DIE STRAFLOSIGKEIT DURCHBRECHEN

Foto: Tobias Lambert


 

Santiago Aguirre
ist Menschenrechtsanwalt und Vizedirektor des renommierten Menschenrechtszentrums Centro de Derechos Humanos Miguel Agustín Pro Juárez (Centro ProDH). Im Mai wird er dessen Leitung übernehmen. Aguirre ist Mitglied der Wahrheitskommission, die den Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa aufklären soll, die am 26. September 2014 in Iguala auf dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschwunden sind. Die Polizei hatte sie entführt und einem lokalen Drogenkartell übergeben.


 

Seit dem 1. Dezember 2018 hat Mexiko mit Andrés Manuel López Obrador (AMLO) einen Präsidenten, der sich links der Mitte verortet. Welche Erwartungen setzt die Menschenrechtsbewegung in den Regierungswechsel?
López Obrador hat die Wahl am 1. Juli vergangenen Jahres inmitten einer schweren Krise der Menschenrechte gewonnen. Der mexikanische Staat schützt seit jeher die Mächtigen anstatt verwundbarer Gruppen wie Indigene oder Frauen. Doch als der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 den Krieg gegen die Drogen ausrief, kehrten Verbrechen zurück, die wir eher aus den 1970er Jahren kennen. Seit 2006 zählen wir 40.000 Verschwundene in Mexiko. Hinzu kommen ein Anstieg der Folter und Tötungen durch das Militär. Mit der Wahl López Obradors war die Erwartung verbunden, dass dieser strukturelle Reformen einleitet, die die Menschenrechtssituation verbessern.

Auch wenn es für eine fundierte Bilanz noch sehr früh ist: Welche Akzente zeichnen sich in der Menschenrechtspolitik bisher ab?
Positiv ist, dass sich die Regierung einiger der emblematischsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen angenommen und die Opfer um Vergebung gebeten hat. Bei dem zentralen Thema der Verschwundenen hat die Regierung eine neue Politik angekündigt. Dazu zählt die Einrichtung einer Wahrheitskommission im Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa. Aber es gab auch negative Entwicklungen wie die Gründung der militarisierten Polizei Guardia Nacional.

Beide Kammern des Kongresses haben dem Vorhaben bereits zugestimmt. Welche Kritik haben Sie an der Errichtung der Guardia Nacional?
Diese neue Polizei setzt sich maßgeblich aus den Reihen des Militärs zusammen. Und obwohl der Präsident angekündigt hat, dass die Guardia Nacional Rechenschaft ablegen wird und keine Menschenrechte verletzen soll, stärkt deren Gründung in erster Linie das Militär. Die Erfahrung der letzten 15 Jahre zeigt aber, dass dort, wo die Kompetenzen des Militärs ausgeweitet werden, die Menschenrechtsverletzungen zunehmen.

Wenn es der Regierung um eine Verbesserung der Menschenrechtslage geht, warum stärkt sie dann nicht eine zivile Polizei?
Die Vorgehensweise der Regierung hat die Menschenrechtsbewegung überrascht. Aus der Zivilgesellschaft und akademischen Kreisen gab es einige Vorschläge, wie Sicherheitskräfte umgestaltet werden könnten. Und während der Wahlkampagne hat López Obrador die Menschenrechtsverstöße seitens des Militärs kritisiert und sich dafür eingesetzt, dass das Militär nicht auf den Straßen patrouillieren soll. Seinen Meinungsumschwung begründet er damit, dass die zivilen Polizeieinheiten vollständig korrumpiert seien. Aber das greift zu kurz, denn auch das Militär hat Korruptionsfälle und Unterwanderung durch die Drogenkartelle vorzuweisen.

Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Regierung ein, die seit 2006 eskalierende Gewalt in den Griff zu bekommen?
Der Präsident hat gesagt, dass er den Krieg gegen die Drogen beenden will. Als erste Maßnahmen erwägt er die Legalisierung einzelner Substanzen und will die Sozialpolitik für Jugendliche ausbauen. Bisher handelt es sich aber nur um Vorschläge, während die Schaffung einer militarisierten Polizei eindeutig in eine andere Richtung geht. Entscheidend wird aber sein, wie Regierung und Justiz mit den zu erwartenden Menschenrechtsverletzungen seitens der Guardia Nacional umgehen werden. Ob diese also tatsächlich Rechenschaft ablegen muss oder Täter aus den Reihen des Militärs wie bisher straffrei davon kommen. Doch solange die USA als zentraler Markt für die Drogen nicht ihre Politik des Prohibitionismus beenden, wird es in Mexiko Gewalt geben.

Für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen ist Mexiko eines der gefährlichsten Länder weltweit. Seit 2012 gibt es für diese Gruppen ein eigenes Schutzprogramm. Wie ist dessen Bilanz?
Aufgrund der hohen Anzahl von Morden an Menschenrechtsverteidigern und Journalisten hat die damalige Regierung unter Enrique Peña Nieto diesen Schutzmechanismus geschaffen. Doch wurden seitdem weiterhin Menschen ermordet, darunter auch mehrere, die bereits unter Schutz standen. Und nicht immer konnten die Betroffenen ihrer Arbeit weiter nachgehen. Auch dieses Jahr ist es bereits zu Aggressionen und Morden gekommen, ohne dass die Regierung darauf bisher ausreichend reagiert hat. Vor allem aufgrund der verbreiteten Straflosigkeit greift der Mechanismus nicht richtig. In den meisten Fällen von Mord oder Bedrohungen wird entweder gar nicht ermittelt oder die Hintermänner bleiben unbehelligt. Die neue Regierung muss das Schutzprogramm stärken und gegen die Straflosigkeit vorgehen.

Bereits am 3. Dezember hat López Obrador das Dekret unterzeichnet, mit dem er eine Wahrheitskommission für den Fall der 43 im Jahr 2014 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa geschaffen hat. Sie selbst nehmen daran als Menschenrechtsanwalt teil. Welche Bedeutung hat die Kommission für Mexiko?
Dass wir in Mexiko heute 40.000 Verschwundene haben, ist eines der zentralen Probleme des Landes. In der Gegenwart gibt es kein Land Lateinamerikas, in dem derart viele Familien vom gewaltsamen Verschwindenlassen betroffen sind. Teilweise suchen diese in ländlichen Regionen eigenhändig nach Massengräbern. Alle Fälle sind wichtig, doch nicht alle zeigen derart deutlich die Strukturen hinter der Straflosigkeit in Mexiko auf, wie der Fall Ayotzinapa. Bei diesem versuchte die Vorgängerregierung bewusst, den tatsächlichen Tathergang zu verschleiern. Die Familien der 43 verschwundenen Studenten setzten sich vier Jahre lang dafür ein, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Sie trafen sich mit López Obrador bereits während des Wahlkampfs, dann während der Übergangsperiode im September zum vierjährigen Jahrestag des Verbrechens und Anfang Dezember bei der Schaffung der Wahrheitskommission.

Wie arbeitet die Wahrheitskommission konkret?
Ihr gehören Familien der Opfer, Menschenrechtsorganisationen und Regierungsvertreter an. Seit Januar treffen wir uns monatlich. Auf politischer Ebene soll die Kommission die Hindernisse beseitigen, die einer Aufarbeitung des Falles entgegenstehen. Technische Unterstützung leisten die Vereinten Nationen und die Interamerikanische Menschenrechtskommission. Was uns jetzt noch fehlt ist eine Sonderstaatsanwaltschaft, die sich den strafrechtlichen Aspekten des Falls widmet. Es gibt keinen vorgeschriebenen Zeitrahmen, aber wir glauben, dass sich nach einem Jahr zeigen wird, ob es substanzielle Fortschritte gibt oder nicht. Wenn wir es schaffen, die Straflosigkeit zu durchbrechen, wird daraus eine klare Botschaft zur Stärkung der Menschenrechte hervorgehen. Wir könnten dadurch exemplarisch aufzeigen, dass in dem Mexiko, das wir uns wünschen, weder Lügen noch Straflosigkeit toleriert werden. Das käme nicht nur den Familien der Verschwundenen, sondern dem ganzen Land zu Gute.

