat. Die Präsidentin des Wahlgerichts, María Eugenia Choque, eine indigene Aymara, die die pollera trägt, wurde verhaftet, gefoltert und im Fernsehen in Handschellen vorgeführt, so als ob sie eine große Kriminelle wäre, und ohne Recht auf Verteidigung direkt ins Gefängnis gebracht. Andererseits wurden Anfang Dezember zwei verurteilte Frauenmörder freigelassen, ein weiterer steht kurz davor. Zwölf Vergewaltiger sind straffrei geblieben. Da es kein Gesetz gibt, sind die Richter nun vermutlich korrupt. Schon vorher war die Gerechtigkeit für uns Frauen eine schwierige Sache, aber jetzt ist es schlimmer. Wenn du eine Anzeige machst, wirst du verhaftet.

Die De-facto-Regierung hat Neuwahlen versprochen …
Ich und meine Organisation denken, dass die Wahlen eine Falle sind. Entweder die Wahlen werden gar nicht stattfinden oder sie werden unter den Bedingungen realisiert werden, die die De-facto-Regierung diktiert. Momentan gibt es keine Demonstrationen und keine Straßenblockaden mehr. Das hat die De-facto-Regierung erreicht, indem sie eine Vereinbarung mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und verschiedenen sozialen Organisationen zur Befriedung des Landes abgeschlossen und Neuwahlen versprochen hat. In dieser Vereinbarung steht, dass die Anführer der Proteste nicht verfolgt werden, aber die Regierung hält sich nicht an ihr Wort.

Wie ist angesichts dessen die Strategie der sozialen Organisationen hinsichtlich der Wahlen?
Manche meinen, dass wir gar nicht an den Wahlen teilnehmen sollten. Andere denken, dass die Partei der Bewegung zum Sozialismus (MAS, Partei des aus dem Amt geputschten Präsidenten Evo Morales, Anm. d. Red.) verschwinden sollte, aber die meisten planen sie wieder als politisches Instrument zu nutzen, denn letztendlich ist es die einzige Möglichkeit, um an den Wahlen teilzunehmen.

Im ersten Moment nach dem Putsch herrschte ein allgemeiner Terror, in dem sich unsere politischen Anführerinnen und Anführer versteckt haben. Nun sind wir in einem zweiten Moment, in dem wir verstehen, dass es uns lähmt, wenn wir uns von der Angst fressen lassen. Also streiten wir auch wieder auf den Straßen. Derzeit gibt es zwei Dimensionen des Kampfes. Zum einen Versammlungen und Diskussionen zwischen den verschiedenen Organisationen, um den Widerstand vorzubereiten. Zum anderen müssen auch die Wahlen vorbereitet und Kandidaten gesucht werden. Für uns als antipatriarchale gemeinschaftliche Feministinnen ist wichtig, dass ein Mann und eine Frau gemeinsam antreten. Wir glauben, dass Bündnisse mit der Mittelschicht nicht mehr funktionieren. Als Evo und Álvaro García Linares (ehemaliger Vizepräsident, Anm. der Red.) Kandidaten waren, repräsentierte Álvaro García die Mittelschicht. Aber die Mittelschicht ist rassistisch und erträgt nicht, dass wir nicht mehr ihre Angestellten sind. Deshalb sind sie auf die Straße gegangen und haben gesagt, dass Evo ein Diktator ist.

Als Wahlen angekündigt wurden, haben die Protestierenden die Blockaden aufgegeben. Sie haben gesagt, dass Sie die Wahlen für eine Falle halten. Wird darüber nachgedacht, wieder zu mobilisieren?
Es war ein Fehler die Blockaden aufzugeben, aber es gab auch einen sehr starken Druck und außerdem fehlende Einigkeit. Es ist nicht wie 2003 während des Gaskrieges, den wir auf der Straße durchstehen konnten. Die Organisationen sind jetzt geschwächter. Wären wir auf der Straße geblieben, wären wir allerdings gestärkt worden, denke ich. Es gibt zwei kritische Momente, die sicher zu einer erneuten Mobilisierung führen werden, weil sie nicht durch Dialog gelöst werden können: Erstens wenn sie versuchen, der MAS unter dem Vorwand von Betrug und Unregelmäßigkeiten die Zulassung als politische Partei zu entziehen – denn das ist einer der Pläne der De-facto-Regierung. Und dann am Tag nach den Wahlen, falls sie durch Stimmen oder Betrug gewinnen.

Dazu kommt noch die wachsende Empörung und Wut über die Toten, über die Straffreiheit und über die Erniedrigung durch die Gewährung einer Entschädigung von 7.000 Dollar pro Toten seitens der Regierung, wenn die Familien unterschreiben, dass sie niemals eine juristische Untersuchung anstrengen werden.

Wer sind die Gruppen im Widerstand? Sind sie sich einig in ihren Forderungen?
Es gibt verschiedene Organisationen im Widerstand gegen den Putsch: Die Kleinbauernvereinigung, indigene Organisationen, Arbeiterorganisationen und Frauenorganisationen. Natürlich gibt es Uneinigkeit. Das hängt auch damit zusammen, dass wir mehr als 13 Jahre Teil des Staates gewesen sind, in denen es große Machtkämpfe und sehr viel Konkurrenz gab, etwa um Ministerämter. Viele Anführerinnen und Anführer repräsentieren die Basis nicht mehr. Aber es gibt Gemeinsamkeiten, zum Beispiel dass die Massaker nicht hingenommen werden und die Verantwortlichen für die Toten nicht straffrei bleiben dürfen. Wir von Feminismo Comunitario Antipatriarcal (Gemeinschaftlicher Antipatriarchaler Feminismus) gehören zum Beispiel nicht zur MAS. Aber wir kämpfen gegen den Staatsstreich, gegen den Faschismus, gegen den Fundamentalismus, gegen die Zwang zur Bibel.

Gleichzeitig müssen wir auch Selbstkritik üben. Uns Feministinnen ist es wichtig, die patriarchalen Pakte von Evos Regierungszeit überwinden zu helfen. Wir haben es nicht geschafft, den Staat zu kontrollieren, die extraktivistische Politik zu beenden, den Kampf gegen Gewalt gegenüber Frauen zur Priorität zu machen. Wir haben es auch nicht geschafft, den Bergbau zu verstaatlichen, denn transnationale US-Unternehmen nehmen sich weiterhin das gesamte Erz des Landes. Ich erzähle das, weil es eine reduzierte Sichtweise des Feminismus gibt, der strukturelle Aspekte ausklammert.

Können Sie das näher ausführen?
Der Feminismus verwechselt oft die Konzepte des Patriarchats und des Machismus. Das hat auch mit der Theorie zu tun, die vor allem in Europa entwickelt wurde, wo zum Beispiel von machistischer Gewalt gesprochen wird. Luis Fernando Camacho etwa, der den Staatsstreich anführt und die reichsten Unternehmer des Landes, die Großgrundbesitzer, vertritt: Menschen wie er haben Kapital und Land, in ihrer täglichen Praxis leben sie von der Ausbeutung von Frauen in ihren Territorien, in ihren Ländern, in ihren Unternehmen, in ihren Fabriken. Sie fördern die Kultur der Gewalt der Bosse; sie vermeiden es Steuern zu zahlen, machen im Bergbau Geschäfte, haben Holzfirmen, fördern den Faschismus. So jemand ist ein Patriarch, auch wenn er wie etwa Camacho in seinen Äußerungen Frauen gegenüber sehr respektvoll ist. Evo Morales ist dagegen bekanntermaßen ein Macho: Er macht Witze über Frauen und glaubt, dass wir Frauen uns doppelt oder dreifach anstrengen müssen, um zu beweisen, dass wir fähig sind. Das ist schlimm für einen Präsidenten, aber dennoch stellt ihn das nicht auf die gleiche Stufe wie die Putschisten. Letztlich ist das Patriarchat etwas Strukturelles, das mit dem Kapitalismus in Verbindung steht, während der Machismus ein Verhalten ist.

Kann der Putsch auch eine Gelegenheit bieten, um Kritiken an Evo Morales‘ Regierung, die aus der indigenen Basis kommen, umzusetzen?
Durch den Putsch haben sich die Organisationen im Kampf, im Widerstand gegen die Unterdrückung auf der Straße getroffen. Dadurch haben wir unsere Zersplitterung erkannt. Es war auch ein Moment der Autonomie, denn nicht alle Protestierenden unterstützten Evo. Wir haben versäumt, die Führungsperson zu wechseln, auch wenn Evo ein wichtiges Symbol in diesem Prozess ist, als indigener Präsident, der von der Straße, aus der Gewerkschaft kommt. Viele haben gesagt, es geht hier nicht nur um Evo, sondern darum, unsere Organisationen wiederaufzubauen, uns wieder zu vereinen mit dem Ziel, den Staatsstreich rückgängig zu machen.

Was können wir von hier aus tun, um Sie zu unterstützen? Was erwarten Sie von Aktivist*innen und den Regierungen in Europa?
Den Putschisten ist es egal, wenn wir im Land protestieren und wenn sie uns töten. Aber die De-facto-Regierung besteht aus Geschäftsleuten, die Rohstoffe durch transnationale Unternehmen aus Europa und den USA ausbeuten lassen wollen. Der internationale Druck tangiert sie. Es ist nötig, dass ihr in Europa und USA gegen diese Unternehmen kämpft, die hier durch Bergbau und Wasserkraftwerke die Wälder zerstören. Mehr noch als uns hier zu unterstützen, brauchen wir, dass ihr dort kämpft, damit diese Unternehmen nicht mehr herkommen. Es ist wichtig, dass der Putsch und die Verbrechen auf internationaler Ebene verurteilt werden und dass die Gewerkschaften, sozialen Organisationen, politischen Parteien, Regierungen, das EU-Parlament und der US-Kongress die De-facto-Regierung als solche betrachten und nicht als demokratisch gewählte. Dieser Druck ist wichtig.


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DIE TRÄNEN DES FALLENDEN PATRIARCHATS

No están solas! Auf der Plaza San Martín ist keine* mehr alleine (Foto: marcha.org.ar)

„Es gibt drei Mechanismen, die uns Frauen einschränken und die wir bekämpfen müssen: Die Schuld, die Scham und das Schweigen“, verkündet Sandra Morán, die erste und einzige lesbische Abgeordnete in Guatemalas Parlament, die extra zum Frauentreffen nach Argentinien gereist ist. „Deswegen werde ich jetzt ein Gedicht vortragen. Es heißt: Schluss mit dem Schweigen!“, ruft sie, trommelt wild auf eine kleine Djembe und schreit immer wieder in die Menge: „Schluss mit dem Schweigen!“ Jedes Mal schreit die Menge zurück: „Schluss damit!“ und hat damit ihren Ruf schon lautstark in die Tat umgesetzt.

