ANDINE MYTHOLOGIE IN METALROCK VERPACKT


Die Band Curare // Fotos: Curare

Was genau ist CURARE und wie entstand die Idee, ein musikalisches Projekt zu starten, das so unterschiedliche Klänge vermischt?
Juan Pablo Rosales: Mit CURARE versuchen wir, eine Untergattung des weltweit verbreiteten Folk-Metals zu entwerfen, die wir Andinen Folk-Metal nennen. Traditionell werden im Rock oder Metal folkloristische Elemente aus Europa mit Bezug zu den westeuropäischen Kelten oder anderen alten osteuropäischen Kulturen verwendet. Wir jedoch setzen dem unsere eigenen kulturellen und musikalischen Referenzen entgegen. Wir tragen unsere Mythologien in die heutige Zeit und verpacken sie in einen Musikstil, der uns gefällt – den Metal.

Was sind eure musikalischen Einflüsse?
David Rosales: Mein Bruder und ich kommen aus einer Musikerfamilie, in der viel traditionelle Musik wie etwa sanjuanitos, pasacalles, valses oder pasillos gespielt wurde. Wir fühlten, dass wir diese musikalische Prägung ausdrücken mussten, aber eben über Rockmusik. Grundsätzlich gibt es zwei Ereignisse, die unser musikalisches Leben bereits in der frühen Kindheit beeinflusst haben: Zum einen, dass uns unsere Mutter auf ein Konzert von Inti Illimani mitnahm, den großen Vorbildern der lateinamerikanischen Folklore. Erst durch Bands wie Inti Illimani widmete man sich in den sechziger Jahren wieder der lateinamerikanischen Musik und nutzte sie als Ausdrucksmittel linker Sozialkritik. Das zweite Ereignis war dann, als wir mit 10 Jahren The Wall von Pink Floyd sahen. Auf der einen Seite ist unser Einfluss also der Rock aus Europa und auf der anderen die Fülle traditioneller Musik aus den Anden. Augen öffnend war dann Bands wie Sepultura aus Brasilien zu hören: Es gab also auch Latino Metal! Das inspirierte auch uns dazu, eine Musik mit eigener Identität zu machen.

Bevor ihr eure Musik Andinen Folk-Metal nanntet, bezeichnetet ihr euch als ecuadorianische Longo Metal Band. Was ist Longo Metal und woher kommt das Wort Longo?
Eduardo Cando: Wir wurden sehr oft gefragt, was das eigentlich für eine Musik ist, die wir da machen. Es war gar nicht so sehr unser eigener Anspruch, dem einen Namen zu geben, sondern vielmehr das ständige Nachfragen der Leute. In einem Gespräch, halb ernst, halb im Scherz, kamen wir dann auf longo weil dieses Konzept im Kichwa die Zeit der Jugend und des Aufwachsens definiert. Unsere Musik richtete sich an die die Jugend, also nannten wir sie Longo Metal. Gleichzeitig hatten wir den Wunsch, die Nutzung des Wortes longo, das in der offiziellen Kultur der weißen Mestizo-Gesellschaft einen verächtlichen Beigeschmack hat, umzudeuten. Und zwar mit genau dieser Idee, das Andine wieder sichtbar zu machen, das in unserer eigenen sozialen, personellen und individuellen Überzeugung als Mestizen steckt. Daher also Longo Metal. Mittlerweile nutzen wir aber mehr den breiteren Begriff des ecuadorianischen Anden-Metals, denn das Konzept des Longo Metal ist lokal begrenzt.

Was hat es mit dem Titel eurer letzten CD Revive Esperanza (Die Hoffnung wiederbeleben) auf sich?
Juan Pablo Rosales: Revive Esperanza ist der letzte Teil unseres Erstlingswerkes, einer Trilogie: Comando Urbano, Radical Acción, Revive Esperanza. Zusammen ergeben die Anfangs­buchstaben CURARE. Das haben wir uns damals 2001, 2002 so ausgedacht und es war mehr oder weniger unser Plan. Comando Urbano (in etwa Stadtkommando, Anm. d. Übers.) ist sozusagen eine hippere Art uns selbst zu bezeichnen, denn gemeinsam sind wir wie ein kleines Komitee, das versucht etwas irgendwie Aufständisches zu machen. Heutzutage geben alle ihren Bands Namen in Awa oder Shuar [indigene Sprachen der Region, Anm. d. Übers.] oder mixen Samples ecuadorianischer Musik in ihre Lieder. Das ist eine super Entwicklung, denn als wir 2001 mit dieser Art der Musik anfingen, wurden wir dafür schief angeguckt. Viele Künstler betrachteten den Rückbezug auf die indigenen Klänge und Kultur eher mit Verachtung. Angesagt waren Jazz oder klassische Musik. In der zeitgenössischen Musik orientierte man sich generell sehr an allem Ausländischen, der Reichtum der lateinamerikanischen Symbole musste erst wieder entdeckt werden. Mittlerweile ist es normal, auf diese Symbole zurückzugreifen, alle machen das. In unserer Generation, vor 16 Jahren, war es noch eine Radical Acción, solche Musik zu machen. Und der Begriff „radikal“ geht auf das Wort Wurzel zurück, auf das Verwurzelt-Sein, die eigenen Wurzeln zu sehen und Wurzeln zu schlagen. Revive Esperanza ist nun der letzte Teil davon. Es ist eine grüne CD mit grünem Cover und Rücken. Wir wollten damit die Bedeutung des Urwalds hervorheben und betonen, dass in der Natur unsere Hoffnung fürs Überleben liegt. Wie können wir uns respektvoll nachhaltigeren Weltsichten annähern, wie sie die indigenen Völker Amerikas haben? Wie können wir lernen, weniger zu konsumieren? Ich glaube, dass es glücklicherweise immer mehr Leute gibt, die sich darum bemühen, weniger materielle und mehr spirituelle Reichtümer anzuhäufen. Das ist auch unser Anspruch.


Bandmitglieder: Juan Pablo Rosales (Guitarre und Gesang), David Rosales (Schlagzeug und Gesang), Eduardo Cando (andine Blasinstrumente), Federico Rossi (Bass)

Momentan stellt der Bergbau in Ecuador und auf dem ganzen Kontinent ein großes ökologisches, soziales und politisches Problem dar. Von der Regierung wird dies aber immer noch unter dem Deckmantel des Fortschritts schöngeredet. Glaubt ihr, dass die Musik helfen kann, in diesem Kontext ein soziales Bewusstsein zu schaffen?
Juan Pablo Rosales: Mit Musik erreicht man die intimsten Seiten des Menschen, den Geist und damit den Ort der Ideen und Gedanken. Musik ist grundlegend für jede Art des sozialen Wandels. Oft sind visionäre Künstler die Vordenkenden einer neuen Gesellschaft und Realität. Erst danach kommt es zu sozialen oder strukturellen Veränderungen. Wir versuchen mit unserer Musik solch ein utopisches Denken zu ermöglichen. Ich glaube, dass es Rockmusik deshalb nie in den Mainstream geschafft hat. Es ist nicht im Interesse der Musikindustrie, einen Bewusstseinswandel zu unterstützen, denn sie sind auf Konsumenten angewiesen. Wir hoffen jedoch darauf, dass das Unrecht und die Gier, die auch hinter extraktivistischen Projekten steckt, irgendwann ein Ende haben. Und dass wir dann in einer Welt leben, in der es nicht mehr eine solch große Kluft zwischen jenen gibt, die alles haben und jenen, die an Hunger leiden. Nebst der menschlichen Erfahrung bedarf es dafür auch eines spirituellen Bewusstseins.

David Rosales: Es gibt eine Geschichte über die Aufstände der Indigenen im Amazonas: Als sie eine spanische Siedlung einnahmen, erhitzten sie Gold und sagten zum Ranghöchsten in der Kolonie: „Hier, trink und sieh, wie gut du davon leben kannst“, und sie gaben ihm das geschmolzene Gold. Und als wir uns mit der Band mit dem Pfeilgift Curare beschäftigten, stellten wir fest, dass die erste Person, die an den Wirkungen starb, einer der Geographen von Christoph Columbus war.

RITTERSCHLAG FÜR LENÍN

Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen, die man aus dem Ergebnis der CP ziehen kann?
Erstens erlauben die Zahlen es, von einem gewissen Ritterschlag für den Initiator Lenín Moreno zu sprechen. Mit diesen Werten in allen Fragen zu gewinnen, ist bedeutend, vor allem, wenn man sie mit vorherigen Referenden vergleicht. Sie bedeuten eine signifikante Unterstützung für Moreno. Zweitens zeigt das Ergebnis eine sehr gute Landkarte des Disputs zwischen unterschiedlichen politischen Kräften. Es ist sehr relevant, dass obwohl das „Ja” in den meisten Provinzen gewonnen hat, es in der Provinz Manabí verloren hat – einer historischen Bastion von Alianza PAÍS. Zudem ist die Auseinandersetzung zwischen dem morenistischen und dem correistischen Flügel deutlich zutage getreten. Das „Nein“ zeigt einerseits an, welches politische Kapital der Correismus gewinnen könnte und andererseits welche Herausforderungen dem Morenismus in Zukunft bevorstehen. In diesem Sinn: Wenn man nach Guayas, Los Rios Santa Helena, El Oro schaut, übersteigt der Anteil des „Nein“ hier den Durchschnitt des Landes. Hier liegt das „Nein“ bei 40 Prozent oder ein wenig höher. Das zeigt erneut an, dass die Küste, politisches Territorium von AP, in jüngster Vergangenheit, weiterhin umkämpft ist zwischen den beiden Flügeln der Revolución Ciudadana (RC, „Bürgerrevolution“, von Correa neu gegründete Bewegung nach Austritt aus AP, Anm.d. Red.), den Morenisten und den Correisten.

Drittens erscheint es mir relevant, dass eine Neuformierung des Correismus stattgefunden hat. Später kann man diskutieren, wie weit dieser tragen wird, aber er hat sich zunächst einmal neu formiert und besitzt jetzt eine schärfer umrissene Identität als in der vergangenen Amtszeit von Correa.

Die Umfragen hatten bereits vorausgesagt, dass das „Ja“ in allen Fragen gewinnen würde. Was sind interessante Teilergebnisse?
Für mich verdient Aufmerksamkeit, dass es kein Einheitsvotum („voto en plancha“) bei den sieben Fragen gegeben hat, sondern ein differenziertes Votum. Die größte Überraschung bleibt aber wohl das Ergebnis an der Küste, speziell in Manabí, von dem ich bereits sprach. Das bedeutet auf jeden Fall einen ziemlichen Schlag für die Regierung.

Was bedeutet das Ergebnis für die zukünftige ecuadorianische Politik?
In der CP haben sich in gewisser Weise die zukünftigen Machtkämpfe abzuzeichnen begonnen. Im Lager der RC ist das offensichtlich. Darüber hinaus wird Moreno nun klarer haben, welche Allianzen er schmieden konnte und was an politischen Kräften rund um Correa noch bleibt. Das ist ein erster Saldo nach der Implosion der AP.

Hinsichtlich der Rechten haben wir nun erste Hinweise darauf, welches Verhältnis sie zur Regierung Morenos suchen wird. Auf der einen Seite Jaime Nebot, der darauf gesetzt hat, unter der Losung des „Konsens” und der „Rettung des Landes” das „Ja” zu unterstützen. Das Ganze zusammen mit einer gewissen Koketterie und dem Angebot, die Moreno-Regierung in der Legislative unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen. Das könnte auch in Zukunft so bleiben. Im Fall von CREO (liberal-konservative Partei, Anm. d. Red.) war die CP die große Plattform, um wieder ins Rampenlicht zu treten. Guillermo Lasso und CREO waren nach ihrer Wahlbetrugs-These und der Niederlage in der Stichwahl sehr verloren. Anschließend ist dieses Lager für einen guten Zeitraum von der Bildfläche verschwunden. Die CP bot jetzt den Vorwand, wieder in die Öffentlichkeit zu treten. Allerdings, trotz der Unterstützung des „Ja“, wird deren Kritik an der Regierung immer lauter und es ist zu erwarten, dass es praktisch keine Unterstützung in der Legislative geben wird.

Außerdem bestätigt sich erneut, dass in der Rechten jene Kräfte, die irgendwann einmal den Versuch unternommen haben, gemeinsame Sache zu machen, dies schlussendlich nicht tun werden. Auf der Rechten haben wir zwei Akteure, die um den Protagonismus streiten und die wohl beide bei den Lokalwahlen 2019 antreten werden.

Das größte Fragezeichen für mich ist jedoch, was mit der Linken abseits der RC und der Regierung passieren wird? Zwar gibt es ein paar Statements einiger politischer Figuren, aber bisher gibt es kein wirkliches Zeichen einer soliden Organisierung. Ich würde sogar sagen, dass die Konstruktion eines linken Diskurses rund um die CP sehr schwach war. Das wirft Fragen auf hinsichtlich ihrer realen Möglichkeiten auf die Regierung und dessen Modell einzuwirken, aber vor allem auch ihrer Konstitution für die nächsten Wahlen. Für mich ist dieser Aspekt aktuell noch am diffusesten.

Wie es mit dem Correismus weitergeht, ist in Europa von speziellem Interesse. Welcher Horizont eröffnet sich hinsichtlich dieser politischen Kraft?
Seine extreme Abhängigkeit von der Figur Correa ist erneut evident geworden. Deshalb nehmen diverse Analysten aktuell an, dass das Überleben dieser politischen Kraft davon abhängt, ob der Ex-Präsident rechtliche Probleme bekommt. Wenn wir allerdings vergleichend analysieren, was der Correismus an politischer Kraft ohne die CP hätte und über welche er jetzt verfügt, erscheint es mir so, dass die CP ein Gewinn für ihn war: Er verfügt auf der Habenseite über einen vorläufigen Stimmenanteil, über Arbeit und Präsenz im Territorium und eine Kampagnenpraxis. Diese Kampagnenpraxis könnte konstitutiv sein für das, was dieses Lager künftig repräsentieren könnte.

TWITTER-ATTACKE AUS DER DACHKAMMER

Foto: Asamblea Nacional del Ecuador (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/asambleanacional/34029387204)

Ecuadors Ex-Präsident Rafael Correa ist für viele Menschen eine Lichtgestalt inmitten des Elends von Rechtspopulismus und Neoliberalismus, das die Weltpolitik heute prägt. Correa ist zwar jetzt nicht mehr Präsident, aber seine Partei Alianza País hat immerhin die vergangenen Wahlen im Frühjahr gewonnen – im Unterschied zu Argentinien und Brasilien, wo die traditionelle Rechte wieder an der Regierung ist. Es gibt also noch Hoffnung für den progressiven Kontinent Lateinamerika. Correa steht, aus der Ferne betrachtet, einfach für bestimmte Werte: Er stand immer auf der Seite der einfachen Leute, hat die Armut verringert, eine antiimperialistische Außenpolitik betrieben, die Weltbank aus dem Land geworfen. Er steht für Ehrlichkeit, Transparenz – ein aufrechter Kämpfer für linke Ideale.

Nur kann er heutzutage sein eigenes Land nicht mehr betreten. Wenn er es täte, stünden die Chancen gut, dass er wegen Korruptionsverdacht in Untersuchungshaft käme. Dieses Schicksal hat am 2. Oktober Ecuadors Vizepräsidenten, Jorge Glas, ereilt, den Correa per Twitter immer noch voller Pathos verteidigt: „Ein ehrlicher Mann hat seine Freiheit eingebüßt. Die Welt möge erzittern!“, schrieb er beispielsweise am darauffolgenden Tag. Dieses Drehbuch hat Ecuador in den vergangenen Jahren und Monaten bereits mehrfach mit hohen Funktionären der Correa-Regierung erlebt: Dem Präsidenten der Zentralbank, dem Erdölminister, dem obersten Rechnungsprüfer – die sich im Unterschied zu Glas jedoch allesamt rechtzeitig nach Miami absetzten. Rafael Correa verbürgt sich stets für seine hochrangigen Mitarbeiter*innen, selbst wenn die Indizien schon so unwiderlegbar auf dem Tisch liegen, dass man sich für ihn zu genieren beginnt. Wenn die Indizien dann zu Beweisen werden, bringt er sein tiefes Entsetzen zum Ausdruck darüber, dass er verraten und getäuscht worden sei. Er selbst besteht darauf, als der größte, beste Präsident Ecuadors in die Geschichte einzugehen, und sendet nun seine Samstagsansprachen – während seiner Amtszeit eine institutionelle Machtinszenierung mit riesiger Bühne, Hunderten von „Jubelpersern“ und Liveübertragung auf allen Kanälen – per Internet, aus einer Dachkammer in Belgien. Dort, im Heimatland seiner Frau, lebt er seit Juli mit der Familie. „Der Irre aus der Dachkammer“, so bezeichnet ihn ein in Ecuador populärer Hashtag. In der Tat macht der Ex-Präsident in letzter Zeit oft den Eindruck, als verstünde er die Welt nicht mehr, seit sie sich nicht mehr um ihn dreht.

