Zwei Jahre nach dem landesweiten Streik

Para leer en español, haga clic aquí.

Wo sind die Verschwundenen des Generalstreiks? Protestaktion in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Der landesweite Generalstreik 2021 gegen die Steuerreform des ehemaligen Präsidenten Iván Duque markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Kolumbiens. Am 28. April jährt sich der Moment zum zweiten Mal, seit dem die Opfer der staatlichen Repression auf Gerechtigkeit warten.
Hauptauslöser des Aufstands war die Unzufriedenheit der Bevölkerung über die steigenden Preise des Familienwarenkorbs (Anm. d. Red.: Basisprodukte und Dienstleistungen, die für den Lebensunterhalt notwendig sind), die schlechte Gesundheitsversorgung, die hohe Arbeitslosigkeit, Hunderte von systematischen Attentaten auf Aktivist*innen und Unterstützer*innen des Friedensabkommens. Tausende Jugendliche, Studierende, Arbeiter*innen, Angehörige der LGBTIQ+-Community, Lehrer*innen, Künstler*innen und Gewerkschaften u. a. gingen wochenlang auf die Straße, um zu protestieren und von der Regierung strukturelle Veränderungen zu fordern. Teil der Forderungen war auch eine Reform der Polizei, deren Dringlichkeit bei den Demonstrationen in den folgenden Monaten deutlich wurde.

Menschenrechtsorganisationen prangerten wiederholte gewalttätige Übergriffe der Polizei, der Mobilen Bereitschaftspolizei (Esmad) und der Armee gegen zivile Demonstrant*innen an. Laut dem Bericht, den die NGO Temblores und das Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien, Indepaz, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission IACHR vorgelegt haben, gab es allein zwischen dem 28. April und dem 12. Mai 2021 2.110 Fälle von Gewalt durch die Sicherheitskräfte, darunter 1.055 willkürliche Verhaftungen.

Die Eskalation der staatlichen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erreichte extreme Ausmaße, wie zum Beispiel im Falle des erzwungenen Verschwindenlassens für Stunden und sogar Tage. Während dieser Zeit wurden die Demonstrant*innen, meist junge Menschen, von Angehörigen der Sicherheitskräfte gefoltert.

In Deutschland gingen die kolumbianische Community und viele solidarische Menschen und Gruppen auf die Straße, um den Generalstreik zu unterstützen. In einer dieser Solidaritätsbekundungen beteiligte sich ein Demonstrant, der erst wenige Tage zuvor Kolumbien verlassen musste. So kam das Kollektiv „Unidas por la paz – Alemania“ mit Horeb Nicolás Castellanos in Kontakt. Er gehörte zu den fast 400 Jugendlichen, die Anfang Mai 2021 in Bogotá für mehrere Tage verschwinden gelassen wurden und Tage später, dank der Beschwerden und des Drucks der Zivilbevölkerung, an so ungewöhnlichen Orten wie Mülldeponien oder Wasserläufen wieder auftauchten. Auch heute noch ist von Vermissten die Rede, ohne dass genaue Zahlen genannt werden können.

Nicolás kam am 7. Juli 2021 in Berlin an, um sein Leben zu retten. Einige Tage später wandte er sich an unser Kollektiv, um um Unterstützung zu bitten. Im Kontext seines Asylantrags rekonstruierte er seine Erlebnisse in einem Dokument: „Die Gewalttaten und die illegale Inhaftierung für mehr als drei Tage gegen mich und Dutzende von Begleiter*innen fanden am 2., 3., 4. und 5. Mai 2021 statt. Wir alle wurden Opfer von physischer und psychischer Folter. Unsere Verhaftung war rechtswidrig. Ich wurde mehr als 80 Stunden lang entführt“, so Nicolás.

Am 2. Mai ging die Bevölkerung wieder auf die Straße, Nicolás befand sich im Viertel San Antonio, im Osten Bogotás. Aufgrund des Angriffs der Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung an den vorherigen Tagen mussten die Demonstrant*innen festlegen, wer an der Frontlinie (Spanisch: primera línea) stehen würde, um die demonstrierende Bevölkerung zu schützen. Nicolás war an diesem Tag Teil der primera línea.

Das Ziel war es, die Plaza de Bolívar im Zentrum Bogotás zu erreichen. Dort verlief die Demonstration mehrere Stunden lang friedlich. Mit Einbruch der Dunkelheit verließen jedoch viele ältere Menschen und Familien den Platz. Nach und nach verstärkte sich die Polizeipräsenz und die Polizei griff die Demonstrant*innen von einem Moment auf den anderen an. Nicolás berichtet: „Innerhalb von Minuten herrschte Panik und die gesamte Plaza de Bolívar war mit Tränengas eingenebelt. Wir flohen durch den unteren Teil des Justizpalastes und nahmen die Carrera 9a in Richtung Norden, denn die Bereitschaftspolizei griff uns an. Es fielen Schüsse und Blendgranaten neuer Bauart, die die Polizei ‚Vennon‘ nennt. Ich habe mehrere verletzte Jugendliche fallen sehen. Andere Jugendliche, die versuchten, den Verwundeten zu helfen, wurden brutal zusammengeschlagen. Bis heute stehen viele von ihnen auf den Listen der Verschwundenen. Wir liefen mit mehreren Genoss*innen in Richtung Westen, waren erschöpft vom Laufen und gelangten auf die Carrera 13 mit der Calle 17 zu einer Tankstelle, wo wir uns vergeblich zu verstecken versuchten, denn die Polizei kam. Wir waren sieben Genoss*innen. Die Polizisten schlugen uns heftig, sie nahmen unsere Habseligkeiten, mein Handy, meine Dokumente. Sie haben uns illegal gefangen genommen. Wir hatten viele Aufnahmen mit unseren Handys gemacht, aber sie sind verschwunden, das Einzige, was übriggeblieben ist, ist das, was ich ein paar Minuten vor dem Angriff an meine Mutter per WhatsApp schicken konnte. Die Polizisten schlugen uns mit ihren Knüppeln und Helmen auf den Kopf. Mich verletzten sie im Gesicht. Ich spritzte Blut aus Mund und Nase, sie traten mich, als ich am Boden lag, sie nahmen mir die Luft zum Atmen. Das war der traumatischste Moment, den ich je in meinem Leben erlebt habe. Unter uns waren auch einige Minderjährige, unabhängig von Alter und Geschlecht, sie haben uns alle in einen Lastwagen gepackt, bis dieser voll war.“

Nach dem Bericht von Nicolás identifizierte die Polizei die Mitglieder der primera línea und brachte sie in eine Arrestzelle, wo sie die Nacht verbrachten, ohne mit ihren Familien zu kommunizieren oder medizinische Hilfe zu erhalten. Die ganze Nacht hindurch wurden diese jungen Menschen geschlagen.

Am 3. Mai wurden sie auf größere Lastwagen verladen, die normalerweise für den Transport von Pferden verwendet werden. Sie ganze Zeit über durften sie nicht auf die Toilette gehen. „Nachts brachten sie uns zur Polizeistation in San Cristóbal Sur. Mehrere Polizisten stellten sich in einer Reihe auf, und als wir aus dem Lastwagen stiegen, griffen sie uns mit Helmen, Tritten und Fäusten an. In diesem Moment bedeckte ich meinen Kopf. Ich spürte, wie sie meinen Kopf, meinen Rücken, meinen ganzen Körper schlugen. Viele von uns fielen zu Boden. Wir stolperten, alles war chaotisch und die Polizei schlug weiter auf uns ein, bis sie uns in eine Arrestzelle brachte“, erinnert sich Nicolás genau.

Am 4. Mai wurden sie wieder auf einen Lastwagen verfrachtet und durch die Stadt gefahren, die ganze Zeit ohne etwas zu essen. In der Nacht erfuhr Nicolás, dass sie in Soacha, einer Stadt in der Nähe von Bogotá, waren. „Im Morgengrauen, am 5. Mai, holten sie etwa vierzig von uns aus der Polizeistation heraus. Wir waren schon weniger als am Tag zuvor, vielleicht die Hälfte. Ich wusste nicht, was mit den anderen passiert war. Diesmal waren wir nur Männer, und zuerst sagten sie uns, dass sie uns freilassen würden, aber dann hörten wir, dass sie den Befehl gaben, uns nach Mondoñedo zu bringen (Anm. d. Autor*innen: eine der größten Freiluftmülldeponien Kolumbiens). Stunden später ließen sie mich verwundet da, nachdem sie mir gedroht hatten, ich solle nicht den Mund aufmachen, sonst würden ich und meine Familie dafür bezahlen, denn sie wussten bereits, wer ich war, sie hatten meine Papiere.“

So gut er konnte, gelang es ihm, zu einem Verwandten zu gelangen. Aus Angst ging er wochenlang nicht mehr aus dem Haus. Seine Mutter und seine Großmutter wurden durch Beamte in Zivil bedroht, auch per Telefon, und über mehrere Wochen hinweg überwacht.

Vor der staatlichen Repression geflohen Horeb Nicolás Castellanos starb in Folge seiner Verletzungen am 25. März 2022 in Berlin (Foto: Unidas por la paz – Alemania)

Nicolás gelang es schließlich, das Land zu verlassen, weil sein Vater es schaffte, ihn als Tourist ausreisen zu lassen. In Berlin wurde er in einer Schutzeinrichtung untergebracht, wo er mit anderen jungen Flüchtlingen aus verschiedenen Orten der Welt zusammenlebte. Er begann, psychosoziale Unterstützung zu erhalten, die Willkommensklasse zu besuchen, und es gab sogar gute Aussichten auf Schutz durch das Jugendamt. Leider bekam er am frühen Morgen des 20. Februar 2022, einem Sonntag, um 2 Uhr morgens starke Kopfschmerzen und wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er wegen einer großen Blutung in der Schädeldecke operiert werden musste. Es handelte sich um ein Aneurysma. Nach der vierstündigen Operation lag er zwei Wochen lang im Koma. In der dritten Woche wachte er aus dem Koma auf, ein paar Wochen später wurde er aus der Intensivstation entlassen. Nicolás erlitt jedoch einen Rückfall und starb am Freitag, dem 25. März 2022, um 4 Uhr morgens.

Im Krankenhaus wurden bei den Untersuchungen Spuren von Schlägen auf den Schädel und das Gesicht sowie ein Nasenbeinbruch festgestellt. Dem ärztlichen Bericht zufolge könnten die vor Wochen in Bogotá erlittenen Schläge, die nicht medizinisch behandelt wurden, das Aneurysma verursacht haben.

Nicolás‘ Tod ist ein stiller Tod. Das ist auch der Fall vieler junger Menschen, die immer noch nicht aufgetaucht sind und deren Leichen, wie mehrere Organisationen in den letzten Wochen anprangerten, möglicherweise auf den Friedhöfen der Städte verbrannt wurden. Die derzeitige Bürgermeisterin von Bogotá, Claudia López, leugnet die Existenz von Verschwundenen während des Generalstreiks, aber die Geschichte von Nicolás zeigt uns, dass es sie sehr wohl gab.

Während des Generalstreiks nutzte die Polizei die Figur der „Überstellung zum Schutz“ (Spanisch:. traslado por protección), um Demonstrant*innen von einem Polizeizentrum in ein anderes zu verlegen, immer wieder und so lange, wie sie es für notwendig hielt, wie im Fall von Nicolás. In jenen Tagen war der Aufenthaltsort der außergerichtlich festgenommenen Personen unbekannt, da die Behörden sich weigerten, Informationen zu liefern. Vor dem Gesetz wird dies als „gezwungenes Verschwindenlassen“ gewertet.

Wie das Magazin Rollingstone in seiner digitalen Ausgabe vom 18. Januar 2023 berichtete, wurde bei einem Besuch der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Jahr 2021 festgestellt, dass 7000 Personen unter dem Vorwand der „Überstellung zum Schutz“ festgenommen wurden, um sie an der Teilnahme an den Protesten zu hindern. Heute sind die Zahlen dieser Festnahmen nicht bekannt, und es sind nur wenige Klagen eingereicht worden, da Angehörige und Freund*innen der Opfer um ihre Sicherheit und ihr Leben fürchten.

// DIE RÄDER STEHEN NOCH NICHT STILL

Alle zusammen In Lateinamerika haben sich Gewerkschaften mit zahlreichen anderen gesellschaftlichen Akteur*innen verbündet, hier etwa beim landesweiten Streik in Medellín (Kolumbien) im Mai 2021 (Foto: Oxi.Ap via wikimedia commons, CC BY-SA 2.0)

In Deutschland wird gestreikt − an einem Tag! Was wurde für diesen 27. März nicht alles vorausgesagt: „Warnstreik: ver.di und EVG nehmen das Land in Geiselhaft”, titelte die Welt. Der Bundesverband Güterverkehr und Logistik (BGL) warnte vor einem Versorgungschaos. Die Gewerkschaften handelten „gegen den Willen von Millionen Bundesbürgern”, sagte BGL-Präsident Dirk Engelhardt der Bild. Verkehrschaos sei allerorten abzusehen, vor allem wenn Schiene, Flughäfen und Autobahntunnel gleichzeitig bestreikt würden.

Das Gegenteil war der Fall. Auf den Straßen − wo Streikende in Frankreich Barrikaden bauen und Mülltonnen anzünden − war sogar weniger los als sonst. Die Mehrheit der Bundesbürger*innen trug die Warnstreiks mit Fassung und die Forderungen der Gewerkschaften mit: Bei der Befragung im ARD-Deutschlandtrend gaben 44 Prozent an, diese seien genau richtig, 8 Prozent der Befragten fanden, sie gingen nicht weit genug. Und tatsächlich lassen sich die Forderungen von ver.di und EVG sehr leicht nachvollziehen: 2022 gab es mit 3,1 Prozent den höchsten Reallohnverlust seit zehn Jahren sowie den dritten Reallohnverlust in Folge. Und die Prognosen zur Inflationsrate 2023 sind nicht gut.

Der Warnstreik war laut einer Sprecherin von ver.di und der EVG der größte seit drei Jahrzehnten. 350.000 Beschäftigte sind dem Streikaufruf gefolgt. Sichtlich erfolgreich war das Zusammengehen von ver.di und EVG und stellt eine neue Entwicklung dar: Erst durch die Koordination ihrer Streiks konnten sie die Infrastruktur so effizient lahmlegen und trafen die Arbeitgeber dort, wo es ihnen wehtut: Tausende von Flügen mussten gestrichen werden, Waren konnten nicht ausgeliefert oder produziert werden.

Andererseits lassen jahrzehntelanger Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften und gedämpfte gesellschaftliche Zukunftsperspektiven eine Annäherung an soziale Bewegungen notwendiger denn je erscheinen. Der gemeinsame bundesweite „Aktionstag” von ver.di mit Fridays for Future am 3. März im Rahmen des globalen Klimastreiktages ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ver.di zog dadurch eine gesellschaftliche und ökologische Dimension in den Arbeitskampf mit ein und näherte sich damit dem hierzulande verfemten politischen Streik.

Zu welch starken Mobilisierungen eine breite gesellschaftliche Allianz führen kann, lässt sich aktuell in Frankreich beobachten. Auch die wichtigsten Veränderungsprozesse der vergangenen Jahre in Lateinamerika beruhten meist auf dem Zusammenspiel von Gewerkschaften mit anderen politischen Kräften und Bewegungen. Die entscheidenden Paros Nacionales – die nationalen Streiks – in Kolumbien zwischen 2020 und 2021 gingen nicht von Gewerkschaften aus, sondern von den Stadtteilversammlungen (asambleas populares). Das gilt auch für die Protestbewegungen in Chile, wo die dort cabildo genannten Versammlungen in den Stadtteilen zu den wichtigsten politischen Akteuren wurden. In Ecuador ist die indigene Bewegung treibende Kraft und Gewerkschaften schließen sich ihren Forderungen regelmäßig an.

Indigene und soziale Aktivist*innen haben keine Angst, die Grundsätze des neoliberalen Modells in Frage zu stellen. Andererseits profitieren auch diese Aktivist*innen von der Unterstützung etablierter Gewerkschaften. Je mehr gesellschaftliche Sektoren sich zusammentun, desto größer wird die Akzeptanz für deren Kämpfe und umso mehr wächst der Druck auf die Gegenseite. So bringt es auch Lea Fauth in der taz auf den Punkt: „Der Druck auf die Politik hält sich in Grenzen, solange die Räder der Wirtschaft weiter rattern und Dividenden ausgeschüttet werden”.

AUFWACHEN NACH DEM GESELLSCHAFTLICHEN KNALL?