„Schluss mit dem Schweigen!“

Es ist der zweite Tag des mittlerweile 34. Frauentreffens in Argentinien und auf einem der vielen Plätze der belagerten Stadt, der Plaza San Martín, findet eine riesige Asamblea (Versammlung) der antikolonialen Feminist*innen des Abya Yala statt. Abya Yala ist der Begriff in der Sprache der Kuna, unter dem der Kontinent Amerika vor der Ankunft Kolumbus‘ bekannt war. Wie viele Menschen auf dem Platz versammelt sind, ist unmöglich zu zählen, aber soweit das Auge reicht, sieht man in die Luft gestreckte Fäuste mit ums Handgelenk gebundenen grünen Tüchern, dem Zeichen des Kampfes für das Recht auf Abtreibung. An diesem Nachmittag sprechen hier viele Frauen* aus verschiedenen Regionen des Abya Yala, erzählen von ihren Kämpfen in ihren Territorien: Honduras, Ecuador, Wallmapu, dem sogenannten Chile und vielen anderen. Ihre Territorien sind eng verbunden mit ihren Körpern, ihren Leben und der sozialen Reproduktion. Viel zu oft handelt es sich dabei um Kämpfe, um diese Territorien zu verteidigen – gegen Ausbeutung, Plünderung und Gewalt, gegen den repressiven Staat, das internationale Kapital, das Patriarchat. „No están solas“ – „Ihr seid nicht allein!“ skandieren die tausenden Anwesenden immer wieder und ein warmes, aufregendes, das Herz zum Zerspringen bringendes Gefühl, nicht mehr allein mit den Kämpfen und Sorgen und dem Ungehorsam zu sein, hat die ganze Plaza eingenommen.

Seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen statt

An allen Ecken und Enden der Kleinstadt, die nur etwa 60 Kilometer vom Zentrum von Buenos Aires entfernt liegt, finden dieser Tage Asambleas, Workshops, Talkrunden, Märkte und Aktionen statt. Jeder Raum, der nicht von Diskussionsrunden besetzt ist, dient als Unterkunft für die zehntausenden Frauen und Queers, die aus dem ganzen Land angereist sind, um an dem Treffen teilzunehmen – dem Grundpfeiler der feministischen Bewegung Argentiniens. Schon seit 34 Jahren findet das selbstorganisierte Treffen der Frauenbewegung statt. Zum ersten Treffen 1986 kamen etwa 300, von da an wuchs es beständig, auf 15.000 im Jahr 2007, auf 70.000 im Jahr 2017 und auf über 200.000 in diesem Jahr. Das Wort massiv fällt oft, innerhalb dieser Massen bekommt es jedoch erst eine wirkliche Bedeutung. Es ist ein Treffen, bei dem die ganze Stadt von Feminist*innen übernommen wird. Überall laufen und diskutieren, versammeln und drängeln sie sich, singen und marschieren sie in Gruppen durch die Straßen und schmettern Melodien aus dem schier unerschöpflichen Repertoire an Parolen gegen das Patriarchat: „Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“, oder „Hey, hey, wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet!“. Hier eine Demo, da eine asamblea, an dieser Plaza ein pañuelazo (Protestveranstaltung mit grünen Tüchern), an jener eine Kundgebung, hier eine Küfa, dort eine peña (Tanzveranstaltung) und alles voller singender Feminist*innen. Jedes Jahr wechselt der Ort des Treffens, die nächste ausrichtende Stadt wird auf der Abschlusskundgebung bestimmt. Manchmal sind es kleine Provinzhauptstädte mit 3.000 Hotelbetten wie vor zwei Jahren in der Provinz Chaco im armen Nordosten Argentiniens. Dieses Jahr ist der Austragungsort La Plata durch die geografische Nähe zur Hauptstadt und die zeitliche zur Präsidentschaftswahl besonders gut besucht und die Stimmung ebenso angespannt. Der erste Tag des Treffens fällt jedoch zunächst ins Wasser – die Tränen des fallenden Patriarchats, wie man munkelt – die Auftaktveranstaltung muss wegen Gewitters abgesagt werden. Wie in jedem Jahr wird als Vorsichtsmaßnahme die Kathedrale weitläufig mit Hamburger Gittern abgesperrt und von großem Polizeiaufgebot bewacht, denn die alljährliche Demonstration, das Herzstück des Treffens, führt immer einen radikaleren Teil der Demonstrant*innen, gerne oben ohne, an der Kirche vorbei, wo nicht selten Graffitis gegen die katholische Doppelmoral gesprüht werden, Mülleimer brennen und Mollis fliegen. Auch in diesem Jahr werden sieben Aktivistinnen vor der Kathedrale festgenommen, bald jedoch wieder freigelassen. Und während die größte feministische Demonstration, die es je auf einem Encuentro gegeben hat, langsam zu Ende geht, läuft im Fernsehen wie in einer Parallelwelt die erste TV-Debatte der Präsidentschaftskandidaten: sechs Männer diskutieren ernst vor schwarzem Hintergrund. Unzählige weitere unterhalten sich öffentlich darüber, was die sechs im Fernsehen gesagt haben. Von der Revolution in der Nachbarstadt scheint dort niemand was mitbekommen zu wollen.

„Achtung, Achtung! Passt auf euch auf, Machistas, ganz Lateinamerika wird feministisch!“

Die übergreifende Debatte, die sich durch alle der über 100 verschiedenen thematischen Workshops und unzähligen Nebenveranstaltungen zieht, ist wie auch schon im letzten Jahr die des Namens: der Umbenennung des Treffens von Nationales Treffen der Frauen in Plurinationales Treffen von Frauen, Lesben, Travestis, Trans, intersexuellen, bisexuellen und nicht-binären Personen. Auch in diesem Jahr hat das offizielle Organisationskomitee, das sich immer in der ausrichtenden Stadt zusammenfindet, allerdings meist von den Strukturen der kommunistischen Partei dominiert wird, keinen Raum zur Abstimmung über die Namensänderung eröffnet. Im Kampf um die Umbenennung hat sich eine nicht ganz selbstverständliche Allianz aus indigenen, migrantischen und queeren Aktivist*innen gebildet, zunächst zögernd, doch immer plausibler finden die verschiedenen Kämpfe um längst überfällige Inklusion solidarisch zueinander und mit ihnen ihre Protagonist*innen. So erobern Lolita Chávez, Maya k’iche’, Umweltaktivistin aus Guatemala und Claudia Vasquez Haro, Dozentin an der Universität von La Plata und Präsidentin des Vereins OTRANS, der für Rechte von Trans und Travestis in Argentinien eintritt, trotz Redeverbot mit vollem Körpereinsatz gemeinsam die Bühne der Abschlusskundgebung und rufen von dort unter johlendem Applaus die Umbenennung des Treffens aus. Denn die Realität des Treffens ist längst plurinational und queer, indigene Frauen* sind seit langer Zeit genauso wichtiger Teil der Bewegung wie verschiedene queere Identitäten. „Wir erkennen uns in diesem breiten Feminismus von unten wieder und kämpfen gegen jede Form von Gewalt, gegen Gewalt gegen Queers, gegen Xenophobie, gegen Rassismus“, ruft Vazquez Haro von der Bühne. „Compañeras, wir müssen lernen, uns gegenseitig zuzuhören und uns in unserer Verschiedenheit zu respektieren. Der Feind ist nicht hier unter uns, der Feind ist das Patriarchat!“ appelliert sie, jedoch bleibt die offizielle Anerkennung der Umbenennung auch in diesem Jahr aus. Eine Enttäuschung für die Feminist*innen des Abya Yala und die disidencias sexuales, der sexuellen Dissident*innen gegen die erzwungene Heteronormativität. Es bleibt unklar, ob das offizielle Organisationskomitee aus San Luis, dem Ort des Treffens im nächsten Jahr, die Namensänderung anerkennen wird.
Dennoch ist es wieder einmal vollbracht: Zehntausende Frauen und Queers haben sich organisiert, um oft etliche hunderte Kilometer zu dem wichtigsten Treffen des Jahres zu reisen. Und wie in jedem Jahr wird immer wieder gesungen: „¡Qué momento! A pesar de todo, les hicimos el encuentro“, will sagen: „Was für ein Moment! Trotz allem haben wir das Treffen gemacht“ – gegen „sie“, gegen die da oben, die, die nie zuhören wollen, die, die uns nie gesehen haben. Und es ist dieses Durchhaltevermögen einer jahrzehntelangen Tradition, sich gegen alle Hindernisse zu organisieren, sich zusammenzutun, um wieder zum nächsten Treffen zu reisen. Diese Praxis von Autonomie und Organisation und vor allem die Erfahrung, das Zusammensein zu zelebrieren, was die Bewegung in Argentinien so stark und mächtig gemacht hat. „Heute, compañeras, heute sind wir widerständig aufgewacht…” schließt Sandra Morán ihr gesungenes Gedicht, „und das Herz, das beinahe zu explodieren schien, hat es soeben getan!”

 


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„WIR HABEN DIE ANGST VERLOREN“

Mônica Francisco ist Abgeordnete der Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL, Partido Socialismo e Liberdade) und Mitglied der gesetzgebenden Nationalversammlung von Rio de Janeiro. (Foto: Diegsf via commons.wikimedia, CC BY-SA 4.0)

Unter der Regierung des Gouverneurs von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, tötete die Polizei im ersten Quartal 2019 434 Menschen. Was sind Ihrer Meinung nach die Praktiken des Staates, die anzuprangern sind?
Rio de Janeiro ist heute ein krimineller Polizeistaat. Es gibt zwar keine Todesstrafe, aber die Kriminalisierung und Verfolgung der Jugend und ein Klima ständiger Todesdrohung: Scharfschützen schießen gezielt auf die Leute in den Favelas. Insgesamt wurden in den letzten sechs Monaten 3000 Menschen umgebracht. Der Bundesstaat Rio de Janeiro kann als Narcostaat der Milizen und als Polizeistaat mit einer kriminellen Strafgerichtsbarkeit bezeichnet werden.