„Verrat“ und „weicher Putsch“ sind zwei sehr beliebte Vokabeln bei den Funktionär*innen von Alianza País, der Partei von Correas „Bürgerrevolution“. Der Ex-Präsident wendet sie sogar gegen seinen Parteigenossen und Nachfolger an, Präsident Lenín Moreno, der seit dem 24. Mai im Amt ist. Der 64-jährige Moreno stammt aus einem kleinen Ort im Amazonasgebiet an der Grenze zu Peru. 1998 wurde er Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls in Quito und sitzt seither im Rollstuhl. Als Vizepräsident von Rafael Correa (2007-2013) machte er sich vor allem durch die Misión Solidaria Manuela Espejo einen Namen, ein neues, landesweites Programm zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, das rund 300.000 Menschen umfassend unterstützte und international hoch gelobt wurde. 2013 beschloss Moreno, nicht mehr für das Amt des Vizepräsidenten zu kandidieren und wurde von den Vereinten Nationen als Sondergesandter für Behinderung und Barrierefreiheit nach Genf berufen. Für die Präsidentschaftswahlen in diesem Frühjahr kehrte er von dort zurück.

Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas.

Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas, bereit, vier Jahre zu regieren, um dann die Rückkehr des eigentlichen, unumstrittenen Chefs der Bürgerrevolution zu ermöglichen. Die Option auf dessen unbegrenzte Wiederwahl war Ende 2015 mithilfe der Zweidrittelmehrheit, die Alianza País damals im Parlament hatte, im Rahmen einer Verfassungsreform verabschiedet worden, trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung. Sie beinhaltete unter anderem ein Streik– und Organisierungsverbot im Öffentlichen Dienst, grünes Licht für Einsätze des Militärs zur Inneren Sicherheit sowie eine Einschränkung von Volksabstimmungen, die seitdem nur von der Regierung, also von oben, angestoßen werden können. Um der politischen Stabilität Willen und auch weil die Umfragen eindeutig für Moreno sprachen, wurde Correas Kandidatur für die Wahl im Frühjahr 2017 einmalig ausgesetzt. Doch mit dem temporären Umweg über Lenín Moreno, der knapp gegen den konservativen Bankier Guillermo Lasso gewann, würde schließlich doch noch alles gut werden.

Doch schon wenige Wochen nach dem Wahlsieg von Moreno waren sich der Präsident und sein Vorgänger spinnefeind. Aus seinem selbstgewählten Exil twittert Correa ununterbrochen Beschimpfungen: „Mittelmäßig“ sei Moreno, „illoyal“, ein „Verräter“, der mit der „Rechten gemeinsame Sache“ mache und über die Wirtschaftslage des Landes „lüge“. Correa selbst hatte behauptet, ökonomisch einen „gedeckten Tisch“ zurückzulassen, an dem man sich nur noch bedienen müsse. Doch nachdem Moreno die Staatsfinanzen durchleuchtet hatte, läutete er die Alarmglocken: Das kleine Land sei viel höher verschuldet als angegeben und damit kaum manövrierfähig, allein acht Milliarden Dollar jährlich seien notwendig, um das Haushaltsdefizit und den Schuldendienst abzudecken.

Bisher hat Moreno wirtschaftspolitisch noch keine Richtung vorgegeben – und auch sonst weiß niemand, wohin er das Land eigentlich führen will. Er hat lediglich einen bewussten Bruch mit dem Regierungsstil seines Vorgängers herbeigeführt, was die Nomenklatura von Alianza País zutiefst verunsichert. Denn das bedeutet die allmähliche Demontage des nach allen Seiten hin abgesicherten Machtapparats, der seit Jahren sowohl die Bereicherung einer neuen Politiker*innenkaste als auch die autoritäre Durchsetzung offizieller Wahrheiten ermöglicht hatte.

Lenín Moreno rief nicht nur alle politischen und organisierten Kräfte des Landes zum Dialog auf. Er tauschte die linientreuen Chefredakteure der staatlichen Medien aus und forderte die privaten Medien offensiv auf, investigativ und kritisch zu berichten, gerade im Kontext von Korruption; dieselben Medien, die unter Correa stets als Lügenpresse beschimpft und mit Gerichtsverfahren überzogen worden waren, bis schierer Überlebenswille bei vielen Selbstzensur zur Regel machte. Kritisch wurde in Ecuador in den vergangenen Jahren nur noch auf Blogs berichtet.

Diese neue Haltung gegenüber den Medien hat nun eine Serie von Enthüllungen zur Folge, die unter anderem aufdeckt, wie Correas Machtclique ausnahmslos alle staatlichen Institutionen – insbesondere die öffentlichen Kontrollinstanzen, das Verfassungs- und Wahlgericht sowie die Justiz – direkt von der Exekutive aus gesteuert hat. Und wie man bei eventuellem Ausscheren schnell seinen Job verlieren konnte: Emails, in denen die oberste Justizverwaltung um die Entlassung von Richter*nnen gebeten wird, weil sie Klagen gegen den Staat stattgegeben oder Umweltschützer*innen freigesprochen haben; oder Tweets, in denen der Geheimdienst SENAIN direkt aufgefordert wird, gegen Kritiker*innen vorzugehen – „SENAIN, bitte kümmern.“

Auf einem Video ist der Onkel des Vizepräsidenten Jorge Glas zu sehen, wie er dicke Geldbündel in eine Reisetasche stopft, wie in einem Gangsterfilm. Dieser Onkel hat die Verhandlungen um große Verträge mit China geführt – in Bezug auf Öl, Bergbau und Kredite, obwohl er keinerlei Staatsamt innehatte. Glas behauptete im Takt der Enthüllungen zunächst, ihn gar nicht zu kennen; dann, ihn nur an Weihnachten zu sehen; dann, dass er ausschließlich wegen seines Satelliten-Fernsehsenders mit ihm per Email kommuniziert habe; schließlich, dass er doch auch nichts dafür könne, einen so korrupten Verwandten zu haben.

Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen.

Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen. Doch bisher hat der neue Präsident sich lediglich mit konservativen Politiker*innen an einen Tisch gesetzt wie auch mit linken, Indigenen, Unternehmer*nnen, Gewerkschaften – im Rahmen eines umfassenden Dialogprogramms. Dass er von Konservativen für die Wiederherstellung einer lebendigen politischen Debatte im Land gelobt wird, macht ihn noch lange nicht zu deren Komplizen. Vielmehr ist es die Verantwortung der Führungsriege von Alianza País, dass Themen wie Meinungs-, Organisations- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Transparenz in den vergangenen Jahren von der politischen Rechten vereinnahmt werden konnten.

Gleichzeitig wird Ecuador immer tiefer in den Korruptionsskandal hineingezogen, der rund um Verträge des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht die ganze Region erschüttert (siehe LN 519/520) und als der größte Bestechungsskandal der Geschichte Lateinamerikas gilt. Er wirkt weit über die Grenzen Brasiliens hinaus: Derzeit wird gegen hochrangige, progressive wie neoliberale, Politiker*innen und Ex-Präsident*innen aus 15 Ländern ermittelt, die allesamt Schmiergelder entgegengenommen haben sollen. Unter anderem sitzen der peruanische Ex-Präsident Ollanta Humala und seine Frau deshalb in Unter-suchungshaft, und jetzt auch der ecuadorianische Vizepräsident Jorge Glas. Marcelo Odebrecht, Kopf des Odebrecht-Konzerns, war bereits 2015 verhaftet und zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Dank Kronzeugenregelung benennen er und weitere Manager*innen derzeit nach und nach die Empfänger*innen der Millionenschmiergelder, die Odebrecht ein Quasi-Monopol bei großen Infrastrukturvorhaben in Lateinamerika verschafft hatten.

Der tiefe Riss, der Alianza País heute durchzieht, ist nicht mehr zu kitten. Was ist die bessere Strategie, um die eigene politische Zukunft zu retten? Das fragen sich derzeit zahlreiche Wendehälse: Zu Correa halten, der als einziger in der Lage wäre, den Sumpf aus Korruption, der offenbar zehn Jahre lang gewachsen ist, wieder zu deckeln, oder sich rechtzeitig auf die Seite der „rückhaltlosen Aufklärung“ und damit auf die Seite Morenos zu schlagen?

So feiert die Doppelmoral auch im Sozialismus des 21. Jahrhunderts fröhliche Urstände. Die Weltbank wurde von Correa längst nach Ecuador zurückgeholt, in den vergangenen Jahren stieg die Armut wieder, und vom Antiimperialismus bleibt nur hohle Rhetorik. Die jüngsten Fakten legen nahe, dass die Anführer*innen der Bürgerrevolution den durch die hohen Ölpreise bewirkten Geldsegen nicht nur in die Infrastruktur des Landes, sondern zu einem erheblichen Teil auch in die eigenen Taschen gesteckt haben. Unbeirrt behauptet der harte Kern um Correa dennoch bis heute, man habe stets eine „Revolution der Ethik“ vorangetrieben und Korruption bis aufs Messer bekämpft. Dabei ist noch nicht ansatzweise aufgeklärt, wie viel Geld rund um die Öl- und Bergbaugeschäfte mit China versickert ist.

Anfang kommenden Jahres soll nun ein Referendum abgehalten werden, mit dem Moreno seine Position konsolidieren und den Rivalen Correa endgültig aus dem Rennen werfen will. Sieben Fragen hat er dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt, unter anderem die Abschaffung der unbegrenzten Wiederwahl. Auch wenn das für eine wirkliche Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse nur wenige, zaghafte Schritte sind, so beinhaltet die aktuelle Situation doch eine Chance für Ecuador und die Linke. Die Chance, doch noch aus der Geschichte zu lernen: Nämlich dass Emanzipation nicht von Lichtgestalten ausgeht, die an der Spitze eines pyramidalen Machtapparats stehen, sondern von unten links, und dass sie einer lebendigen, organisierten, kritischen Öffentlichkeit bedarf, die sich an der politischen Debatte um die Zukunft aktiv beteiligt.

 

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

LENÍN AUF CORREAS SPUR

Die Ecuadorianer*innen hatten am 2. April die Qual der Wahl: Sie sollten sich zwischen dem Bankier Guillermo Lasso, Chef der Banco de Guayaquil, und dem ehemaligen Vizepräsidenten Lenín Moreno entscheiden. Letzterer – selbst Rollstuhlfahrer – wurde vor allem bekannt durch sein Programm zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. Am Wahlabend verkündete die Wahlbehörde den knappen Sieg von Moreno mit etwas über 51 Prozent der Stimmen. Lasso hingegen sprach von Wahlbetrug und forderte eine komplette Neuauszählung. Dem kam die ecuadorianische Wahlkommission in Teilen nach. Aber auch die Neuauszählung von etwa 1,3 Millionen – knapp zehn Prozent der Stimmen – bestätigte den knappen Sieg von Lenín Moreno. Die Wahlbetrugsvorwürfe der Opposition seien unbegründet, so die Behörde. Lasso boykottierte die Neuauszählung und will das Ergebnis weiter nicht anerkennen. Stichhaltige Beweise für den Wahlbetrug blieb er bisher schuldig.

Mit Morenos Sieg geht in Ecuador zumindest nominell das progressive politische Projekt weiter.

Mit Morenos Sieg geht in Ecuador zumindest nominell das progressive politische Projekt weiter, das 2006 mit Rafael Correa seinen Anfang nahm – anders als in Argentinien, Brasilien oder Paraguay, wo inzwischen wieder Kräfte aus dem entgegengesetzten politischen Lager am Ruder sind.

Der 2. April setzte einem außerordentlich schmutzigen Wahlkampf ein Ende, in dem Diffamierungen und Gerüchte in den digitalen Netzwerken das soziale Klima weiter polarisierten und die Regierungspartei Alianza País unbeanstandet auch den Staatsapparat für Wahlkampfzwecke nutzte, obwohl das gesetzlich untersagt ist. Beide Kandidaten ergingen sich in Wahlversprechen, die angesichts leerer Staatskassen unerfüllbar sein dürften, wie beispielsweise einer Erhöhung der monatlichen Finanzhilfe für die Ärmsten von umgerechnet 50 auf rund 150 Dollar. Teilweise nahmen sich die Kandidat*innen im Wahlkampf wie im Basar aus, in dem sich die Händler*innen gegenseitig überbieten, ohne dass ein Bezug zur Realität dabei ins Gewicht fiele.

Wenn Lenín Moreno am 24. Mai das Präsidentenamt antritt, wird dennoch niemand wissen, wer die Staatsgeschäfte effektiv lenkt. Der scheidende Rafael Correa hat sich widersprüchlich geäußert – mal geht er ins Ausland nach Belgien, mal plant er ein baldiges Comeback, eventuell sogar durch vorgezogene Neuwahlen. Die Möglichkeit einer unbegrenzten Wiederwahl ist bereits in der Verfassung verankert, sie war aufgrund massiver Proteste im Jahr 2015 nur für diese eine Wahl ausgesetzt worden. Schwere Korruptionsskandale um die staatliche Ölfirma Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht warten auf ihre Aufklärung – die mit allen möglichen Tricks sorgsam bis nach den Wahlen verschleppt wurde. Insbesondere der gewählte und auch noch amtierende Vizepräsident Jorge Glas, der für die inkriminierten Projekte politisch verantwortlich ist, könnte dabei in Mitleidenschaft gezogen werden. Glas gilt als der Vertrauensmann von Correa in der neuen Regierung, während sich Moreno durch eine betont versöhnliche Rhetorik von seinem Vorgänger abzugrenzen versucht, dessen Stil von Intoleranz, Verbalattacken und gerichtlichen Klagen gegen Dissident*innen aller Art geprägt ist.
Auch wenn Morenos Friedensbotschaft in dem extrem polarisierten und krisengeschüttelten Land gut ankommt, ist sie durch wenig konkrete politische Programmatik untermauert und erweckt eher den Eindruck einer neuen Tünche über dem alten Gebäude aus Extraktivismus, Zentralisierung der Macht in der Exekutive und Repression gegen Andersdenkende.

Für die unabhängige, oppositionelle Linke war die Stichwahl am 2. April eine zwischen Pest und Cholera.

Für die unabhängige, oppositionelle Linke, deren Bündnis im ersten Wahlgang mit dem sozialdemokratischen Ex-Bürgermeister von Quito und pensionierten General Paco Moncayo lediglich 6,7 Prozent erhalten hatte, war die Stichwahl am 2. April eine zwischen Pest und Cholera. Viele Stimmen aus diesem Lager riefen letztendlich zur Wahl des neoliberalen Lasso auf. Nach zehn Jahren systematischen Angriffen auf jegliche Form autonomer sozialer Organisierung setzen sie ihre Priorität auf ein unbedingtes Ende der Herrschaft des Correismus mit seinen verkrusteten, alle staatlichen Institutionen umspannenden Strukturen. Lasso hatte es vor diesem Hintergrund leicht, sich als Kandidat der Rückkehr zur Demokratie darzustellen. Angesichts der militanten Ablehnung von Abtreibungen seitens Rafael Correas wirkte sogar er, dessen Mitgliedschaft im Opus Dei bekannt ist, in Sachen Selbstbestimmung über den eigenen Körper liberal: „Ich habe nicht vor, mich als moralischer Führer des Landes aufzuspielen“, sagte er wiederholt. Auch im Hinblick auf die Umweltpolitik machte er erstaunliche Wahlversprechen – zum Beispiel, das Öl im Yasuní-Nationalpark im Boden zu lassen oder bei Bergbauprojekten das Ergebnis der Vorab-Befragung der Lokalbevölkerung als bindend zu betrachten. So entscheidend diese Dinge auch wären für eine nachhaltige Politik in dem mega-biodiversen Tropenland, so naiv wäre es gewesen, diese Versprechen angesichts der leeren Staatskassen und des auch regional verankerten politischen Hintergrunds von Lasso für bare Münze zu nehmen.