Bei dem Polizeieinsatz gegen die Studenten aus Ayotzinapa kamen auch G36-Gewehre von Heckler & Koch zum Einsatz. Diese hätten allerdings gar nicht in den betroffenen Bundesstaat Guerrero geliefert werden dürfen, da aufgrund der dortigen Menschenrechtssituation keine Exportgenehmigung der Bundesregierung vorlag. Das Landgericht Stuttgart verurteilte den schwäbischen Waffenhersteller im Februar deshalb zu einer Strafzahlung von 3,7 Millionen Euro und verhängte Bewährungsstrafen gegen zwei ehemalige Mitarbeiter*innen. Zwei ehemalige Geschäftsführer wurden jedoch freigesprochen (siehe LN 537). Wie bewerten Sie das Urteil?
Der ganze Prozess gegen Heckler & Koch ist ein hoffnungsvolles Beispiel dafür, was die deutsche und mexikanische Zivilgesellschaft sowie kritische Journalisten erreichen können, wenn sie zusammenarbeiten. Denn ansonsten wäre der Fall gar nicht publik geworden. Mir ist bewusst, dass es in Deutschland eine wichtige Debatte darüber gibt, dass möglicherweise mitschuldige Personen freigesprochen wurden. Doch im Gegensatz zu Mexiko war es in Deutschland möglich, den Fall vor Gericht zu bringen, öffentlich darüber zu debattieren und die Opfer sichtbar zu machen. In Mexiko hingegen gibt es nicht einmal Ermittlungen, obwohl korrupte mexikanische Behörden in die illegalen Waffenlieferungen ebenso verstrickt sind.

 

EINE RICHTERIN FÜR DIE GERECHTIGKEIT

YASSMIN BARRIOS
ist Richterin in Guatemala und Präsidentin des speziell eingerichteten Gerichtshof Tribunal Primero A de Mayor Riesgo, für Fälle mit besonders hohem Sicherheitsrisiko. Sie hat Prozesse zu den während des Bürgerkriegs verübten Massakern verhandelt sowie gegen den Ex-Diktator Efraín Ríos Montt.

Foto: Markus Dorfmüller


Wir waren am Wochenende in Sepur Zarco – einige der Frauen sind sehr frustriert, dass es zwar ein für sie positives Urteil gibt, aber dass die Umsetzung auf sich warten lässt. Können Sie das nachvollziehen?
Oh ja, für die Frauen hat die Übergabe der Finca, also des Landstreifens, Priorität, aber die ist bisher nicht vom Fleck gekommen. Das ist das Problem und dafür müssen ihre Anwältinnen nun sorgen – ich als Richterin habe da keinen Einfluss mehr.

Welche Relevanz hatte dieser Prozess für Sie persönlich: war es schlicht ein Fall?
Jeder Fall hat aus meiner Perspektive wichtige Charakteristika – so auch dieser. Klagen gegen Militärs von indigenen Frauen sind etwas Besonderes in Guatemala und darüber hinaus. Sepur Zarco war also etwas Besonderes – vor allen Dingen aus der Perspektive der Frauen.