Proteste in Panama Regierung muss einlenken (Foto: Brandon Ortiz)

Panama ist eines der wenigen Länder der Region, in dem große Demonstrationen oder Massenproteste nur selten für Schlagzeilen sorgen. Weil das Land logistisch und finanziell gesehen in einer vorteilhaften Lage ist, entsteht häufig der Eindruck, dass hier alles in Ordnung sei. Das panamaische Bruttoinlandsprodukt verzeichnet laut Daten der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) für 2022 ein Wachstum von 8,2 Prozent, das Land ist eine der größten Volkswirtschaften der Region – und wächst wirtschaftlich gesehen in einem schwindelerregenden Tempo. Gleichzeitig ist Panama das sechstungleichste Land der Welt, was den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, die Verteilung des Wohlstands und die Lebensbedingungen angeht.

Die Proteste, die von Mai bis August dieses Jahres in Panama stattfanden, hatten in der Provinz Colón an der Karibikküste begonnen. Lehrergewerkschaften, Arbeitnehmer*innen und ganz normale Bürger*innen forderten bessere Lebensbedingungen, menschenwürdige Arbeitsplätze und eine gerechte Verteilung des Wohlstands. Die Provinz Colón ist nach Panama-Stadt die Stadt mit dem zweithöchsten Einkommen im nationalen Bruttoinlandsprodukt.

Hinter den Mobilisierungen im Mai standen Gruppen wie die Koalition für die Einheit Colóns (CUCO). Nach Aussagen des führenden CUCO-Aktivisten Edgardo Voitier gegenüber TeleSur zielten die Proteste darauf ab, die hohen Lebenshaltungskosten zu stoppen und die Kraftstoffpreise einzufrieren. Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, wurden im Stadtzentrum von Colón Straßenblockaden, Demonstrationen und Kundgebungen organisiert. Obwohl unklar ist, wie viele Menschen insgesamt an den Aktionen teilnahmen, konnte CUCO die Proteste in der Provinz wochenlang aufrechterhalten – und die Regierung damit zu einem Dialog zwingen.

Im Juli brachen die Proteste erneut aus, dieses Mal jedoch landesweit. Es wurden die größten Proteste seit der Rückkehr Panamas zur Demokratie vor 32 Jahren. Sie begannen mit Straßenblockaden und Demonstrationen an mehreren Orten: in der Hauptstadt Panama-Stadt rund um die Nationalversammlung, in der Provinz Veraguas an der wichtigen Panamericana-Straßengabelung von Divisa sowie in mehreren Orten der Provinz Chiriquí.

Für den 1. Juli hatten Lehrkräfte und Professor*innen landesweit zu Streiks mobilisiert. Sie hatten ein symbolisches Datum gewählt – traf der Tag der Großmobilisierung doch den dritten Jahrestag des Amtsantritts von Panamas Präsident Laurentino Cortizo.

Den Aufrufen der Lehrergewerkschaften schlossen sich spontan landesweit unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen an. Dazu gehörten einerseits Organisationen von Beschäftigten in Viehzucht, Fischerei, Landwirtschaft und Transportwesen sowie Schüler*innen. Sie alle schlossen sich in der landesweiten Allianz für die Rechte des organisierten Volkes (ANADEPO) zusammen, deren Aktionszentrum sich in der Provinz Veraguas befand.

Auf der anderen Seite gab es die Allianz für ein vereintes Volk für das Leben, die sich aus der Bauarbeiter*innengewerkschaft SUNTRACS, der Lehrervereinigung und verschiedenen anderen Gewerkschaften zusammensetzt und in der Hauptstadtprovinz verortet ist. Und schließlich mobilisierte auch die Nationale Koordinierungsstelle der indigenen Völker Panamas (COONAPIP), in der die sieben indigenen Gemeinschaften des Landes organisiert sind, zum Protest.

All diese Kräfte schlossen sich in zwei großen Bündnissen zusammen und forderten Lösungen für drei wesentliche Punkte. Dazu gehörte erstens die Senkung des Kraftstoffpreises, der im Mai und Juni bei sechs Dollar pro Gallone lag, auf drei Dollar. Zweitens forderten sie die Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel, die zuletzt um 3,5 Prozent gestiegen waren, drittens eine Kontrolle der Arzneimittelpreise.

Darüber hinaus forderten Bildungsorganisationen, dass der panamaische Staat sechs Prozent des BIP für Bildung bereitstellt. Man müsse die Schulen ausbauen, Gebäude im schlechten Zustand sanieren und die Arbeitsbedingungen und Gehälter des Lehrpersonals insbesondere in abgelegenen Regionen verbessern. Das Problem der sogenannten escuelas ranchos, Schulen mit prekären Lernbedingungen, oft ohne Wände und mit Erdboden, müsse gelöst werden.

Dazu kamen schließlich Forderungen nach einer Reduzierung und Eindämmung der öffentlichen Ausgaben, die in den vergangenen Jahren verglichen mit den Vorjahren um 5,6 Prozent gestiegen sind. Hierfür sollten die ebenso exorbitanten wie fragwürdigen Budgets des Präsidialamts, des Ministeriums für öffentliche Sicherheit sowie des Parlaments beschnitten werden. Die Regierung ist in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt Das Klima der Instabilität, das in den vergangenen Monaten in Panama herrschte, lässt sich auf einen Vertrauensverlust der staatlichen Institutionen zurückführen. Setzte man bei Amtsantritt der aktuellen Regierung noch Vertrauen darin, dass die Regierung Probleme lösen würde, hat diese sich nun in Skandale und Korruptionsfälle verstrickt. Die entsprechenden Fälle in der Nationalversammlung häuften sich. Gleichzeitig haben mehr als 80 Prozent der Menschen im Land Probleme beim Zugang zu Wohnung, Gesundheit, Bildung und Grundnahrungsmitteln, da die wirtschaftliche Unterstützung während der Pandemie zu keiner Zeit ausreichte.

Die Arbeitslosenquote liegt bei 9,9 Prozent, die Quote der informell Beschäftigten ist laut Angaben des staatlichen Statistikinstituts INEC allein in den vergangenen Monaten auf 48,2 Prozent gestiegen. Die Instabilität des Arbeitsmarktes und die Einkommensungleichheit werden damit in Panama zu einem zunehmenden Problem.

Die Regierung verhandelte zunächst in der Provinz Veraguas mit der ANADEPO-Führung und kündigte daraufhin an, den Kraftstoffpreis ab dem 15. Juli landesweit auf 3,95 Dollar zu senken. Dazu wurde auch das Einfrieren der Preise von zehn Lebensmitteln aus dem staatlich festgelegten Grundnahrungsmittelkorb erwähnt. Diese Maßnahmen genügten den Forderungen der Protestierenden jedoch nicht, geschweige denn die Liste der berücksichtigten Lebensmittel, die teils stark verarbeitet oder von fragwürdiger Qualität waren. Angesichts der Unzufriedenheit der Bevölkerung wies sogar das Gesundheitsministerium auf die Notwendigkeit hin, den Menschen einen gesunden und ausgewogenen Satz an Grundnahrungsmitteln zu ermöglichen. Sogar das Gesundheitsministerium zweifelt an den Maßnahmen Die Unzufriedenheit und die sozialen Unruhen hielten mehrere Wochen an. Auch wenn sich die Regierung den Forderungen der ANADEPO-Führung in Veraguas annäherte, demonstrierten die Menschen in anderen Landesteilen weiter und forderten die Einrichtung eines einheitlichen Runden Tisches für den Dialog. Mehrere Wochen lang wurde die Aufforderung der Regierung, die Straßenblockaden und Streiks zu beenden, ignoriert, da die Regierung diesen Runden Tisch verweigerte. Erst auf Vermittlung der katholischen Kirche hin wurde dieser schließlich doch noch am 21. Juli eingerichtet.

Unter dem Eindruck der Straßenblockaden sowie Massendemonstrationen im ganzen Land akzeptierte die Regierung die vom Runden Tisch für den Dialog vorgeschlagenen Bedingungen, darunter die Definition von 72 Gütern als Grundnahrungsmittel, erweitert auf Hygieneartikel. Die Gewinnspanne für bestimmte Produkte wurde auf höchstens 15 bis 20 Prozent begrenzt, der Benzinpreis wurde auf 3,25 Dollar pro Gallone eingefroren. Dazu wurde eine Nulltoleranzpolitik gegenüber Korruption vereinbart.

Im Bildungsbereich wurde eine schrittweise Erhöhung der Investitionen vereinbart. Die Abmachung legt fest, dass dies mit einer gerechten Verteilung geschehen soll, die die Qualität der Schulbildung stärkt. So sollen die hierfür vorgesehenen Mittel im Haushalt 2023 auf 5,5 Prozent des BIP und im Jahr 2024 auf sechs Prozent ansteigen. Außerdem wurde vereinbart, das Gesetz über das öffentliche Auftragswesen zu ändern, um die Mittelvergabe für den Unterhalt von Schulen zu erleichtern. So sollen öffentliche Mittel zukünftig schneller bereitgestellt werden können.

Schließlich verfügte die Regierung, den Preis von 170 Medikamenten für vorerst 6 Monate um 30 Prozent zu senken. Die Forderung nach einer Senkung der Preise einer Reihe wichtiger Arzneimittel bleibt eines der umstrittensten Themen: es bestehen wirtschaftliche Interessen an der Einfuhr von teuren Arzneimitteln, die in Panama bis zu 300 Prozent mehr kosten als anderswo.

Als Folge der erzielten Vereinbarungen endeten die Proteste schließlich im August. Noch im Oktober soll jedoch eine zweite Phase des Runden Tisches beginnen, in der strukturelle gesellschaftliche Probleme sowie offene Punkte besprochen werden sollen.

Die Protestwelle zeugt von der Zermürbung und Erschöpfung einer Bevölkerung, die es leid ist, ein unwürdiges Leben zu führen, in dem sich der Reichtum in den Händen einiger weniger konzentriert. Entsprechend sieht sie keine andere Möglichkeit mehr, als auf die Straße zu gehen. Für die öffentliche Verwaltung bietet sich nun eine gute Möglichkeit, das Vertrauen zwischen den Bürger*innen und der Exekutive wieder zu festigen und nach mittel- und langfristigen Lösungen zu suchen, um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. In den Worten des SUNTRACS-Anführers Saúl Méndez (LN 415) heißt das, dass „die Regierung nicht weiter nur für die Reichen in diesem Land regieren kann”.

Bis zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 bleibt noch Zeit, den sozialpolitischen Kurs zu korrigieren und Vertrauen und Entwicklung zu erreichen. Dabei müssen die in Vereinbarungen gegossenen Forderungen der Protestierenden berücksichtigt werden: Die jüngste Protestwelle hat unter Beweis gestellt, dass das pro Kopf drittreichste Land Lateinamerikas ein aktiver und sprudelnder Nährboden für Mobilisierungen ist, der jederzeit wieder explodieren kann.

GEGEN DEN KONSENS

Nicht genug Versammlungen finden noch am 22. Streiktag statt (Foto: DHSF Cusco)

Die Bevölkerung in Espinar, einer zum Department Cusco gehörenden Provinz in den südlichen Anden, war von den Regierungsmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie besonders betroffen. Die über 100 Tage andauernde strikte Ausgangssperre, die der konservative Präsident Martín Vizcarra am 16. März verhängt hatte, traf vor allem Viehzucht und Landwirtschaft. Sie machen in der Provinz etwa ein Drittel der Wirtschaftskraft aus. Dennoch waren sie im Gegensatz zum Bergbau nicht in dem im April veröffentlichten Regierungsplan zur Wiederbelebung der Wirtschaft enthalten.

Aufgrunddessen einigten sich die Vereinigung der Stadtviertel und städtischen Ansiedlungen Espinars, des Salado-Flussgebiets und die Einheitsfront der Verteidigung sowie Vertreter*innen der Distriktbürgermeister*innen am 14. Mai auf eine gemeinsame Forderung, um die prekäre Situation vieler Bewohner*innen abzumildern. Sie forderten die Einmalzahlung von 1000 peruanischen Soles (umgerechnet rund 240 Euro, Anm. d. Red.) für 44 000 Personen. Das Geld sollte aus dem Entwicklungsfonds entnommen werden, der zwischen der Minengesellschaft Antapaccay, die zum multinationalen Glencore-Konzern gehört, und der Provinz Espinar besteht.

Seit 2003 besteht ein Abkommen, das die ökonomische Entwicklung der Region zum Ziel hat. Der Entwicklungsfonds soll laut Abkommen von städtischer, bäuerlicher, staatlicher und unternehmerischer Seite konsensuell verwaltet werden. Der zu entnehmende Betrag gehöre also nicht der Minengesellschaft, so Rolando Condori, Präsident des regionalen Kampfkomitees von Espinar, gegenüber dem peruanischen Journalismusportal OjoPublico. „Es handelt sich um einen Fonds aus dem geschlossenen Rahmenabkommen”. Ähnlich äußerte sich der Vertreter des Netzwerks von Entwicklungsorganisationen Red Muqui, Jaime Borda: “Es ist ein einvernehmlich geschlossener Vertrag. Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft, sondern ein Transferabkommen für einen Anteil der Gewinne aus der Mine. Daher verlangt die Bevölkerung, dass der Vertrag eingehalten wird”.

„Die Fondsmittel sind kein Geschenk der Minengesellschaft“

In den nachfolgenden Verhandlungen weigerten sich die Vertreter*innen Antapaccays mehrfach, den Transferleistungen zuzustimmen. Nach Ansicht des Unternehmens käme eine solche Verwendung der Gelder dem Vertragsbruch gleich. Als Gegenvorschlag unterbreitete es ein Maßnahmenpaket, das aus der Verteilung von Medikamenten, Nahrungsmitteln, der Einrichtung von kostenlosem Internet und einem Kreditfonds für wirtschaftlich angeschlagene Bauern und Bäuerinnen sowie Geschäftsinhaber*innen bestehen sollte.

Dieser Gegenvorschlag war für weite Bevölkerungsteile inakzeptabel, da er an ihren konkreten Bedürfnissen vorbeiging. Insbesondere, weil nur wenige Menschen die Direktzuwendungen der peruanischen Zentralregierung, den sogenannten bono universal, erhalten hatten, drängte die Lokalverwaltung Espinars weiter auf eine monetäre Lösung. Am 14. Juli riefen die Mitglieder des provinziellen Kampfkomitees von Espinar und die Einheitsfront der provinziellen Interessensvertretung schließlich den unbefristeten Streik aus. Nachdem die Polizeipräsenz in der Provinz massiv erhöht wurde, ließen die Konflikte zwischen Sicherheitskräften und den Protestierenden nicht lange auf sich warten. “Die Bevölkerung hat sich friedlich versammelt. Sie [die Polizei, Anm. d. A.] haben auf alle eingeschlagen. Es waren viele Einsatzkräfte aus Lima vor Ort. Unsere sozialen Proteste sind friedlicher Natur”, verurteilte Rolando Condori das Vorgehen der Polizei.

Die Regierung ist vor dem größten Arbeitgeberverband eingeknickt

Dem Bericht der Nationalen Menschenrechtskoordination (CNDDHH) und Human Rights without Frontiers zufolge wurden drei Personen durch scharfe Munition und acht weitere durch Schrotkugeln und Tränengas verletzt. Zeug*innen berichteten über die Anwendung von Folter bei 20 Festgenommenen. Außerdem veröffentlichte der nationale Journalistenverband ANP ein Statement, in dem berichtet wird, dass der Reporter Vidal Merma im Zuge der Proteste von der Polizei bedroht wurde. Neben bewährten Protestformen wie Straßenblockaden und Protestmärschen setzten sich die Demonstrierenden am 28. Juli, dem peruanischen Nationalfeiertag, demonstrativ über das geltende Versammlungsverbot hinweg und zogen durch die Provinzhauptstadt. Während Präsident Vizcarra in Lima die Ausweitung von Bergbauprojekten – unter anderem auch solche von Glencore – als Motor für den wirtschaftlichen Aufschwung anpries, gab man sich in Espinar kämpferisch. Sofern der Präsident nicht auf die Forderungen der Demonstrant*innen eingehen werde, würde „die Bevölkerung Maßnahmen ergreifen, um die Mine zu schließen“, sobald die Bevölkerung dies fordere, so Rolando Condori. Der Streik endete nach 24 Tagen, am 7. August, unter der Schlichtung des vorübergehenden Ministerratsvorsitzenden Pedro Cateriano. Jener war nur 20 Tage im Amt und wurde am 6. August durch den Ex-Militär Walter Martos abgelöst.

Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Bergbaugesellschaften sind in Espinar keine Neuheit. Auch vor dem Rahmenabkommen 2003 hatte es Proteste gegen den Bergbau in der Region gegeben. 2012 wurde der Konflikt blutig, nachdem Bäuerinnen und Bauern über mit Schwermetallen verunreinigtes Land klagten: vier Personen kamen bei Protesten ums Leben. Trotz der Bergbauindustrie leben in der Region Espinar offiziellen Angaben zufolge 38 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und 40 Prozent haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Die Zentralregierung Limas hat bisher meist die Interessen der Industrie vertreten, ohne auf die Bedürfnisse der andinen Bevölkerung einzugehen.

Der schwelende Konflikt wurde durch das Reaktivierungsprogramm der Regierung verschärft. Mittlerweile ist die Regierung Vizcarras vor dem größten Arbeitgeberverband, der Confiep, eingeknickt. In den ersten Monaten dieses Jahrs schien es zunächst so, als könne Vizcarra die Distanz zur Großindustrie wahren. Doch ab Ende Mai folgte die Regierung beinahe jedem Vorschlag der Confiep, wobei sich insbesondere die Wirtschaftsministerin María Alva exponierte. Seither liegt das Hauptaugenmerk der Regierung darauf, den Wiederaufschwung der Wirtschaft offensiv zu forcieren. So wurden nach und nach Geschäfte, Industrie und Einkaufszentren geöffnet, während Krankenhäuser unter der Last der vielen Covidpatient*innen kollabierten. Bisher sind nach offiziellen Zahlen der Regierung zufolge über 29 400 Menschen an oder mit einer Sars-Cov-2-Infektion gestorben, damit hat Peru die höchste Sterberate in Lateinamerika.

Konflikte um extraktive Projekte kommen nicht zur Ruhe

Als eine der ersten Wirtschaftsmaßnahmen wurden die extraktiven Industrien wieder auf volle Auslastung gebracht. Eindrücklich brachte Pedro Cateriano, der kurzzeitige Premier, den neuen Regierungsfokus auf den Punkt. In seiner Antrittsrede vor dem Kongress belebte er einen der kolonialen Leitsprüche der neoliberalen peruanischen Rechten („Peru, Land des Bergbaus“) wieder. Dies war einer der Gründe, warum ihm verschiedene Fraktionen im Parlament die Vertrauensfrage negativ beschieden: die populistischen Parteien „Wir können“ (Podemos) und Union für Peru (UPP), die Bauernpartei FREPAP sowie der Linksblock Breite Front (Frente Amplio) stimmten gegen ihn. Vizcarra musste daraufhin ein neues Kabinett ernennen.

Das Reaktivierungsprogramm ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass Konflikte um extraktive Projekte nicht einmal während einer globalen Pandemie zur Ruhe kommen. Noch immer stehen Beschwerdeverfahren über Bergbauvorhaben aus, etwa gegen die Kupferbergwerke Tía Maria und Las Bambas in den südperuanischen Andendepartments Arequipa und Apurímac. Bei Protesten gegen die von vielen empfundene staatliche Vernachlässigung in der Krise sowie gegen die Ölförderung durch das kanadische Unternehmen Petrotal im Amazonasdepartment Loreto wurden in der Nacht zum 9. August drei Kukama von der Polizei erschossen. Die Kukama hatten unter anderem eine bessere Gesundheitsversorgung gefordert.

In Espinar ist seit der Schlichtung mittlerweile ein Monat vergangen und die sozialen Konflikte in der Region schwelen weiterhin. Währenddessen breitet sich das Virus weiter aus: In der Region gibt es über 1500 Infizierte und bereits 10 Tote. Viele Bäuerinnen und Bauern fordern Gerechtigkeit für die Opfer der Polizeigewalt. Das Gelände der Mine befindet sich derweil unter Polizeischutz.

MIT CACEROLAZOS AUS DEM TIEFSCHLAF

Foto: Yesid Sandoval

Laut und kreativ war der Protest, als die Menschen sich für den Auftakt des Generalstreiks in Bogotá versammelten. Im Takt des Trommelwirbels tanzten Jung und Alt vor der nationalen Universität, im Simón Bolivar Park und vor der Casa Nariño, dem Regierungssitz, mitten in der Hauptstadt. „Ich will in einem Land in Frieden und ohne Angst leben“, „Unsere Kinder sind kein militärisches Ziel“ oder „Basta ya“ („Es reicht“), stand auf den Plakaten der Demonstrant*innen, die ihren Unmut gegen die Regierung von Präsident Iván Duque zum Ausdruck brachten.

Damit war es allerdings vorbei, als am frühen Nachmittag Polizist*innen der Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD) mit Tränengas den gewaltlosen Protestzug, der zum Flughafen führen sollte, unterbrachen. „Ich habe mich in die Enge getrieben gefühlt. Wir waren Tausende, die versuchten in irgendeiner Ecke Schutz zu finden. Einige rannten los, andere stellten sich der ESMAD entgegen, wieder andere versuchten über das Geschehen zu berichten. Ich habe gesehen, wie die Wut und Angst nicht mehr zu bändigen waren“, schildert Daniela Quintero, Journalistin der Stiftung für Frieden und Versöhnung, die Eskalation der Proteste.

Auch die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Vermummten und der mobilen Einheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD) in Bogotá und Cali überschatteten die friedliche Stimmung und die vielfältigen Forderungen der Protestierenden. Vermummte warfen Steine auf Busstationen des öffentlichen Nahverkehrs und Molotov-Cocktails auf Polizist*innen. In beiden Städten wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt.

Die Polizei verbreitete eine Warnung vor Raubzügen von Kriminellen – die aber nie eintrafen

Die Polizei reagierte mit brutaler Härte. Militärs und Polizist*innen patrouillierten entlang der Straßen der ärmeren Bezirke Bogotás und Calis und warfen Steine auf Häuser und umliegende Gebäude, während die Bewohner*innen von drinnen die Ausschreitungen filmten und ins Internet hochluden. Als die Polizei in der Nacht zum 22. November die falsche Warnung von massenhaften Raubzügen durch Gated Communities verbreitete, bewaffneten sich einige Anwohner*innen mit Pistolen, Messern und Besen, um sich gegen die Kriminellen zu verteidigen, die aber nie eintrafen.

Andere Bürger*innen ließen sich währenddessen ihr Recht auf Protest nicht verbieten. Viele schlugen von ihren Wohnungen und Balkonen aus auf Töpfe und trotz der nächtlichen Ausgangssperre versammelten sich die Bogotaner*innen auf den Straßen und tanzten dort zum Takt der ersten landesweiten cacerolazos (Protestform, bei der durch Schlagen auf Kochtöpfe Krach gemacht wird). Sogar vor dem Haus des Präsidenten im Norden der Hauptstadt schlugen Hunderte auf ihre Kochtöpfe, während drinnen Iván Duque eine Fernsehansprache hielt. „Heute haben die Kolumbianer*innen gesprochen, wir hören ihnen zu. Der soziale Dialog war schon immer ein Aushängeschild dieser Regierung und wir müssen ihn mit allen Sektoren der Gesellschaft vertiefen“, sagt der Präsident, der bis jetzt keinen ernstzunehmenden Dialog mit dem Streikkomitee eingegangen ist. „Das kolumbianische Volk kann sicher sein, dass wir es nicht erlauben werden, dass Vandalen und Gewaltbereite die Gesellschaft erschrecken und vor allem die Möglichkeiten uns auszudrücken einschränken“, erklärte Duque weitergehend.

Es war dann aber die ESMAD, die den Protest blutig niederschlug und mit Wasserwerfern und Tränengas auflöste. Die Gewalt eskalierte, als am Samstag, dem 23. November in Bogotá ein Polizist dem 18-jährigen Dilan Cruz aus einer Entfernung von zehn Metern mit illegaler Munition den Kopf zertrümmerte. Aufgrund des Schädelbruchs wurde er sofort ohnmächtig. Drei Tage später erlag Cruz in einem Krankenhaus in Bogotá seinen Verletzungen, dem Tag seines offiziellen Schulabschlusses. Seitdem wird bei den Protestaktionen immer wieder betont: Dilan ist nicht gestorben, er wurde von der Polizei ermordet.


Mit Töpfen gegen die Regierung Im November fanden das erste Mal Cacerolazos in Kolumbien statt (Foto: Kolumbienkampagne Berlin)

Diese wird jedoch, wie zu erwarten, von der Politik in Schutz genommen. Unter dem Hashtag #NoPudieron schrieb die Innenministerin Nancy Patricia Gutiérrez, die 2011 wegen Vorteilsgewährung zu Hausarrest verurteilt wurde, auf Twitter: „Die Polizei wurde attackiert, damit sie reagiert und ihr später vorgeworfen werden kann, dass sie Menschenrechtsverletzungen begeht.“ Mitglieder der rechtsgerichteten Partei Demokratisches Zentrum (CD) gingen noch weiter und nahmen den ermordeten Schüler ins Visier: „Es wurde festgestellt, dass Dilan Cruz ein Randalierer war“, behauptete die Senatorin Paloma Valencia in einem Interview der Zeitschrift Semana. In der ersten Woche des Streiks wurden 769 Menschen (darunter 397 Polizist*innen) verletzt und 914 Menschen willkürlich verhaftet.

Dass ausgerechnet ein Reformpaket der Regierung das Fass zum Überlaufen brachte, mag zunächst verwunderlich klingen. Doch seine zum Teil gravierenden Folgen für die Lebensbedingungen der Kolumbianer*innen erklären, warum so viele unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche dem Aufruf der Gewerkschaften folgten. Es wird zu Recht befürchtet, dass damit ein System weiter gefestigt wird, das Wachstum und Wirtschaftsinteressen vor die Arbeitsrechte der Bürger*innen stellt.

Trotz andauernder Proteste gegen die Reformvorschläge der Regierung wurde deren paquetazo (Gesetzespaket) in Windeseile im Senat durchgewunken. Ein Teil dessen ist die Steuerreform, die am 4. Dezember von der ersten Kammer des Senats ratifiziert wurde und die steuerliche Ungerechtigkeit in Kolumbien weiter vertiefen wird. Die darin enthaltene Steuersenkung von umgerechnet 264 Millionen Euro bei Megainvestitionen und der Steuererlass beim Kauf von Immobilien über 230.000 Euro sind ein sattes Weihnachtsgeschenk für Unternehmen und Superreiche. Populistisch ist dagegen der versprochene Erlass der Mehrwertsteuer an drei Tagen im Jahr, den Duque vorschlug, als die Proteste auf den Straßen über sieben Tage andauerten.

„Dilan ist nicht gestorben, er wurde von der Polizei ermordet“

Besonders groß ist die Ablehnung gegenüber der von der Regierung vorgeschlagenen Arbeits- und Rentenreform, welche die informelle Arbeit, die steigende Arbeitslosigkeit und Altersarmut bekämpfen soll. Stundenverträge statt unbefristeter Verträge, so lautet die Zauberformel der Regierung, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese Flexibilisierung wird allerdings zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitigem Verlust von Arbeitsrechten führen. Denn die sozialen Leistungen werden infolgedessen gekürzt, die Sozialversicherungs­beiträge nach Stunden berechnet und die gesundheitlichen und sicherheitsrelevanten Arbeitsnormen gesenkt.

Auch die geplante Fusion der privaten und staatlichen Rentenunternehmen bereitet große Sorgen. Um zwölf Prozent soll das Budget des neuen Rentensystems wachsen. Bis jetzt ist allerdings noch nicht klar, wie die Integration privater und staatlicher Rentenkassen funktionieren soll. Dazu ist es sehr wahrscheinlich, dass zu wenige Menschen von dem erhöhten Budget profitieren. Vor allem wenn man beachtet, dass nur zwei von zehn Kolumbianer*innen überhaupt rentenberechtigt sind.

Trotz lautstarker Kritik von den Gewerkschaften und Akademiker*innen, beharrt die zuständige Ministerin Duques auf einen positiven Effekt dieser Arbeits- und Rentenreform. Denn für diese taube Regierung sind die Prioritäten klar: „Das wichtigste ist, dass das wirtschaftliche Wachstum und die Produktivität erhöht wird“, behauptete die Arbeitsministerin Alicia Arango (CD) im Interview mit der Wirtschaftszeitung El Portafolio.
Ursprünglich beinhaltete die von der Regierungspartei vorgeschlagenen Arbeitsreform eine Kürzung des Mindestlohns auf 160 Euro statt bisher 208 Euro für Menschen unter 25 Jahren. Der sogenannte differenzierte Mindestlohn sollte die Arbeitgeber entlasten und einen Anreiz darstellen, Menschen mit weniger Arbeitserfahrung einzustellen. Angesichts des lautstarken Protests von Studierenden, die ohnehin schon schwindelerregende Semestergebühren für das Studium bezahlen müssen, wurde der Vorschlag zurückgezogen. Ob es dabei bleibt, ist noch offen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Regierung entgegen ihrer Versprechungen handelt.

Währenddessen schmieren Duques Zustimmungswerte bei der Bevölkerung weiter ab. Nach 15 Monaten im Amt ist die Unbeliebtheit des Präsidenten mit 69 Prozent höher als die aller seiner Vorgänger. Von Beginn seiner Regierungszeit an wurde Duque als eine Marionette seines politischen Vaters, Alvaro Uribe Vélez, verlacht. Mit 19 Auslandsreisen in seinem ersten Jahr als Präsident wird Duque als ein abwesendes und dazu sehr ungeschicktes Staatsoberhaupt wahrgenommen, das die Realität des Landes verkennt. Er erklärte den „breiten gesellschaftlichen Dialog“ zum Ziel seiner Regierung, brach dann aber Anfang 2019 die Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN) ab und ließ als „Strategie“ schlicht internationale Haftbefehle auf ihre Anführer ausstellen.

Indem Duque die Friedensverhandlungen mit der ELN von der bedingungslosen einseitigen Waffenruhe abhängig machte, verspielte er die historische Chance auf ein Kolumbien ohne Aufständische. Der Abbruch der Friedensverhandlungen hat zu einem Erstarken der nun ältesten aktiven Guerilla des Kontinents geführt.

Nach der Entwaffnung der revolutionären bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (FARC-EP) war zu befürchten, dass das Machtvakuum in den ländlichen Regionen von der ELN und paramilitärischen Gruppierungen gefüllt wird. Und da es offensichtlich keine Ambitionen gab, die Situation weiterzudenken, löste dies einen regelrechten Kokain-Boom in Kolumbien aus, der zu einem neuen Rekord in der Produktion des weißen Pulvers führte. Laut den Vereinten Nationen wird derzeit 70 Prozent des weltweit verkauften Kokains in Kolumbien hergestellt. Doch anstatt Programme zur freiwilligen Vernichtung der Koka-Plantagen zu stärken, beharrt die Regierung auf die Zwangsvernichtung der Plantagen durch eine Sondereinheit der Armee. Im Krieg gegen die Drogen 3.0 wurde das Land nun wieder weiter militarisiert, mit einer Armee, die den Befehl hat, im Zweifel auch zu schießen (siehe S. 18-20).

Obwohl eigentlich der Kampf gegen die grassierende Korruption angesagt wäre, sah Präsident Duque unbeteiligt zu, als seine Partei ein Gesetz zur Korruptionsbekämpfung im Senat immer wieder verhinderte und schließlich endgültig zum Scheitern zwang. Das im November 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit den bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) wurde zu einer Zielscheibe von Uribes CD-Partei. Aufgrund von mangelndem politischen Willen wurde die integrale Zusammensetzung der Vereinbarungen torpediert und ihre Umsetzung bewusst verlangsamt.
„Was wir heute erleben, ist etwas, das es noch nie in der kolumbianischen Geschichte gab: die Cacerolazos, die empörten Leute auf der Straße, die Menschen, die immer noch von der Regierung klare Lösungen und Antworten fordern“, sagt Alejandro Palacio Restrepo, Mitglied des kolumbianischen Verbandes der Studierendenvertreter*innen (Acrees). Die andauernden Aktionen mit der Beteiligung von Aktivist*innen, Künstler*innen und Musiker*innen sind ein noch nie dagewesener Impuls für einen übergreifenden sozialen Dialog über Ungerechtigkeiten und Privilegien. Und dieser historische Moment wäre ohne die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla vor drei Jahren und ihrer darauf folgenden Entwaffnung nicht möglich.

Dass Frieden in Kolumbien dennoch weiter eine gedachte Größe bleibt, die nur auf dem Papier gilt, ist ein Affront gegenüber den Opfern des bewaffneten Konflikts, den entwaffneten Guerillerxs und einer Zivilgesellschaft, die nach dem Nein im Referendum zum Friedensabkommen wach geworden ist. Die Welle willkürlicher Tötungen von Zivilist*innen, gezielter Ermordungen von Menschenrechtsaktivist*innen und entwaffneten FARC-Guerillerxs können im heutigen Kolumbien nicht mehr versteckt und geleugnet werden. Zum ersten Mal schaut die entpolitisierte kolumbianische Gesellschaft nicht mehr weg, sondern versöhnt sich mit der eigenen Geschichte voller Vertreibungen, Entführungen und Tod.