Die Wahl am 2. April war eine zwischen einer neoliberalen, marktkonformen Rechten und einer etatistischen, autoritären Pseudo-Linken. Von dem großen Transformationsprojekt, das der Wahlsieg von Rafael Correa im Jahr 2006 symbolisierte, ist heute nicht mehr viel zu spüren. Lenín Moreno verfügt aufgrund des knappen und umstrittenen Wahlergebnisses nicht nur über eine geringe Legitimität, er tritt auch ansonsten ein problematisches Erbe an: Ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen hat die Regierung Correa aufgrund eines kurzfristigen politischen Kalküls längst verpfändet. Eins der produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder verscherbelte sie vor kurzem gegen schnelles Geld an Schlumberger, das weltweit größte Unternehmen für Erdölexplorations- und Ölfeldservice mit Sitz auf der niederländischen Karibikinsel Curaçao. Zudem wurden zwei Häfen konzessioniert – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus dem Ölgeschäft erweitert hatte. Außerdem wurde ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen verbleibenden Ölreserven im Voraus an China verkauft. Die damit gedeckten Darlehen sind längst investiert. Auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem beginnenden Bergbau flossen bereits im Voraus in Schulneubauten und andere Projekte. Da bleibt in Zukunft kaum finanzieller Spielraum für staatliche Politik.

“WIR HOFFEN, MIT DEM STAAT IN EINEN DIALOG ZU KOMMEN”

Sie haben den UN-Menschenrechtsrat in Genf vor der Überprüfung der Menschenrechtslage im April besucht. Welche Eindrücke haben Sie dort gesammelt und welche Erwartungen haben Sie an das Gremium?
Mónica Vera Puebla (MVP): Unsere Erwartungen sind, dass wir durch unseren Beitrag den Mitgliedern des Menschenrechtsrates vermitteln konnten, wie sich die Ernährungs- und Menschenrechtslage in Ecuador derzeit gestaltet. Dabei geht es insbesondere um den Zugang zu Land, Saatgut und Krediten, aber auch das Thema der Vertreibung, ohne andere Themen auszusparen. Uns ging es darum, einen integralen Blick auf die Menschenrechtsverletzungen darzulegen. Unsere Zielsetzung ist es, Räume für einen Dialog zu eröffnen, wie diesen Menschenrechtsverletzungen beizukommen ist. Unser Eindruck ist, dass uns das in Genf gelungen ist. Wir haben Statistiken über die Ernährungs- und Menschenrechtslage vorgestellt und Lösungsvorschläge unterbreitet, die auf offene Ohren gestoßen sind. Leider war es erforderlich, bis nach Genf zu fahren, um solche Dialogräume zu eröffnen. Dort sind wir mit der diplomatischen Vertretung Ecuadors ins Gespräch gekommen, die erste Annäherung an die ecuadorianische Regierung. In Ecuador selbst ist uns das mit der Regierung von Rafael Correa nicht gelungen. Unsere kritischen Anmerkungen zur Menschenrechtslage sind dort nicht gut aufgenommen worden. Unsere Dialogangebote wurden ausgeschlagen, auch der Versuch über die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) zu einem Dialog zu kommen, schlug fehl. Deswegen versuchen wir nun den Weg über die UNO und ihren Menschenrechtsrat.

In Ecuador gab es gerade Präsidentschaftswahlen. Der Kandidat der Regierungspartei, Lenín Moreno, hat knapp gewonnen, die zehnjährige Ära von Rafael Correa geht am 24. Mai zu Ende. Könnte es mit dem neuen Präsidenten nicht mehr Raum für Dialog geben?
MVP: Diese Hoffnung haben wir in der Tat. An einem möglichen Dialog sollten alle sozialen Organisationen teilnehmen. Wir hoffen, dass Moreno einen partizipativen Prozess mit der Zivilgesellschaft einläutet, so wie er das in Aussicht gestellt hat. Das halten wir für extrem wichtig, um die existierenden Spannungen zu mildern. Wichtig ist auch, dass Menschenrechtsverteidiger in diesem Raum geschützt werden und ihre Arbeit als wichtig anerkannt wird, statt als unbotmäßige Kritik zurückgewiesen zu werden.

Erwarten Sie von Moreno einen Kurswandel beim Wirtschaftsmodell, das vor allem auf Rohstoff- und Agrarexporten beruht?
MVP: Davon gehe ich nicht aus, zumindest keinen grundsätzlichen. Lenín Moreno kommt von der amtierenden Regierungspartei Alianza País und ist mit ihrem Personal verflochten. Zu erwarten ist, dass das vorherrschende Modell fortgesetzt wird. Das heißt eine Kontinuität des sogenannten Extraktivismus (Rohstoffförderung plus Export, Anm. d. Red.) und der Agrarindustrie. Dieses Modell ist bereits durch die Alianza País verankert worden. Moreno hat in Aussicht gestellt, den Dialog über den einen oder anderen Aspekt zu führen, aber es gibt keinerlei Signal, dass vom Modell abgewichen werden soll. Das bereitet uns durchaus Sorge. Zum einen geht mit der Agroindustrie eine Monokultur mit ihren ökologischen Risiken einher, zum anderen ist die Ausweitung des Bergbaus mit vielen lokalen Konflikten verbunden, weil die ansässige Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen gefährdet sieht.

Herr Carpio Cedeño , Sie gehören der Bauerngemeinde ASOMAC an. Viele Bauernfamilien wurden im Zuge eines Landkonflikts von staatlichen Sicherheitskräften vertrieben. Wie steht es in diesem Konflikt derzeit?
Carlos Carpio Cedeño (CCC): Unsere Hoffnung besteht darin, dass wir mit dem Staat in einen Dialog kommen. Man muss klar feststellen, dass die Räumungen und Vertreibungen 2015 illegal waren. Die Familien, die der Bauerngemeinschaft ASOMAC angehören, hatten die Felder seit Generationen bestellt. Der Staat hatte ihren Anspruch auf das Land vor zehn Jahren anerkannt. Die Räumung erfolgte ohne vorherige Ankündigung, was gegen ecuadorianisches Recht verstößt. Die Sache ist vor dem Verwaltungsgericht gelandet, dort ist noch nicht abschließend geklärt worden, wie die Besitzansprüche sind. Es ist ein Konflikt unter Brüdern, unter unterschiedlichen Bauernfamilien über das Recht, bestimmtes Land bebauen zu dürfen, zwischen Bäuerinnen und Bauern sowohl von ASOMAC als auch der Asociación La Lagartera. Die Räumung war Folge eines Regierungsbeschlusses aus dem Jahr 2011, das Gebiet von ASOMAC um 150 Hektar zu verkleinern.

Wie wirkt sich die Räumung auf die Lebensumstände der Familien aus?
CCC: Katastrophal. Häuser, Felder und Bewässerungssysteme wurden komplett zerstört. Obdachlosigkeit und fehlende Einkommen führen seitdem zu Mangelernährung, Krankheiten und psychischen Problemen, insbesondere bei Frauen und Kindern. Niemand will dafür die Verantwortung übernehmen. Zudem haben wir den Zugang zu Wasser verloren und unser Versuch, wieder Zugang zu erhalten, blieb unbeantwortet. Ohne Wasser können wir nicht säen. Wir suchen nach Antworten. Das Verwaltungsgericht in Guayaquil hat uns im März 2016 recht gegeben und den Regierungsbeschluss für unzulässig erklärt. Das zuständige Ministerium legte jedoch Berufung ein. Nun muss der Oberste Gerichtshof in Quito entscheiden, sodass die Rechtsunsicherheit bestehen bleibt.

Und wie macht ASOMAC unterdessen weiter?
CCC: Wir kämpfen weiter um unser Land. Wir sind Landwirte, ohne Land und ohne Wasser können wir nicht leben. Das Agrarministerium fordert Geld für die nur noch 325 Hektar, die uns zur Bebauung zugesprochen wurden. Aber wie sollen wir sie ohne Wasser kultivieren? Wie sollen wir unter diesen Bedingungen Erträge erwirtschaften, um zahlen zu können? ASOMACs Verschuldung steigt und steigt. Was können wir machen, ohne die Möglichkeit, Land zu bepflanzen? Als wir das brachliegende Gebiet damals besetzten, hatten wir eine klare Linie: Besetzen, um Lebensmittel für unsere Familien zu produzieren. Dieses Land haben sie uns nun genommen.

Der Gegner im Rechtsstreit ist die Asociación La Lagartera. Was verbirgt sich dahinter, eine große Firma oder Kleinbauer*innen?
CCC: Es sind auch Kleinbauern. Sie machen auch gute Projekte. Das Problem ist einfach, dass sie nicht berücksichtigt haben, gar nicht untersucht haben, dass wir bereits auf der Fläche des leer stehenden Gutes Leopoldina Landwirtschaft betrieben haben. Trotzdem hat die Asociación La Lagartera Ansprüche auf das Land angemeldet. Der Staat hört auf La Lagartera, aber auf ASOMAC reagiert er nicht.

Und wie lässt sich dieser Konflikt beilegen?
CCC: Über Dialog. Da wir in Ecuador nicht gehört wurden, haben wir als Opportunitätsfenster diesen internationalen Weg über den Menschenrechtsrat gewählt. Wir wollen einen Dialog, wir wollen eine Untersuchung darüber, was ASOMAC auf dem Land betrieben hat und was nun La Lagartera dort betreibt. Wir haben Flora und Flauna gepflegt, wir haben keine Bäume gefällt, wir haben der Umwelt keinen Schaden zugefügt. Aber was sehen wir jetzt: Monokultur! Bäume wurden gefällt, um Reis als Monokultur anzubauen.

Welche Bedeutung hat die Unterstützung von Solidaritätsgruppen und Organisationen wie FIAN für ASOMAC?
CCC: FIAN hat uns großartig geholfen, uns neue Wege gezeigt, wie wir unser Recht einfordern können. Dafür sind wir zu großem Dank verpflichtet. Umso mehr, als wir beim Staat kein Gehör für unsere Anliegen gefunden haben. Einer dieser Wege ist die Kleinbauernvereinigung Tierra y Vida (Land und Leben), der wir uns angeschlossen haben, um uns gegenseitig moralisch zu unterstützen und zu sehen, was wir gemeinsam in unseren Kämpfen bewegen können. An diesem Punkt befinden wir uns zur Zeit.

Zum Jahresbeginn ist ein Freihandelsabkommen zwischen Ecuador und der Europäischen Union in Kraft getreten, dem sich Ecuador lange verweigert hatte. Sind die Auswirkungen absehbar?
MVP: Der Freihandelsvertrag, der von der Regierung in Quito beschönigend als Übereinkommen bezeichnet wird, wurde Ende 2016 unterzeichnet, mitten im Wahlkampf, so dass es keine größeren Informationen für die Bevölkerung darüber gab. Die Organisationen der Zivilgesellschaft und ihre Befürchtungen wurden auch nicht im Verhandlungsprozess berücksichtigt. Auch die indigenen Völker wurden bei den sie betreffenden Punkten nicht konsultiert, obwohl sie darauf einen Rechtsanspruch haben. Unsere Erwartungen beruhen auf den Erfahrungen der Nachbarländer Peru und Kolumbien, bei denen dieses Freihandelsabkommen, dem Ecuador nun verzögert beigetreten ist, schon seit Mitte 2013 in Kraft ist. Was sich dort abzeichnet, ist eine Zunahme an Konflikten rund um die Kleinbauern, die durch die Marktöffnung einer europäischen Konkurrenz ausgesetzt sind, der sie nicht gewachsen sind.
In Bezug auf Ecuador müssen wir noch untersuchen, wie sich dieses Freihandelsabkommen auswirken wird. Wir befürchten dasselbe Szenario, wie in Peru und Kolumbien, auch in Ecuador: Sprich, dass eine Zunahme der agroindustriellen Monokultur die Kleinbauern verdrängt und die Konflikte um den Zugang zu Land sich verschärfen, wenn die Türen für Investitionen geöffnet werden. Transnationale Investoren werden vermutlich tausende von Hektar kaufen, um Plantagenwirtschaft in Monokultur zu betreiben. Damit besteht das Risiko, dass die kleinbäuerliche Familienlandwirtschaft verschwindet. Wir müssen sehen, wie sich die Preise bei Milch, Bananen, Früchten, beim Saatgut entwickeln. In Kolumbien gingen schon viele Milchbauern wegen der Einfuhr von EU-Milchpulver Pleite. Die Konkurrenz für und unter den Kleinbauern wird zunehmen.

LENÍN MUSS IN DIE STICHWAHL

„Una sola vuelta!” – „Im ersten Wahlgang!” riefen Anhänger*innen der amtierenden Regierungspartei Ecuadors, Alianza País (AP), noch wenige Tage vor den Wahlen am 19. Februar 2017 vor dem Präsidentenhaus mit dem Regierungssitz der Zentralregierung. Dorthin war Rafael Correa 2006 das erste Mal feierlich eingezogen (siehe folgenden Artikel). Seit den vergangenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Februar 2013 regiert die Partei, die Correa mit groß gemacht hat, mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Im Herzen Quitos schwanken die paar Dutzend Regierungsanhänger*innen siegessicher Fahnen in der Farbe ihrer Partei (quietsch-grün) und tanzten zu Musik ihres Kandidaten. Beschallt aus Musikboxen, wie es in Ecuador vor Wahlen üblich ist. Das Lied mit dem Titel Lenín presidente wurde am meisten gespielt, der Titel war aber auch schon der größte Teil des Inhaltes. Im Gegensatz zu Rafael Correas Lied aus dem Jahr 2006 Sueños Correa (Correas Träume), welches das Ende der Ausbeutung und der Armut versprach, blieb das Lied des aktuellen AP-Kandidaten Lenín Moreno, wie auch der gesamte diesjährige Wahlkampf, erstaunlich inhaltslos.

Der Wunsch, in einem einzigen Wahlgang wieder den Präsidenten stellen zu können, ist nicht aufgegangen. Am 22. Februar kündigte die Wahlbehörde CNE nach Auszählung von 99,5 Prozent der Stimmen die Notwendigkeit eines zweiten Wahlgangs an. Nach diesen Ergebnissen erreichte Lenín Moreno 39,3 Prozent während der Kandidat der beiden rechten Parteien CREO (Creando Oportunidades) und SUMA (Sociedad Unida Más Acción), Guillermo Lasso, 28,1 Prozent der Stimmen erzielen konnte. Damit fehlte Moreno nur ein knappes Prozent, um 40 Prozent zu erreichen und mit zehn Prozent Abstand zu seinen Konkurrenten zu gewinnen. Dies hätte einen Wahlsieg in der ersten Runde bedeutet.

Obwohl sich dieses Ergebnis bereits am Wahlabend abzeichnete, hielten sich Personen aus staatlichen Institutionen lange mit öffentlichen Statements zurück. Von Montagmorgen bis zur Ankündigung am Mittwoch versammelten sich Anhänger*innen der rechten Parteien vor dem Sitz des Nationalen Wahlrates in Quito. Dort protestierten sie mit Parolen wie: „Wir lassen uns nicht betrügen und zwingen Alianza País in die zweite Runde.“ Der Verkehr auf der zentralen Avenida 10 de Agosto wurde stundenlang lahm gelegt. Aus Angst vor gewaltvollen Ausschreitungen beendeten am 20. Februar einige private Schulen in Quito den Unterricht frühzeitig und schickten die Kinder nach Hause. Die staatlichen Medien berichteten derweil bis zum Montag von der „hohen Wahrscheinlichkeit“ des Triumphs des Regierungskandidaten.