Es hat auch Angriffe auf Sie persönlich gegeben, Kampagnen in den sozialen Netzwerken – warum?
Weil ich ein paar Prozesse verhandelt habe, die für dieses Land extrem wichtig waren: den Prozess gegen die Mörder von Monseñor Juan Gerardi, der den Bericht der katholischen Kirche zu den Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg herausgebracht hatte, den Prozess gegen Ex-Diktator Efraín Ríos Montt oder eben den Sepur Zarco Prozess, wo es um die spezifischen Rechte der Frauen ging. Kurz vor der Urteilsverkündung im Falle Gerardi wurde eine Granate auf mein Haus geworfen – das war 2001. Es war ein Akt der Einschüchterung, es ist nichts passiert und ich bin am nächsten Tag zur Arbeit gegangen. Das ist meine Verpflichtung, aber damit hatte niemand gerechnet. Aber ich habe und fühle diese Verantwortung.

Augenblicklich scheint der Druck auf die Justiz enorm. Was passiert in Guatemala, wird die Justiz systematisch geschwächt?
In den letzten Monaten hat es in Guatemala eine kaum zu übersehende Schwächung des Rechtsstaats gegeben. Die Nichtumsetzung von Entscheidungen des Verfassungsgerichts ist dabei der gravierendste Fall.

Steckt dahinter eine Strategie?
Es ist kaum zu übersehen, dass man den Ermittlern der CICIG (Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala der UNO) in den letzten Jahren mehr und mehr Schwierigkeiten gemacht hat zu arbeiten – vor allem in Korruptionsfällen. Die CICIG hat in vielen Fällen die Staatsanwaltschaft animiert in diesem Bereich zu ermitteln und das hat sicherlich unsere Justiz gestärkt. Gleiches gilt für die neuen Instrumente, die die Justiz durch die Initiative der CICIG erhalten hat. Das hat unter dem Strich zur Stärkung der Justiz geführt. Die CICIG war und ist extrem wichtig.

Droht eine Rückkehr in die Straflosigkeit mit dem Ende der CICIG? Das Mandat läuft am 3. September 2019 aus.
Ja, ich denke das ist schon der Fall. Mit der Unterstützung der CICIG wurde die Ermittlungsarbeit im Justizsektor spürbar gestärkt – auch auf wissenschaftlicher und auf akademischer Ebene. Vor allem im Bereich der Korruption. Ich bin dafür, das Mandat der CICIG zu verlängern. Sie ist ein wichtiger Faktor, aber das müssen andere entscheiden.

Fehlt es an internationaler Unterstützung?
Ich denke, dass die internationale Beobachtung, die Begleitung der Arbeit der CICIG wichtig ist. Doch die hat in den letzten Monaten nur in Teilen stattgefunden, sodass die CICIG heute geschwächt ist. Grundsätzlich denke ich, dass die Verträge respektiert werden sollten, denn schließlich ist die CICIG auf Bitten der Regierung von Guatemala entstanden.

Aber es hat den Anschein, dass die Regierung diese Verträge nicht respektiert.
Die Regierung hat eine andere Sicht der Dinge, die der breiter Bevölkerungskreise widerspricht.

Wie denken Sie über den CICIG-Direktor Iván Velásquez? Ist es nachvollziehbar, dass er nicht nach Guatemala einreisen darf und die Arbeit aus dem Ausland leisten muss (siehe LN 536)?
Ich denke, dass der CICIG-Direktor das Recht hat in Guatemala zu arbeiten. Das hat das Verfassungsgericht auch so bestätigt, aber die Regierung blockiert das.