WIE IMMER BLEIBT NUR DER PROTEST

Straßenkampf Das brutale Vorgehen von Polizei und Militär hat die Situation weiter eskalieren lassen / Foto: Luis Méndez

Ein Streik von Lehrer*innen und Ärzt*innen Mitte April führte zu einer neuen Welle von landesweiten Protesten, die bis heute anhält. Ausgangs­punkt waren von der Regierung geplante Umstrukturierungen des Bildungs- und Gesundheitssystems, die sich in einer tiefen Krise befinden. Statt den Dialog mit den Gewerkschaften zu suchen, wurde versucht, die Proteste durch brutales repressives Vorgehen der Polizeieinheiten aufzulösen, was den Konflikt zunehmend eskalieren ließ. Zuerst schlossen sich Studierende, Schüler*innen, Eltern und soziale Organisationen an, im Juni folgte der Transportsektor und selbst Teile der Polizei traten zeitweise in den Streik. Die Situation ähnelt der nach den umstrittenen Wahlen von 2017, durch den der jetzige Präsident Juan Orlando Hernández von der rechten Nationalen Partei (PNH) trotz verfassungsrechtlichen Verbots eine zweite Amtszeit antreten konnte. Große Teile der Bevölkerung, die von Wahlbetrug ausgehen, sind seither nicht zur Ruhe gekommen. Auch aktuell gewinnen die Proteste ihre Stärke durch die solidarische Beteiligung von Bürger*innen, die sich, Spaltungsversuchen seitens der Regierung zum Trotz, spontan in ihren Dörfern oder Vierteln organisierten.
Neben Streiks wurden Schulen und Universitäten besetzt, es kam zu Straßenblockaden und Massendemonstrationen als Ventil der vorherrschenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile. Längst gehen die Aktionen und Demonstrationen über die Forderungen der Lehrer*innen und Ärzt*innen hinaus. Die Mitte Mai gegründete Plattform zur Verteidigung der Bildung und Gesundheit (Plataforma por la Defensa de la Salud y la Educación), in der sich landesweit 18 Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, organisiert sich wie eine Basisbewegung in lokalen und regionalen Versammlungen und artikuliert mit lokal organisierten Kämpfen, wie etwa mit Organisationen von Indigenen und Kleinbauern und -bäuerinnen. Dies gibt dem Protest neue Impulse und bringt das Regime von Präsident Hernández in starke Bedrängnis. Verschiedene gesellschaftliche Sektoren fordern seinen Rücktritt, der gemeinsame Nenner, der sie vereint, ist die Ablehnung seiner Regierung.

Das Bildungs- und Gesundheitssystem stecken in einer tiefen Krise


Mitte April hatte das Parlament unter der Führung der regierenden Partei PNH die umstrittenen Gesetze erlassen, die das marode Gesundheits- und Bildungssystem sanieren sollten, jedoch laut Gewerkschaften eine erneute Kürzung der Staatsausgaben vorsehen und einen ersten Schritt in Richtung Privatisierung staatlicher Infrastruktur darstellen. In den öffentlichen Krankenhäusern in Honduras fehlt es an Medikamenten und grundlegender Ausstattung, im Bildungssektor mangelt es an Materialien und adäquaten Unterrichtsorten. Angestellte beklagen immer wieder ausstehende Lohnzahlungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Die Auswirkungen dieser Situation betreffen besonders die ärmeren Bevölkerungsteile, welche ihre Bildung in staatlichen Einrichtungen erhalten und in Krankheitsfällen auf die öffentlichen Gesundheitszentren und Krankenhäuser angewiesen sind. Die Gewerkschaften betonen, dass die Regierung selbst für die Krise verantwortlich ist, denn der Haushaltsetat für die beiden Sektoren wurde in den vergangenen Jahren immer weiter gekürzt. Die Bildungsausgaben sanken laut einer Analyse der unabhängigen Bürgerinitiative CESPAD (Centro de estudio para la democrática) von 32,9 Prozent des Haushaltes im Jahr 2010 auf 19,9 Prozent im Jahr 2019, im Gesundheitssystem sank der Anteil im selben Zeitraum von 14,3 Prozent auf 9,7 Prozent. Die ausufernde Korruption, die sich zum Beispiel in der Plünderung des Sozialversicherungsinstitut IHSS im Jahr 2015 zeigte, aus dem über 300 Millionen US-Dollar geraubt wurden, trägt ebenfalls zur Krise bei und führte seinerzeit zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Auch hohe Regierungsfunktionäre der Nationalen Partei (PNH) sollen in den Korruptionsskandal verwickelt sein.

Die Proteste gewinnen ihre Stärke durch Solidarität in der Bevölkerung


Die in den Gesetzesänderungen vorgesehenen Maßnahmen seien keine Lösung des Problems, sondern eine neoliberale Umstrukturierung nach den Wünschen des Internationalen Währungsfonds, betonen Vertreter*innen der Gewerkschaften. Pläne für diese Umstrukturierung stehen bereits seit dem Regierungswechsel nach dem zivil-militärischen Putsch von 2009 auf der Agenda und wurden von Hernández‘ Vorgänger im Präsident*innenamt Porfirio Lobo vorangetrieben. So soll unter anderem die öffentliche Bildung und Gesundheitsversorgung dezentralisiert und der Staat von seiner Verpflichtung befreit werden, der Bevölkerung diese grundlegenden Rechte zu garantieren. Dies sollen stattdessen die 298 Landkreise übernehmen. Aber die meisten haben weder die Kapazitäten, Personal dafür zu unterhalten, noch für die nötige Infrastruktur zu sorgen. So könnte die Verwaltung öffentlicher Einrichtungen an private Unternehmen oder Nichtregierungsorganisationen übergeben werden, welche Schulen und Krankenhäuser mit internationaler Finanzierung, zum Beispiel durch USAID, betreiben würden. Diese Maßnahmen scheiterten bisher jedoch unter anderem am Widerstand der organisierten Lehrer*innen. Das Umstrukturierungsgesetz und zusätzlich erlassene Notstandsdekrete, die laut Gewerkschaftler*innen den Abbau von Arbeitsrechten und Massenentlassungen mit sich bringen, werden auch als ein Versuch gewertet, die starke Organisation der Gewerkschaften zu untergraben, um den Widerstand gegen neoliberale Reformen zu brechen. So berichten Aktivist*innen über anhaltende Drohungen und Überwachung: streikendes Personal wird mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen unter Druck gesetzt und in Kommunikationsmedien und sozialen Netzwerken kommt es zu Diffamierungskampagnen.

Foto: Luis Méndez

Neben der selektiven Repression ist aber vor allem das brutale Vorgehen von staatlichen Sicherheitskräften und Militärs gegen die Proteste zu beobachten. Die Menschenrechtsorganisation COFADEH (Komitee der Familien von Verhafteten und Verschwundenen) dokumentierte alleine im Zeitraum von Mitte Mai bis zum 9. Juni 48 illegale Verhaftungen, drei Fälle von Folter, die gewaltsame Auflösung von 48 Demonstrationen und repressive Maßnahmen gegen 136 Protestaktionen. Am 19. Juni bestimmte der Nationale Rat der Verteidigung und Sicherheit den Einsatz des Militärs, um die Demonstrationen zu kontrollieren. Dies führte bereits zu drei Todesopfern und mehreren Verletzten durch Polizei und Militär. Am 24. Juni drangen Sicherheitskräfte von Polizei und Militär in die nationale Universität von Honduras in Tegucigalpa ein und verfolgten Studierende, die auf der Straße vor der Universität demonstrierten und sich mit den Bildungs- und Gesundheitsprotesten solidarisierten. Bei dem gewaltsamen und illegalen Eingriff in die Autonomie der Universität wurden fünf Studierende durch Schüsse der Polizei verletzt. Eine Eilmission von Amnesty International dokumentierte bis Anfang Juli acht Todesopfer und 80 Verletzte. Menschenrechtsorganisationen wie COFADEH, kritisieren zudem den massiven Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen, willkürliche Verhaftungen und das Einschleusen von Provoka­teur­*innen in Demonstrationen.

// Foto: Luis Méndez

Die landesweiten Proteste führten bereits wenige Wochen nach Verabschiedung zur Außerkraftsetzung der Notstandsdekrete, die die Gesetze zur Umstrukturierung begleiten sollten. Als Antwort auf den Druck der Straße rief die Regierung Lehrer*innen und Ärzt*innen zu einem Dialog auf. Die von der Regierung zum Dialog eingeladenen Personen waren allerdings keine Vertreter*innen der Plattform für die Verteidigung der Bildung und Gesundheit, sondern gelten als der Regierung nahestehende Personen. Um an einem Dialog teilzunehmen, fordert die Plattform unter anderem die Teilnahme aller in der Plattform vertretenen Organisationen am Dialog, das Ende der Repressionen gegen Lehrer*innen und Ärzt*innen, die Untersuchung der Todesfälle mit Gewalteinwirkung bei den Protesten und eine internationale Vermittlung. Dabei solidarisiert sich die Plattform auch mit anderen Kämpfen, wie der Forderung nach Demilitarisierung der Dörfer Guapinol, Pajuiles und Guadalupe Carney, die sich im Widerstand gegen verschiedene zerstörerische Megaprojekte, wie Bergbau und Wasserkraftwerke, in der Region befinden und sich ebenso mit den Aktionen der Plattform soldarisieren.

Der systematischen Abbau von Grundrechten seit 2009 führte zur Krise


Die Regierung lehnte die Punkte jedoch bisher ab. Deshalb rief die Plattform zu einem alternativen und breiten gesellschaftlichen Dialog auf, zu dem neben Gewerkschaften und sozialen und Basisorganisationen auch Regierungsvertreter*innen eingeladen wurden. Bei einem ersten Treffen am 18. Juni in der Hauptstadt Tegucigalpa nahmen Hunderte von Delegierten aus dem ganzen Land teil. Ziel des Dialoges ist eine Analyse der Stärken und Schwächen des nationalen Bildungs- und Gesundheitssystems und die Erarbeitung einer Strategie zu deren Verbesserung. Unterdessen nehmen die Proteste kein Ende, bis die umstrittenen Gesetze endgültig außer Kraft gesetzt werden. „Wir werden nicht aufhören, zu landesweiten Protesten zu mobilisieren“, erklärt Ligia Ramos, Sprecherin der Plattform gegenüber der Internatio­nalen Nahrungsmittelgewerkschaft Rel-Uita. „Wir müssen die Regierung dazu zwingen, diese Gesetze abzuschaffen und einem neuen Modell die Tür zu öffnen, das wir gerade gemeinsam mit der Bevölkerung entwickeln.“
Obwohl die Zustimmung für Hernández im Land selbst sehr gering ist, halten die USA und die Europäische Union weiter an ihrem Verbündeten fest. Die aktuelle Krise ist das Produkt des Bruchs der verfassungsmäßigen Ordnung durch den Putsch 2009 und dem seither stattfindenden systematischen Abbau von Grundrechten und zivil-gesellschaftlichen Handlungsräumen. Wie schon vor zehn Jahren, bleibt den Honduraner*innen nur der massive Protest auf der Straße. Und wie nach dem zivil-militärischen Putsch und dem Wahlbetrug von 2017 zeigt sich die internationale Gemeinschaft bisher gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Honduras blind.

SOZIALER PROTEST ZWISCHEN HOFFNUNG UND POLARISIERUNG

Gefährlicher Einsatz Politische Opposition fordert in Kolumbien viele Menschenleben (Foto: Comunicaciones CRIC)

Der Begriff Minga bezeichnet einen kollektiven Arbeitseinsatz und wird in Kolumbien inzwischen auch für politische Versammlungen verwendet. Die derzeit wichtigste heißt „Minga für die Verteidigung des Lebens, des Territoriums, der Gerechtigkeit und des Friedens“. Nach und nach haben sich der Minga-Blockade auf der Panamericana ebenfalls Bauern und Bäuerinnen, Afro-Kolumbianer*innen und indigene Gruppen aus anderen Regionen angeschlossen. Trotz abwechselnd schwerer Regenfälle und brennender Sonne, nahm die Zahl der Protestierenden seit Mitte März eher zu als ab. Die Hauptforderung: Präsident Iván Duque soll in den Cauca kommen, um Rechenschaft abzulegen – über die mehr als tausend vom kolumbianischen Staat nicht erfüllten Abkommen mit den Gemeinden und ihren Organisationen, seine als Unterminierung wahr­­genommene Haltung gegenüber dem Friedensprozess mit der demobilisierten FARC-Guerilla sowie den immer weiter zunehmenden Morden an lokalen Führungspersönlichkeiten und Menschenrechtsverteidiger*innen. 556 solcher gezielten Tötungen verzeichnet das Forschungsinstitut für Entwicklung und Frieden (INDEPAZ) zwischen Januar 2016 und Januar 2019 in Kolumbien, mit einem stetigen Anstieg. Die meisten Morde wurden mit 252 an der Zahl im Jahr 2018 verübt. Die Region Cauca ist in dieser Statistik mit einem Anteil von mehr als einem Fünftel trauriger Spitzenreiter. Aber die Fronten sind verhärtet. Der Präsident weigerte sich wochenlang direkt mit den Protestierenden zu verhandeln und entsendete nur Stellvertreter*innen. „Mit Blockaden verhandeln wir nicht“, wiederholte er immer wieder in einer offensichtlichen Paraphrasierung der gleichen Aussage in Bezug auf Terrorist*innen. Erst am 5. April kam es zu einem Durchbruch bei den Verhandlungen. Die Regierung stellte ein über 230 Millionen Euro schweres Investitionspaket im Rahmen des Nationalen Entwicklungsplanes sowie die direkte Präsenz des Präsidenten in der Folgewoche in Aussicht. Im Gegenzug erklärten sich die an der Minga beteiligten Organisationen bereit, zwar nicht die Minga zu beenden, aber zumindest die Blockade der Panamericana bis auf weiteres aufzuheben.

„Gegen die Minga wird mit militä-rischen Mitteln vorgegangen.“

Bisher setzte Präsident Duque auf die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste, die sein Verteidigungsminister Guillermo Botero im letzten Jahr mit der Behauptung, alle indigenen Proteste seien vom Drogenhandel finanziert, auf die Spitze trieb. Der Vorwurf, der Protest sei von bewaffneten Gruppen unterwandert oder politisch von der demobilisierten Guerilla FARC kontrolliert, wird seitdem laufend wiederholt. Mitglieder der Regierungspartei Centro Democrático befüttern unter anderem den Twitterkanal #MingaDeLasFarc laufend mit Propaganda. Dass die indigenen Gemeinden seit jeher die Präsenz aller bewaffneten Akteur*innen – egal ob Armee, Guerilla oder Paramilitärs – in ihren Territorien ablehnen und die autonome indigene Justiz regelmäßig Waffen und anderes Kriegsmaterial beschlagnahmt und ausnahmslos vernichtet, wird ignoriert.  Das befördert einerseits die von einigen Vertreter*innen des Regierungslagers betriebene politische Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft, mit fortwährenden Anschuldigungen und Beleidigungen gegen jede Opposition und rechtfertigt andererseits nach außen ein hartes Vorgehen gegen die Blockade. „Gegen die Minga wird mit militärischen Mitteln vorgegangen“, stellt Omar Quirá vom Menschenrechtsprogramm des Indigenen Regionalrats des Cauca (CRIC) fest, welcher als Zusammenschluss von 90 Prozent der indigenen Gemeinden des Cauca maßgebliche Kraft hinter der Minga ist. „Es ist besorgniserregend, dass unter den zur Kontrolle der Minga entsandten Kräften nicht nur Polizisten, sondern auch Soldaten sind. Außerdem gab es mehrere Versuche, die Minga zu infiltrieren. Wir haben ungefähr zehn Militärangehörige identifiziert und an die Defensoría del Pueblo [nationale Ombudsbehörde, Anm.d.Verf.] sowie die UNO übergeben,“ ergänzt Quirá.

Foto: Miguel Boller

Inzwischen sind mehrere Videos veröffentlicht worden, auf denen zu sehen ist, wie Soldaten mit auf Dauerfeuer geschalteten Waffen in Richtung der Protestierenden schießen. Mehrfach wurden auch die Zeltlager der Mingueroas angegriffen, obwohl sie abseits der Panamericana liegen. Militärflugzeuge, Drohnen und Hubschrauber überflogen trotz anders lautender Abmachungen immer wieder die Protestlager und warfen Propagandamaterial oder Leuchtkörper ab. Gleichzeitig versuchten anscheinend auch illegale bewaffnete Gruppen, die Situation zu nutzen, um ihre Positionen zu stärken oder gegen die autonomen Gemeinden vorzugehen, die für sie ein Hindernis bei der Durchsetzung ihres Machtanspruchs darstellen.