Abgesehen von der Unklarheit, ob Moreno in eine zweite Runde muss oder nicht, gab es am Rest der Ergebnisse keine Zweifel. Die anderen Kandidat*innen konnten weder dem Ex-Bankier Lasso noch dem früheren Vizepräsidenten Moreno das Wasser reichen. Die in Umfragen zuvor hochgehandelte Kandidatin der rechten PSC (Partido Social Cristiano), Cynthia Viteri, erhielt nur etwa 16 Prozent der Stimmen. Schon am Wahlabend sagte Viteri mit Blick auf die Stichwahl: „Wir wählen Lasso.“

Im Parlament, in dem 137 Sitze zu vergeben waren, stellt die Alianza País künftig 76 Abgeordnete und damit die absolute Mehrheit, während mehrere Oppositionsparteien zusammen 61 Sitze innehaben werden. Über dieses Ergebnis kann sich die Alianza País nach dem lahmen Wahlkampf und den gegen AP-Mitglieder erhobenen Korruptionsvorwürfen glücklich schätzen. Allerdings hat AP die Zwei- Drittel-Mehrheit verloren. Von den Verlusten der AP profitierte insbesondere ihr Rivale CREO, die 30 Sitze im Parlament erhält. CREO konnte sein Ergebnis gegenüber 2013 fast verdreifachen. Viteris PSC kam zwar nur auf 15 von 137 Sitzen der Nationalversammlung, verdoppelte damit jedoch ihr Ergebnis gegenüber 2013. Der Verlust der AP geht damit eindeutig zu Gunsten der Rechten.

Nicht erholen konnte sich die Indigene Partei Pachakutik von ihrem Absturz 2013, sie stagniert weiterhin bei vier bis fünf Sitzen im Parlament. Der von ihr unterstützte Präsidentschaftskandidat Paco Moncayo kam mit sechs Prozent nicht über ein Achtungsergebnis hinaus.

Die letzte Ankündigung der größten indigenen Basisorganisation CONAIE (Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador), dem Bündnis der indigenen Nationalitäten Ecuadors, eventuell den Kandidaten Lasso zu unterstützen, könnte Pachakutik weiter schaden. Bisher ist jedoch unklar, ob die CONAIE einen geschlossenen Antrag für die Unterstützung Lassos bei ihrer Partei einreichen wird. Ohne Zweifel ist diese Verlautbarung ein Anzeichen dafür, dass der Präsidentschaftswahlkampf in der zweiten Runde für größere politische Debatten sorgen könnte. Ob der Raum dafür genutzt wird, bleibt offen.

VERPASSTE CHANCE

Es war eine historisch einzigartige Konstellation, die Lateinamerika vor gut zehn Jahren erlebte. In einem Land nach dem anderen gewannen linksgerichtete Kräfte demokratische Wahlen. Nach der Schuldenkrise der 1980er Jahre und den Jahren neoliberaler Strukturanpassung schien es möglich, dass ein ganzer Kontinent aus dem Mainstream des Primats von Finanz und Profit ausscheren könnte. Ein neuer Prozess regionaler Integration wurde eingeleitet, der ganz andere Ziele verfolgte als die von der US-Regierung gewünschte und ein Jahr zuvor von Lateinamerika abgelehnte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA. In vielen Ländern, darunter Ecuador, hatten soziale Bewegungen nicht nur Regierungen unblutig zu stürzen vermocht, sondern auch Visionen einer anderen Gesellschaft entwickelt. Seit den späten 1960er Jahren hatte soziale Emanzipation nicht einen solchen Aufwind erlebt.

In den ersten Jahren atmete Ecuador Demokartie von unten.

In dieser Konjunktur kam der Ökonom Rafael Correa in Ecuador an die Macht. Er begann seinen Wahlkampf als Außenseiter, doch gelang es ihm und seiner Bewegung Alianza País, die Forderungen der sozialen Bewegungen auf die wahlpolitische Ebene zu übersetzen. Das Land sollte am besten neu gegründet werden – eine neue Verfassung musste her. Der neue Präsident regierte in den ersten Monaten hauptsächlich mit Ausnahmedekreten, um das alte Establishment in Schach zu halten und das Parlament zu umschiffen. Dennoch atmete Ecuador in diesen ersten Jahren Demokratie von unten.

Student*innen, Indigene, die Frauenbewegung, Gewerkschaften – alle machten sich daran, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende des Patriarchats, von kostenloser allgemeiner höherer Bildung, von wahrhaft interkulturellen Institutionen auszuformulieren: Institutionen, die nicht nur Indigene und Schwarze und Frauen per Quote beteiligen, sondern sich auch anderen Logiken als den herrschenden westlichen, patriarchalpaternalistischen und rassistischen öffnen sollten, was Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtssprechung, von Gesundheit, ja vom Funktionieren des Staates selbst anbelangte. Das war die Vision eines entkolonialisierten, plurinationalen Staats, in dem die Ureinwohner*innen nicht nur am Funktionieren eines vorgegebenen, liberalen Räderwerks beteiligt werden sollten. Ihre eigene Erfahrung von Gemeinschaft, von Entscheidungsfindung und Konfliktlösung sollte dieses Räderwerk vielmehr selbst von Grund auf umbauen.

Zehn Jahre später ist diese Aufbruchstimmung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Nach der Annahme der Verfassung per Volksabstimmung im Jahr 2009 ersetzten die Dynamiken der Realpolitik bald die Konjunktur der Visionen. Zum einen aufgrund der Wirkungsmacht der staatlichen Institutionen selbst. Die Correa-Regierung hat sie nach neoliberalen Managementkriterien modernisiert und auf Effizienz getrimmt. Wobei ihr interkultureller und emanzipatorischer Umbau, der nur als behutsamer, experimenteller Prozess möglich gewesen wäre, zwangsläufig auf der Strecke blieb.

Hinzu kam zum anderen die durch die außerordentlich hohen internationalen Rohstoffpreise attraktiv gewordene Vertiefung des Extraktivismus. Zwar sollte mit den Einnahmen aus dem Rohölexport die wirtschaftliche Diversifizierung und Abkehr von der strukturellen Abhängigkeit finanziert werden – doch blieb der vielbeschworene Cambio de la Matriz Productiva, also die strukturelle Veränderung der Produktionsmatrix, ein Papiertiger. Ecuador ist heute abhängiger von Rohstoffexporten denn je, und im amazonischen Nationalpark Yasuní, bis 2013 internationales Symbol für effektive Klimapolitik unter dem Motto „lasst das Öl im Boden“, entstehen die ersten von 600 geplanten Bohrlöchern. Die ecuadorianische Unternehmenslandschaft weist in vielen Bereichen einen hohen Konzentrationsgrad auf, den die Correa- Regierung nicht antastete. Während rhetorisch oft gegen die wirtschaftlichen Eliten gewettert wurde, erzielten diese unter der Bürgerrevolution historische Gewinnmargen.

Die Correa-Regierung nutzte, wie auch ‚linke‘ Regierungen andernorts, ihre hohe Legitimität, um Maßnahmen durchzusetzen, die unter einer rechten Regierung am Widerstand der organisierten Bevölkerung gescheitert wären. Ein Beispiel ist das zum 1. Januar 2017 in Kraft getretene Freihandelsabkommen mit der EU. Auch mit der Ausweitung des Extraktivismus – der Erschließung neuer Ölvorkommen im Amazonasbecken und der Einführung des transnationalen Megabergbaus in dem biodiversen Land – nahm die Regierung strukturelle Weichenstellungen vor, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Auswirkungen haben: Die für die Verteilung der Rente zuständige staatliche Zentralmacht wird gestärkt, die Kontrollinstanzen werden geschwächt. Dies begünstigt Korruption, und dass Ecuador hierbei keine Ausnahme darstellt, zeigen die zahlreichen Korruptionsskandale rund um das staatliche Ölunternehmen Petroecuador und die brasilianische Baufirma Odebrecht im Vorfeld der Wahlen. Diese warfen auch lange Schatten auf Jorge Glas, der für Alianza País erneut als Vizepräsident kandidiert. Dass sich diese Skandale nicht nennenswert auf die Wahlprognosen ausgewirkt haben, liegt unter anderem an der politischen Erlahmung der Bevölkerung angesichts eines Staates, der sich als einzig legitimer Akteur sozialen Wandels versteht. Aber auch an der Dominanz der Regierungssicht in der ecuadorianischen Medienlandschaft und der in den vergangenen Jahren aufgrund der Petrodollars intensivierten Konsumkultur.

Die hohe Konzentration der Unternehmen hat die Regierung nicht angetastet.

Die nach dem Neoliberalismus populäre Forderung nach der „Rückkehr des Staates“ ist in einem disziplinierenden Etatismus gemündet, der einige Steuerungsinstrumente des Realsozialismus des 20. Jahrhunderts mit dem Erbe der zutiefst kolonial geprägten, autoritär-populistischen und strukturell korrupten politischen Kultur Lateinamerikas verbindet: enge Verstrickung zwischen Staat und Partei, Personenkult und faktische Aufhebung der Gewaltenteilung, Koppelung von Vergünstigungen und Sozialleistungen an politische Loyalität, und schließlich eine Polarisierungslogik, in der Kritik und Debatte auch in den eigenen Reihen von vornherein unterbunden ist. So hat sich Alianza País 2014 einen Ethikcode gegeben, der zum Beispiel der eigenen Parlamentsfraktion das Öffentlichmachen von Dissidenz unter Androhung des Mandatsverlustes verbietet.

Die Bürgerrevolution hat dem Land eine lang ersehnte politische Stabilität und eine neue Infrastruktur beschert. Während sie darauf bedacht war, im Ausland ihr revolutionäres Bild zu pflegen und beispielsweise Julian Assange politisches Asyl zu gewähren, baute sie im Inland im Zuge der Digitalisierung staatlicher Dienstleistungen auch die staatliche Überwachung der Bürger*innen aus. Vor allem aber betrachtete sie jegliche Form autonomer sozialer Organisierung als Bedrohung der eigenen Macht und bekämpft sie – mit einigem Erfolg. Die Indigenen- und Studierendenbewegung sowie die Gewerkschaften sind heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Andauernde Diffamierung in der Öffentlichkeit, die Gründung von regierungstreuen Parallelorganisationen, aber auch Repression und Militarisierung, wie sie das im lateinamerikanischen Kontext außerordentlich friedliche kleine Land am Äquator nicht kannte, haben schließlich gefruchtet. Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig. Im Süden des Landes, wo die indigenen Shuar-Gemeinden gegen die Konzessionierung ihrer angestammten Gebiete an eine chinesische Bergbaufirma protestieren, herrschen seit Monaten die Armee und der Ausnahmezustand.

Über 400 Gerichtsverfahren gegen Aktivist*innen sind derzeit anhängig.

Als Erfolg der Correa-Regierung gilt vor allem die Reduzierung von Armut und Ungleichheit – in deren Namen der Extraktivismus stets gerechtfertigt wurde. Zwischen 2007 und 2015 war die Armut nach offiziellen Angaben um 13,4 Prozentpunkte gesunken. Aufgrund des Zusammenbruchs der Ölpreise auf dem Weltmarkt seit der zweiten Jahreshälfte 2014 ist sie jedoch seitdem wieder gestiegen – was zeigt, wie wenig nachhaltig die von der Correa-Regierung ergriffenen Maßnahmen waren. Ein offener Brief der Shuar-Indigenen macht außerdem deutlich, wie monodimensional der produktivistische Armutsbegriff der Regierung ist: „Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm. Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.“

Wer die bevorstehende Stichwahl gewinnt, tritt ein problematisches Erbe an. Er oder sie erbt ein Land, das sich auf Jahrzehnte verschuldet und obendrein überteuerte Kredite mit Zinssätzen von teils über zehn Prozent aufgenommen hat. Selbst die produktivsten, zuvor staatlichen Ölfelder wurden vor kurzem gegen schnelles Geld an transnationale Konzerne wie Schlumberger und die chinesische CERGG verscherbelt – ganz im Gegensatz zur Politik der frühen Jahre, die den Anteil der Staatseinnahmen aus der Ölförderung erweitert hatte.

Hinzu kommt, dass ein beträchtlicher Teil der an sich schon eher bescheidenen Ölreserven bereits im Voraus an China verkauft wurde und die Einnahmen hieraus längst ausgegeben sind – ebenso wie auch die erwarteten Lizenzgebühren aus dem erst beginnenden Bergbau bereits zu einem Großteil kassiert wurden und in Schulneubauten und Ähnliches geflossen sind. Da bleibt in Zukunft nicht viel finanzieller Spielraum für staatliche Politik. Vielmehr wurden die natürliche Vielfalt des Landes und die Optionen künftiger Generationen im Rahmen kurzfristigen politischen Kalküls verpfändet.

KONTINENTALES BEBEN

Leviathan – das biblische Monster aus den Tiefen des Meeres: Einen besseren Namen für die Untersuchungsoperation hätten sich die Ermittler*innen kaum ausdenken können. Am 18. Februar dieses Jahres begann die brasilianische Bundespolizei erneut, Büros und Privatwohnungen von Politiker*innen zu untersuchen. Diesmal ging es um Schmiergeldzahlungen des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht im Zusammenhang mit dem Bau des umstrittenen Projekts Belo Monte. Das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt am Xingu-Fluss mitten in Amazonien wird von Kritiker*innen als „Belo Monstro“ – „Schönes Monster“ – bezeichnet. Und tatsächlich liegt das Bauwerk im Flusslauf des Xingu wie ein gestrandetes Meeresungeheuer.

Nach Aussagen der Ermittler*innen sollen ein Prozent der etwa 8,5 Milliarden US-Dollar Gesamtkosten des Baus in die Kassen von Parteien geflossen sein. Um welche Parteien es sich handelte, wurde nicht erwähnt. Vermutlich handelt es sich aber um die rechtskonservative PMDB, der der aktuelle Präsident Michel Temer angehört, und um die linke Arbeiterpartei PT, an deren Vorgängerregierung Temer als Vizepräsident ebenfalls beteiligt war.

Leviathan ist die jüngste Ermittlung, die aus der Operation Lava Jato – deutsch für „Autowaschanlage“ – erwachsen ist. Lava Jato begann vor zwei Jahren und elf Monaten und brachte schon einigen Politiker*innen massive Probleme — wie im Fall des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaates Rio de Janeiro, Sérgio Cabral. Unter anderem weil er Bestechungsgelder von Odebrecht im Zusammenhang mit der Renovierung des Fußballstadiums Maracanã angenommen hat, sitzt Cabral derzeit im Gefängnis. Die öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen trugen auch zur umstrittenen Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff bei, obwohl ihr bislang keine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften nachgewiesen werden konnte. Zunächst ging es bei Lava Jato nur um die Veruntreuung von Geldern des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras für die Wahlkampfkassen von brasilianische Parteien. Doch je weiter die Ermittler*innen bohrten, desto mehr kam zum Vorschein. Schnell ging es auch um den Baukonzern Odebrecht und der Skandal zog  internationale Kreise.
Da die Schmiergeldzahlungen unter anderem über die Schweiz und die USA liefen, klagten die beiden Länder vor einem New Yorker Gericht gegen Odebrecht. Im vergangenen Dezember stimmte das Unternehmen einer Strafe von 3,5 Milliarden Dollar zu, der höchsten Summe, die je in solch einem Fall gezahlt wurde. Odebrecht hatte vor  Gericht zugegeben, in den Jahren von 2001 bis 2014 etwa 788 Millionen US-Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Lateinamerikas und Afrikas gezahlt zu haben, um an öffentliche Aufträge zu kommen. Seitdem kommen die Ermittlungen nicht mehr zur Ruhe.

In der Dominikanischen Republik wurden die Büroräume von Odebrecht durchsucht. In Venezuela fror die Justiz Ende Februar die Konten des Unternehmens ein, auch hier hatten Militärs Büroräume durchsucht. Der Präsident Panamas, Juan Carlos Varela, soll ebenfalls Bestechungsgelder der Firma entgegengenommen haben. In Kolumbien wurde der ehemalige Vizeminister für Transportwesen, Gabriel García Morales, verhaftet, weil er gegen Schmiergelder den Auftrag für den Bau einer Überlandstraße an Odebrecht vergeben haben soll.
Viele Politiker*innen versuchen, die Odebrecht-Aussagen zu nutzen, um ihren politischen Gegner*innen zu schaden. In Ecuador, wo am 21. Februar die erste Runde der Präsidentschaftswahlen stattfand, versuchte die Opposition die Anschuldigungen gegen die Regierung zu verwenden, um dem Kandidaten von Präsident Rafael Correa zu schaden. In Venezuela, wo die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Regierung sich in den letzten Monaten massiv zugespitzt hatten, versucht die Regierung den Skandal für sich zu nutzen. Der sozialistische Präsident Nicolás Maduro hatte Mitte Februar erklärt: „Ein Gouverneur hat Geld von Odebrecht angenommen und dafür wird er ins Gefängnis gehen!“ Die Anschuldigungen gingen in Richtung des Oppositionsführers und Gouverneurs des Bundesstaates Miranda, Henrique Capriles, der die Vorwürfe von sich wies.