Inwiefern lässt sich in diesem Zusammenhang von einer Institutionalisierung der Gewalt sprechen? Wie viel Vertrauen können Schwarze, Angehörige der LGBTQ*-Szene und andere Minderheiten in Bezug auf den Schutz ihrer Rechte haben?
Für Mitglieder der LGBTQ*- Community ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Welt. Die Lebenserwartung einer Transgender-Person liegt bei 35 Jahren. Durch den Versuch ein selbstbestimmtes Leben zu führen, stimmt eine LGBT-Person ihrem möglichen Todesurteil zu. In der Bevölkerung findet eine fortschreitende Militarisierung statt. Letztere und die Nutzung von Kriegswaffen werden in hohem Maße gefördert. Die Absurdität des Polizeistaats zeigt sich in der Militarisierung des Alltags und der Ausweitung der Gewalt insbesondere gegen die immer wieder selben Bevölkerungsgruppen: die Schwarzen, die Jugendlichen und die LGBTQ*-Gemeinde.

Seit dem Amtsantritt Jair Bolsonaros lässt sich ein dramatischer Anstieg der Gewalt in den Favelas von Rio de Janeiro feststellen. Sowohl auf Seiten der Banden und der Polizei, aber vor allem auf Seiten der ärmsten Bevölkerungsschichten sind viele Todesopfer zu beklagen. In welchem Zusammenhang stehen die Unterdrückung der Armen, der institutionelle Rassismus und die Macht der Milizen?
Die Institutionen des brasilianischen Staates haben den Rassismus quasi internalisiert. Er findet in den Handlungen gegen diese Bevölkerungsschichten seinen Ausdruck. Die arme Bevölkerung Brasiliens ist Schwarz oder parda (mestizisch), wie sich Angehörige dieser Ethnie selbst bezeichnen, und macht mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Trotzdem gilt sie politisch als eine unterrepräsentierte Minderheit ohne Macht und ohne politische Ämter, mit den schlechtesten Lebensbedingungen, extrem schlecht informiert und gesellschaftlich abgehängt. Das erzeugt eine Lebensrealität, die gänzlich von institutionellem Rassismus und institutioneller Gewalt durchdrungen wird. Deutlich wird das an einem Bildungsdefizit, das sich durch Analphabetismus, erhöhte Schulabbrüche und durch kognitive Störungen bemerkbar macht: als Objekt von Gewalt und Unterernährung hast du häufig mit Problemen in der Schule zu kämpfen. Es gibt also eine Reihe von Wechselwirkungen, welche durch den institutionellen Rassismus und die Terrorisierung dieser Bevölkerungsschichten durch den Staat ausgelöst werden, dessen Grenzen vom Narcostaat zur Macht der Milizen fließend sind.

Welche Möglichkeiten des organisierten Widerstands sehen Sie? Was kann der Schwarze feministische Widerstand dazu beitragen und warum ist er wichtig?
Wenn man nach Lateinamerika und nach Brasilien schaut, stellt man fest, dass die wichtigsten revolutionären Widerstandsbewegungen in den letzten Jahren durch Frauen vorangetrieben wurden. Auch der Schwarze Feminismus entspringt diesem Prozess. Trotz des prekären politischen Umfelds gibt es eine Reihe junger, Schwarzer Kollektive, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Widerstand leisten. Sie machen aus ihrem Zuhause Räume des kulturellen, künstlerischen Widerstands, zum Beispiel in Form von rodas de rima (sogenannte Reimkreise: Zusammenkünfte der Hip-Hop Kultur in Rio de Janeiro, in denen Poesie und Musik präsentiert werden, Anm.d.Red.). Es gibt Medienkanäle, die als Sprachrohr des Widerstands dienen und für die kollektive Organisierung verwendet werden und verschiedenste Akteure mit einbeziehen. Es gibt trotz der aktuell sehr schwierigen Situation viele kleine Revolutionen. Die Rolle des Schwarzen Feminismus ist in diesem Prozess von besonderer Bedeutung. Dies zeigte sich zum Beispiel während der #EleNão-Kampagne (#ErNicht-Kampagne, s. LN 533), eine der wichtigsten Aktionen gegen die Wahl von Bolsonaro, die von Frauen angeführt wurde, welche sich über Facebook organisiert hatten. Die Frauen werden dadurch zu Vorreiter*innen revolutionärer Prozesse und Auseinandersetzungen. Sie produzieren nicht nur Antworten und Anklagen, darunter konkrete Aktionen auf nationaler Ebene wie bei #EleNão, sondern auch auf regionaler Ebene. Die Funktion der feministischen Bewegung bestand vor allem darin, eine Avantgarde im Prozess des Widerstands gewesen zu sein.

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit als Abgeordnete auch als evangelische Pastorin tätig. Es ist immer wieder zu hören, dass sich die Wahl Jair Bolsonaros größtenteils evangelikaler Unterstützung verdankt. Welche Rolle übernimmt die Kirche im aktuellen politischen Tagesgeschäft? Kann es eine Form des evangelikalen Widerstands geben und wenn ja wie könnte er aussehen?
Vor allem im zweiten Wahlgang haben viele Evangelikale durch Initiativen wie „Evangélicos com Haddad“ (Evangelikale für Haddad) versucht, die Kandidatur von Haddad zu unterstützen. Deshalb muss man sehr genau sein und nicht alle Evangelikalen über einen Kamm scheren. Die Evangelikalen in Brasilien sind nicht als Einheit zu betrachten, sondern es gibt unter ihnen eine große Vielfalt. Bolsonaro ist Katholik und sucht den Schulterschluss mit den ultrakonservativen und fundamentalistischen Katholiken ebenso wie mit den weißen, reichen und sich in Elitepositionen befindenden Evangelikalen, die sowohl mediale als auch finanzielle Macht über ihre Gläubigen ausüben können. Ich denke, dass vor diesem konservativen und extremistischen Hintergrund unser Einsatz um die narrative Hoheit in der Berichterstattung von besonderer Bedeutung ist. Als die Leute das im zweiten Wahlgang 2018 erkannten, schafften wir es 40 Prozent der Evangelikalen auf die Seite von Haddad (Kandidat der Arbeiterpartei PT, Anm.d.Red.) zu ziehen. Auch wenn es schon zu spät war, um diesen Kampf zu Ende zu führen, war dies vor allem die Leistung der progressiven Evangelikalen. Es war ein Affront gegen die konservative Mehrheit, die den biblischen Diskurs missbraucht hat um Gewalt und Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu schüren. Deshalb ist es für uns so wichtig, um dieses politische Feld zu ringen und eine alternative politische Sichtweise aufrechtzuerhalten.

Angehörige Ihrer Partei sehen sich Morddrohungen und öffentlicher Diffamierung durch Fake News ausgesetzt. Jean Wyllys verließ das Land. Wie schätzen Sie Ihre eigene Situation und die anderer Abgeordneter Ihrer Partei im Bundesstaat Rio de Janeiro aktuell ein?
Angesichts des Exils von Jean Wyllys, der Morddrohungen gegen Abgeordnete und Aktivisten und den Auftragsmorden, wie dem an Marielle Franco, kann man festhalten, dass es heutzutage in Brasilien eine riskante Angelegenheit ist, linker Parlamentarier zu sein oder als Verfechter des säkularen Staates, für kulturelle Vielfalt, für Frauenrechte oder gegen Rassismus aufzutreten. Als Parlamentarier wirst du zwangsläufig zur Zielscheibe, wie im Fall von Jean Wyllys durch die Verbreitung von Fake News. Das Problem ist nicht der bloße Angriff auf die Person, sondern vor allem, dass sich diese Form der falschen Berichterstattung in erster Linie an den einfachen Bürger richtet, der sich dem Gefühl der Ablehnung und des Hasses hingibt. Es muss nicht zwangsläufig sein, dass dieser Bürger einen Hinterhalt plant, um jemanden umzubringen, aber er kann es sein, der dich plötzlich an der Bushaltestelle, in der Metro oder in einem Laden angreift. Es ist also jemand, der zum Täter wird, weil er von einem Hassdiskurs beeinflusst wurde. Es ist nicht nur die Figur von Bolsonaro selbst, sondern das was dieser Diskurs in einem Teil der brasilianischen Bevölkerung angerichtet hat. Er richtet sich gegen Frauen, linke Politiker und Menschenrechtsverteidiger. Es sind die einfachen Leute, die sich mit Hass aufladen und die dazu in der Lage sind physisch oder verbal eine barbarische Gewalttat gegen jemanden auszuüben der neben ihnen auf der Straße läuft.

Was schlagen Sie vor, wie am besten mit dem Klima der Angst in der Öffentlichkeit umgegangen werden sollte?
Zunächst ist es wichtig, die Existenz der Angst anzuerkennen. Mein Slogan während des Wahlkampfs war: „Sie haben uns soviel genommen, dass wir die Angst verloren haben.“ Die Angst ist ein wichtiges Gefühl, um uns aufrechtzuhalten, zu schützen und auf uns aufzupassen. Aber die Angst darf uns nicht so sehr lähmen, dass wir nicht mehr kämpfen, Widerstand leisten oder uns kollektiv organisieren. Es ist wichtig, weiterhin die Stimme zu erheben, uns durch Aktionen sichtbar zu machen und so lange wie möglich Auffangnetzwerke aufrechtzuerhalten.
Welche Bedeutung hat der Funk für die Schwarze Bevölkerung in den Favelas?
Der Funk ist ein kulturelles und soziales Ausdrucksmittel, er dient der Verarbeitung von Erfahrungen, ist Abbild der Lebensformen der Schwarzen Bevölkerung in den Favelas. Er ist die Befreiung von der alltäglichen Unterdrückung. Funk, Samba, Jazz und Bossa Nova sind Ausdrucksweisen der Seele der Négritude (anti-kolonialer Kulturbegriff für Schwarze Kultur, Anm.d.Red.). Diese musikalischen Ausdrucksformen kommen aus der verletzlichsten Bevölkerungsschicht der Favela: der Jugend. Indem sie Funk schreiben, singen und tanzen, werden die Jugendlichen zu Protagonisten unserer Geschichte. Ich war selbst in der Funk-Szene engagiert und weiß um seine emanzipatorische Kraft.