Die bisherige Bilanz: Über 100 Verletzte und 11 Tote auf Seiten der Mingueroas, darunter mehr als ein Dutzend durch Schusswaffen Verwundete. Außerdem wurde ein Polizist durch nicht identifizierte Heckenschützen erschossen. Die meisten Toten gab es bei einer noch ungeklärten Explosion in einer Hütte, in der sich mehrere Indigene ausruhten. Laut einem Überlebenden hatten Unbekannte einen Sprengsatz in die Hütte geworfen. Von der Regierungsseite wurden sofort Anschuldigungen laut, die Opfer hätten selbst mit Sprengstoff hantiert.Vom 3. auf den 4. April kam es in Popayán, der Hauptstadt des Cauca, zu massiven Übergriffen auf Gebäude und Installationen des Regionalrats des CRIC als wichtigste Kraft hinter der Minga. Außerdem wurden die Bauernorganisation CIMA und die nationale Ombudsbehörde angegriffen. Mehrere Menschen wurden teils schwer verletzt (siehe Kurznachrichten S.54).
Oberflächlich betrachtet ist der wichtigste Faktor hinter diesen Auseinandersetzungen die in Kolumbien allgegenwärtige Frage nach Landbesitz und einer Agrarreform. Die Bedeutung der Landfrage spiegelt sich auch darin dass die „Integrale Reform des ländlichen Raums“ der erste Punkt der Friedensabkommen von Havanna ist. Laut Daten von Oxfam ist die Ungleichheit in der Landverteilung in Kolumbien weiterhin extrem und hat seit den 1990er Jahren sprunghaft zugenommen: Nur ein Prozent der landwirtschaftlichen Produktionseinheiten kontrollieren über 70 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche.

Hier prallen Welten aufeinander

Im Cauca werden diese Gegensätze besonders deutlich: Auf der einen Seite stehen traditionelle Großgrundbesitzer*innen wie die Zuckerrohrbaron*innen im Norden des Departements, deren Felder sich über tausende Hektar in den am einfachsten zu bewirtschaftenden Ebenen vom Norden des Cauca bis in das Nachbardepartement Valle del Cauca erstrecken. Auf der anderen Seite finden sich tausende Kleinproduzent*innen in den indigenen, afrokolumbianischen und Campesino-Gemeinden, deren Ländereien häufig an den schwer zu bearbeitenden Andenhängen liegen und in vielen Fällen nicht einmal die Größe erreichen, die nach offiziellen Daten für den Unterhalt einer Familie ausreicht. Hinzu kommen relativ neue Akteur*innen wie Cartón Colombia, eine Tochterfirma der europäischen Smurfit Kappa mit Sitz in Irland. 2015 besaß Smurfit Kappa, unter anderem auch Deutschlands größter Hersteller von Kartonverpackungen, in Kolumbien knapp 68.000 Hektar. Mit Slogans wie „Better Planet Packaging“ bastelt die Firma in Europa an ihrem Nachhaltigkeitsimage und schafft es sogar noch, für völlig sterile Fichten- und Eukalyptus-Monokuturen Aufforstungs- und Klimaboni einzustreichen. Hier prallen nicht nur Welten aufeinander, sondern auch Produktionsmodelle: Agrarindustrie und kleine, diversifizierte Produktionsflächen, die neben der Produktion für den Verkauf auch der Selbstversorgung dienen.

Dass es gerade im Cauca immer wieder sowohl zu Gewaltausbrüchen als auch zu längeren Auseinandersetzungen zwischen sozialen Bewegungen kommt, hat weitere Gründe. Zum einen haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen ein hohes Interesse an der Kontrolle sowohl von Anbaugebieten von Koka und Marihuana als auch an den unterschiedlichen Routen in Richtung Pazifik, wo die Drogen zum Export verladen werden. Zum anderen ist wohl nirgendwo in Amerika, mit Ausnahme der zapatistischen Gemeinden in Mexiko, die indigene Autonomie so weit entwickelt wie im Cauca. Der CRIC ist von fünf Gemeinden bei ihrer Gründung 1971 auf inzwischen 126 Gemeinden mit etwa 270.000 Einwohner*innen in der gesamten Region angewachsen. Die indigene Justiz setzt ihre Eigenständigkeit mit viel Selbstbewusstsein durch. Sie beschlagnahmt und zerstört Waffen und Drogen, und große Infrastruktur- oder Bergbauprojekte müssen regelmäßig mit gut organisiertem Widerstand rechnen. Es gibt autonome Schulen, ein eigenes Gesundheitssysstem und die Gemeinden schrecken auch vor Besetzungen von Ländereien der Familien mit Großgrundbesitz nicht zurück. Der Aufbau eigener Strukturen wurde außerdem von Beginn an mit einer juristischen Strategie begleitet. Damit konnten bestehende Normen und sogar Regelungen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, subversiv zur Untermauerung von Forderungen und zur Absicherung von Erreichtem genutzt werden. Zusätzlich wurde efolgreich Lobbyarbeit für Gesetzesreformen betrieben, die auch nationale Auswirkungen haben.

Minga ist mehr als eine Blockade

Dadurch haben sich die indigenen Gemeinden des Cauca zu einem Machtfaktor entwickelt, der den bewaffneten Akteuren genauso ein Dorn im Auge ist wie der Regierung und den Großgrundbesitzer*innen. Diese greifen zur Verteidigung ihres Machtanspruchs immer wieder zu Gewalt und Kriminalisierung oder versuchen bei anderen benachteiligten Sektoren Neid auf die politischen und materiellen Errungenschaften der indigenen Bewegung zu schüren und sie gegeneinander auszuspielen. In letzter Zeit ist es dennoch mehrfach gelungen, vor allem die unterschiedlichen Gruppen aus dem ländlichen Raum zu koordinieren und eine gemeinsame Agenda auszuhandeln, so auch bei der aktuellen Minga. José Ildo Pepe, einer der von der Minga benannter Sprecher stellt fest: „Unsere Minga fordert die Umsetzung bestehender Abkommen und Rechte für die afrokolumbianischen Gemeinden, für die Campesinos und für uns Indígenas. Unsere Minga hat nationale Reichweite. Die Themen sind struktureller Art: Land, Schutz des Lebens und der Umwelt, Wasser, nicht nur im Cauca, sondern im ganzen Land. Die Regierung denkt, es geht nur um den von ihr vorgelegten Nationalen Entwicklungsplan. Aber es geht um mehr: Es geht um die Bewahrung des Lebens in seiner Ganzheit.”


(Foto: Comunicaciones CRIC)

 

Diese Sichtweise zeigt sich auch in den anderen Gesichtern der Minga, abseits der Konfrontationen mit der Staatsmacht, von Außenstehenden nur selten wahrgenommen. „Die Kreativität der Menschen, um unter solchen Bedingungen durchzuhalten, ist unglaublich“, erzählt Omar Quirá mit einem breiten Grinsen. „Es wurden zum Beispiel schon Fußballturniere und Unterricht in traditionellen andinen Tänzen mitten auf der Panamericana organisiert. Und ein paar Jugendliche drehen mit einer Kameraattrappe aus Pappe Runden durch die Protestlager, führen Interviews, verbreiten Neuigkeiten und bringen nebenbei die Leute zum Lachen.“ Auch die basisdemokratischen Elemente der indigenen Kultur sind ein wichtiger Bestandteil. „Nach jeder Verhandlungsrunde finden Versammlungen statt, um die Menschen zu informieren, zu hören, was sie denken, politische Themen zu diskutieren sowie Empfehlungen und Anweisungen an die Sprecher*innen und Verhandlungsführer*innen zu vereinbaren“, führt Quirá aus. „All das verwandelt sich in neue Protestformen, stärkt den Zusammenhalt und unsere autonome Kultur.“

 

EIN TAG OHNE ARBEITER*INNEN

“Keine ist frei, bis wir es alle sind” Der Frauenkampftag am 8. März in Mexiko-Stadt bezieht sich auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie // Foto: Nina Ißbrücker

Mit dem Generalstreik in Indien am 8. und 9. Januar 2019 gegen die gewerkschaftsfeindlichen Gesetzespläne der Regierung Modi fand mutmaßlich der größte Streik der Menschheitsgeschichte statt: 200 Millionen Arbeiter*innen sollen sich beteiligt haben. Nur zwei Tage später, ab dem 11. Januar, begannen vorerst „wilde“, nicht von Gewerkschaften koordinierte Streiks in der Maquiladora-Industrie an der Nordgrenze Mexikos. Dass in Maquiladoras, den lateinamerikanischen „Weltmarktfabriken“, gestreikt wird, ist selten. Kaum ist es möglich, dass sich in den grenznahen Montagefabriken die Arbeiter*innen überhaupt organisieren. Matamoros ist neben den Grenzstädten Ciudad Juárez und Tijuana der mexikanische Hauptstandort der Maquiladoras. Über eine Millionen Arbeiter*innen, überdurchschnittlich viele Frauen, schuften in 3.000 solcher Fabriken meist 12 Stunden am Tag. In Matamoros arbeiten etwa 80.000 Menschen in 122 Maquiladoras. Am 11. Januar 2019 haben dort 2.000 Arbeiter*innen auf einer Generalversammlung einen spontanen, nicht-gewerkschaftlichen Streik beschlossen. Gefordert wurde eine 20-prozentige Lohnerhöhung, eine Einmalzahlung von 32.000 Pesos (knapp 1.400 EUR) und die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche. Die sich ausweitende Streikbewegung ist mittlerweile bekannt als Movimiento 20/32, weil sie 20 Prozent Lohnerhöhung sowie 32.000 Pesos Einmalzahlung fordern. Zu den anfangs bestreikten Unternehmen zählen Inteva, STC, Polytech, Kemet, Tyco, Parker, AFX und Autoliv. Die meisten Maquiladoras in Tamaupilas beliefern die US-amerikanische Autoindustrie, vor allem General Motors, Ford und Fiat-Chrysler. Ende Januar war in fast allen US-amerikanischen Montagewerken von Ford und General Motors die Produktion zurückgefahren, weil es durch den Streik zu Lieferengpässen kam. In mindestens einem Werk, bei Ford in Flat Rock im Bundestaat Michigan, wurde die Produktion ganz eingestellt.

Es geht um mehr als einen Tarifstreit

Die prekären Bedingungen in den grenznahen Betrieben waren ein Schlüsselelement in den Neuverhandlungen des Handelsabkommens NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen Mexiko und der Regierung Trump. Ein festgelegter Teil der Zulieferproduktion muss seit dem neuen Handelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada (USMCA) zu Stundenlöhnen von mindestens 16 US-Dollar erfolgen (siehe LN 533), auch um die Migration in die USA einzudämmen. Am 1. Januar 2019 wurde in Mexiko der Mindestlohn um 16 Prozent angehoben und liegt damit erstmals seit 30 Jahren über der Armutsgrenze.Im US-Grenzgebiet, in dem seit der Einführung von NAFTA im Jahr 1994 die Lebenshaltungskosten weit über dem Landesdurchschnitt liegen, wurde der Mindestlohn verdoppelt. Die Freien Produktionszonen (FPZ), in denen die Maquiladoras liegen, bleiben jedoch ausgenommen. Gleichzeitig wurde für die Maquila-Unternehmen die Umsatzsteuer auf 20 Prozent reduziert und weitere Anreize für Gesundheitsfürsorge, Bildung und Verkehrsausbau geschaffen.
Auslöser der Streikbewegung war die ausbleibende Erhöhung der Löhne in der Maquila-Industrie, „die außerhalb unserer Wettbewerbsmöglichkeiten liegen“, wie der Präsident des Nationalen Rats der Maquila-Industrie (INDEX), Luis Alegre Lang, gegenüber der Tageszeitung Vanguardia sagte. Gleichzeitig geht es um die weitere Zahlung von Zusatzleistungen, die über den Mindestlohn hinausgehen. „Der Grundlohn in den meisten Maquiladoras liegt zwischen 90 und 100 Pesos. Aber die Arbeiter erhalten auch verschiedene Boni – für Produktivität, Anwesenheit, Transport und anderes. Als die Arbeiter eine Verdoppelung des Grundlohns forderten, wie es die Regierung versprochen habe, sagten die Unternehmen, sie würden die Bonuszahlungen streichen und im Ergebnis würden die Löhne nicht erhöht“ erläutert Julia Quiñonez vom Kommitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion (Comité Fronterizo de Obreras) gegenüber dem US-Journalisten David Bacon.

Die Streikbewegung weitet sich aus


Die Rolle der Gewerkschaften in dem Streik ist zwiespältig. Ähnlich wie in den USA sind Gewerkschaften in Mexiko einem komplexen Anerkennungsverfahren unterworfen und fungieren dann als Betriebsgewerkschaften – davon gibt es in Mexiko etwa 16.000. Die meisten Gewerkschaften sind nach wie vor in den historisch der ehemaligen Staatspartei PRI nahestehenden korporatistischen Dachverbänden CROM, CROC und CTM organisiert, darüber hinaus gibt es neue unabhängige Gewerkschaften und sogenannte „gelbe“ unternehmerfreundliche Gewerkschaften. Die jeweilige Zugehörigkeit erlaubt oft noch kein Urteil über den Charakter der Einzelgewerkschaft.
Der Streik richtete sich anfangs sogar explizit gegen die Gewerkschaft der Tagelöhner und Industriearbeiter und der Maquiladora-Industrie (SJOIIM, Mitgliedsgewerkschaft der CTM), die Überbezahlung von deren Funktionär*innen, die Höhe der Gewerkschaftsbeiträge und der Korruption beziehungsweise der Position der Gewerkschaft auf Unternehmensseite. Als am 18. Januar die Streikenden zu den Gewerkschaftsbüros mobilisiert hatten, ließ der lokale Vorsitzende des Dachverbands CTM, Juan Villafuerte Morales, diese sogar schließen. Unter Druck geraten, rief die SJOIIM am 24. Januar dennoch offiziell zum Streik auf, versuchte aber gleichzeitig, gemeinsam mit Politiker*innen von Morena und der Regierung, den Streik herunter zu kochen.
Ende Januar wies die mexikanische Regierung die Bundesstaatsregierung von Tamaupilas an, den Streik zu beenden. Mit der Erklärung der inexistencia (Nicht-Existenz) eines Streiks nach mexikanischem Arbeitsrecht gilt dieser als illegal und kann den Entzug der Gewerkschaftsrechte und Entlassungen zur Folge haben. Streikposten waren von diesem Zeitpunkt an mit Marine und bewaffneter Polizei konfrontiert, Gewalt ging auch von privaten Sicherheitsunternehmen aus, etwa bei der Entfernung von Streikposten. Die Unternehmen drohten als Reaktion auf die Streiks mit Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Strafanzeigen gegen „Agitatoren“. In den ersten zehn Tagen der „wilden“ Streiks hatten die Fabriken laut der Matamoros Maquila Association 100 Millionen US-Dollar verloren. 1.000 Streikende seien entlassen worden, meldete labournet.de am 25. Februar. INDEX-Präsident Lang betonte auch noch nach den Verhandlungsergebnissen, dass 15 Unternehmen planen würden Tamaupilas in den nächsten sechs bis neun Monaten zu verlassen.