Tatsächlich erstrecken sich die Vorwürfe über alle politischen Lager hinweg. Offenbar zahlte Odebrecht in die Wahlkampfkassen sowohl linker als auch rechter Politiker*innen, um danach eine Bevorzugung bei der Vergabe von Aufträgen zu erhalten. In Argentinien gibt es Hinweise, dass Odebrecht korrupte Verbindungen sowohl zu den linken Ex-Präsidenten Néstor und Cristina Kirchner als auch zum rechten Präsidenten Marcelo Macri unterhielt.
Der spektakulärste Fall des Odebrecht-Skandals ist sicher Peru. Praktisch alle Präsidenten, die das Land von 2001 bis 2016 regiert haben, sollen von Odebrecht bestochen worden sein. Gegen den Ex-Präsidenten Alejandro Toledo (2001-2006) ist ein internationaler Haftbefehl ausgesetzt, er soll 20 Millionen Dollar erhalten haben und dafür den Auftrag für den Bau der „Interozeanischen Straße Süd“ zwischen Peru und Brasilien an Odebrecht vergeben haben. Toledos derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt.

Um das ganze Ausmaß des Skandals zu erfassen, wollen die Staatsanwaltschaften der betroffenen Länder bei den Ermittlungen zusammenarbeiten. Am 18. und 19. Februar trafen sich in Brasília Generalstaatsanwält*innen aus 15 Ländern, mehrheitlich aus Lateinamerika und Afrika, um sich über ihren jeweiligen Untersuchungsstand auszutauschen. Zehn Staaten unterschrieben ein Abkommen, das unter anderem internationale Ermittler*innenteams vorsieht. Es ist die größte internationale juristische Kooperation, die je zu einem Korruptionsfall  in Lateinamerika stattfand.

Die Zusammenarbeit wird wohl auch nötig werden, denn das komplizierte Netz von Odebrechts Zahlungen zu entflechten, wird eine schwierige Aufgabe. Mehrere Briefkastenfirmen und Banken in Steuerparadiesen waren dabei involviert. Das Unternehmen ging so weit, eine Bank auf Antigua und Barbados aufzukaufen, um Zahlungen abzuwickeln. Die panamaischen Behörden ermitteln in diesem Zusammenhang auch gegen die Anwaltskanzlei Mossack Fonseca, die schon bei der Veröffentlichung der Panama Papers eine Hauptrolle spielte.
Als Hauptplaner dieses kriminellen Netzwerks wird der Firmenchef und Gründererbe, Marcelo Odebrecht selbst, angesehen. Im vergangenen Jahr ist er in Brasilien zu 19 Jahren Haft wegen Bestechung, Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt worden. Durch seine Kooperation mit der Justiz wird er seine Strafe vermutlich halbieren können, zudem wird wohl ein Teil in offenen Vollzug umgewandelt. Insgesamt haben 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht im Rahmen von Kronzeug*innenregelungen ausgesagt. Mehrere Medien warnen davor, die Anschuldigungen der Ex-Odebrecht Manager*innen zu ernst zu nehmen: Schließlich beschuldigten da Kriminelle andere, um ihre eigene Haut zu retten.

Bislang unterliegen die Aussagen der Ex-Manager*innen noch der Geheimhaltung, da es um laufende Ermittlungen geht. Nur tröpfchenweise kommen Gerüchte zutage. Viele Politiker*innen – insbesondere die von den Anschuldigungen betroffenen – verlangen nun, dass die Geheimhaltung aufgehoben wird: Die kleinen Nadelstiche schaden mehr, als die Explosion einer großen Bombe. Vor allem können sie wohl besser an ihrer Verteidigung arbeiten, wenn sie wissen, was ihnen vorgeworfen wird.

Die Opposition in Brasilien glaubt, dass die Regierung nun bei ihrer Verteidigung gegen ein drohendes Odebrechtbeben ein gutes Stück vorangekommen ist. Am 22. Februar wurde Alexandre de Moraes als neues Mitglied des Obersten Gerichtshofs bestätigt. Michel Temer hat den ehemaligen Justizminister und Ex-Mitglied der PMDB als Nachfolger für den im Januar tödlich verunglückten obersten Richter Teori Zavasci bestimmt (siehe LN 512). Zavasci war für die Beurteilung der Aussagen der 77 Ex-Manager*innen von Odebrecht zuständig. Nun glauben Regierungskritiker*innen, dass die Regierung mit Moraes einen Vertrauensmann in das Gericht gehievt hat, um der politischen Klasse die Schlinge aus dem Hals zu ziehen. Andererseits sind die Ermittlungen und Enthüllungen bereits so fortgeschritten, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass die alten Eliten so korrupt weiter regieren können wie bisher. In der Dominikanischen Republik gab es im Januar bereits Massenproteste, die ein Ende der Straflosigkeit in dem Korruptionsskandal verlangten.

Vielleicht hat der Fall des Bauriesen also positive Folgen für die Region. In einen Kommentar für die brasilianische Zeitung Estadão schrieb der peruanische Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa ironisch, man müsse vielleicht in ein paar Jahren ein Denkmal für Odebrecht errichten: Schließlich hätten die Aussagen der Manager*innen das in Lateinamerika so virulente System Korruption zu Fall gebracht.
Noch ist es zu früh, um zu beurteilen, ob der Odebrecht-Skandal wirklich zu tiefgreifenden politischen Veränderungen führt. Aber der Skandal zeigt deutlich, wie die lateinamerikanischen Demokratien von finanziell potenten Privatinteressen untergraben werden.

Der peruanische Anthropologe und Amazonienexperte Alberto Chirif weist darauf hin, dass viele Bauprojekte, an denen Odebrecht und geschmierte Politiker*innen verdient haben, womöglich nur aufgrund der korrupten Machenschaften beschlossen wurden. Als Beispiel nennt er die erwähnte Interozeanische Straße-Süd in Peru. Als das Projekt 2005 beschlossen wurde, hieß es, es würde den Handel zwischen Brasilien und Peru beleben. Doch sechs Jahre nach der Eröffnung der Straße sieht die Realität anders aus: Kaum ein brasilianisches Unternehmen nutzt die relativ schmale Straße, die mehr als 5.000 Höhenmeter überwindet. Das Projekt war ein absoluter Fehlschlag. In einem Kommentar für das Nachrichtenportal SERVINDI schreibt Chirif, dass dies den politischen Entscheidungsträgern um Präsident Toledo schon vorher klar war. Sie hätten bewusst gelogen, weil sie von Odebrecht geschmiert wurden: „Das eigentliche Ziel, das mit der Straße erreicht werden sollte, war allein ihr Bau.“ Laut Chirif ging es von Anfang an nur darum, öffentliche Gelder zu privatisieren. Die beteiligten Politiker*innen machten sich zu Kompliz*innen, da ihre eigenen Wahlerfolge von den Schmiergeldzahlungen des Baukonzerns abhingen.

Und auch beim Bau des „Schönen Monsters“ Belo Monte mag eine ähnliche Motivation eine Rolle gespielt haben. Gegen den Bau sind insgesamt 25 Klagen anhängig, zahlreiche Gesetze zum Schutz von indigenen Gemeinschaften und der Umwelt wurden missachtet. Doch der Bau wurde immer wieder von der Exekutive mit dem Verweis auf „nationale Interessen“ gegen die Judikative durchgesetzt. Das Ausmaß der Schmiergeldzahlungen wirft nun die Frage in den Raum, in wessen Interesse die Regierung damals agierte: in dem der Bevölkerung oder in dem der beteiligten Konzerne?

ZUKUNFT OHNE IDEEN

Den Wahlslogans nach zu urteilen, hat die Bevölkerung Ecuadors bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen keine Wahl. „Die Vergangenheit kommt nicht zurück“, heißt es etwa auf einem Wahlplakat von Lenín Moreno, Präsidentschaftskandidat der amtierenden Regierungspartei Ecuadors, Alianza País – Aufrechtes und Souveränes Vaterland (AP). Sein Rivale Guillermo Lasso, Bankier und Parteivorsitzender der demokratisch-liberalen Partei Creando Oportunidades (CREO), wirbt mit dem Spruch „Auf zur Veränderung“. Nach zehn Jahren an der Macht muss AP diesmal hart für die Wiederwahl kämpfen. Wenngleich es der Partei unter dem Präsidenten Rafael Correa gelang, den Anteil der armen Bevölkerung von 31,8 auf zwölf Prozent zu senken und erhebliche Investitionen im Bereich der Infrastruktur vorzunehmen, veränderte sie nicht Ecuadors strukturelle wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ressourcenabbau. Seit seiner Unabhängigkeit ist Ecuador vom Export von Kakao und Bananen abhängig, Mitte der 1970er Jahre kam das Erdöl hinzu.

Paco Moncayo ist der einzige Kandidat, der sich gegen weitere Rohstoffausbeutung ausspricht.

Rafael Correa trat bei den Wahlen 2006 noch mit dem Versprechen an, diese wirtschaftliche Abhängigkeit einzuschränken, doch schon bald war von diesem Vorhaben nichts mehr zu hören. Während AP die junge Demokratie Ecuadors (seit 1979) zunächst stärkte, machte sie seit 2013 vermehrt durch Menschenrechtsverletzungen und einem autokratischen Regierungsstil auf sich aufmerksam. Die progressiv-technokratische Regierung steht für einen Bruch mit den neoliberalen Vorgängerregierungen. Gleichzeitig sind alle Regierungen Ecuadors in ihrem Handeln durch die wirtschaftlichen Bedingungen eingeschränkt. Seit 1999 besitzt Ecuador keine eigene Währung mehr und ist mehr denn je vom US-amerikanischen Dollar abhängig. Hierdurch hat das Land keine eigene Währungspolitik mehr. Rafael Correa hat dies stets kritisiert, ändern konnte er es jedoch nicht. Er reiht sich ein in die Liste der progressiven Regierungen Lateinamerikas, die mit der Präsidentschaft Hugo Chávez’ in Venezuela 1999 eingeläutet wurden. Diese Zeit wurde geprägt durch die Gründung des UNASUR-Verbundes, welcher anstrebte, die Idee der Europäischen Union auf Südamerika zu übertragen. Außerdem versuchten sich die südamerikanischen Länder aus der Vormundschaft der USA zu befreien und die wirtschaftlichen Beziehungen mit anderen Ländern, wie China, auszubauen.

Die Trendwende hat längst begonnen: In Argentinien wurden die Linksperonisten von einer rechtskonservativen Partei unter Mauricio Macri abgelöst; in Venezuela regiert seit zwei Jahren politisch und wirtschaftlich das Chaos; Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wurde durch ein Amtsenthebungsverfahren entmachtet.

In Ecuador sorgte die Regierung von Rafael Correa für die Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahr 2008, in welcher das Konzept des Buen Vivir (Gutes Leben) zum übergeordneten Staatsziel und die Natur zu einem eigenen Rechtssubjekt erklärt wurde. Dennoch entfernte sich Correa von der anfänglich revolutionären Umweltpolitik als er im Jahr 2013 bekannt gab, die Erdölquellen im ecuadorianischen Naturschutzgebiet Yasuní-ITT fördern zu wollen, nachdem der UN-Treuhandfonds zur Kompensation für die Nichtförderung nicht ausreichend Mittelzuflusss bekam. Im Umgang mit Protesten gegen die Ressourcenausbeutung zeigte die ecuadorianische Regierung ein vermehrt autokratisches Vorgehen. Das jüngste Beispiel hierfür war die angestrebte Schließung der umweltpolitischen Nichtregierungsorganisation Acción Ecológica im Dezember 2016. Die Regierung warf der Organisation vor, die gewalttätigen Proteste des indigenen Shuar-Volkes gegen ein Bergbauprojekt in der Region Cordillera del Condor unterstützt zu haben. Bei den Demonstrationen sind bereits drei Aktivisten zu Tode gekommen, zuletzt starb zudem ein Polizist.

Der Versuch, die NGO zu schließen, scheiterte jedoch im Januar 2017, weil die ecuadorianische Regierung nicht genug Beweise für den Vorwurf verfassungswidriger Handlungen seitens der Acción Ecológica vorlegen konnte und die zuständigen Behörden beschlossen, das Verbotsverfahren einzustellen. Wenngleich das Vorgehen gegen Acción Ecológica Medienaufmerksamkeit erzeugte, ist die Rohstoffausbeutung in diesem Wahlkampf ein Randthema.

Der einzige Kandidat, der sich zum Thema Ressourcenausbeutung kritisch positioniert, ist Paco Moncayo. Der 73-jährige ehemalige Militärbefehlshaber wird von drei linken Parteien unterstützt. Von 2000 bis 2009 war er Bürgermeister Quitos unter der Partei Demokratische Linke. Danach wurde er als Abgeordneter in das Parlament gewählt. Unter seine Zeit als oberster Militärsbefehlshaber fiel der Cenepa-Krieg, der bis datot letzte bewaffnete Konflikt zwischen Peru und Ecuador 1995.

Außerdem entschied er 1997, dass sich das Militär nicht in die vom ecuadorianischen Kongress entschiedene Abberufung des damaligen Präsidenten Abdalá Bucaram einmischen würde. Heute spricht er sich für die Beendigung der Erdölförderung im Yasuní-ITT aus. Außerdem möchte er die nationale und internationale Verschuldung Ecuadors auf den Prüfstand stellen und die Abtreibung entkriminalisieren.

Bei den Wahlen am 19. Februar tritt er gegen den bereits erwähnten Kandidaten der Regierungspartei AP, Lenín Moreno, an. Der amtierende Vizepräsident Jorge Glas unterstützt diese Kandidatur und kandidiert selbst für die Fortführung seines Amtes. Themen, die sich AP auf die Fahnen geschrieben hat, ist die Intensivierung der Erdölförderung und Investitionen in einheimische Raffinerien. Auch die geplanten Projekte des offenen Tagebaus im Amazonas und in den Anden sollen verwirklicht werden, um die Wirtschaft weiter anzukurbeln. Zudem will der 63-jährige Moreno Steuerparadiese kontrollieren und bekämpfen.

Als einzige Kandidatin präsentiert sich Cynthia Viteri von der rechtskonservativen Sozialchristlichen Partei. Die Partei hat besonders an der Küste Unterstützer*innen, in urbanen Sektoren sowie bei der ländlichen Bevölkerung. Sie steht der Agrarwirtschaft nahe. Die 51-Jährige möchte die Steuern senken, um private Investitionen attraktiver zu machen. Außerdem wirbt sie für den Austritt aus den Verbünden UNASUR und der Bolivarianischen Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA), um den Handel mit den USA auszubauen.

Eine noch radikalere neoliberale Politik will auch der anfangs genannte Guillermo Lasso einführen. Der Ex-Bankier gründete seine ebenfalls rechtskonservative Partei CREO erst 2013 und war unter der Regierung von Jamil Mahuad Wirtschaftsminister und mitverantwortlich für die Einführung des Dollars in Ecuador 1999. Jetzt will er die Austeritätspolitik Ecuadors ausweiten, Privatinvestitionen ausbauen, Freihandelsabkommen im pazifischen Raum abschließen und den Arbeitsmarkt flexibilisieren. Dieses neoliberale Turboprogramm soll den Wiederaufbau der durch das Erdbeben zerstörten Gebiete ermöglichen.