Der Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco, deren Beraterin Sie waren, ist nun 20 Monate her. Sie ist zur Ikone des Schwarzen und feministischen Widerstands in den Favelas geworden. Was hat ihr Tod in den Favelas bewirkt?
Durch ihren Tod hat die Bevölkerung der Favelas verstanden, dass Körper, wie der ihre, leichtfertig weggeworfene Leben sind. Er offenbarte, dass der brasilianische Staat rassistisch ist. Ihr Tod bewirkte ein verstärktes Bewusstsein für feministische Kämpfe. Er brachte die Gewissheit, dass ihre Hinrichtung eine Botschaft an die Schwarzen Frauen darstellte und dass die Notwendigkeit besteht, trotz der andauernden Angriffe des Staates auf die Favelas von Rio de Janeiro, weiterhin Widerstand zu leisten. Gegen immer absurdere Formen der Gewalt antwortet die Favela mit Vernetzung, der Produktion von Kultur und Kräften, die soziale Antworten bereit halten.

 


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„EIN RAUM FÜR UNS“

Kampf für einen Ort der Erinnerung Straßenperformance des Kollektivs La Jauría (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

„Venda Sexy“ oder „Discotéque“ heißt das ehemalige Folterzentrum, in dem während der chilenischen Militärdiktatur vor allem studentische Mitglieder der Bewegung der revolutionären Linken (MIR) festgehalten, gefoltert und sexuell missbraucht wurden. „Venda“ heißt Augenbinde und soll darauf hindeuten, dass die Verhafteten mit verbundenen Augen in das Haus kamen. Der Name „Discotéque“ ist eine Anspielung auf die laute Musik, die während der Foltersitzungen gespielt wurde, um die Schreie der Opfer zu übertönen. „Die Opfer waren sowohl Frauen wie Männer“, erklärt Patricia Artés vom feministischen Kollektiv La Jauría. „Allerdings wurde die Gewalt an Frauen besonders systematisch und unverhältnismäßig ausgeführt. Daher kann man hier auch von geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen.“
Das Anwesen im Stadtviertel Macul, das dem ehemaligen Geheimdienst DINA in den Jahren 1974 und 1975 als Folterzentrum diente, ist heute in Privatbesitz. 2016 wurde es vom Ministerium für öffentliche Liegenschaften zum Erinnerungsort erklärt, gleichzeitig bot der Staat der Familie, in deren Besitz sich das Haus befand, 356 Millionen Pesos (umgerechnet 450.000 Euro) für den Verkauf an. Diese lehnte allerdings mit der Begründung ab, der angebotene Preis sei zu gering. Im Mai dieses Jahres wurde jedoch bekannt, dass sie das Haus für einen geringeren Betrag an eine Immobilienfirma verkauft hat. Dabei dürfen Erinnerungsorte nach chilenischem Gesetz nicht ohne staatliche Erlaubnis verkauft oder umgebaut werden.

„Cuerpas en guerra“ Das Kollektiv La Jauría inszeniert in Santiago „Körper im Krieg“ (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Nun arbeiten verschiedene Gruppen mit Überlebenden des Folterzentrums zusammen, um das Gebäude wiederzuerlangen. Eine dieser Organisationen ist das Kollektiv La Jauría, das aus einem feministischen Theaterprojekt entstand. Anfangs näherte sich das Kollektiv den Beziehungen Frau-Körper, Frau-Liebe und Frau-Klasse vom Theater her an. Ausgehend von der Erforschung dieser Aspekte, die verschiedene Vorstellungswelten, Aussagen und Erfahrungen miteinander verband, entwickelten die Frauen das Theaterstück „Cuerpas en Guerra“ (Körper im Krieg). Dieses Jahr haben sich die Aktivistinnen im Wirbel feministischer Bewegungen an verschiedenen Besetzungen von Bildungseinrichtungen vor dem Hintergrund der Forderung nach einer nicht-sexistischen Bildung beteiligt. „Wir hatten als Kollektiv das Gefühl, dass das Theaterstück als Mittel für unseren Kampf nicht ausreichte, also haben wir angefangen, Performances auf der Straße zu machen“, erklärt Patricia Artés.
Eine ihrer ersten Aktionen realisierte die Gruppe während des Papst-Besuchs in Chile, dann brachten sie sich bei den feministischen Bewegungen ein und schließlich auch bei den überlebenden Frauen der Militärdiktatur. Dabei befassen sie sich hauptsächlich mit sexueller Belästigung als geschlechtsspezifische Form der Aggression. „An diesem Punkt knüpfen wir an die Erinnerungsarbeit des Kollektivs Rebeldías Feministas an“, so Patricia Artés. „Seit letztem Jahr machen wir zusammen mit ihnen Performances für die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums. Es soll den Frauen als Ort der Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses überlassen werden.“

 „Hier wurde gefoltert“ Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung (Foto: Celeste Pérez Álvarez. Colectiva La Jauría)

Vor dem Hintergrund des nun erfolgten Verkaufs des Hauses fordern Feministinnen und Menschenrechtsorganisationen die Intervention des Ministeriums für öffentliche Liegenschaften, damit der Verkauf nicht rechtskräftig abgeschlossen werden kann. La Jauría entwickelt zusammen mit anderen Organisationen ein generationenübergreifendes Projekt mit dem Ziel, „die Gewalt des Staates, die Gewalt des Patriarchats und die politisch-sexuelle Gewalt als geschlechtsspezifisches Verbrechen sichtbar zu machen“, erklärt Patricia Artés. Vor allem mit Beatriz Bataszew, einer der Überlebenden des Folterzentrums und Leiterin des feministischen Kollektivs Coordinadora 8M, arbeitet La Jauría eng zusammen. „Sie verleiht dir Energie, nicht nur durch die Tatsache, dass sie das Folterzentrum überlebt hat, sondern auch durch ihr konsequentes, politisches und feministisches Engagement“, meint Patricia Artés.
Das politisch-künstlerische Schaffen von La Jauría entspricht keiner festen künstlerischen Gattung, Aktionen im Sinne des experimentellen Theaters stehen im Vordergrund. Patricia Artés erklärt es so: „Das heißt nicht, dass uns Kunst nicht interessiert. In unserem künstlerischen Ausdruck kommt der Gegenstand aus der Wirklichkeit. Aus diesem Grund ist das Werk, das wir mit unseren eigenen Materialien ausgehend von dem Theaterprojekt erschaffen haben, ganz klar performativ und hat den Charakter eines Zeugnisses. In unserer Selbstverortung sind wir mit dem klassischen Kunst-Aktivismus verzahnt, den Feministinnen im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Dieser Aktivismus ergibt sich aus der Dringlichkeit der Themen, aus der Anklage.“ Die Performances finden auf der Straße statt. Die Aktivistinnen besetzen bestimmte Plätze, verlesen Texte und stellen Szenen dar. Manchmal spielen sie auch Musik und singen. Dabei sind sie immer schwarz gekleidet, einige vermummt. Auf ihrer Kleidung tragen sie Botschaften, wie „Hier wurde gefoltert“.
Für Straßen-Performances vor dem „Venda-Sexy“ und einem weiteren ehemaligen Folterzentrum im September wurden Frauen mit und ohne Theatererfahrung aus verschiedenen Bereichen eingeladen. Diese Performances betrachtet das Kollektiv als Werkzeug, „das uns ermöglicht, uns auf den Straßen zu positionieren, um die sozialen und feministischen Kämpfe zu unterstützen.“ Der Kampf um die Zurückgewinnung des ehemaligen Folterzentrums ist nicht nur eine Verhandlung seitens der Bürokratie und der bekannten Menschenrechtsorganisationen. Die mögliche Zurückgewinnung wäre auch ein Erfolg der Mobilisierungen von Frauen und Feminist*innen. Für La Jauría und alle anderen Beteiligten besteht die Aufgabe laut Patricia Artés nun darin, „anzufangen, sich vorzustellen, was wir machen würden, wenn wir einen Raum nur für uns hätten“.

 


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GEMEINSAM UND VON UNTEN

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LUCÍA BOFFO
ist eine argentinische Sänger und Komponistin aus Ushuaia, Feuerland. Ihre eigenen Alben erschienen in den Jahren 2014 (Ellingtones) und 2017 (Diente de león). Seitdem ist sie hauptsächlich an gemeinsamen Musikprojekten mit unterschiedlichen Künstler*innen beteiligt, zuletzt bei La cocina magnética und La jaula se ha vuelto pájaro y se ha volado (beide 2019).

(Foto: Andrea Vargas)


 

Seit jeher gibt es Künstler*innen, die sich offen gesellschaftlich engagieren und solche, die ihre Arbeit eher als ästhethisches Produkt sehen. Wie stehst du zu diesem Konzept?

Ich denke, wir alle machen Politik und wir alle engagieren uns. Man muss hier aber zwischen Politik und politischen Parteien unterscheiden: Meine Musik ist nie parteipolitisch! Aber es ist unmöglich, nicht politisch zu sein. Mein musikalischer Partner Andrés Marino und ich gehen das Thema aus einer impressionistischen Sichtweise an. Im Song „Ella allí“ beispielsweise, der von meiner Großmutter handelt, habe ich metaphorisch eine – wie ich finde – feministische Kritik geäußert. In diesem Lied erzähle ich ihr ganzes Leben und bewundere ihren unglaublichen Optimismus. Ich sage „unglaublich“, weil sie wirklich ein beschissenes Leben hatte. Das lag vor allem an der Situation der Frauen in der Gesellschaft. Als meine Oma geboren wurde, wurde sie ihrer Mutter, meiner Urgroßmutter, weggenommen, weil es keine alleinerziehenden Mütter geben durfte. Das ist für mich pure Politik.

Bezeichnest du dich als Feministin?

Ja, ich könnte mich als Feministin bezeichnen, oder als lernende Feministin, ich entdecke mich gerade neu. Immer wieder merke ich, dass bestimmte Realitäten und Ängste, von denen ich dachte, dass sie nur mich betreffen, strukturell sind. Dass ich nicht die Einzige bin. Diese Erkenntnis stammt besonders aus der letzten Zeit, in der in Argentinien die Generation des gemeinsamen Bewusstwerdens ihren Höhepunkt erreicht hat. Das war nur möglich, weil immer mehr Frauen sich getraut haben, ihre Erfahrungen zu schildern.

Warum war das so wichtig?