Einige Unternehmen haben die Forderungen vollumfänglich akzeptiert

Die Streiks stellen in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit dar: Erstens begannen sie als sogenannte „wilde“ Streiks, also ohne Aufruf einer Gewerkschaft. Das ist auch deswegen entscheidend, weil die Tendenzen zur Selbstorganisation in Form von Räten, unabhängigen Gewerkschaften oder Komitees neue Perspektiven für die mexikanische und die gesamtamerikanische Arbeiterbewegung bieten. Zweitens beziehen sie sich auf die Politik von Staatspräsident López Obrador (oft AMLO genannt) und seine Partei Morena, sind also durchaus als politische Streiks zu betrachten, denn sie fordern die Einhaltung des Gesetzes zum Mindestlohn, es geht also um mehr als um einen klassischen Tarifstreit. Drittens haben sie mehrere Ausweitungen erfahren, sind tendenziell grenzüberschreitend und haben damit, wenn auch teilweise indirekt, Globalisierung, Freihandel und Migration zum Thema. Und viertens war die spontane Bewegung erfolgreich. Die Zahlen schwanken, aber mindestens 40, laut einer AP-Meldung sogar 44, der bestreikten Unternehmen haben die Forderungen der Streikenden nach Lohnerhöhung und Einmalzahlung Anfang Februar 2019 vollumfänglich akzeptiert. Dies ist der wesentlichen Hintergrund für die Ausweitung der Streikwelle. Anfang Februar dieses Jahres begannen Supermärkte und Unternehmen der Textilindustrie in Tamaupilas, sich die gleichen Forderungen auf die schwarz-roten Streik-Fahnen zu schreiben. Am 29. Januar schlossen sich 700 Arbeiter*innen der lokalen Coca Cola-Abfüllanlage ARCA Continental Planta Noreste an, etwa gleichzeitig traten 400 Arbeiter*innen aus drei lokalen Stahlwerken in den Streik sowie Matamoros’ Haupt-Milchlieferant Leche Vaquita und die Müllabfuhr der Stadt. Etwa 90 Kilometer von Matamoros entfernt, in der Grenzstadt Reynosa, begannen Anfang Februar 8.000 Arbeiter*innen in 45 Fabriken einen Streik, auch Angestellte in der Hauptstadt des Bundesstaates Tamaupilas, Ciudad Victoria, drohten mit Ausstand. Landesweit wollten sich Walmart-Angestellte der Bewegung anschließen. Der zuständige Gewerkschaftssektor CROC, der 90.000 dieser Arbeiter*innen organisiert, gab am 20. März eine entsprechende Streikankündigung heraus. Der Streik wurde durch die Schlichtungsverhandlungen verhindert. „Arbeiter […] von Tijuana bis Ciudad Juarez schauen auf die mutigen Aktionen der Arbeiter aus Matamoros. Die Arbeiter denken darüber nach, ihrem Beispiel zu folgen, und natürlich befürchten die Unternehmer genau das.“ sagt Julia Quiñonez vom Komitee der Arbeiterinnen in der Grenzregion.
Rosa Luxemburg argumentiert in „Massenstreik, Partei und Gewerkschaft“ (1906), dass ökonomische Streiks eine Eigendynamik aufweisen, die aus sich selbst heraus zu einer Politisierung führen. Die Streiks an der nordmexikanischen Grenze bestätigen das. Sie haben eine Dynamik entwickelt, die weit über die geforderte Lohnerhöhung hinaus weist. Gerade an der mexikanischen Nordgrenze ist ein solches Streikgeschehen notwendigerweise mit den Themen Migration und Geschlechterverhältnisse verknüpft.
Die von den nordmexikanischen Arbeiter*innen am Generalstreiktag ausgegebene Parole „Ein Tag ohne Arbeiter“ erinnert nicht von ungefähr an die Parolen des globalen Frauen*streiks am 8. März diesen Jahres. Am „Tag ohne Arbeiter“ zogen die Streikenden über die Grenze nach Brownsville in den USA (der Zwillingsstadt Matamoros‘), um Solidarität von den US-amerikanischen Arbeiter*innen einzufordern, aber auch, um gegen jüngste rassistische und antimexikanische Äußerungen von Trump bei einer Rede in Brownsville zu protestieren.
Die argentinische Sozialwissenschaftlerin Verónica Gago und die mexikanische Philosophin Raquel Gutiérrez Aguilar beziehen die globale Streikbewegung vom 8. März auf die Bewegung gegen die Frauenmorde (Feminicidios) in Ciudad Juarez und damit auch auf die Kämpfe in der Maquila-Industrie. Der Streik in Matamoros weist darauf hin, dass sich die Debatten und Organisierungsbemühungen der letzten zehn Jahre langsam in kollektiven sozialen Widerstand übersetzen. Aus der neuen Kraft des Feminismus und den neuen Entwicklungen der Arbeiterbewegung entsteht in der Liaison eine neue Form von Streik: der soziale Streik, der über die Welt der Lohnarbeit hinaus geht, gleichzeitig aber auch mehr ist als ein politischer Streik.

LAHMGELEGTES LAND

Taxifahrer*innen in Sorge Proteste gegen Uber verschmelzen mit Streiks der Staatsbediensteten (Foto: Hakan S. Krohn/Wikimedia.org CC-BY-2.0)

Es ist eine illustre Gruppe, die sich dort an der Absperrung trifft: Neugierige Tourist*innen, genervte LKW-Fahrer*innen und entspannte Busfahrer*innen. Sie alle sind zum Stauanfang gekommen, um zu sehen, was der Grund für die lange Wartezeit ist. Auf der anderen Seite der Absperrung steht eine Gruppe von etwa 200 Menschen. Eine Band spielt Musik, es gibt Grills und eine kleine Bühne. Was wie ein Volksfest wirkt, hat einen ernsten Hintergrund: Die Staatsbediensteten streiken. Und nicht nur das – die Angestellten des öffentlichen Dienstes blockieren die großen Verkehrsstraßen des Landes. In kleinen Gruppen versperren sie bevorzugt Brücken, also jene Engpässe, an denen es keine alternativen Routen gibt. Für das wirtschaftlich von Tourismus und Fruchtexport abhängige Land kommt das einer Erpressung gleich. Grund der Streiks ist die aktuelle Steuerreform. Die verheerende Haushaltslage des Landes verlangt nach Lösungen. Im laufenden Jahr droht eine Neuverschuldung von über sieben Prozent des BIP. Die Reform ist kein leichtes Unterfangen. Eine Besonderheit Costa Ricas ist die verfassungsrechtliche Regelung einiger Haushaltsposten. Insgesamt 34 Prozent des Staatshaushaltes sind von solchen festen Quoten, vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich, betroffen. Gemeinsam mit den 53 Prozent für die Schuldentilgung stehen damit 87 Prozent des Haushaltes nicht zur freien Verfügung. Was übrig bleibt, reicht nicht mehr für politische Projekte und die öffentlichen Angestellten. Deshalb sei die Reform laut Präsident Alvarado zwar eine „bittere Pille“, aber unabdingbar für den Schutz des sozialstaatlichen Modells des Landes. Kernelement der Steuerreform ist eine allgemeine Mehrwertsteuer in Höhe von 15 Prozent, die die aktuelle Konsumsteuer von 13 Prozent ersetzt. Damit fallen auch Dienstleistungen unter diesen Steuersatz. Mit einem Prozent werden erstmals auch Grundnahrungsmittel wie Reis und Bohnen besteuert. Zudem werden neue Steuern auf hohe Verbrauchsmengen an Wasser, Strom und Wohnraum erhoben, wovon jedoch über 90 Prozent der Bevölkerung nicht betroffen sein werden.

Die Blockaden kommen einer Erpressung gleich

Das allein wird nicht reichen, um den Haushalt zu konsolidieren. „Im Rahmen der Krise suchten wir nach konkreten Einsparmöglichkeiten“, erklärt Silvia Artavia, Journalistin der Tageszeitung La Nación. „Dabei stießen wir auf horrende Ausgaben im öffentlichen Sektor, wie Luxusrenten, Bonuszahlungen und Privilegien“. Auch für Präsident Alvarado steht seit Beginn seiner jungen Amtszeit fest, dass „wir auch Ausgaben reduzieren und effizienter werden müssen.“ Deshalb sieht die Reform u.a. auch neue Obergrenzen für Gehälter im öffentlichen Dienst und leistungsbedingte Rentenzahlungen vor. Dieser Diskurs treibt seine Angestellten auf die Straße. Im Namen der Allgemeinheit kämpfen sie gegen die Politik „für die Wahrung unserer Würde“, wie ein Spruchband verrät. An der Absperrung gehen die Meinungen über die Blockade weit auseinander. Juan Pablo, ein Busfahrer, kann die Bewegung nachvollziehen. „Es gibt keine andere Weise, sich Gehör zu verschaffen. Viele Bürger*innen sind gegen die Steuerreform, aber nur der öffentliche Sektor hat die Möglichkeit zu streiken.“ Ein Truckfahrer regt sich auf: „Sollen sie doch streiken, aber den Rest des Landes seine Arbeit machen lassen.“ Melanie, eine junge Studentin, sieht die Demonstranten als Teil des Problems. „Warum haben sie nicht gestreikt, als der Haushalt in Schieflage geriet? Weil sie gut bezahlt werden. Sie haben sich ihr Schweigen teuer bezahlen lassen. Jetzt müssen sie die Konsequenzen für ihr korruptes Verhalten tragen.“ Zwischen den Fahnen der Protestierenden tauchen auch Taxifahrer*innen auf, die sich am Streik beteiligen. Ihr Motiv ist nicht direkt die Steuerreform, sondern der App-Anbieter Uber. Wie in vielen Teilen der Welt stören sie sich am preiswerten Personentransport, den die App ermöglicht. Seit drei Jahren existiert er in Costa Rica. Seitdem hat sich die Causa Uber zu einem weiteren Präzedenzfall jener ineffizienten Arbeitsweise von Politik und Verwaltung entwickelt, der der Präsident indirekt eine Mitschuld an der Krisensituation gibt.

Ein weiterer Präzedenzfall ineffizienter Arbeitsweise von Politik und Verwaltung

Wie in vielen lateinamerikanischen Ländern ist Uber in Costa Rica ein großer Erfolg. In dem Land mit knapp 5 Millionen Einwohner*innen bieten nach eigenen Angaben bereits 21.000 Fahrer*innen 800.000 Nutzer*innen Fahrten an. Die Attraktivität hat mehrere Gründe. Die Mehrheit der Costa-Ricaner*innen lebt in der Hauptstadtregion um San José, die ein Abbild des autozentrierten Stadtmodells der Vereinigten Staaten ist. Fußgänger*innen oder Radfahrer*innen finden darin keinen Platz, während der öffentliche Nahverkehr höchst ineffizient ist. Wer kein eigenes Auto besitzt, nutzt das Taxi – oder eben Uber. Taxifahrer*innen genießen aber einen schlechten Ruf. Das jahrzehntealte Monopol und lasche Kontrollen haben eine Servicewüste hinterlassen. Fahrten ohne Taximeter, Umwege und Belästigungen machen Uber zur sicheren Alternative. Das ausschlaggebende und zugleich umstrittenste Argument ist der Preis: Uber ist günstiger als die offiziellen Taxis. Der niedrige Preis ist jedoch durch die Illegalität der Dienstleistung teuer erkauft. Taxifahrer*innen organisieren sich in Genossenschaften, sie benötigen eine staatliche Lizenz und zahlen Steuern. Die Fahrer*innen von Uber überlassen 25 Prozent ihrer Einnahmen Uber, der Rest ist für sie. Trotz Ubers Wachstums und mehrerer Streikwellen der Taxifahrer*innen ist seitens der Politik wenig passiert. Die vergangene Regierung hat Uber offiziell für illegal erklärt, in der Praxis ist der Betrieb aber weitestgehend geduldet. In dieser unkontrollierten Illegalität sieht der Abgeordnete Enrique Sánchez der regierenden Partei der Bürgerlichen Aktion (PAC) den falschen Weg. Er ist einer der wenigen Abgeordneten, die öffentlich Lösungen präsentieren. Für ihn ist Uber mehr als ein Taxiunternehmen. Es ist der Vorbote neuer Arbeitsformen und Unternehmensmodelle. „Wir müssen uns entscheiden. Glauben wir, dass sich der Fortschritt an unsere Gesetze anpasst oder passen wir diese lieber an den Fortschritt an?“ Letztendlich gäbe es zwei Wege, mit Uber umzugehen: Ein komplettes Verbot oder die Legalisierung. In Costa Rica liefe es aber stets auf einen dritten Weg, einen „faulen Kompromiss“, hinaus. Sánchez macht sich für eine Liberalisierung des gesamten Personentransportes stark. Derzeit leiden auch die Taxifahrer*innen unter einer ausufernden Bürokratie und als Folge dessen an einem informellen Handel mit Lizenzen. „Nutzen wir die Gelegenheit und schaffen ein neues Lizenzverfahren für alle!“ Das legalisiere jede geleistete Arbeit, besteuere sie und biete allen den staatlichen Versicherungsschutz. „Dadurch öffnen wir Innovationen die Tür, schaffen mehr Wettbewerb und die Fahrer*innen können frei entscheiden, für welchen Anbieter sie fahren. Wir lösen das Problem langfristig und gerecht – auch für Technologien, die noch kommen.“

In Costa Rica läuft es stets auf einen faulen Kompromiss hinaus

Die Idee einer weitreichenden Reform der Lizenzstruktur trifft jedoch auf Widerstand. Das federführende Transportministerium fürchtet einen Bedeutungsverlust. Und der Vorsitzende der Taxigewerkschaft, Rubén Vargas, hält am Verbot von Uber fest. „Sie zerstören die Arbeitsplätze derer, die Steuern zahlen und ersetzen sie durch illegale Billigarbeit. Und am Ende gehen die Einnahmen in die USA. Ist das etwa die moderne Welt?“ Uber hält dem entgegen, dass es kein Transportunternehmen sei, sondern die Fahrten lediglich vermittele. Daher wäre eine Gleichstellung mit Taxiunternehmen nicht rechtens. Darüber hinaus gibt sich das Unternehmen öffentlichkeitsscheu, Kommunikationsexpert*innen wimmeln Presseanfragen ab. Man präferiert den direkten Draht zur Politik.

Dort wird im Transportministerium der Kompromissvorschlag verhandelt. Enrique Sánchez kennt und erklärt ihn: „Statt einer Gleichstellung mit den Taxiunternehmen verpflichtet sich Uber, 3Prozent seiner Einnahmen in einen Mobilitätsfonds zu zahlen und seine Fahrer*innen staatlich zu versichern.“ Den Taxifahrer*innen werde der Erwerb der Lizenz erleichtert. „Dieser Entwurf findet wahrscheinlich eine politische Mehrheit, löst aber die eigentlichen Probleme nicht.“ Statt einer weitreichenden Reform, wie Sánchez sie fordert, fördert der Entwurf die bestehenden Strukturen. Er geht nicht die vernachlässigten Kontrollen, die komplizierte Überregulierung und das autozentrierte Stadtmodell an – alles Aufgaben des Transportministeriums, das auch den neuen Mobilitätsfonds verwalten wird. Damit besteht die Gefahr, dass sich um ihn jene bürokratischen Hürden entwickeln, die die Modernisierung bremsen. Und, dass die Mittel aus dem Fonds eher in den Straßenbau als in den öffentlichen Nahverkehr investiert werden. Zudem fehlen wichtige argumentative Stützen des Kompromisses. Sánchez kann nicht sagen, wie die drei Prozent zustande kamen. Als Vorbild dienen ähnliche Gesetze z.B. aus Chile. Costa-ricanische Eigenheiten, wie das Sozialstaatssystem, werden dabei nicht berücksichtigt. Da Uber derzeit illegal ist, liegen auch keine Zahlen vor. Es ist offen, was diese drei Prozent ausmachen und wie sie mit potenziellen Schäden der Volkswirtschaft durch einen reduzierten Taxisektor im Verhältnis stehen. Es ist daher schwer zu sagen, ob die drei Prozent „Steuern“ angemessen sind – und gemessen woran? Gerade im Rahmen der aktuellen Krise hätten makroökonomische Argumente der Debatte helfen können, der vom Präsidenten geforderten Effizienzsteigerung ein Gesicht zu verleihen.

Das wäre etwas Neues: Radwegebau statt Straßenausbau

Der benötigte Erneuerungsprozess droht daher an den internen Strukturen der Ministerialbürokratie zu scheitern. Auch deren Mitarbeiter*innen stehen neben den Taxifahrer*innen und gemeinsam legen sie das gesamte Land lahm im Kampf um ihre Würde. Eine wahrlich illustre Zusammenkunft also, auf beiden Seiten der Absperrung, mündet in einer konfusen Rollenverteilung bezüglich Problem, Verantwortlichkeit und Opfer. Doch plötzlich regt sich was an der Streikfront. Die Polizei räumt die Barrieren beiseite. Wird die Blockade geöffnet? „Ja“, erklärt Juan Pablo, der Busfahrer. „Es ist 16 Uhr. Der Streik ist für heute vorbei. Ab jetzt haben wir freie Fahrt bis San José.“ Ein bisschen Ordnung herrscht also doch: Selbst, wenn es um die eigene Würde geht, macht der öffentliche Dienst pünktlich Feierabend.

BILDUNG ZU DIESEL

Die Bilder in den Medien vermittelten ein Horrorszenario: Eine weinende hochschwangere Frau bettelt an einer Tankstelle um Benzin für ihr Auto, „weil die Ambulanzen nicht fahren“. Kein Insulin für Diabetes-Patient*innen in den Krankenhäusern, leergefegte Regale in den Supermärkten. Komplett überfüllte Autobusse, kilometerlange Schlangen an den Tankstellen, Streichung von Inlandsflügen an 14 Flughäfen, weil kein Kerosin geliefert werden kann. Und der Präsident setzt nach den ersten gescheiterten Verhandlungen das Militär ein, um die Blockaden der Lkw-Fahrer*innen auf den Fernstraßen aufzulösen. Grundlage dafür ist das Gesetz zur „Garantie von Gesetz und Ordnung“, das zum ersten Mal für das gesamte Land galt.