Was war in Ihrer Karriere der schwierigste Prozess?
Jeder Prozess hat seine spezifischen Elemente und von jedem Prozess lässt sich etwas lernen. Doch in dem Gerardi-Prozess bin ich gewachsen, daraus habe ich viel mitgenommen. Aber mit diesem Prozess und dem Anschlag auf mein Haus, habe ich auch an persönlicher Freiheit verloren. Seitdem kann ich mich nicht mehr so wie vorher in Guatemala bewegen. Ich bin auf Schutz angewiesen. Ich muss mich unter Polizeischutz in der Stadt bewegen, in einem gepanzertem Wagen.
Der andere Fall, der mich sehr beschäftigt hat, war jener über den Genozid an den Ixil (Indigene in Guatemala, Anm. der Red.), der Prozess gegen Efraín Ríos Montt. Da bin ich von den Medien angegriffen worden, von einflussreichen Kreisen, die dahinter stehen und bin stark stigmatisiert worden. Guatemala ist nach wie vor ein Land, in dem die Rechte der Frau kaum akzeptiert werden. Das habe ich damals am eigenen Leib erfahren: ich bin etikettiert worden, mir wurde vorgeworfen einseitig zu argumentieren, die Gesellschaft zu schwächen. Das war aber nicht der Fall, denn dieser Prozess hat zur Stärkung der Zivilgesellschaft in Guatemala beigetragen. Teile der Zivilgesellschaft wurden mit dem Prozess erst sichtbar.
Das war ein überaus brisanter politischer Prozess. Ich bin keine politisch aktive Frau, gehöre keiner politischen Gruppe an – das wurde mir aber damals vorgeworfen. Dabei bin ich vor allem Juristin. Ich will der Justiz zu mehr Glaubwürdigkeit verhelfen, die Gesetze durchsetzen. Ich diene dem Rechtsstaat.

Sind Sie als Kommunistin bezeichnet worden?
Ja, das war der Fall und ich fühlte mich während des Prozesses in den kalten Krieg zurückversetzt – im Jahr 2013 herrschte ein Klima wie zu Zeiten der Berliner Mauer. Es prallten zwei Ideologien aufeinander, obwohl die Berliner Mauer bereits 1989 eingerissen wurde. In Guatemala herrschte in dieser Zeit ein Klima der Stigmatisierung, der latenten Bedrohung – zumindest auf medialer Ebene.

Kehrt dieses Klima zurück, fehlt ein Dialog zwischen den Generationen?
Ich glaube, dass wir diesen Dialog zwischen den Generationen brauchen und uns Richtern kommt dabei die Aufgabe zu, über Verbrechen der Vergangenheit heute zu urteilen. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn die betroffenen Menschen hatten lange Jahre keinen Zugang zur Justiz, mussten oft den Weg über die interamerikanische Menschenrechtskommission gehen. Das ist ein Defizit und ich denke, dass die jüngere Generation erfahren muss, was in diesem Land passiert ist – das ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Wir haben eine Aufgabe, wir müssen aus unserer Geschichte lernen und die kulturelle Vielfalt schätzen lernen. Das ist eine Herausforderung und viele dieser Fragen waren im Völkermordprozess präsent. Da wurden wir als Gesellschaft auf diese Probleme erst hingewiesen, auf die Polarisierung, auf die Stigmatisierung auf die Defizite bei der freien Meinungsäußerung. Wir wurden auf die tief sitzenden Probleme in unserer Gesellschaft hingewiesen.

Ist diese Gesellschaft nach wie vor traumatisiert vom Bürgerkrieg?
Ich denke ja, denn es gibt bis heute Ängste, die eigene Meinung kundzutun, Rechte einzufordern – der Krieg hat vielfältige Spuren hinterlassen nicht nur bei der Generation der Opfer, sondern auch bei den nachwachsenden Generationen.

2015 schien es so als wäre die Zivilgesellschaft erwacht (siehe LN 492). Wie sieht es 2018 aus?
Es gibt Initiativen, die Freiräume zu reduzieren, Teilnahme zu erschweren und die Bürgerrechte einzuschränken.

Wie steht es um die Rechte der Frauen in Guatemala, haben sie gleiche Rechte?
Aus juristischer Perspektive haben wir die gleichen Rechte, aber in der Praxis ist es alles andere als einfach, diese Rechte auch durchzusetzen. Da bildet die Justiz sicherlich keine Ausnahme. Guatemala ist eine Gesellschaft, die zutiefst vom Machismo geprägt ist; hier wird über die Kleidung der Frauen öfter debattiert als über ihre Leistung. Frauen müssen mehr leisten, um hier ernst genommen zu werden. Das ist eine Folge der patriarchalen Strukturen in diesem Land.