Ich denke, nur wenn wir unsere Erfahrungen miteinander teilen, können wir den Stillstand beenden. Ich dachte mein ganzes Leben lang, ich sei eine Schisserin. In Wahrheit sind wir das alle, weil wir Gründe dazu haben: Weil sie uns töten und weil sie uns vergewaltigen. Es ist egal, wo wir sind. Wir müssen immer mit zwei Augen im Rücken herumlaufen, um zu sehen, wer hinter uns läuft. Neulich habe ich in einer Facebookgruppe von Argentinier*innen in Berlin gelesen, dass eine junge Frau von einem Typen bis nach Hause verfolgt wurde. Sofort erzählten viele Frauen, dass ihnen ähnliche Dinge passiert sind. Diese Erfahrungen gibt es, manchmal mehr oder weniger, aber es gibt sie überall. Wenn du dir bewusst machst, dass die Angst nicht nur deine ist, kannst du aufhören, dich allein zu fühlen. Daher ist es unglaublich wichtig, darüber zu reden, auch wenn diese Themen sehr unangenehm sind.

Interessieren dich diese Erfahrungen vor allem privat oder auch auf der musikalischen Ebene?

Ich versuche, diese Dinge in meinen Liedern zu thematisieren. Vor Kurzem habe ich einen Text geschrieben, der von einem ähnlichen Thema handelt: von der Macht, frei lieben zu können und mit der Person, die man mag, händchenhaltend herumzulaufen. Denn das können immer noch nicht alle. Zwei Männer können nicht frei miteinander händchenhaltend herumlaufen. Wieso nicht? Weil es so ist, weil sie verurteilt und angestarrt werden. Selbst wenn wir sie nur ansehen und in lieblicher Stimme denken „ach, wie süß“, dann diskriminieren wir sie. Weil wir das wahrscheinlich bei einem heterosexuellen Paar nicht denken würden. Bei solchen Ungerechtigkeiten wird mir immer wieder bewusst, wie wichtig ich es als Musikerin finde, Stellung zu beziehen. Selbst wenn mir nur ein paar Menschen zuhören, ist das notwendig. Mir ist es wichtig, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in der Musik, ob singend oder komponierend, zu hinterfragen.

Schließlich bist du ja selbst Sängerin.

Genau. Mein Mittel ist die gesungene Sprache. Und während ich überlege, was ich den Menschen erzählen möchte, stelle ich auch infrage, in welcher Sprache ich singe. Deswegen habe ich angefangen, auf Spanisch zu texten. Das Englische hat mich immer angezogen, es ist eine Sprache mit vielen Harmonien, Lagen und Bewegungen, die die Ausschmückung von musikalischen Frequenzen begünstigen. Aber mich hat die Stimme selbst als Instrument schon immer fasziniert. Wenn ich Instrument sage, dann meine ich den Moment, in dem das eine Wort dich innehalten lassen kann.

Text ist ein grundlegendes Element der Popmusik…

Auf jeden Fall. Er ist der rote Faden der Popmusik. Und in den Charts ist dieser rote Faden immer eine Geschichte, als hätte Disney sie geschrieben: heterosexuelle Liebesgeschichten. Ich habe eine Theorie, dass die Popmusik immer die gleichen Narrative hat: Ein Mann sucht eine Frau, ist mit einer Frau zusammen oder wurde von einer Frau verlassen. Der Großteil der Lieder wird auf Basis dieses Narrativs geschrieben. Ich selbst habe lange Zeit so geschrieben. Bis ich gesagt habe: Halt.

Du bist verheiratet. Was sagt die selbsterklärte Feministin zur Ehe?

Die Eheschließung hat schon immer eine seltsames Gefühl in mir ausgelöst. Ich habe mich schon immer als unabhängige Frau gefühlt und eigentlich nie an eine langfristige Beziehung geglaubt. Als meine Beziehung mit meinem jetzigen Ehemann dann schon so lange gehalten hat, war das eine Überraschung für mich. Aber eine so lange Beziehung ist nur mit viel Empathie und Sensibilität möglich. Mein Mann bewundert mich. Und dass ich als Frau für mein musikalisches Können bewundert werde, ist wichtig in einer Zeit, in der die musikalische Szene uns gegenüber so feindselig ist.

Woran liegt das?

Daran, dass sie es gewohnt sind, dass die Frau nur die Begleitung ist. Vor allem in öffentlichkeitswirksamen Momenten. Wenn wir uns die Musik der Vergangenheit angucken, etwa die Geschichte des Rock, sind immer die Männer die Musiker und die Frauen die Groupies. Natürlich nicht in allen Fällen, aber zum großen Teil.

Die feministische Bewegung in Argentinien ist wegen ihrer Stärke auf der ganzen Welt bekannt. Siehst du einen Effekt, den die Bewegung auf die Musikszene genommen hat? Hat sich etwas verändert?

Ich denke, es ist noch viel zu tun. Aber in Argentinien erleben Organisationen von Frauen seit längerer Zeit ihren Höhepunkt. Die Liedermacherin Teresa Parodi zum Beispiel hat viel erreicht, als sie Kulturministerin war. In dieser Zeit hat sich eine große Bewegung und ein großes schönes Chaos entwickelt, in dem viele Gruppen Platz gefunden haben. Ich glaube, es gibt in der Musikszene eine große Bewegung von unten. MUCABA, die Vereinten Musiker*innen der Stadt Buenos Aires zum Beispiel, sind eine Gruppe von musikalischen Frauen aus allen Genres, die sich einmal die Woche treffen und Aktionen organisieren. Sie sind eine der Gruppen, die auf Festivals für das Mercedes Sosa-Gesetz gesorgt haben, ein Gesetz, das in Argentinien sehr kontrovers behandelt wurde und auf das viele Männer allergisch reagiert haben. (Das Mercedes Sosa-Gesetz sieht vor, dass mindestens 30 Prozent der Acts auf Musikfestivals von Frauen gespielt werden und wurde im Mai dieses Jahres vom Senat angenommen, Anm. der Redaktion)

Hat sich mit dem Gesetz etwas geändert? Wirst du öfter eingeladen, auf Festivals zu spielen?

In meinem Fall als Jazzsängerin ist es sogar weniger geworden, das muss ich leider sagen. Trotzdem habe ich viel Beifall bekommen, wenn ich dann mal in einem Club gespielt habe.

Schreibst du das der allgemeinen Situation im Land zu oder der Tatsache, dass du eine Frau bist?

Das hat zweifellos auch mit der Krise zu tun. Die Konzerthallen wollen besondere Acts, die „funktionieren“ und Follower auf Instagram haben. Die Inhaber*innen müssen die zehnfachen Stromkosten zahlen, also müssen sie ihre Räume füllen. Und wenn man dort nicht reinpasst, nicht funktioniert, dann spielt man auch nicht. Es ist traurig, früher habe ich oft mit Gruppen an bestimmten Orten gespielt. Jetzt antworten sie mir kaum noch.
Trotzdem hat es auch damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Letztes Jahr gab es zum Beispiel eine Reihe mit Instrumentalmusik im Centro Cultural Kirchner. Die Reihe hieß „Die argentinische Jazzszene“ und es traten 18 Gruppen auf, in denen es nur eine einzige Frau gab, Belén López, eine unglaubliche Bassistin, die nur dort aufgetreten ist, weil in ihrer Band ein Musiker war, der am Programm mitgearbeitet hatte.

Gab es irgendeine Begründung seitens der Organisator*innen?

Nein. Aber es gab wichtige Kritik daran von Eleonora Eubel, einer großen argentinischen Sängerin und Komponistin, die ich sehr gern habe und bewundere. Ich glaube es war wichtig, dass die Kritik von ihr kam, weil sie eine ältere Dame ist. Es kam eben nicht von uns, der aufstrebenden Generation von „Frauen in Aufruhr“, wie manche meinen. Mit der Kritik wurde außerdem eine Liste von argentinischen Jazzmusikerinnen veröffentlicht. Und es waren nicht nur vier und auch nicht nur Sängerinnen.

Zum Glück gibt es immer mehr Veranstaltungen, die bewusst Musik von Frauen fördern und einen Raum geben…

Ja, die gibt es immer mehr. Eine andere wichtige Sängerin, Mavi Díaz, arbeitet in der Geschlechterkommission der argentinischen Vereinigung von Interpret*innen AADI und setzt sich dafür ein, dass in solchen Reihen auch Frauen eine Bühne bekommen. Tatsächlich hat es eine Zählung von Musikerinnen gegeben, damit die Programmverantwortlichen nicht sagen können: „Die gibt es nicht“. Diese Aktion wurde über das staatliche Musikinstitut organisiert. Es war ein wunderbares Projekt, das auch dazu geführt hat, dass wir uns untereinander vernetzen. Jetzt kennen wir uns viel besser als vorher, quer durch die musikalischen Genres. Das ist verrückt, vorher waren wir jede in unserer eigenen musikalischen Welt unterwegs. Jetzt formieren wir uns gemeinsam und von unten. Das ist wie mit der inklusiven Sprache, die man nicht aufhalten kann, wenn sie von unten kommt und sie niemand diktiert. Es ist etwas, dass einfach passiert, weil es passieren muss.

 


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GLITZER UND GEWALT

Flammender Protest Demonstrationen vom 16. August in Mexiko-Stadt / Fotos: Mirjana Mitrović

Im August wurden unabhängig voneinander zwei Fälle von Minderjährigen bekannt, die berichteten, von Polizisten in Mexiko-Stadt vergewaltigt worden zu sein. Eine 16-Jährige gab an, während ihres Praktikums im Museum Archivo de la Fotografía von einem Polizisten vergewaltigt worden zu sein. Eine 17-Jährige sagte aus, dass sie nachts auf dem Heimweg, nur zwei Straßen entfernt von ihrem Zuhause von vier Polizisten in deren Patrouillenwagen vergewaltigt wurde. Wie die mexikanische Tageszeitung El Universal berichtete, wurden die Beweise nicht ordnungsgemäß auf-genommen und somit ein ordentlicher Gerichtsprozess verhindert. Noch dazu wurde der Name des einen Mädchens an die Presse weitergegeben. Dies sind keine Einzelfälle, schließlich ist Mexiko bekanntermaßen eines der gefährlichsten Länder für Frauen, aber sie brachten ein schon lange brodelndes Fass zum Überlaufen.