Das Thema, das die Diskussionen anregt und zu dem es die meisten Vorschläge gibt, ist die Arbeitslosigkeit. Seit dem Verfall des Erdölpreises im November 2008, befindet sich die vom Erdöl abhängige ecuadorianische Wirtschaft in einem rezessiven Zyklus, was sich in prekären Arbeitsverhältnissen widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund macht der Kandidat Lasso ein Angebot an die Wähler*innen: „Wir schlagen etwas Einfaches vor: Wir schaffen eine Million Arbeitsplätze in den nächsten vier Jahren.“ Doch wie das gehen soll, bleibt sein Geheimnis. Weiterhin spricht er die Themen an, um welche sich die Menschen in Ecuador am meisten sorgen. „Unsere Feinde sind die Armut, die Ungerechtigkeit und die Arbeitslosigkeit.“

Der progressive Kandidat Moncayo zielt in seiner Kampagne auch auf die Arbeitslosigkeit ab: „Wir werden Arbeitsplätze schaffen, indem wir Trinkwasserversorgung, Kanalisationsnetze und Wohnungen für 3,5 Millionen Ecuadorianer bauen.“ Die Trinkwasserversorgung und das Kanalisationsnetz für die armen Viertel im Süden der Hauptstadt Quito waren in seiner Amtszeit als Bürgermeister eine seiner Hauptsorgen. Der Kandidat der amtierenden Regierung, Moreno, schlägt seinerseits vor, einen Teil der Gelder, die durch die Einkommenssteuer vom Staat eingenommen werden, in Kredite für junge Unternehmer zu verwandeln: „Die Nutzung der Einkommenssteuer wird teilweise die Einstellung von jungen Leuten in Firmen erlauben, was ungefähr 140.000 Arbeitsplätze schaffen wird.“

Nicht nur beim Thema Arbeitslosigkeit zeigt sich: Große Unterschiede gibt es zwischen den Kandidat*innen nicht. Lediglich Moncayo hebt sich in puncto Umweltpolitik etwas von den anderen Bewerber*innen ab. Eine richtige Wahl haben die Ecuadorianer*innen bei dieser Präsidentschaftswahl allerdings nicht.

MIT DER ARMEE GEGEN DIE SHUAR

Frau Martínez, was wirft die ecuadorianische Regierung Ihrer Organisation vor?
Wir sollen im Fall des Bergbaukonflikts in der Cordillera del Cóndor mit unseren öffentlichen Erklärungen und unseren Tweets zur Gewalt aufgerufen haben, gegen unsere offiziell anerkannten Ziele verstoßen und uns verbotenerweise in die Politik eingemischt haben. Alles auf der Grundlage des Dekrets 16 aus dem Jahr 2013, das die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen staatlichen Interessen unterwirft. Wir haben diese Anschuldigungen zurückgewiesen.

Das Umweltministerium ist Ihnen schließlich gefolgt und hat den Antrag des Innenministeriums auf Auflösung am 12. Januar zurückgewiesen. Um was geht es im Konflikt in der Cordillera del Cóndor im südlichen Amazonasbecken Ecuadors?
Das ganze Gebiet war ein Naturschutzgebiet, es weist eine sehr hohe Biodiversität auf, viele Flüsse und Wasserfälle, und ist außerdem angestammtes Territorium der Shuar-Indigenen. Diese leben nicht nur vom Wald, sondern sie leben eine tiefe spirituelle Verbindung mit der Natur. Bereits am Anfang der Regierung Correa im Jahr 2007 wurde aufgrund von Bergbauinteressen das Naturschutzgebiet aufgehoben, während andere politische Strömungen im Rahmen der verfassunggebenden Versammlung mit dem ‘Bergbaumandat’ alle Bergbaukonzessionen außer Kraft setzten, um den Extraktivismus zu bremsen. Seitdem wurde immer wieder versucht, in diesem Gebiet mit dem industriellen Bergbau zu beginnen. Zuerst war ein kanadisches Unternehmen involviert und jetzt ein chinesisches, Explorcobres. Es kam zu Konflikten, wem das Land gehört, die vorgeschriebene Umweltverträglichkeitsstudie wurde niemals durchgeführt und auch nicht die vorherige Konsultation, ein international verbrieftes Recht im Rahmen der Selbstbestimmung indigener Völker. In diesem Zusammenhang sind bereits drei Shuar ums Leben gekommen, ohne dass ihr Tod aufgeklärt worden wäre, und im Dezember 2016 starb bei der Besetzung eines Bergbaucamps ein Polizist.

Wie haben Sie diesen Konflikt begleitet?
Wir haben darüber informiert, was in diesem abgelegenen Gebiet geschieht, haben die Umweltverträglichkeitsstudie angemahnt, die Lokalbevölkerung über ihre Rechte aufgeklärt. Aber eigentlich geht es darum, dass Acción Ecológica aufgrund ihrer Ablehnung der extraktiven Politik unbequem ist, das internationale Ansehen der Regierung schädigt und deshalb mundtot gemacht werden soll. Es wird immer wieder versucht zu verbieten, mit den Indigenen solidarisch zu sein, Kundgebungen zu organisieren und sogar die digitalen Netzwerke zu nutzen.

Fast gleichzeitig mit der Nachricht, dass Acción Ecológica nun doch nicht aufgelöst wird, hat die Regierung den Ausnahmezustand in der Cordillera del Condor verlängert, der schon seit Mitte Dezember gilt, und damit auch die Präsenz der Armee in den indigenen Gebieten. Die Versammlungs-, Bewegungs- und Meinungsfreiheit sind damit in dem betreffenden Gebiet außer Kraft gesetzt. Der Shuar-Sprecher Agustín Wachapá sitzt seit dem 17. Dezember im Gefängnis, weil er Unruhe gestiftet haben soll…
Ja, die Situation ist sehr kritisch. Die anderen Shuar, die außer Wachapá noch verhaftet worden waren, sind zwar in den letzten Tagen wieder freigekommen, aber der Konflikt geht weiter. Die Bergbau-Aktivitäten sind momentan gestoppt.

Sie haben an der Verfassung von 2008 mitgewirkt, die international berühmt geworden ist, weil sie der Natur Rechte zuschreibt und im Rahmen der sogenannten Plurinationalität und des Guten Lebens auch indigene Rechte erweitert. Was ist aus diesen Rechten geworden?
Keines dieser Rechte ist im Fall der Cordillera del Condor respektiert worden. Die Verfassung zielt auf ein grundsätzlich anderes Wirtschaftsmodell ab. Die Indigenen wurden an so wichtigen Richtungsentscheidungen, wie ob Ecuador in den industriellen Bergbau einsteigen soll oder nicht, in keiner Weise beteiligt. Bergbau ist eine der Wirtschaftsaktivitäten, die die Natur am gründlichsten zerstört. Aufgrund von Wirtschaftsinteressen haben wir uns vom Modell des Guten Lebens vollkommen verabschiedet.

In Ecuador ist Wahlkampf, im Februar werden Präsident und Parlament gewählt. Intellektuelle wie der Brasilianer Emir Sader werfen Ihnen und anderen, die sich mit Ihnen solidarisieren, vor, durch Ihre Kritik an der Correa-Regierung die Fortführung des Projekts der Bürgerrevolution zu gefährden. Was würden Sie Emir Sader erwidern?
Leute wie er sind durch ihr Wegschauen mitverantwortlich dafür, dass sich die Rechte innerhalb der progressiven Regierungen Lateinamerikas immer mehr ausgebreitet hat. Die Leute, die in der ecuadorianischen Regierung den Bergbau vorantreiben, sind Rechte, die die Interessen bestimmer Wirtschaftseliten vertreten. Wir alle waren dafür verantwortlich, rechtzeitig darauf hinzuweisen, dass diese Regierung eine falsche Richtung einschlägt und sich vom in der Verfassung vorgezeichneten Weg entfernt. Durch ihr Schweigen machen diese Leute sich mitschuldig an all der illegalen Bereicherung, all den Menschenrechtsverletzungen, der Landnahme, der Verwüstung ganzer Landstriche durch den Extraktivismus – und daran, dass hier ein ganz anderes politisches Projekt, das gangbar erschien, aufgegeben wurde.

Was wird der nächste Schritt von Acción Ecológica sein?
Wir sind der Überzeugung, dass wir die Wahrheit ans Licht holen müssen, wir arbeiten an der Einrichtung einer Wahrheitskommission darüber, was mit den Rechten der Natur und der Indigenen geschieht. Wir müssen publik machen, wie Naturschutzgebiete von der Regierung einfach umdefiniert werden, wie die vorgeschriebene Vorab-Befragung der Indigenen übersprungen wird, was für Umweltprobleme der Bergbau bereits jetzt in dem Gebiet verursacht hat.

OFFENER BRIEF DER SHUAR

shuar_cidhEin Shuar-Vertreter vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte / Foto: CIDH (CC BY 2.0)

An meine Shuar-Brüder, an die Indigenen des Amazonasbeckens und der Anden, an die Männer und Frauen aus Ecuador und der Welt.

Wie viele von Euch wissen, waren die vergangenen Tage sehr gefährlich für unsere Leute. Und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Das ist vermutlich erst der Anfang einer großen territorialen Auseinandersetzung, die die nationale Regierung gegen die Shuar Arutam eingeleitet hat.

Unser Urwald wurde mit Tränen, Angst und Blut befleckt. Die Pfade, die wir in Frieden begingen, sind unsicher und gefährlich geworden. Es ist nun fast 30 Jahre her, dass die Ecuadorianer uns als Helden des Cenepa (Krieg um die Landesgrenze mit Peru Anm. d. Red.) anerkannten, als die Verteidiger von Ecuador, dem Land, dem wir angehören.

Nun ist es an der Zeit, dass die Leute aus unserem eigenen Mund erfahren, wer wir sind. Viele haben in unserem Namen gesprochen, ohne uns zu fragen: die Regierung, Politiker, soziale Aktivisten – manche mit guten, manche mit schlechten Absichten.

Wir sind hier geboren, in diesem riesigen Urwald, der die Cordillera del Cóndor und die Flüsse Zamora und Santiago umfasst. Stacheldraht und Privatbesitz kannten wir nicht. Bis der Staat unser Land zu Brachland erklärte und seine Besiedelung organisierte, mit dieser Überzeugung und Selbstlegitimierung, die allen Siedlern zueigen ist. Als die Siedler dann kamen, haben wir sie freundlich empfangen, weil wir wussten, dass sie arme, hart arbeitende Leute sind, die nur eine Chance für sich und ihr Leben suchen. Ganze Landstriche gehörten uns von einem Tag auf den anderen nicht mehr, weil Besitztitel auf die Namen von Leuten ausgestellt worden waren, die wir zum Teil nicht einmal kannten.

In den 60er Jahren mussten wir die Interprovinzielle Shuar-Vereinigung FICSH gründen, die wir bis heute als unsere Mutter betrachten, damit der Staat endlich anerkannte, was immer unseres gewesen war: das Territorium, unsere Lebensräume und unsere Kultur. Erst in den 80er Jahren wurden dann Gemeinschaftstitel auf unser Land ausgestellt. Wir erhielten nicht nur aufgrund des Cenepa-Kriegs Anerkennung, sondern auch weil wir diese jahrtausendealten, riesenhaften Wälder erhalten hatten, in Frieden und zum Schutz der Landesgrenze.

Im Jahr 2000 bereiste eine Gruppe von Shuar-Anführern dieses Land und gründete das Shuar Arutam Territorium, so wie die Verfassung es vorschrieb. Das war nicht einfach; es gab hunderte von Versammlungen und Diskussionen, bis sich schließlich sechs Verbände mit ihren 48 Gemeinden zusammentaten, um so ein zusammenhängendes Territorium von 230.000 Hektar in der Provinz Morona Santiago an der Grenze zu Peru zu schaffen.

„Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben  worden.“


Die FICSH eröffnete uns ihr Pilotprojekt, innerhalb des ecuadorianischen Staates eine neue Form indigener Selbstregierung auszuprobieren, eine Art Spezialregime in den Grenzen dieses Shuar-Gebiets. Im Jahr 2003 entwickelten wir unseren Lebensplan, der das Rückgrat unserer Organisation darstellt. Er ist der Kompass, der uns die Richtung weist, der uns sagt, welche Flüsse wir befahren können und wo wir unsere Nase besser heraushalten. Unser Lebensplan behandelt grundlegende Fragen wie Gesundheit, Bildung, den Erhalt und die Kontrolle des Waldes und seiner Ressourcen, Wirtschaft und Umweltschutz. Wir sind praktisch die einzige Gruppe des Landes, die ihr Territorium nach Kategorien nachhaltiger Nutzung eingeteilt hat. 120.000 Hektar haben wir zum strikten Schutzgebiet erklärt, zum Nutzen aller Ecuadorianer.

Im Jahr 2006 wurden wir vom Entwicklungsrat der Nationalitäten und Völker Ecuadors CODENPE als Shuar Arutam Volk legalisiert. Zwei Jahre später unterzeichneten wir einen Vertrag mit der Regierung, um unseren Wald 20 Jahre lang in perfektem Zustand zu erhalten und dafür Zuschüsse zu bekommen, die uns helfen würden, unseren Lebensplan umzusetzen. Dieser Vertrag heißt Socio Bosque – Waldpartner.

Im Jahr 2014 haben wir unseren Lebensplan aktualisiert. Einmal mehr sprach sich unsere Generalversammlung dagegen aus, dass innerhalb unseres Gebiets Bergbau im mittleren oder industriellen Maßstab betrieben wird. Wir haben zu Präsident Correa gesagt: Kommen Sie uns nicht damit, dass Sie Bergbau betreiben, um uns aus der Armut zu holen. Denn wir fühlen uns mit unserer Lebensweise nicht arm.  Sagen Sie uns lieber, wie Sie uns als Volk und unsere Kultur schützen werden.

In dieser Situation brach der Konflikt von Nankins aus. Schon seit dem Jahr 2008 bieten wir der Nationalregierung einen institutionalisierten Dialog an, doch trotz all unserer Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Rahmen des plurinationalen Staates ein ernsthaftes, ehrliches, aufrichtiges Gespräch auf Augenhöhe herzustellen. Das ist der Grund für das mangelnde Verständnis und die Fehlinterpretationen der Bedürfnisse der Shuar.

Im Namen eines „nationalen Interesses“, und indem die Vorfälle in Nankints zum Einzelfall erklärt werden, ignoriert die Regierung andere Rechte und Dinge, die laut Verfassung ebenfalls im nationalen Interesse liegen sollten: die Plurikulturalität und der Naturschutz. In Nankints benimmt sich die revolutionäre Regierung wie jeder x-beliebige Kolonisator und vergisst sogar die internationalen Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen ist.

Das Problem liegt nicht in dem Stück Land um Nankints, das wir mit den Siedlern teilen. Von dem die Leute glauben, dass es niemals den Shuar gehört hat. Es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt, dass einmal ein Bergbauunternehmen einfach das Land unserer Vorfahren vom Staat und von ein paar Siedlern kaufen könnte. Die Regierung ist vergesslich, und da sie viele Medien besitzt, um sich Gehör zu veschaffen, setzt sie ihre eigenen Wahrheiten durch. Unser Gebiet umfasst nicht nur Nankints. Über 38 Prozent unseres Lands sind dem Mega-Bergbau überschrieben worden. Die gesamten Flussläufe des Zamora und des Santiago wurden an den Klein-Bergbau konzessioniert. Und ein riesiges Wasserkraftwerk ist im Begriff, gebaut zu werden. Unsere Frage lautet: Wo sollen wir Eurer Ansicht nach leben?

„Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben?“


Aus diesem Grund haben wir vor neun Jahren dem Unternehmen gesagt, es soll unser Land verlassen, und uns Nankints zurückgeholt. Neun Jahre später hat irgendjemand den Präsidenten manipuliert, damit er uns gewaltsam vertreibt, noch bevor er abtritt. Weil wir uns das nicht gefallen lassen, kommt es zu Gewalt. Sie haben uns die Schuld für die Tragödie mit dem ermordeten Polizisten gegeben, aber wir haben keinerlei Befehl ausgegeben, jemanden umzubringen. Die Regierung hingegen schickt, anstatt mit uns zu sprechen, tausende von Polizisten und Militärs in unsere Häuser, auf unser Land, terrorisiert und bedroht unsere Kinder. Soweit ich weiß, ist keiner von uns Scharfschütze, noch besitzen wir Feuerwaffen, die einen Polizeihelm durchschlagen würden. Warum ermitteln sie nicht gründlich, bevor sie uns verfolgen, bevor sie Haftbefehle für all unsere Familienväter ausstellen? Warum verkünden sie bei uns den Ausnahmezustand, anstatt mit uns zu reden um zu ermitteln, um die Gewalt zu stoppen, um den dunklen Kräften die Türen zu verschließen? Warum dringen sie in unsere Häuser ein? Warum lassen sie uns nicht in Frieden leben? Die Antwort, die wir erhalten, ist, dass wir angesichts des nationalen Interesses nur eine Handvoll folkloristischer und terroristischer Indios sind und nicht verstehen, was Buen Vivir bedeutet. Und schon gar nicht Sumak Kawsay oder das Projekt der Bürgerrevolution.