Doch am Abend des zweiten Tages nach dem Ende des landesweiten Streiks der selbstständigen Fuhrunternehmer*innen ist in der Millionenstadt Recife im Nordosten des Landes die Versorgungslage weitestgehend normal. Die langen Schlangen an den Tankstellen haben sich auf fünf bis zehn Autos reduziert. In den großen Supermärkten gibt es vereinzelte Lücken bei den Frischwaren wie Fleisch oder Gemüse, aber von einer Krise kann keine Rede sein. Und die – jährlich von starken Überschwemmungen der Straßen geprüften – Recifenses nehmen den Streik denkbar gelassen. „Wir machen sowieso einmal im Monat einen Großeinkauf, Obst und Gemüse kaufen wir alle vierzehn Tage“, sagt Kilsa Oliveira, die in einem Friseursalon arbeitet. „Da hat es uns an nichts gefehlt. Und mein Bus ist immer voll, das war nichts Neues.“ So oder so ähnlich klingt das bei fast allen, die den Streik beschreiben. Stärker als die Privatleute haben die Blockaden allerdings das Gewerbe getroffen, auch Restaurants sind auf tägliche Lieferungen angewiesen.

Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildungm Wissenschaft und Würde werden zu Diesel

Aber auch hier galt: Im Ernstfall wurde einfach die Speisekarte umgeschrieben. Am schwierigsten war die Versorgung mit Benzin, drei bis vier Stunden zu warten und dann nicht einmal volltanken zu können – eine echte Geduldsprobe. Andere stiegen auf Öffentliche um, deren Verkehr in vielen Städten eingeschränkt weiter funktionierte. So fuhr in São Paulo immerhin jeder zweite Bus. Da viele Taxis Hybridmotoren haben, konnten sie Gas oder Alkohol als alternativen Treibstoff nutzen. Deshalb empört sich Taxifahrer Sandro Manga auch eher über diejenigen, die versuchten, aus dem Streik Geld zu schlagen, als über die Lkw-Fahrer*innen: „Das Benzin für neun Reai und 90 Centavos (2,27 Euro) zu verkaufen, das ist unverschämt. Die versuchten, auf unsere Kosten reich zu werden. Aber sie werden eine sehr hohe Strafe von 150.000 Reais erhalten, was ich ihnen wirklich gönne!“

Betroffen waren auch Universitäten und Schulen. „Wir mussten unsere Kurse für zehn Tage aussetzen“, erzählt Fatima Silva, die in Recife als Dozentin an einer Fakultät für Mode und Design arbeitet: „In den Außenbezirken fuhren kaum Busse, so dass viele Studierende gar nicht kommen konnten. Erst am vierten Juni konnten wir den Unterricht wieder aufnehmen.“

Doch auch wenn das Katastrophenszenario eher medial erzeugt war: Die selbständigen Fuhrunternehmer*innen haben mit ihrer zehntägigen Blockade-Aktion der Regierung Temer ihre erste große innenpolitische Niederlage beschert. Neben einer Senkung des Preises für Diesel – dieser ist in den vergangenen zwölf Monaten um fast 20 Prozent gestiegen – forderten sie eine Steuerbefreiung des Treibstoffs sowie eine festgelegte Untergrenze für Frachtgebühren. Und sie hatten Erfolg, denn nach nur wenigen Verhandlungstagen ist die Regierung eingeknickt, um die Straßen wieder frei zu bekommen und eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.

Auch erhielten die Lkw-Fahrer*innen für ihre Blockaden durchaus Unterstützung von der Bevölkerung, selbst in armen ländlichen Gebieten im Sertão wurden sie tagelang mit Essen und Getränken versorgt. Schwerer tat sich die traditionelle Linke mit der Unterstützung. Da die meisten der streikenden Fahrer*innen zumindest offiziell selbständig sind, gehören sie nach Einschätzung der Linken eher zu den zu bekämpfenden Unternehmer*innen denn zur arbeitenden Klasse. Hinzu kommt, dass Teile der Fuhrunternehmer*innen nach dem Streik auf einer Demonstration in São Paulo den Eingriff der Militärs („Intervenção Militar“) in die brasilianische Innenpolitik forderten. Doch die Blockierenden sind nicht mehrheitlich den Rechten zuzuordnen; die vielen aus den Blockaden in den sozialen Medien veröffentlichen Videos und Interviews zeigen deutlich mehr Stellungnahmen zugunsten der Freilassung des ehemaligen Präsidenten Lula und mit Zuspruch für dessen Arbeiterpartei PT.

Aufgegriffen wurden die Proteste von der Gewerkschaft der Raffinerie-Arbeiter*innen, FUP. Diese erklärte einen Warnstreik von 72 Stunden ab dem 30. Mai und forderte eine erneute staatliche Regulierung der Preise für Benzin, Diesel und Gas sowie das Ende der täglichen Anpassungen an den Weltmarktpreis – was die große Mehrheit der Bevölkerung sicher aufs Wärmste begrüßen würde. Weiter ein Ende der Privatisierung des halbstaatlichen Mineralölunternehmens Petrobras und eine erneute Erhöhung der Produktion in den Raffinerien, um den auf 20 Prozent gestiegenen Marktanteil an internationalen Erdölderivaten wieder zu senken. Außerdem forderten sie den sofortigen Rücktritt des Direktors der Petrobras, Pedro Parente, der im Auftrag der Regierung Temer die Preisregelungen außer Kraft gesetzt hatte. Zumindest die letzte Forderung wurde schnell erfüllt, Pedro Parente ist bereits zurückgetreten. Bis zum Ende des Monats will die FUP entscheiden, ob weitere Streiks folgen sollen.

Ein weiteres Zugeständnis der Regierung ist die Senkung des Preises für den Liter Diesel um 0,46 Centavos, allerdings verkaufen bisher nur wenige Tankstellen Diesel zu diesem Preis. Denn, wie es die Folha de São Paulo formuliert, „das Dekret des Präsidenten verfügt den Preisnachlass durch die Raffinerien. Von den Raffinerien bis zu den Tankstellen bestimmen freie Verhandlungen den Preis. Es stellt sich die Frage, ob die Aktionen der Regierung an den Zapfsäulen verfassungsgemäß sind.“ Die teilweise Steuerbefreiung des Treibstoffs – insgesamt werden fünf verschiedene Formen von Steuern für Union und Bundesstaaten erhoben, die u.a. für den Straßenbau eingesetzt werden – sorgen für Unmut bei den Landesregierungen. Und die neuen Untergrenzen für Frachtgut rufen die Unternehmerverbände auf den Plan. Der Unternehmerverband von São Paulo, FIESP, hat bereits mit einer Klagewelle gedroht. So wird seit dem Ende des Streiks nachverhandelt und jeden Tag eine neue Lösung für die Einhaltung der Zusagen diskutiert.

Bereits am 30. Mai veröffentlichte die Regierung Temer das Präsidialdekret 839, eine 35 Seiten lange Liste mit Streichungen von finanziellen Mitteln in Regierungsprogrammen und Subventionen. Mehr als 1,2 Milliarden Reais (270 Millionen Euro) werden u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Förderung von Frauen und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft gestrichen. Der größere Teil der Budgetkürzungen, 12,1 Milliarden Reais, betrifft allerdings bisherige Subventionen, darunter in der Getränkeindustrie. Die Liste mit Kürzungen war bereits seit längerem erwartet worden, denn seit dem Oktober 2016 sind die Ausgaben für staatliche Sozialprogramme für 20 Jahre „eingefroren“. Die versprochene Preissenkung für Diesel muss daher durch weitere Kürzungen finanziert werden – oder wie es der Blogger Leonardo Sakamoto formulierte: „Und die öffentlichen Mittel für Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Würde werden zu Diesel.“

ENDLICH ABHEBEN

Diesen 1. Mai musste man in Französisch-Guayana ohne die traditionellen, glückbringenden Maiglöckchen auskommen. Es wurden keine geliefert. Die seit Wochen anhaltenden sozialen Proteste ungekannten Ausmaßes in dem Übersee-Departement behindern unter anderem die Einfuhr der gewohnten Importe. Schon zu Ostern seien die Florist*innen um ihr Geschäft gebracht worden, jetzt hofften sie auf den Muttertag, informierte franceinfo zum Maifeiertag. Dabei sind die Maiglöckchen eine kleinere Sorge, die sich mit Schmunzeln und Schulterzucken hinnehmen ließe, während der Grund für die Massendemonstrationen, den Aufruf zum unbefristeten Generalstreik, die Blockaden von Straßen, Häfen und Flughäfen bis hin zur Besetzung des Weltraumbahnhofs in Kourou in einer ernsten sozialen Schieflage zu suchen ist.

Fotos: Santiago Engelhardt

Jünger und ärmer als im europäischen Mutterland sind die Menschen in Französisch-Guayana, die Lebenshaltungskosten dagegen sind teurer. Doch die Bewohner*innen des Übersee-Departements wollen sich die Benachteiligung nicht mehr gefallen lassen. Sie sind EU-Angehörige wie ihre französischen Mitbürger*innen, bezahlen mit dem Euro und haben es satt, in 7.000 Kilometer Entfernung von ihrer Pariser Regierung vergessen oder ignoriert zu werden. Besonders in den Bereichen Sicherheit, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur fordern sie substanzielle Investitionen, um den Entwicklungsrückstand zum Rest der Europäischen Union aufzuholen. Der Weltraumbahnhof in Kourou, der vom 1980 gegründeten europäischen Raumtransportunternehmen Arianespace betrieben wird, steht dabei symbolisch für die enorme Kluft: Außerhalb des hochentwickelten Technologiezentrums haben 30 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zu Trinkwasser oder Elektrizität; 20 Prozent – bei den unter 25-Jährigen sogar 40 Prozent – finden keine Arbeit. Damit nicht genug, belegen viele weitere Zahlen die Misere des ärmsten Departements Frankreichs, dem letzten nicht-autonomen Gebiet auf dem südamerikanischen Kontinent. Dass die Bevölkerung durch eine hohe Geburtenrate und Zuwanderung schnell wächst, verschärft die Probleme.

Im Bildungssektor mangelt es an Schulen. Die Quote der Schulabbrüche liegt ebenso erschreckend hoch wie die beim Analphabetismus. In der Gesundheit mangelt es an Ärzt*innen. Auf die gleiche Einwohnerzahl kommen in Französisch-Guayana nur halb so viele Allgemeinmediziner*innen und sogar viermal weniger Fachärzt*innen als im Mutterland. Zu den medizinischen Herausforderungen zählen eine erhöhte Sterblichkeit von Kindern und Müttern ebenso wie die Dengue-, Chikungunya- und Zika-Viren.
Die französisch-guayanische Wirtschaft ist wenig diversifiziert, größte Arbeitgeber sind das Raumfahrtzentrum Kourou und der öffentliche Dienst. Ansonsten mangelt es an Investitionen. Aufgrund der geltenden EU-Handelsreglementierungen darf das Übersee-Departement außerdem keine Produkte aus südamerikanischen Ländern importieren, die nicht den EU-Standards entsprechen, was zu seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit und Isolierung führt. Daneben wurden die Transportwege vor allem im Landesinneren kaum ausgebaut. 90 Prozent der Bevölkerung leben an der Küste, doch ein Drittel der 22 guayanischen Kommunen verteilt sich auf acht Millionen Hektar tropischen Regenwald. Das entspricht 90 Prozent eines Gesamtterritoriums, das etwa der Fläche Österreichs gleichkommt. Diese Ortschaften sind nicht über Straßen zu erreichen, nur die größten verfügen über direkte Wasser- oder Luftverbindungen in die Küstenregion. Zum Teil müssen mehrere Stunden im Boot zurückgelegt werden, um auch nur eine ärztliche Grundversorgung zu erhalten.

Wohin steuert Französisch-Guayana? Auf jeden Fall soll es so nicht weitergehen

Mit 42 Morden und 2.338 Raubüberfällen im Jahr 2016 bei einer Einwohnerzahl von ca. 282.000 ist Französisch-Guayana auch das unsicherste Departement mit der höchsten Gewaltrate. Die systematisch unterbesetzte Polizei muss sich außerdem mit illegalem Goldabbau und Immigration sowie dem rasant zunehmenden Drogenhandel auseinandersetzen, wobei die geographischen Gegebenheiten die Aufgabe umso mehr erschweren. Angesichts all dieser Missstände forderte die Protestbewegung drei Milliarden Euro, die sie am 21. April per Unterschrift von der französischen Regierung zugestanden bekam.
Diesem Abkommen war die Verkündigung eines „Notfallplans“ über knapp 1,1 Milliarden Euro am 5. April vorausgegangen. Der wurde als ungenügend abgelehnt, die Proteste fortgeführt. Zum Vergleich: Der für 2017 verabschiedete Haushalt Französisch-Guayanas beträgt 800 Millionen Euro, eine Steigerung zum Vorjahr, in dem er bei 662 Millionen Euro lag. Die Beharrlichkeit der guayanischen Bevölkerung steht vor dem Hintergrund früherer Enttäuschungen. So hatte der französische Präsident François Hollande bei seinem Besuch im Dezember 2013 einen „Pakt für die Zukunft“ versprochen: „Besiegeln wir diesen Pakt noch vor Ende des Jahres 2014, um zu zeigen, was wir Guayana schuldig sind.“ Der Vertrag kam nie zustande. Als nun im März 2017 so viele Menschen auf die Straße gingen, dass ihr Protest als „historisch“ betitelt wurde, gestand die ehemalige Justizministerin Christiane Taubira, die selbst in Cayenne geboren wurde, ein, dass die Probleme nie richtig angegangen worden seien. Stattdessen habe man die notwendige Medizin jahrelang entweder tröpfchenweise oder in homöopathischen Dosen verabreicht, so ihre Erklärung gegenüber den Medien. Dutzende Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um Paris klarzumachen, dass Französisch-Guayana diesmal auf seinen Rechten bestehen wird. Während sie Raketen und Flugzeuge am Start hinderten, gaben sie ihrer Bewegung den Namen Pou Lagwiyann Dékolé – „Damit Guayana abhebt“.
Neben den Gewerkschaften hat bisher das Kollektiv der 500 Frères contre la délinquance, der „500 Brüder gegen die Kriminalität“, eine besonders aktive Rolle gespielt. Der gewaltsame Tod eines Mannes am 11. Februar in einem Arbeiter*innenviertel von Cayenne war die Geburtsstunde dieser Gruppierung. Entgegen ihrer furchteinflößenden Erscheinung – schwarze Kleidung, schwarze Masken – sind die Mitglieder gänzlich unbewaffnet, die schwarzen Masken dienen zu nichts Anderem als aufzufallen und gehört zu werden. Am 17. März stürmten die 500 Frères eine Veranstaltung der Umweltministerin Ségolène Royale und präsentierten Lösungsvorschläge, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Beispielsweise wurden eine mobile Polizeieinheit, die man zur Verstärkung rufen könnte, oder auch die Abschiebung ausländischer Gefängnisinsass*innen in ihre Heimatländer vorgeschlagen. Am 20. März schlossen sich die 500 Frères streikenden Arbeiter*innen eines Subunternehmens des Raumfahrtzentrums von Kourou und Beschäftigten eines nahen Krankenhauses an, die gemeinsam mit Anwohner*innen die Zufahrtswege zum Weltraumbahnhof blockierten. Drei geplante Raketenstarts mussten auf unbestimmte Zeit verschoben werden; die dadurch verursachten Kosten werden auf eine halbe Million Euro pro Tag geschätzt. In den Folgetagen wurden Barrikaden auf den