Am Montag, den 12. August, demonstrierte zunächst eine überschaubare Gruppe von Frauen vor dem Gebäude für städtische Sicherheit in Mexiko-Stadt gegen Polizeigewalt und für die Aufklärung der Fälle sowie die Bestrafung der Täter. Dabei wurde der zuständige Sekretär Jesús Orta Martínez mit pinkem Glitzer beworfen. Die Demonstrantinnen zogen dann weiter vor die Zentrale der Staatsanwaltschaft. Einige der Teilnehmerinnen zerstörten eine Glastür des Gebäudes und hängten einen Schweinekopf auf. Die Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, Claudia Sheinbaum, welche Teil der Regierungspartei MORENA und die erste Frau in diesem Amt ist, betonte noch am gleichen Tag in einer Pressemitteilung, dass der Kampf gegen die Gewalt an Frauen bereits Teil des Regierungsprogramms sei. Zugleich nannte sie die Proteste eine Provokation. Auf Plattformen wie Facebook wurde die Verbindung von Glitzer und Provokation in feministischen Kreisen zum Meme-Hit. Beispielsweise wurden Bilder von Drogenfunden nun zu Bildern von polizeilich gesicherten Paketen mit pinkem Glitzer umgestaltet. Zugleich wurde Glitzer zum Protestsymbol, denn neben der Ironie reagierten viele vor allem entsetzt auf Sheinbaums Aussage.

„Mata a tu violador“ „Töte deinen Vergewaltiger“

Die Aussage der Bürgermeisterin dürfte auch die erstaunliche Schnelligkeit der spontan und dezentral organisierten Antwort angefacht haben. Innerhalb kürzester Zeit wurde in über 30 Städten Mexikos für Freitagabend, nur fünf Tage nach der „Provokations“-Demonstration, zu neuen Protesten aufgerufen. Bilder mit pink glitzernden Fäusten wurden von Smartphone zu Smartphone verschickt und die Gruppe Resistencia Femme teilte den Aufruf via Facebook unter dem Hashtag „Sie schützen mich nicht, sie vergewaltigen mich“, begleitet von der Forderung „Wir wollen Gerechtigkeit!“. Am Morgen der Demonstration veröffentlichten sie einen Brief, welcher u.a. an die Bürgermeisterin Sheinbaum und den Sekretär für die städtische Sicherheit Orta gerichtet war. Dabei prangerten sie die Unfähigkeit der Regierung an, „diejenigen zu ermitteln und zu bestrafen, welche die Menschenrechte der Frauen verletzen“ und erklärten „unsere Proteste entstehen, weil es der Staat selbst ist, der durch die Streitkräfte die Straftaten des sexuellen Missbrauchs begeht, die Täter schützt und die Opfer zum Schweigen bringt und erniedrigt“.
Am Freitagabend war dann in Mexiko-Stadt kurz nach Beginn der Demonstration in einem brennenden Kreis auf dem Boden der Satz „Strafverfolgung zu verlangen ist keine Provokation“ zu lesen. Dazu rief eine schwarz vermummte Frau mit Spraydose in der Hand laut in Richtung der anwesenden Pressevertreter*innen „Dieser Protest wird ein Spektakel!“ und setzte damit das Motto für diesen Abend. Stundenlang schmissen vermummte Frauen die Scheiben zweier großer Busstationen ein, welche sie vorher mit Graffiti überdeckt hatten und zündeten kleine Feuer. Das alles ereignete sich direkt gegenüber des Gebäudes für öffentliche Sicherheit. Neben pinkem Glitzer in der Luft wurden mehrere Feuerwerkskörper auf das Gebäude abgefeuert. Meist wurden diese Aktionen von den rund 2000 vornehmlich jungen Demonstrantinnen (Männer wurden konsequent durch Rufe und Glitzerattacken aus dem Demonstrationszug verbannt) mit Grölen und Applaus unterstützt, nur selten wurden die Aktionen von Teilnehmerinnen lautstark kritisiert. Die Polizei griff nicht ein und männliche Polizisten wurden erst gar nicht sichtbar aufgestellt. Erst als auf dem Weg zur Statue am Paseo de la Reforma eine Polizeistation nicht nur demoliert, sondern auch angezündet wurde, griff die Feuerwehr ein. Währenddessen zogen die Demonstrantinnen weiter und hinterließen ein mit Graffiti überzogenes Unabhängigkeitsmonument.

Die Frustration entlädt sich Aktivistinnen legten die Metrobus-Station Insurgentes in Schutt und Asche

Am nächsten Tag waren bereits alle Graffitis übermalt oder entfernt und die Glasscheiben und Werbeplakate der Busstationen ersetzt worden. Wie zu erwarten wurde in den darauffolgenden Tagen in der Presse und bei den Diskussionen in sozialen Medien wenig auf die Anliegen der Frauen eingegangen. Stattdessen wurde hauptsächlich der Vandalismus thematisiert. Feministische Gruppen berichten, dass sie neben den alltäglichen Attacken nun noch heftigeren Angriffen ausgesetzt seien. Nichtsdestotrotz greifen feministische Kollektive weiterhin das Thema der Proteste auf. Das Medienkollektiv Luchadoras (Kämpferinnen) lud feministische Juristinnen ein, die Frage „Reicht uns diese Justiz?“ zu diskutieren. Sie setzen aber auch weiterhin auf den Austausch mit Bürgermeisterin Sheinbaum. Vielleicht auch, weil viele der Aktivistinnen bezweifeln, dass bei der nächsten Demonstration wieder auf eine so konsequente Deeskalation gesetzt wird. Die Bilder der gewaltigen Präsenz der Frauen auf der Straße hinterlassen aber weiterhin den Eindruck, dass der feministische Widerstand in Mexiko eine neue Form sowie eine andere (Schlag-)Kraft entwickelt hat. Die Vernetzung hat ihre Funktionstüchtigkeit im ganzen Land bewiesen. Ende August fand ein weiteres feministisches Treffen in der Hauptstadt statt. Eine neue Demonstration ist zwar momentan nicht angekündigt, aber die Proteste haben gezeigt, wie schnell sich inzwischen Feministinnen landesweit zu Aktionen organisieren können.

 


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DIE BEWEGUNG DER FRAUEN

(Foto: Robert Swoboda)

MARCELA TURATI ist unabhängige Journalistin und beschäftigt sich seit langem intensiv mit Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Einzelne und die mexikanische Gesellschaft. Sie ist Mitgründerin des Netzwerkes Periodistas de a Pie (Journalisten auf den Beinen), einer Organisation welche die Qualitätsverbesserung des Journalismus in Mexiko zum Ziel hat. Für ihre Arbeit wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Auf der Internetseite www.adondevanlosdesaparecidos.org gibt es eine interaktive Karte zu Fundorten von Verschwundenen, welche Frau Turati auf der Konferenz vorstellte.


Seit über einem Jahrzehnt berichten Sie über das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko, dabei betonen Sie die besondere Rolle von Frauen bei der Suche nach ihren Angehörigen. Was sind Ihre Erfahrungen als Journalistin?
Als ich im Jahr 2008 anfing mich mit der Gewalt in Mexiko zu beschäftigen, fiel mir auf, dass es immer Frauen waren, die sich organisierten, die auf die Straße gingen für die Ermordeten und heute auch für die 40.180 Verschwundenen. Wir Journalistinnen sind heute ebenfalls organisiert. Die Männer sind eingeladen, machen aber nicht mit oder sind in traditionellen Organisationen engagiert. In den neuen Kollektiven sind vor allem Frauen. Wir arbeiten zusammen mit Anthropologinnen, Psychologinnen, Anwältinnen und begleiten die Kollektive von Müttern auf der Suche nach ihren Angehörigen, wenn sie demonstrieren, Veranstaltungen organisieren oder wenn sie versuchen Gesetze zu ändern und die UNO oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Überall sind es Frauen. Für mich war das sehr beeindruckend, ich war bis dahin überhaupt keine Feministin.

Warum nehmen die Männer nicht teil?
Es gibt Männer. Als sich die Bewegung das erste Mal zeigte, war an der Spitze ein Mann, der Dichter Javier Sicilia (im Jahr 2011, Anm. d. Red.). Er hat einige weibliche Attribute. Es gibt auch ein paar Ausnahmen, aber die Frauen sind beständig da und organisieren sich.
Doch wir stellen uns die gleiche Frage. Was ich oft gehört und gesehen habe, ist, dass der Mann sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, damit die teure Suche nach Verschwundenen finanziert werden kann. Er geht zur Arbeit und unterstützt sie damit. Für viele Frauen ist die Suche selbst zur Arbeit geworden. Ein anderer Zusammenhang ist der, dass Männer insgesamt häufiger Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen und Morden sind. Eine Mutter kann einem Auftragsmörder gegenüber treten oder um Erlaubnis bitten ein Gebiet zu betreten ohne derartiges zu provozieren. Mit der Anwesenheit eines Mannes stellt sich dagegen die Frage, wer die Kontrolle hat. Bei den regelmäßigen Treffen der Bewegungen gibt es eine sehr weibliche Dynamik, es wird auch geweint, dieser Teil fällt den Männern sehr schwer. Auf die ein oder andere Art nehmen sie also teil, aber nicht bei der regelmäßigen kollektiven Organisierung.

Wie schaut die mexikanische Gesellschaft auf die Frauenkollektive, welche nach ihren Angehörigen suchen?
Teil der Gewalt ist eine Stigmatisierung. Ob Mord oder Verschwindenlassen, ob Journalist oder wer auch immer, wenn sie dich umbringen oder dich verschwinden lassen, dann weil du etwas gemacht hast. Das ist es, was die Menschen glauben wollen und was die Regierung unterstützt: Die Bösen morden nur untereinander, also macht euch keine Sorgen.
Klar begann man zu sehen, dass es so nicht ist. Bei vielen Opfern ist das „Warum?“ ungeklärt. Und es gibt keine Justiz, die diese Frage stellt. Die Straflosigkeit in Mexiko liegt bei 98 Prozent, die Verbrechen werden von niemandem aufgeklärt. Deshalb hat das Narrativ auch lange funktioniert, bis heute. Obwohl es so viele Verschwundene gibt und es sehr wahrscheinlich ist, dass du jemanden davon kennst. Die Menschen beginnen zu sehen, dass das jedem passieren kann. Sie können dich verschwinden lassen für das Tragen eines Tattoos, weil sie denken du bist in einem Kartell. Das kann passieren, wenn jemand in einer anderen Region unterwegs ist, zum Beispiel in Sinaloa aber aus Michoacán stammt und dann angenommen wird, dass derjenige vom dortigen Kartell ist. Oder wenn eine Gruppe von Männern, Migranten oder Touristen mit einem gemieteten Truck unterwegs ist, die dann verdächtigt wird, zu einem verfeindeten Kartell zu gehören. Das haben wir sehr viel erlebt, bei Studenten oder Bauern und anderen. Es gibt also viele Möglichkeiten, dass etwas passiert. Jeder kann verschwinden.
Ich sehe, dass es Menschen gibt die darauf reagieren. Und ich würde gerne sagen, dass die mexikanische Gesellschaft sich dessen bewusst ist. Aber ich glaube es nicht. Es scheint eine gefährliche Normalisierung einzutreten. Wir erleben ständig diese Momente des Horrors und mir scheint, die Menschen sind jedes Mal etwas mehr daran gewöhnt: ‘Das passiert nun mal in Mexiko, es ist außer Kontrolle’. Ich sehe die Solidarität nicht, dass Menschen die Mütter auf der Suche nach ihren Verschwundenen unterstützen, mit ihnen auf die Straße gehen.