In diesem ersten Kommuniqué aus den Wäldern der Cordillera del Cóndor sagen wir tausend Familien Euch, dass wir es unter keinen Umständen zulassen werden, dass die Gewalt und die Macht der Regierung unser Haus, Dein Haus, das Haus der Welt zerstört.

Präsident Rafael Correa muss ein Klima des Friedens schaffen, seine Truppen zurückziehen, den Ausnahmezustand in unserer Provinz aufheben sowie die Haftbefehle gegen unsere Anführer und Angehörigen. Der einzig richtige Weg, um diesen Weg der Zerstörung zu beenden – der einzelne Shuar zu isolierten Widerstandsaktionen treibt, um ihr Gebiet zurückzuerobern –, ist der Dialog, der Respekt, das gegenseitige Verständnis.

Wir fordern alle Bewohner Ecuadors und Morona Santiagos auf, sich unserer Forderung nach Frieden, der Beendigung der Gewalt und einem ernsthaften Dialog mit der Regierung anzuschließen; einem Dialog, der unser Leben als Ureinwohner respektiert.

// MASKIERTER FREIHANDEL

Die Europäische Union zeigte sich zufrieden. „Dieses Abkommen ist ein Meilenstein in den Beziehungen zwischen Ecuador und der EU und schafft die richtigen Rahmenbedingungen, um Handel und Investitionen auf beiden Seiten anzukurbeln“, ließ Handelskommissarin Cecilia Malmström am 11. November verlauten. Anlass für die freudigen Worte war der nachträgliche Beitritt Ecuadors zu dem offiziell als „multilaterales Handelsabkommen“ bezeichneten Freihandelsvertrag zwischen der EU, Kolumbien und Peru.

Es wirkt, als hätte die ecuadorianische Regierung innerhalb weniger Jahre eine wirtschaftliche Kehrtwende vollzogen. Anfang 2007 kamen Präsident Rafael Correa und die sogenannte Bürgerrevolution mit einem Programm an die Macht, das sich entschieden gegen Freihandel richtete. Kurz zuvor, im Jahr 2005, hatte der Druck aus der Zivilgesellschaft und das Aufkommen progressiver Regierungen in Lateinamerika der von den USA propagierten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA den Todesstoß verpasst. Im Jahr 2009 scheiterte das von der EU geplante Assoziierungsabkommen mit der Andengemeinschaft, weil sich die mittlerweile linken Regierungen Boliviens und Ecuadors dagegen aussprachen. Übrig blieb ein Freihandelsvertrag mit Kolumbien und Peru, auch wenn die EU den tatsächlichen Charakter ihrer Wirtschaftsabkommen mit dem globalen Süden meist hinter leeren Worthülsen zu verschleiern weiß. Das ist dem Wirtschaftswissenschaftler Correa nicht erst seit gestern bewusst. „Die Europäische Union kann dem Ganzen noch so hübsche Name geben, aber es geht ihr darum, uns in ein Freihandelsabkommen zu führen, und das akzeptieren wir nicht“, hatte er im Jahr 2009 unmissverständlich klar gestellt. Wenige Jahre später nahm Ecuador die Verhandlungen wieder auf und erzielte bereits 2014 eine vorläufige Einigung mit der EU.

Einen Widerspruch zu seiner heutigen Haltung will Correa aber nicht erkennen. „Das mit der EU unterzeichnete Abkommen kann man nicht als Freihandelsabkommen bezeichnen, weil es eine Reihe von Beschränkungen vorsieht, die unsere kleinen Produzenten, den Agrarsektor, das öffentliche Beschaffungswesen schützen“, erklärte er nun. Überhaupt habe er es nur deshalb ausgehandelt, weil Ecuador sonst die Vorzugszölle des Allgemeinen Präferenzsystems verlieren würde, mit dem die EU Ecuador Zollerleichterungen auf ausgewählte Exportprodukte wie Bananen gewährt.

Natürlich war die EU wie auch in anderen Fällen nicht zimperlich, ihre eigenen Handelsinteressen durchzusetzen. Und tatsächlich hätte das Abkommen noch schlimmer ausfallen können, wenn Ecuador nicht einige Ausnahmen und Übergangsfristen ausgehandelt hätte. Darunter fallen etwa die graduelle Absenkung der Einfuhrzölle auf einige sensible Bereiche wie Milchprodukte oder ein Verzicht auf die umstrittenen Schiedsgerichte zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten. Doch im Kern handelt es sich eben doch um ein Freihandelsabkommen, von dem in dem Andenland in erster Linie Großproduzent*innen aus den Exportsektoren Bananen, Blumen und Krabbenzucht profitieren, während Kleinproduzent*innen in vielen Bereichen unter Druck geraten werden.

Eine Kehrtwende der ecuadorianischen Wirtschaftspolitik ist das aber nur auf den ersten Blick. Seit Jahren schon entfernt sich die Regierung nach und nach von ihren früheren Grundsätzen. Sie setzt mit teilweise autoritären Methoden, flankiert von ökosozialistischer Rhetorik, auf eine neoliberale Modernisierung des Kapitalismus. Statt eine integrale Agrarreform durchzuführen, werden beispielsweise großflächig Bergbauprojekte geplant. Somit hinterlässt der erklärte Freihandelsgegner Correa, der bei den kommenden Präsidentschaftswahlen im Februar 2017 nicht noch einmal antreten wird, seinen Landsleuten ein ganz besonderes Abschiedsgeschenk: Ein Freihandelsabkommen, das nicht beim Namen genannt werden soll.

“ES GIBT KEIN GUTES LEBEN OHNE BETEILIGUNG”

Guillermo Churuchumbi Der Politiker gehört zum linken Flügel der indigenen Partei Pachakutik. Er gewann 2014 die Bürgermeisterwahl und regiert seither als erster Indigener den Kanton Cayambe. Der trotz Morddrohungen vor Energie sprühende Bürgermeister nutzt die Spielräume, die die Verfassung bietet: zum Beispiel, um die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern. (Foto: Ulli Winkler)
Guillermo Churuchumbi
Der Politiker gehört zum linken Flügel der indigenen Partei Pachakutik. Er gewann 2014 die Bürgermeisterwahl und regiert seither als erster Indigener den Kanton Cayambe. Der trotz Morddrohungen vor Energie sprühende Bürgermeister nutzt die Spielräume, die die Verfassung bietet: zum Beispiel, um die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern. (Foto: Ulli Winkler)

Guillermo Churuchumbi ist seit 2014 erster indigener Bürgermeister eines Bezirks in Ecuador, Cayambe mit 120.000 Einwohner*innen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit ihm über Ecuador nach den Erdbeben und das Einbringen indigener Elemente in die Realpolitik.

Seit dem schweren Erdstoß im April 2016 gab es bis zuletzt viele Nachbeben. Sie sind Bürgermeister im Landkreis Cayambe. Inwiefern ist Ihre Region betroffen?
Die Erdbeben haben das ganze Volk getroffen – die einen direkt, die anderen indirekt. Wenn wir über Cayambe sprechen: Hier leben viele Menschen, deren Familien ursprünglich von der Küste im Nordwesten stammen, wo das Epizentrum lag. Die meisten sind auf der Suche nach Arbeit wegen der Blumenplantagen nach Cayambe gekommen. Viele Familien haben nun Verwandte aus der betroffenen Provinz aufgenommen, die kein Obdach mehr haben und müssen sie mitversorgen. Wir haben mehrere Solidaritätskampagnen organisiert, um Lebensmittel, Wasser, Kleidung zu beschaffen und gemeinsame Mittagessen zu veranstalten. Das alles unter Beteiligung der Bewohner und der kommunalen Behörden. Wir bemühen uns, die Hilfe direkt dort ankommen zu lassen, wo sie die Menschen benötigen.

An Solidarität fehlt es nicht?
Nein. Es gab und gibt sehr viel Solidarität. Leider haben wir nicht alle Orte erreicht, die Hilfe benötigen könnten, weil sie zu weit entfernt und zu schwer erreichbar sind. So sind manche Betroffenen zu kurz gekommen. Dessen ungeachtet praktizieren wir in Cayambe weiterhin gelebte Solidarität mit einigen der betroffenen Gemeinden in der nördlichen Küstenprovinz Esmeraldas.
Das Erdbeben mit über 650 Toten ist nun bald ein halbes Jahr her. Ist der Wiederaufbau im Gang?
An einigen Stellen, an anderen Stellen noch nicht. Es gibt ja auch nach wie vor Nachbeben, einschließlich in der Hauptstadt Quito. Wie lange das noch andauert, ist ungewiss. Aber was wir sagen können, ist, dass betroffene Familien bereits Pläne für den Wiederaufbau gemacht haben. Was es nun braucht, ist, dass auf allen Ebenen dafür gearbeitet wird, dass die Menschen sich selbst organisieren, um ihren Bedürfnissen beizukommen – selbstverständlich bedarf es dabei der staatlichen Unterstützung. Der Staat muss für die wirtschaftliche Wiederbelebung sorgen, beim Tourismus, bei der Landwirtschaft und beim Prozess der Vermarktung. Wenn diese Sektoren wieder in Schwung kommen, entstehen auch Einkommen für die Familien. Wir müssen gemeinsam den Wiederaufbau und die Wiederbelebung der Wirtschaft vorantreiben. Die Häuser, die Schulen, die zerstörte Infrastruktur muss neu aufgebaut werden. Da setzen unsere Solidaritätskampagnen in Cayambe an. Unser Schwerpunkt liegt dabei auf der Region Cabo San Francisco und der Stadt Muisne in der Provinz Esmeraldas..

Es ist eine große Herausforderung für das ganze Land?
Genau. Für alle. Für die Bürgermeister wie mich, ob nun direkt betroffen oder nicht, allein wegen unserer Verantwortung und den sozialen Beziehungen, die wir zwischen den Regionen haben. Insgesamt ist es eine gemeinsame Verantwortung von allen für alles. Das geht bei der Zentralregierung los, die Steuern und Sonderabgaben auf den Weg gebracht hat, um Gelder für den Wiederaufbau zu generieren. So leisten alle Ecuadorianer ihren Beitrag für den Wiederaufbau der Küste im Norden.

Stimmt es, dass Sie seit 2014 der erste Bürgermeister in Ecuador mit indigenem Hintergrund sind?
Auf kantonaler Ebene, ja. Seit vor 180 Jahren Ecuador in Kantone strukturiert wurde, bin ich der erste indigene Bürgermeister eines solchen Kantons. Im Kanton leben 120.000 Menschen, die Hälfte davon sind Indígenas. Es gibt aber eine kulturelle Vielfalt, nicht nur die indigene Kultur. Für mich und die indigene Partei Pachakutik bedeutet das eine Herausforderung.

Wie kam es zum Wahlsieg?
Wir haben 2014 die Wahlen gewonnen, weil die Leute die Zustände satt hatten: die Korruption, die Vetternwirtschaft, den Populismus. Keiner konnte sich auf den öffentlichen Sektor verlassen. Öffentliche Politik muss doch heißen, die Menschen zu beteiligen, muss doch heißen, sich mit den Bürgern über ihre Forderungen abzustimmen. All das war leider keine Praxis in der Vergangenheit. Weil die Leute mit der traditionellen Politik nichts mehr anfangen konnten, waren sie offen für die neuen Ansätze und Ideen, die die indigene Partei Pachakutik einbringt, und für neue Personen.

Neue Personen wie Sie. Wie wurden Sie überhaupt Kandidat?
Ich wurde von den sozialen Bewegungen auf den ersten Listenplatz von Pachakutik gewählt. Die sozialen Bewegungen haben entschieden, dass ich der Kandidat für das Bürgermeisteramt sein sollte. Das ist das Prinzip: Der Kandidat braucht die Unterstützung der sozialen Bewegungen, die politischen Ansätze den Rückhalt der Bevölkerung. Für den Sieg brauchten wir eine kollektive Kampagne, denn wir mussten uns auch der üblichen Praxis des Stimmenkaufs erwehren, wir mussten uns der traditionellen Parteien erwehren, die den Kanton immer in ihrer Hand hatten. Wir haben uns als Alternative präsentiert und damit gewonnen!

Worin besteht die Alternative?
In der Partizipation, wir beteiligen die Bürger am Entscheidungsprozess. Wir stehen im ständigen Dialog mit der Bevölkerung im Allgemeinen und mit den Stadtteilbewohnern im Konkreten, wenn es darum geht, Politik umzusetzen. Bei der Müllentsorgung, bei der Parkerneuerung, bei der Wasserversorgung. Hier geht es nicht darum, dass die Leute passiv darauf warten, dass der Staat alles für sie tut. Sie sollen in direkter Demokratie mit­entscheiden, aber auch direkt mitgestalten und dabei mit Hand anlegen, sodass Stadtverwaltung und Bürger wirklich zusammenarbeiten.

Und funktioniert das?
Ja. Das Problem der Wasserqualität war über viele Jahre ungelöst: In weniger als zwei Jahren haben wir es geschafft, die Wasserversorgung nicht nur für die großen Blumenproduzenten in der Stadt Cayambe, sondern auch für die indigenen Gemeinden der Umgebung zu sichern und das mit qualitativ gutem Wasser. Auch den Kampf gegen die Korruption haben wir angepackt, sowohl im Transportwesen als auch bei den sozialen Programmen. Dort setzen wir auf einen Prozess der transparenten Beteiligung. Das gibt uns eine Garantie, dass wir ein nachhaltiges Regieren schaffen, und das bedeutet, dass wir eine partizipative Demokratie entwickeln mit den Menschen, von den Menschen, für die Menschen.

Im Einklang mit sich selbst: Im Kanton Cayambe wird an der Praxis des "Guten Lebens" gearbeitet (Foto: Marcio Ramalho CC-BY-2-0 )
Im Einklang mit sich selbst: Im Kanton Cayambe wird an der Praxis des “Guten Lebens” gearbeitet (Foto: Marcio Ramalho CC-BY-2-0 )

Das partizipative Element entspricht ja auch dem „Buen Vivir“ oder „Sumak Kawsay“, dem „Konzept vom Guten Leben“, wie es seit 2008 auch in der Verfassung Ecuadors festgehalten ist. Wo liegen die Schwierigkeiten, dieses Konzept in Realpolitik zu überführen?
Vorab muss festgehalten werden, dass es sich bei „Buen Vivir“ oder „Sumak Kawsay“ auch um eine Utopie handelt, einen Traum, wie der Mensch in Fülle und Harmonie mit Mutter Natur zusammenlebt. Aber davon abgesehen geht es darum, sich im Hier und Jetzt die Frage zu stellen, wie man jeden Tag das „Gute Leben“ praktizieren kann. Gut zu leben bedeutet, mit sich selbst im Einklang zu leben, mit deiner Familie glücklich zusammenzuleben, mit deinen Nachbarn glücklich zusammenzuleben, deinen Freunden und Bekannten und sich zu überlegen, wie man in Harmonie mit der Natur leben kann. Wenn das in einer Gemeinde möglich ist, ist es im Prinzip auch in einem Land möglich, ist es auch geopolitisch möglich. Man kann in Deutschland das „Gute Leben“ praktizieren.