Überlandstraßen im gesamten Departement errichtet, Häfen und Flughäfen blockiert. Schulen mussten schließen. Hunderte Studierende und weitere Beschäftigte schlossen sich den Protesten an, die Kollektive der Indigenen und Bushinengués, Nachfahr*innen entlaufener Sklav*innen, brachten ihren eigenen Katalog an Forderungen ein. Am 27. März riefen die 37 Mitgliedgewerkschaften des Dachverbands UTG zum unbefristeten Generalstreik auf, und einen Tag später gingen 10.000 Menschen in der Hauptstadt Cayenne und weitere 4.000 in Französisch-Guayanas zweitgrößter Stadt Saint-Laurent-du-Maroni auf die Straße. Spätestens jetzt mussten die Kandidat*innen im französischen Wahlkampf Stellung beziehen.
Der wirtschaftsliberale Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron beging den Fauxpas, von unnützen Blockaden einer „Insel“ zu sprechen, sodass er sich des unmittelbaren Spotts erwehren musste. Während Marine Le Pen Milliardenzahlungen für sinnlos erklärte und allein den Stopp der illegalen Immigration als sinnvolle Lösung erachtete, sprach der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon den Protestierenden auf einer Kundgebung in Rennes seine volle Solidarität aus. Doch 80.000 guayanische Wahlberechtigte üben kaum Einfluss auf das Gesamtergebnis aus. Dass Mélenchon in der ersten Wahlrunde im Departement Französisch-Guayana die meisten Stimmen holte, dicht gefolgt von der rechtsradikalen Marine Le Pen, und das bei einer ohnehin geringen Wahlbeteiligung von unter 35 Prozent, ist daher wohl wenig aussagekräftig. Bedeutender ist die Anzahl der votes blancs, Stimmenthaltungen in Form von weißen Blättern oder leeren Briefumschlägen, sowie der votes nuls, ungültiger Stimmen, die zusammengenommen fast 16 Prozent ausmachten gegenüber lediglich 2,55 Prozent im französischen Gesamtergebnis. Ein Zeichen mehr, wie misstrauisch man den Politiker*innen in Französisch-Guayana gegenübersteht.
Zwar wurde der Vertrag vom 21. April, der den einmonatigen Stillstand im Departement beendete, auch zur Erleichterung vieler Inhaber*innen kleinerer Geschäfte sowie der Taxifahrer*innen und Hoteliers, inzwischen offiziell veröffentlicht, doch begleitet das Misstrauen auch weiterhin die aktuell laufenden Arbeitsverhandlungen im Krankenhaus Andrée-Rosemon de Cayenne (Char) und in der französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF. Am 2. Mai mussten 27.500 Haushalte wegen absichtlich herbeigeführten Stromausfällen vier Stunden lang ohne Strom auskommen, am Tag danach legten die Arbeiter*innen im Hafen von Cayenne aus Solidarität mit den verhandelnden Angestellten die Arbeit nieder. Pou Lagwiyann Dékolé hat für die Verhandlungen von Char und EDF ein Ultimatum von 48 Stunden gesetzt. Allerdings ohne anzukündigen, was folgen soll, wenn es innerhalb der Frist zu keiner Einigung kommt. Am 7. Mai findet die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen statt. Noch im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung am 21. April hatte ein Mitglied der 500 Frères erklärt: „Sobald die neue Regierung im Amt ist, werden wir in Aktion treten. Der Staat schuldet uns nicht zwei, sondern sieben Milliarden Euro!“

DER PROTEST IST UNGEBROCHEN

Macht und Gewalt sind in Mexiko nicht zu trennen. Während der viermonatige Streik der Lehrer*innengewerkschaft CNTE ebenso beendet wurde wie die gewaltsame Repression der Regierung gegen die streikenden Lehrer*innen, geht der Kampf um die Deutungshoheit über die Anliegen und Methoden der bereits 2013 vom Parlament beschlossenen Bildungsreform weiter. Beide Seiten halten die Überarbeitung des veralteten Bildungssystems für notwendig, doch eben aus unterschiedlichen Perspektiven. Dass mexikanische Schüler*innen bei Pisa-Umfragen regelmäßig sehr schlecht abschneiden ist dabei kein Streitpunkt. Die enorme Ungleichheit bei der Verteilung von Geldern zwischen sozioökonomisch starken und schwachen Teilen des Landes – wobei den jahrgangsübergreifenden Schulen in armen ländlichen Gemeinden die geringsten Mittel zur Verfügung stehen – bemängeln die benachteiligten Schulen. Diese konzentrieren sich vor allem im Süden Mexikos, wo die CNTE die meisten Mitglieder hat.
Ein Dorn im Auge der Regierung ist vor allem der traditionell starke Einfluss der Gewerkschaft unter anderem bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die oft nicht nach objektiven Kriterien, sondern nach klientelistischen Motiven vergeben werden. Dem soll eine regelmäßige Evaluation der Lehrkräfte entgegenwirken, die Lehrer*innen bei Nichtbestehen den Beruf kosten würden. Gegen eine solche „bestrafende Evaluierung“ wehrt sich die CNTE seit Jahren, nicht aber gegen eine Bewertung ihrer Arbeit als solcher. Sie argumentiert, dass mit einer Sanktionierung nicht die strukturellen Probleme beseitigt, sondern durch die Unsicherheit des Arbeitsplatzes sogar verschärft würden. Außerdem sei die Bewertung einseitig, da es in den ländlichen Gemeinden Mexikos neben der Wissensvermittlung auch um die ergänzende soziale Arbeit der Lehrer*innen gehe. Laut CNTE haben bereits 25.000 Beschäftigte im Bildungswesen ihren Arbeitsplatz verloren. Die Protestierenden werfen der Regierung darüber hinaus die Deregulierung des Bildungssystems vor, wodurch dessen Privatisierung ermöglicht würde.
Als am 15. Mai die Lehrer*innen mit einer Mahnwache vor dem Innenministerium in Mexiko-Stadt ihren Protest begannen und in mehreren Bundesstaaten Schulen geschlossen blieben, war noch nicht abzusehen, wie weit der Streit eskalieren würde. Dass dieses Thema großes Potenzial für Mobilisierung und anschließende Repression birgt, wurde allerdings schon im Vorjahr bewiesen (LN 495/496). Der Streik dieses Jahr kostete im Verlauf der vier Monate mindestens elf Menschen das Leben und einigen Gewerkschaftsfunktionär*innen die Freiheit. Im Juni erreichte die Auseinandersetzung ihren traurigen Höhepunkt als die Regierung mit Hilfe der Bundespolizei versuchte, den Streik zu beenden und strategisch wichtige Straßen und Orte im Bundesstaat Oaxaca von Streikposten und Barrikaden zu räumen (LN 505/506). Zwischenzeitlich begonnene Gespräche der Konfliktparteien wurden ergebnislos abgebrochen. Die Regierung hat das Ende des Streiks erreicht, nicht jedoch das der Proteste, da die CNTE ein Mitspracherecht bei der Reform fordert. Die von Bildungsminister Nuño Anfang Oktober angekündigten Gespräche bergen mit der bisherigen Kompromisslosigkeit damit auch den Zündstoff für kommende Auseinandersetzungen.

“MODERATE GEWALTANWENDUNG” A LA MEXICANA

„Am Sonntag frühmorgens kam die Polizei und begann, uns sofort mit Tränengas anzugreifen, ohne uns eine Frist zu geben, wir waren nicht viele und sind erst davongerannt”, berichtet eine Lehrerin, die sich an der Barrikade in Nochixtlán beteiligt hatte. Doch nachdem die 800 Polizisten die Blockade auf der wichtigsten Verbindungsstraße von Puebla nach Oaxaca überrannt hatten, folgte die Wiederbesetzung der Autobahn und eine fünfstündige Schlacht. Sonntag ist Markttag in der Kleinstadt Nochixtlán, dem Handelszentrum der prärieartigen Region Mixteca im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Am Sonntag, den 19. Juni, schlugen die Kirchenglocken Alarm und die umliegenden Gemeinden unterstützten den erbitterten Widerstand der Lehrer*innen. Als die Polizei einsehen musste, dass die Auflösung der Blockade gescheitert war, eröffnete sie das Feuer auf die nur mit Steinen bewaffneten Protestierenden. Schnellfeuer, Pistolenschüsse, die Leute ducken sich minutenlang weg, wie ein Video der Nachrichtenagentur AP dokumentiert. Der Behauptung der Polizei, mehrere Polizisten seien durch Schüsse verletzt wo

rden und hätten dieses Feuer bloß beantwortet, widersprachen Demonstrierende und renommierte Journalist*innen vor Ort. Neun tote Aktivist*innen (davon acht in Nochixtlán) und 45 durch Schüsse Verletzte ist die bislang bekannte Bilanz des 19. Juni. Und ein Flächenbrand der Empörung, der sich von Nochixtlán aus im ganzen Land ausbreitet.
Seit Mitte Mai hat sich der Konflikt der Lehrer*innengewerkschaft CNTE, der oppositionellen Strömung innerhalb der staatsnahen Einheitsgewerkschaft SNT, und der mexikanischen Regierung wieder zugespitzt. Die rund 200.000 Mitglieder der CNTE befinden sich in den vier südlichen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Guerrero und Michoacán seit dem 15. Mai in einem wilden Streik gegen die Umsetzung der 2013 beschlossenen Bildungsreform, die wesentliche Verschlechterungen für die Gewerkschaftsmitglieder sowie das öffentliche Bildungswesen zugunsten privater Einrichtungen beinhaltet (siehe LN 495/496). Ebenso protestieren sie mit den Streiks gegen die Kriminalisierung und Verhaftungen zahlreicher CNTE-Aktivist*innen. Tausende Polizist*innen sind seither im Einsatz, griffen insbesondere Demonstrationen in Chiapas an, wo sich ebenfalls große Teile der Bevölkerung mit ihren maestros solidarisieren. In Oaxaca, wo die CNTE mit der Sektion 22 traditionell am besten organisiert ist,  ließ die Verhaftung der Gewerkschaftsspitze das Fass überlaufen. Als der Generalsekretär Rubén Nuñez und sein Vize Francisco Villalobos am 11. Juni wegen angeblicher Geldwäsche festgenommen wurden, errichteten Lehrer*innen mit Unterstützung von Eltern, sozialen Bewegungen und indigenen Gemeinden auf Überlandstraßen an die 50 Blockaden und legten so die Wirtschaft des auch bei Tourist*innen beliebten Bundesstaates lahm.

Foto: Niñx Salvaje – colectivo subversiones

Statt nach nun drei Jahren andauernden Protesten und den aktuellen mehrwöchigen Streiks endlich auf die Dialogforderungen der Lehrer*innen einzugehen, sandte die Regierung lange Zeit immer nur mehr Polizei in die südlichen Bundesstaaten. Die Einheiten der Bundespolizei konnten jedoch aufgrund der Blockaden zeitweise nicht mehr auf dem Landweg nach Oaxaca gelangen. Die Bundespolizei nutzte daher auch den zivilen Flughafen Oaxaca-Stadt und den Militärstützpunkt in Ciudad Ixtepec. Das Innenministerium unter Führung von Osorio Chong hatte fünf Tage vor diesem schwarzen Sonntag angekündigt, Straßenblockaden nicht mehr zu tolerieren und wo nötig mit „moderatem Gebrauch der Staatsgewalt” gegen Demonstrierende vorzugehen.
Was „moderat“ für die mexikanische Regierung bedeutet, zeigten dann die nächsten Tage. Am 17. Juni räumten rund 1.000 Polizisten von Chiapas kommend mit massivstem Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken mehrere Straßenblockaden in Oaxaca, erst in Zanatepec, anschließend in den Ortschaften Ciudad Ixtepec, Mixtequilla und Tehuantepec. Schließlich stießen sie in die wichtige Industriehafenstadt Salina Cruz vor und befreiten die Ölraffinerie und Dutzende mit ihr festgesetzte Tanklastwagen. Nach dem Abzug der marodierenden Polizeieinheiten organisierten sich die Dörfer neu und besetzten die wichtigsten Kreuzungen erst recht. „Unerhört, absurd und sinnlos” sei diese Aktion der Bundesregierung gewesen, äußerte das lokale Menschenrechtszentrum Tepeyac tags darauf. Diese Antwort sei „das Kennzeichen eines Staates, der mit der Logik von Konfrontation und Gewalt den Machterhalt sichern will, statt Verhandlungsräume zu öffnen, in der diese zerbrochene Demokratie neue Wege finden könnte”, mahnt das auch vom Gemeinde-Menschenrechtsnetzwerk Redecom mitunterzeichnete Bulletin.
Die zweite Polizeikarawane, von Puebla kommend, ging noch rabiater vor. Auf der Einfahrt nach Nochixtlán am besagten 19. Juni verhaftete sie frühmorgens vom Friedhof weg 17 Personen, welche das Grab für ihren tags zuvor verstorbenen Familienangehörigen schaufelten. Die unbeteiligten Bürger*innen waren mehrere Tage in Haft, nach ihrer Freilassung berichteten sie von 18-stündigen Folterungen. Nachdem sie ihren tödlichen Einsatz in Nochixtlán beendet hatte, löste die Polizei am gleichen Tag auf ihrem Weg nach Oaxaca-Stadt immer wieder mit Tränengas und Schüssen weitere Ansammlungen von Protestierenden auf. Als sie gegen 17 Uhr bei der Autobahnzufahrt von Oaxaca-Stadt ankamen, trafen sie auf ein Szenario von rund 50 Barrikaden und einer Bevölkerung, deren Stimmung durch Tränengaseinsätze aus Helikoptern aufgeheizt war. Über Stunden lieferten sich Jugendlichen der pauperisierten Vorortgemeinden heftigste Straßenschlachten mit der Polizei, die auch hier wieder Schusswaffen einsetzte: Der 18-jährige Jovan Azarael Galán Mendoza kam durch einen Bauchschuss ums Leben, er war das insgesamt neunte Todesoper der Repressionswelle eines Tages. Gegen zehn Uhr am nächsten Tag, nach einem 15-stündigen Einsatz, stellte die Polizei ihre Angriffe ein. Das Protestzentrum, den Hauptplatz der Stadt mit dem Camp der LehrerInnen, hatte sie nicht erreicht.
Sei es als Reaktion auf die erfolglose Strategie der puren Repression, auf die Aufmerksamkeit der internationalen Medien oder auf die starken wirtschaftlichen Verluste: Am 22. Juni erklärte die mexikanische Regierung ihre Bereitschaft, nun doch der Dialogaufforderung der CNTE nachzukommen. Eine Delegation unter Führung des Innenministers will sich am 29. Juni mit CNTE-Funktionär*innen treffen, um „die Rückkehr zur Ruhe in den Regionen zu erreichen“, so das Innenministerium. Dass dies gelingt, darf bezweifelt werden. Zum einen haben mexikanische Re­gierungsvertreter*innen immer wieder zugesagte Treffen mit oppositionellen Bewegungen platzen lassen. Zum anderen erklärte Bildungsminister Aurelio Nuño bereits, dass Änderungen an der Bildungsreform selbst nicht auf der Agenda der Regierung stünden. Vielmehr bekräftigte er, dass „die Bildungsreform ein Prozess ist, der voranschreitet und den man nicht aufhalten wird.“
Nach dem blutigen Wochenende ist die Gesellschaft Oaxacas aufgewühlt wie seit langem nicht mehr. In Nochixtlán herrscht Trauer und immense Wut, an allen Eingängen bewachen die Mixteco-Indigene auf Barrikaden ihr Städtchen. Erst wenige Tage zuvor, am 14. Juni, hatten soziale Organisationen dem Volksaufstand gegen den damaligen Governeur Ulises Ruiz im Jahre 2006 gedacht, der mit einer missratenen Räumung eines Protestcamps der CNTE begann. Damals vertrieb die Zivilbevölkerung unter Führung der Lehrer*innen die staatlichen Autoritäten und organisierte Oacaxa-Stadt mit der Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) rund sechs Monate – bis zur blutigen Beendigung durch den Einmarsch der mexikanischen Armee und der Bundespolzei – in Eigenregie.
Heute sind die Rahmenbedingungen jedoch andere. Zwar gelang 2010 durch eine All-Parteien-Allianz erstmals die Abwahl der zutiefst repressiven Revolutionären Institutionellen Partei (PRI), doch ein Politikwechsel weg von der PRI scheiterte, zu verkrustet sind die Machtverhältnisse in Oaxaca. Die Hoffnungen der sozialen Bewegungen, ohne die PRI an der Regierung könne der Bundesstaat aufleben, haben sich zerschlagen. Und so ist mit den Wahlen am 5. Juni die PRI in Gestalt von Alejandro Murat als neuem Gouverneur zurückgekehrt. Er ist der Sohn von José Murat, Ex-Gouverneur von Oaxaca (1998 bis 2004) und Architekt des „Pakts für Mexiko”, mit dem die drei großen Parteien Mexikos weitgehende Reformen neoliberalen Zuschnitts in wichtigen Sektoren beschlossen, darunter die Bildungsreform.
Letztlich, darin sind sich die meisten Beobachter*innen einig, richtet sich der immer breitere und radikalere Protest von oppositionellen Gruppen wie der CNTE und deren Unterstützer*innen weniger gegen einzelne Maßnahmen, sondern gegen die mafiöse Polit-Elite und deren Umverteilungspolitik nach oben generell, während das Land weiter in Gewalt versinkt. Die Dörfer der Sierra Norte, der zentralen Region Oaxacas, mobilisieren; dutzende Gemeindepräsident*innen geloben mit Stempel und Unterschrift, die Lehrer*innen zu unterstützen. Die Prärie brennt.

Newsletter abonnieren