Im Jahr 2011 gab es die große Bewegung mit Javier Sicilia.
Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Als die Menschen das erste Mal im Fernsehen davon erfuhren und sahen, dass Präsident Calderón sich mit der Bewegung traf, wurde ihnen bewusst dass es überhaupt Verschwundene gibt. Mit Ayotzinapa (43 im Jahr 2014 verschwundene Student*innen, Anm. d. Red.) wurden sie wieder daran erinnert, weil die Bewegung sehr stark war. Es scheint mir aber, dass dies nicht zu den Prioritäten der Leute gehört.
Ähnlich ist es mit den ermordeten Journalisten. Diejenigen, die sich der Rolle des Journalismus bewusst sind, sorgen sich. Die Mehrheit ist jedoch weder solidarisch noch denkt sie darüber nach, es wird zur Normalität.

Welche Maßnahmen ergreifen Journalist*innen um sich zu schützen?
Das kommt darauf an, in welcher Region du arbeitest und was du recherchierst. Einige Dinge haben sich geändert, zum Beispiel wie wir an die Informationen der Polizei kommen. Früher sind wir zum Tatort gefahren, haben uns einfach Notizen gemacht und mit der Polizei gesprochen. In den Regionen wo es heute gefährlich ist, geht niemand mehr allein zum Tatort. Es gibt ein Netzwerk von Beobachtern, die darauf achten, dass alle zusammen rein und wieder raus gehen. Manchmal kann die Nachricht nicht veröffentlicht werden, weil Anrufer ihnen das sagen oder die Journalisten das so einschätzen. Für manche Zonen erstellen wir Sicherheitsprotokolle, eins ist dafür da, sich in regelmäßigen Zeitabständen zu melden, bleibt der Anruf aus, wird nach der Person gesucht. Es gibt vieles. Wir informieren uns über die neuesten Apps und so weiter.

Gibt es Hilfe von der Regierung und hat die neue Regierung von López Obrador etwas geändert?
Ich denke es ist noch zu früh dazu etwas zu sagen. Seit Obrador Präsident ist, ist die Zahl der ermordeten Journalisten exponentiell gestiegen. Es gibt zwei verschiedene Register, eins sagt es wären 17, das andere 9 ermordete Journalisten. Das hängt von der Methode der Erhebung ab, wir haben darüber eine interne Diskussion. Manche sagen, es sollten nur die gezählt werden, die wegen ihrer Arbeit umgebracht werden.
Die Regierung sagt, sie würde sich um die Presse kümmern, aber wir sehen verschiedene Dinge, die uns Sorgen machen. Zum Beispiel hält Obrador jeden Morgen eine Pressekonferenz ab und alle paar Tage spricht er dabei von der Presse als dem Feind. Er spricht von einigen bestimmten Medien, aber er verspottet sie. Wenn sie eine Frage stellen, sagt er, sie würden lügen. Er leugnet die Informationen, die ihm nicht passen, streitet sich mit den Journalisten, die er nicht mag oder droht ihnen. Es ist sehr schlecht in einem Land, in dem so viele Journalisten umgebracht werden, den Präsidenten dabei im Fernsehen zu sehen, wie er sie beschimpft. Das ist wie eine Einladung für andere Politiker, uns zu beschimpfen. Obrador mochte die Presse noch nie, vor allem die, die er konservativ nennt, betrachtet er als Feinde. Er erkennt die Arbeit der Medien nicht an und fühlt sich angegriffen. Obrador befasst sich mehr mit Baseball als mit dem Schutz von Jounalisten.

Sie schreiben viel über jegliche Art von Gewalt, welche Form der Sprache benutzen Sie?
Manchmal fehlen mir die Worte. Die Perioden der Gewalt wiederholen sich immer wieder. Ich versuche die Sprache der Narcos nicht zu kopieren, das wäre sehr einfach und ist verbreitet unter Journalisten. Wenn die Mafia zum Beispiel einen Platz in der Stadt besetzt, wird das in deren Ausdrücken wiedergegeben, die das verharmlosen oder legal aussehen lassen. Wenn jemand verschwunden gelassen wird, wird stattdessen gesagt, die Mafia habe ihn ‘hochgenommen’. Das nimmt den Taten das Gewicht. Auch die Regierung verwendet bestimmte Begriffe in dem Zusammenhang, wie ‘kollaterale Opfer’ für im Kreuzfeuer erschossene Menschen. Wir diskutieren auch darüber, ob wir das Wort ‘Kartell’ benutzen oder nicht, denn das ist eine Konstruktion der Regierung. Was ist mit den organisierten kriminellen Banden, die sich nicht unter diesen Begriff fassen lassen?
Eine lange Zeit habe ich Zeugenaussagen aufgeschrieben, um zu erzählen was passiert ist, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Familie und die Gemeinde hat, was die Täter und Opfer denken. Heute bin ich damit beschäftigt Daten aus Statistiken auszuwerten und sie mit den Regionen in Verbindung zu bringen. Das hilft mir Zusammenhänge zu verstehen und über die Einzelfälle hinaus zu gehen. So habe ich für meine Berichterstattung verschiedene Untersuchungsmethoden angewendet.

 


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„IM FUNK GIBT ES EINIGE MARIA MAGDALENAS“

Furacão 2000 Plattenfirma und Veranstalterin von Baile Funk  // Foto: Marco Gomes via flickr.com CC BY-NC-SA 2.0

Anitta hat über 40 Millionen Follower*innen auf Instagram, das Musikvideo „Bola, Rebola“ wurde allein am Erscheinungstag eine Million Mal auf Spotify abgespielt. Madonna wollte sich wohl ein Stück von Anittas Funk-Chic abschneiden, als sie in diesem Jahr die Brasilianerin für das gemeinsame Stück „Faz Gostoso“ anfragte. Der 26-jährige Superstar Anitta wird inzwischen als brasilianische Beyoncé gehandelt, ist jedoch nicht unumstritten in der brasilianischen Funkszene. Doch sie hat etwas Entscheidendes geschafft: Sie hat als Frau die Sounds aus den Favelas als funk pop an die Chartspitzen katapultiert.
Der brasilianische Funk, portugiesisch ausgesprochen „Fahngki“ [fa(ŋ)ki], entstand in den 70er Jahren in den Favelas von Rio de Janeiro, aus den Rhythmen des Elektro-HipHop, dem Miami Bass, gemixt mit afro-brasilianischer Percussion. Längst ist er auch in São Paulo zu finden und überall in den Peripherien. Perifería, dieses Wort fällt häufiger als Favela, wenn man funkeiras (Funkkünstlerinnen, Anm. d. Red.) zuhört. Perifería steht für abgelegene Stadtviertel mit wenig finanziellen Möglichkeiten, keiner Infra- struktur, oftmals ohne Asphaltstraßen, dazu prekär ausgestattete Wohnräume, wenn überhaupt, es bezeichnet das gesamte strukturelle Umfeld von dem, was der Volksmund Favela nennt.

Frauen im Funk waren immer Feministinnen

Der Funk aus Rio de Janeiro, der funk carioca, erzählte in seinen Ursprüngen von den Realitäten in diesen Peripherien, von Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit. Mit der Zeit haben sich zahlreiche Subgenres und Stilarten herausgebildet. Während im funk probidão der Drogenhandel im Mittelpunkt steht, geht es im new funk eher um Sinnlichkeit und Erotik. Manchmal machen die Texte auf dicke Hose, erzählen von Luxus, finanziellem Aufstieg, teuren Drinks, Wertgegenständen und Frauen, bisweilen mit explizitem Sex und frauenverachtenden Männerfantasien (funk ostentacão). Der funk melody ist eher romantisch bis kitschig, der funk ousadia nutzt explizitere sexuelle Anspielungen und Humor.
An die Anfänge des brasilianischen Funk erinnert heute nur noch der typische Groove. Wer zu der Musik die passenden Moves sucht, kommt an einem gehaltvollen Hüftschwung nicht vorbei: Oberkörper vorlehnen, leicht in die Knie gehen, die Arme auf den Oberschenkeln abstützen und dann „rebolar“ – wackeln: hoch und runter und bis zum Boden. Auf den Partys tanzen das nicht nur die Frauen. Aber auf den Bühnen kommen sie vor allem als Tänzerinnen vor, nicht als Wortgeberinnen. Und dann ist da so eine wie Anitta, die bekannter wird als alle männlichen funkeiros zusammen. Sie singt über weibliche Selbstbestimmung, Macht, Verführung oder Allerweltsthemen. Diskutiert wird aber vor allem über ihren Körper, ihre Schönheits-OPs oder ihren Hintern, den sie auch mal völlig unretuschiert und mit Cellulitis vor der Kamera schwingt, so wie Ende 2017 in dem Video zu dem Song „Vai Malandra”, auf Deutsch in etwa „Los jetzt, Luder“.

Mach dich bereit, ich werde tanzen, pass auf
(Ah, ah)
Tutudun (Ah,ah)
(….)
Ich werde nicht mehr aufhören
Du wirst das aushalten.