Sie halten „Buen Vivir“ im Kapitalismus für möglich?
In Ansätzen. Leider ist der Kapitalismus in jede Ecke Deutschlands, aber auch Ecuadors vorgedrungen. Was bedeutet Kapitalismus? Konzentration des Reichtums, Armut von vielen Menschen, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zur Bereicherung weniger und nicht zur Umverteilung an viele. Das ist mit „Sumak Kawsay“ unvereinbar. Beim „Sumak Kawsay“ wird der Natur nur so viel entnommen, wie man zum „Guten Leben“ benötigt, der Reichtum wird umverteilt zum Wohlbefinden der Menschen und der Natur. Das ist die ökonomische Ebene. Man darf nicht vergessen, dass der Kapitalismus bereits über 150 Jahre währt und sich nicht von heute auf morgen überwinden lässt. Aber klar: Es ist notwendig, den Kapitalismus zu überwinden, um den Weg für ein „Buen Vivir“ frei zu machen. Mit dem Kapitalismus lässt sich der Klimaerwärmung nicht begegnen, mit dem Kapitalismus geht die Armut von vielen Millionen Kindern einher und ein paar wenige Familien haben unermessliche Reichtümer angesammelt. Das ist kein humanes System, das ist Barbarei. Wegen der Akkumulation der Reichtümer existieren Kriege.

In Ihrer Region Cayambe wird das „Sumak Kawsay“ schon angewandt. Wie läuft das, wenn es in der Bevölkerung Gruppen gibt, die unter „Gutem Leben“ eher den „American way of life“ verstehen und vor allem ihre Konsumlust ausleben wollen?
Dieser Frage stellen wir uns praktisch. Ein Thema, an dem wir arbeiten, ist, wie wir das Gemeinschaftswesen zurückerlangen. Das gemeinschaftliche Wissen, die gemeinschaftlich betriebene Wasserversorgung, das gemeinschaftliche Nutzen von Brachflächen. Wir wollen auch eine gemeinschaftliche Ökonomie entwickeln, eine solidarische auf Gegenseitigkeit beruhende Wirtschaft. In kleinen Gemeinden funktioniert das schon. Was im Kleinen funktioniert, kann auch im Großen funktionieren. Wir arbeiten am Thema Minga: So heißt die besondere Form der Gemeinschaftsarbeit, die in Ecuador Tradition hat. In zwei Jahren haben wir es geschafft, dass diese Form auch in städtischen Vierteln praktiziert wird und nicht nur in den indigenen Gemeinden, wo sie herstammt. Auch in den Städten müssen die Menschen lernen, wie Selbstorganisation funktioniert.

Und die Leute sind mit Ihrer Regierungsführung zufrieden?
Bis zum jetzigen Zeitpunkt 70 Prozent. 15 Prozent aus der Opposition, die die Wahlen verloren hat, sind gegen uns, auch weil sie bis heute nicht verstehen, warum sie verloren haben.

Bei den nationalen Präsidentschaftswahlen 2017 tritt Präsident Rafael Correa nach zehn Jahren nicht mehr an. Wie ist seine Bilanz?
Die Regierung Correa hat Erfolge und Misserfolge vorzuweisen. Ich bin weder Correalista noch Opposition – die Opposition ist die Rechte. Wir von Pachakutik sind eine linke Alternative, kommen aus alternativen Bewegungen und schlagen Alternativen auf lokaler und nationaler Ebene vor. Correa hat den Staat modernisiert und gestärkt, auf der Strecke blieb die Partizipation. Die Regierung hört nicht auf die Bevölkerung, bezieht sie nicht mit ein und die Ureinwohner auch nicht. Die Regierung war sehr stark in den fetten Zeiten, aber in Zeiten der Wirtschaftskrise zeigt sie sich schwach, aber auch die sozialen Bewegungen zeigen da ihre Schwächen. Was auch immer die Wahlen 2017 bringen mögen, ob die Regierungspartei Alianza País gewinnt oder nicht. Wir haben eine Empfehlung an alle: Bezieht die Ureinwohner mit ein, gewinnt sie für die Gesellschaft, nutzt ihr Wissen und wendet „Sumak Kawsay“ an, erklärt den Leuten alles, macht alles mit den Leuten und hört ihnen zu. Deswegen halten wir von Pachakutik es für wichtig, mit einer eigenen Kandidatin anzutreten, das wird Lourdes Tibán sein, die die parteiinternen Vorwahlen im August deutlich gewonnen hat. Wir werden auch versuchen, Allianzen für eine Alternativregierung zu schmieden. Wir hoffen, dass wir von Pachakutik bei den Wahlen 2017 mit unserem Alternativprojekt Anklang finden. Sonst droht Ecuador der rohe Neoliberalismus, so wie in Argentinien derzeit unter Mauricio Macri: Privatisierung der Bildung, Entlassungswelle bei den staatlich Beschäftigten, Preiserhöhungen bei Strom und Wasser. Oder was mit Dilma Rousseff in Brasilien passiert ist: Krise – und die Rechte ist zurück.

Wie viel Realitätsgehalt hat der Slogan „Bürgerrevolution“, den die Regierung Correa propagiert?
Er ist auf alle Fälle mehr Slogan als Wirklichkeit. Wie gesagt, es gab Erfolge, bedeutende Fortschritte in der Gesundheit, Bildung und Infrastruktur. Aber es fehlt die Partizipation. Der Staat ist engagiert, aber der Staat kann so stark sein, wie er will, ohne die Beteiligung der Bürger lässt sich kein „Buen Vivir“ schaffen.

Obama isoliert im Hinterhof

Die USA fühlen sich bedroht. Dies allein wäre kaum eine Meldung mit Neuigkeitswert, doch lauert die Gefahr dieses Mal direkt vor der eigenen Haustür, im häufig als Hinterhof der USA bezeichneten Lateinamerika. Am 9. März erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela zur „außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten“. Zugleich verhängte er Sanktionen gegen sieben venezolanische Funktionär*innen. Die US-Regierung wirft ihnen Verletzung von Menschenrechten bei der Unterdrückung oppositioneller Proteste sowie Korruption vor. Die venezolanische Regierung sieht sich hingegen von dem US-Vorgehen bedroht, das sie als Vorbereitung auf eine militärische Invasion wertet. Es sei „der aggressivste Schritt“, den „die USA jemals gegen Venezuela unternommen haben“, sagte der venezolanische Präsident Nicolás Maduro. Obama werde „wie Präsident Nixon in Erinnerung bleiben“, warnte er in Anspielung auf den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes in Chile 1973.
Obamas Bedrohungsvokabular entspringt dem International Emergency Economic Powers Act, einem US-Gesetz aus dem Jahre 1977, mit dem der Präsident im Falle einer erklärten Bedrohung ohne Zustimmung des Kongresses Sanktionen verhängen kann. Neben Venezuela gelten derzeit unter anderem Iran, Syrien, Nordkorea und Russland als „außergewöhnliche Bedrohung“. Der US-Kongress selbst hatte bereits im vergangenen Dezember Sanktionen gegen venezolanische Funktionär*innen beschlossen. Ende Februar konterte Venezuela mit Gegensanktionen, nachdem Maduro die US-Regierung bezichtigt hatte, in einen kürzlich aufgedeckten mutmaßlichen Putschplan verwickelt zu sein. Es kam zur Verhaftung mehrerer Militärs und des Bürgermeisters des Großraums Caracas, Antonio Ledezma. Über gegenseitige Botschafter*innen verfügen beide Länder bereits seit eines Streits über den designierten US-Botschafter im Jahr 2010 nicht mehr.
Sollte Obama sich im Zuge der politischen Annäherung an Kuba erhofft haben, Venezuela in Lateinamerika isolieren zu können, ging der Schuss nach hinten los. Für die innerhalb wie außerhalb Venezuelas stark in der Kritik stehende Regierung Maduro wirken die Sanktionen aus Washington fast wie ein Befreiungsschlag. Nicht nur die Linke Lateinamerikas stellt sich in dem Konflikt kategorisch hinter Venezuela. Keine einzige Regierung des Subkontinents unterstützt das einseitige Vorgehen der USA. Die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR) forderte die Aufhebung des Dekretes, sprach sich deutlich gegen „äußere Einmischung“ sowie „einseitige Maßnahmen“ aus und mahnte zum Dialog. UNASUR-Generalsekretär Ernesto Samper warnte, die Sanktionen könnten in „der bereits polarisierten Situation“ dazu beitragen, „die Gemüter zu radikalisieren“. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC), der alle lateinamerikanischen und karibischen Länder des Kontinents, nicht jedoch Kanada und die USA angehören, hatte im Februar bereits die Sanktionen des US-Kongresses zurückgewiesen. Die Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) forderte Obama ebenfalls dazu auf, die Maßnahmen zurückzunehmen und sprach sich für einen Dialog aus. Auch José Miguel Insulza, scheidender Generalsekretär der US-dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bezeichnete Obamas präsidiale Verfügung als „sehr hart“. Selbst aus den Reihen des oppositionellen Bündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) kamen vereinzelt kritische Töne. Der Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, sprach von einem „schlechten Dienst für die venezolanische Opposition“.
Maduro selbst ging in die Offensive und beantragte in der Nationalversammlung umgehend legislative Vollmachten, um „den Frieden zu sichern“. Bereits sechs Tage nach Obamas Verfügung bewilligte das Parlament das thematisch breit formulierte „antiimperialistische“ Bevollmächtigungsgesetz. Bis Ende Dezember kann Maduro nun Dekrete mit Gesetzesrang in den Bereichen „Gerechtigkeit, Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, Immunität, territoriale Integrität, nationale Selbstbestimmung und Frieden“ erlassen.
Es ist bereits das zweite Mal, dass Maduro mit Vollmachten regiert, die das Parlament dem Präsidenten laut venezolanischer Verfassung verleihen kann. Ende 2013 hatte ihm die Nationalversammlung für zwölf Monate Vollmachten in den Bereichen Wirtschaft und Korruption erteilt, die er für insgesamt 50 Dekrete und Gesetzesänderungen nutzte. Spürbare positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage oder die Korruption konnten dadurch bisher nicht erreicht werden. Bereits auf Grundlage der alten Verfassung von 1961 nutzten verschiedene Präsidenten die Möglichkeit, sich zeitlich begrenzte gesetzgeberische Vollmachten erteilen zu lassen. Maduros Vorgänger Hugo Chávez ließ sich zwischen 1999 und 2013 viermal bevollmächtigen. Wenngleich das gewählte Parlament über präsidiale Dekrete nicht debattiert, könnte die Bevölkerung laut der Verfassung von 1999 sogenannte Aufhebungsreferenden über einzelne Gesetze und Dekrete erzwingen. Bei Gesetzen, die durch Präsidialdekrete zustande gekommen sind, müssten dies fünf Prozent der eingeschriebenen Wähler*innen per Unterschrift einfordern. Gebrauch gemacht wurde von diesem direktdemokratischen Recht bisher allerdings noch nie.
Für Maduro könnten es vorerst die letzten Vollmachten sein. Voraussichtlich Ende des Jahres wird in Venezuela ein neues Parlament gewählt. Auch wenn noch nicht absehbar ist, ob die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) und ihre Verbündeten ihre Mehrheit verlieren, so ist es zumindest wahrscheinlich, dass sie die zur Erteilung von Vollmachten nötigen drei Fünftel der Abgeordneten nicht erreichen werden.
Die Opposition wirft Maduro vor, mit den Vollmachten gegen kritische Stimmen vorgehen zu wollen und die Konfrontation mit den USA dazu zu nutzen, von internen Problemen abzulenken. Seit dem Tod des damaligen Präsidenten Hugo Chávez vor gut zwei Jahren steckt Venezuela in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Die gesellschaftliche Polarisierung führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten und harten Reaktionen seitens der Sicherheitskräfte. Wenngleich die Grundversorgung mit Lebensmitteln in Venezuela weiterhin sichergestellt ist, sind einige Produkte wie Milch, Kaffee, Maismehl sowie verschiedene Hygieneartikel rar und sorgen für lange Schlangen vor den Supermärkten. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr gut 64 Prozent und bedroht mittlerweile die sozialen Errungenschaften der Chávez-Ära. Das auf mehreren parallelen Kursen basierende Wechselkurssystem und die Devisenkontrollen begünstigen kleine wie große Betrügereien. Der zurzeit niedrige Erdölpreis trägt zu einer Verschärfung der Situation bei, indem die Staatseinnahmen sinken und die für Importe nötigen Devisen weiter verknappt werden. Dringend notwendige, aber aufgrund der direkten sozialen Folgen schwierig durchsetzbare Reformen schiebt die Regierung hingegen immer wieder auf. Dazu zählt etwa eine Preisanhebung des innerhalb Venezuelas bisher beinahe gratis verteilten Benzins und eine grundlegende Überarbeitung des Wechselkurssystems (siehe LN 487). Die Regierung wirft oppositionellen Kreisen und privaten Unternehmer*innen vor, einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung zu führen und das Warenangebot gezielt zu verknappen. Dass viele Unternehmen die mit staatlichen Petrodollars erworbenen Produkte horten oder mit deutlich höherer Gewinnspanne über die Grenze nach Kolumbien schmuggeln, ist tatsächlich kein Geheimnis. Doch das allein kann die Krise nicht erklären. Das erdölbasierte Wirtschaftsmodell Venezuelas bleibt auch mit sozialistischem Anstrich weiterhin kapitalistisch und die extrem unterschiedlichen Wechselkurse bieten enorme Anreize für krumme Geschäfte. Wer für den Import von Lebensmitteln etwa Devisen im Wert von 6,30 Bolívares pro US-Dollar erhält, fährt durch den Verkauf zumindest eines Teils der US-Dollar auf dem Schwarzmarkt gigantische Gewinne ein. Mitte März lag der Schwarzmarktkurs mit um die 250 Bolívares pro Dollar etwa bei dem 40-fachen des günstigsten offiziellen Kurses.
In diesem Kontext scheint Obamas Schritt, Venezuela zur „Bedrohung“ zu erklären, allein dazu zu dienen, die venezolanische Krise anzuheizen. Seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez 1999 sind die Beziehungen zwischen den USA und ihrem zuvor engen Partner Venezuela angespannt. Den gescheiterten Putsch gegen Chávez im Jahr 2002 unterstützte die US-Regierung logistisch und finanziell. Immer wieder lieferte sich der frühere venezolanische Präsident mit der US-Regierung rhetorische Auseinandersetzungen, bezeichnete Obamas Vorgänger George W. Bush öffentlich als „Esel“, „Teufel“ und „Mr. Danger“. Gleichzeitig gelang es ihm, den US-Einfluss in der Region deutlich zurückzudrängen. Die von den USA propagierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA scheiterte 2005. 2004 gründete sich als solidarischer Gegenentwurf das Staatenbündnis ALBA. Im Jahr 2008 folgte UNASUR und 2011 CELAC.
Bei allen politischen Differenzen bleiben die wirtschaftlichen Beziehungen jedoch intakt; mit keinem Land treibt Venezuela mehr Handel als mit den USA. Wenngleich das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten in den vergangenen Jahren leicht zurückgegangen ist, bleibt Venezuela innerhalb Lateinamerikas nach Mexiko und Brasilien der drittgrößte Handelspartner der USA. Im Jahr 2014 flossen täglich 740.000 Barrel in den Norden. Nach China gingen 536.000 Barrel pro Tag. Nach dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 hatte es zwischen den USA und Venezuela zunächst nach Entspannung ausgesehen. Der US-Präsident versprach Lateinamerika eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“. Es blieb allerdings bei der Rhetorik. Heute scheint Obama in Lateinamerika isolierter zu sein, als es sein Vorgänger Bush je war. Nun liegt es an den Bemühungen der unterschiedlichen regionalen Integrationsbündnisse auf dem amerikanischen Kontinent, einen ernsthaften Dialog in Gang zu bringen. Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño erklärte sich auf Maduros Vorschlag hin dazu bereit, eine Vermittlungsgruppe zu koordinieren. Ecuador hat zurzeit die temporäre Präsidentschaft der CELAC inne. Spätestens auf dem kommenden Amerika-Gipfel am 10. April in Panama könnten sich Vertreter*innen der US-amerikanischen und venezolanischen Regierung direkt begegnen. Den wichtigsten Beitrag zu einem Dialog müsste Obama wohl selbst leisten, indem er seine umstrittene Verfügung zurücknimmt. Die venezolanische Regierung will nun zehn Millionen Unterschriften sammeln, um ihn davon zu überzeugen. Das US-Außenministerium zeigte sich in einer ersten Reaktion grundsätzlich bereit zu einem Dialog. Dieser könne jedoch „nicht die Probleme in Venezuela lösen“. Dafür sei ein Dialog innerhalb Venezuelas nötig.

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