Funktänzerin Renata Prado „Im Funk ist Sinnlichkeit eine Form, den Machismus zu bekämpfen“ // Foto: Luan Batista

Die Botschaft: Ich mache was ich will, egal ob es euch gefällt, und ich nenne das Feminismus. Und wenn ich keinen Bock mehr habe, dann gehe ich. Für einen FAZ-Korrespondenten, der über das Video berichtete, steht dabei ganz schnell fest: Ihr Manifest sei „in Wahrheit bloß die Übertragung des drunten an den Stränden manifestierten sexistischen Frauenbildes auf die Dächer der Favela.“ Dieser Schluss liegt nicht fern, wenn man jede Form weiblichen Entblößens als Sexismus deutet. Dabei liegt der Unterschied im Detail: Anitta singt dabei über sich und dass sie weiß, was sie mit ihren Hüftschwung auslöst – sie steht auf der Bühne als Subjekt.
Es gibt Feministinnen, denen Frauen beim Hüftenkreisen Bauchschmerzen bereiten. Fast so, als ob Frauen, sobald sie ihre sexuelle Lust ausdrücken oder schlicht ihren Spaß am Hüftschwung, den feministischen Kampf um Lichtjahre zurückwerfen würden. Dabei ist es ja eigentlich ein Problem des Betrachters, Hüftschwung und Mann in einen kausalen Zusammenhang zu stellen, findet Renata Prado, Funktänzerin aus São Paulo. Sie ist selbst in einer Favela aufgewachsen und tanzt seit Teenagertagen Funk. Die rhythmische Bewegung der weiblichen Körpermitte als sexuelle Aufforderung zu deuten, komme aus einem christlichen Kontext. „In Afrika zum Beispiel, glaube ich, ist das Bild, das sie von Funk haben komplett unterschiedlich. Der Kuduro aus Angola ist dem Funk sehr ähnlich, also die Beckenbewegungen. Für uns ist das keine Sünde, das ist es nur durch eine eurozentrische Schablone. Alles, was also nicht in diese christlichen Konzepte passt, ist Sünde, ist falsch, ist nuttig. Schauen wir uns die Geschichte von Maria Magdalena an. Ich glaube im Funk gibt es einige Maria Magdalenas. Das meine ich total positiv. Denn wer war sie? Eine Frau, die mit ihrem Leben machte, was sie wollte.“
Dass Sinnlichkeit und Hüftshakes feministisch sein können, sei dabei in der Szene keine neue Botschaft, müsse nach außen aber oft erst erklärt werden, sagt Renata. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin, studiert Pädagogik und forscht zur Rolle der Frauen im Funk. All das hat sie in Talkshows, Zeitschriften und Kulturveranstaltungen gebracht. „Sinnlichkeit ist Teil der Funkkultur, und zwar auf eine lockere Art, Sinn- lichkeit nicht Erotisierung”, sagt Renata. „Das Problem ist, dass die Medien immer wieder die Körper dieser Frauen sexualisiert und kriminalisiert haben, weil sie Frauen sind, in ihrer Mehrheit Schwarze und aus der Peripherie.” Im Ballett würden die Körper der Tänzerinnen nicht sofort sexualisiert werden. „Funkeiras sind zunächst einmal Künstlerinnen und sollen auch so behandelt werden”, fordert Renata. Das Problem sei nicht, dass Schwarze Frauen tanzend dargestellt würden, sondern dass man sie auf ein bestimmtes Bild reduziere. Oder wie Djamila Ribeiro, brasilianische Black-Feministin und Philosophin schreibt: „Die Idee, dass jede Schwarze Samba tanzen kann (…) gehört zu Stereotypen, die das Ziel haben, uns an den Plätzen zu halten, die die rassistische Gesellschaft uns zugeschrieben hat“.
„Der Machismus ist nicht der des Funks oder des Hip-Hops”, so Renata weiter, „er reproduziert den Machismus der Gesellschaft. Es gibt verschiedene Formen, das zu bekämpfen. Im Funk ist die Sinnlichkeit eine der Formen, die die Frauen haben“. Für mehr Selbstorganisation unter den weiblichen MCs hat sie im vergangenen Jahr die Nationale Front für Frauen im Funk gegründet, im nächsten Jahr soll eine Dokumentation erscheinen über die prägenden Frauen in diesem Genre.
Nach Renata seien die wenigen Frauen im Funk schon immer Feministinnen gewesen. Doch blieben sie als Sängerinnen für das große Publikum unsichtbar. „Eine Tati Quebra-Barraco war zu Beginn der 2000er Jahre schon Feministin, als sie textete, sie sei hässlich aber in Mode oder mit einem Wortspiel zu einer Marke für Küchengeräte.” Tati singt als Frau „Dako é bom”, also die Küchenmarke „Dako” ist gut, dem Klang nach bedeutet „Dako” aber auch „den Hintern hinhalten”. Eine Anspielung als Frau auf Analsex und überhaupt auf Sex aus einer weiblichen Position löst etwas aus in einer Szene, in der darüber sonst nur Männer singen dürfen. Und tatsächlich finden sich auf Youtube-Videos von Tati Quebra-Barraco: Sie singt und tanzt mitunter hochschwanger und hüftkreisend in engen Leggins und Tanktop.

MC Carol „Der Funk hat mein Leben gerettet“ // Foto: Fernando Schlapfer

Immer mehr Schwarze Frauen aus den Peripherien steigen in den letzten Jahren selbst in der Szene auf, manche werden auch international erfolgreich – die funkeira MC Carol aus Niteroi bei Rio hat im April zum zweiten Mal in Berlin gespielt. „Eigentlich wollte ich Polizistin werden”, erzählt Carolina de Oliveira Lourenço, „aber dann stand mein Leben plötzlich auf dem Kopf. Mit 14 wohnte ich allein, Leute kamen und bieten einem Drogen an, auch zum Verkaufen oder Geld für Sex. Dann kam der Funk in mein Leben und hat mein Leben gerettet.” Wenn MC Carol im Jahr 2016 mit der Rapperin Karol Conka einen Song mit dem Titel „100 Prozent Feministin“ rausbringt, dann nicht, weil die Frauenwelt gerade ganz langsam aus einem Dämmerschlaf befreit wurde. MC Carol hatte diese Vokabel „Feminismus“ erst ein paar Monate zuvor gelernt, mit 22 Jahren, von Freund*innen, die für eine Aufnahmeprüfung lernten.
Wenn man sich unter jungen funkeiras umhört, sind viel eher als Anitta Frauen wie MC Carol oder Ludmilla, Tati Quebra-Barraco und Valesca Popozuda Namen, die als Identifikationsfiguren genannt werden. „Anitta ist eine Brasilianerin, die aus dem Funk kommt”, sagt MC Carol, „aber ihr Funk ist anders. Ich identifiziere mich nicht mit ihrer Musik, aber ich bewundere ihre Arbeit. Sie hat es weit gebracht.” Tatsächlich sind MC Carols Sounds härter, ihre Texte sehr persönlich und haben keinen Deut von der heileren Pop-Melodik Anittas.
Um die Jahrtausendwende besetzten erste weibliche funkeiras die Mikrofone und traten gegen sexistische männliche Narrative an. Als Tänzerin aktiv in dieser Funkszene war zu dieser Zeit auch die junge Marielle Franco. Die linke lesbische afrobrasilianische Politikerin ist selbst in einer Favela in Rio aufgewachsen. Im März 2018 wurde sie erschossen, bis heute sind die Umstände nicht aufgeklärt, doch der Fall ist höchst politisch und Marielle längst zur Märtyrerin erklärt. Kurz vor ihrem Tod hatte sie einen Gesetzesvorschlag vorgelegt, der die Funkkultur fördern und schützen sollte. Den gleichen Kampf führt die Tänzerin Renata Prado: „Funk wurde zeitlebens innerhalb der Politik nicht als Kultur behandelt, sondern im Bereich öffentliche Sicherheit. Auch das macht meinen Aktivismus aus, zu sagen: Funk ist Kultur.”
Es wäre für Marielle Franco daher eine Genugtuung gewesen, zu wissen, dass MC Carol in diesem Jahr auf dem wichtigsten Festival Brasiliens spielt und damit auf einem der größten weltweit: dem Rock in Rio. MC Carol schreibt dazu auf Twitter:„Ich werde diese Möglichkeit nicht verschenken, Leute. Die Favela hat gesiegt.“
Obwohl der Funk längst im Mainstream angekommen ist, bleibt er für die öffentlichen Ordnungshüter ein Synonym für Gewalt, Drogen, Armut und Kriminalität. Erst vor zwei Jahren scheiterte die letzte Petition im Kongress, die den baile funk, die Tänze in den Straßen der Favelas als „Gefährdung der Gesundheit von Kindern und Erwachsenen“ verbieten wollte. Während MC Carol an die US-amerikanische Brown University eingeladen wurde, um von ihrem Leben zu erzählen, während sie am 6. April zum zweiten Mal im Berliner Gretchen Club spielte, sitzt mit dem 26-jährigen DJ Rennan da Penha seit April eine der wichtigsten Figuren der Szene im Gefängnis. Er hatte auf einem Baile die Leute auf die eintreffende Polizei hingewiesen. Sofort hieß es, Drogenhandel sei im Spiel. Immer wieder kommt es bei solchen Anlässen zu Begegnungen mit der Polizei, die Show wird aufgelöst, Soundanlagen zerstört – im besten Fall. Die bailes werden verboten, oder von der Polizei geräumt. Immer wieder kommt es zu Schusswechseln mit der Militärpolizei, Festnahmen oder sogar Toten.
Eine Realität fern der Raveparties und Electroclubs der Mittel- und Oberschicht, in denen Drogen mitunter zum Lifestyle gehören. Es ist eine Kriminalisierung, die viele Stilarten des Black Movements durchliefen: Capoeira, Hiphop und ein brasilianischer Tanz, der heute als Kulturerbe gilt, sagt MC Cacau Rocha (25) funkeira und Dichterin aus São Paulo. „Das war mit dem Samba früher genauso. Als der dann akzeptiert wurde, hörte die Kriminalisierung auf. Leider ist das mit dem Funk nicht so, das hat mit Vorurteilen zu tun. Ich glaube an den Funk als Mittel in der Bildung. Er redet von unseren Ursprüngen, er ist eine Feier, fast schon ein Ritual. Daneben muss er auch von unserer Lebensrealität handeln, davon wie wichtig es ist, dass wir uns organisieren, um den tatsächlichen Aufstieg zu erreichen.“
Das dürfte in der aktuellen politischen Situation unter dem rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro noch schwieriger sein als zuvor. Funk ist nicht nur Text, Rhythmus, Körper. Er ist eine politische, kulturelle und soziale Bewegung aus Brasiliens Peripherien. Für viele junge Menschen ist er eine Perspektive und ein Ausblick auf ein finanzielles Einkommen. Vor allem ist er ein Ort für Sprache, Ermächtigung und der Ausdruck einer sich wandelnden lebendigen Kultur.


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