Haben Sie Vertrauen in die guatemaltekische Gesellschaft?
Ja, und mir gefällt es auch einmal in eine Schule zu gehen und mit Schülern zu diskutieren. Das ist mir wichtig und wenn es meine Zeit zulässt, gehe ich auch an die Schulen, um zu hören wie die neue Generation agiert und denkt. Dabei lerne ich auch etwas über die sozialen Verhältnisse im Land. Das gefällt mir.

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Wir befinden uns in einer Krise, aber Krisen helfen auch dabei, sich selbst neu aufzustellen, zu definieren und nach vorn zu blicken. Wir müssen uns, jeder in seinem Bereich, für die Zukunft dieses Landes engagieren, dafür gerade stehen. Es geht darum, unser Land zu retten.

Thelma Aldana, die ehemalige Generalstaatsanwältin, will bei den Wahlen im Juni für die Präsidentschaft kandidieren – ist es Zeit für eine Präsidentin?
Das könnte eine wichtige Erfahrung für ein Land wie Guatemala sein. Es gibt Frauen, die entscheidungsfreudig sind, die ein Land führen können und ich denke, dass es Frauen gibt, die dazu in der Lage sind, die sensibler auftreten, die eine andere Perspektive verfolgen. Mir erscheint das eine gute Option für die Zukunft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DOCH DIE WAFFEN EXISTIEREN WEITER

Ein enttäuschtes Seufzen geht durch Saal 1 des Stuttgarter Landgerichts. Soeben hat Frank Maurer, vorsitzender Richter der 13. Großen Wirtschaftskammer, sein Urteil verlesen: zwei Bewährungsstrafen und drei Freisprüche für ehemalige Mitarbeiter*innen des Waffenherstellers Heckler & Koch (H&K). Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen vorgeworfen, zwischen 2006 und 2009 Tausende Sturmgewehre vom Typ G36 in mexikanische Unruheprovinzen geliefert zu haben ­– ohne die nötigen Exportgenehmigungen. Maurer sieht es als erwiesen an, dass ein ehemaliger Vertriebsleiter sich der banden­­­­mäßigen Ausfuhr von Waffen mit erschlichenen Genehmigungen schuldig gemacht hat. Der Mann bekommt vom Gericht eine Bewährungsstrafe von 22 Monaten und eine Geldstrafe über 50.000 Euro. Eine Sachbearbeiterin wird wegen Beihilfe zu 17 Monaten auf Bewährung und 250 Stunden Sozialdienst verurteilt. Der Vorsitzende bleibt damit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, Freiheitsstrafen ohne Bewährung zu verhängen. Doch das Seufzen im Gerichtssaal gilt vor allem den Freisprüchen. Besonders pikant ist der für Peter B., früherer Landgerichts-Präsident, der später bei H&K zuständig für Kontakte zu den Behörden war. Verächtliches Gelächter kommt auf, als Maurer die Begründung für den Freispruch verliest: der Ex-Geschäftsführer habe lediglich „Formulierungsvorschläge unterbreitet“, die Indizien würden nicht für eine Verurteilung ausreichen. Darum, was die Mordwerkzeuge in Mexiko angerichtet haben, ging es in dem Prozess nicht. Das stellt Maurer noch einmal klar. Diesen Part haben andere übernommen.

 

Im Namen der Opfer deutscher Waffen Friedensaktivist*innen vor dem Stuttgarter Landgericht (Fotografin: Kerstin Hasenkopf)

Vor dem Gericht machen Friedensaktivist*innen mit einer Mahnwache auf die Opfer der Praktiken von H&K aufmerksam. Wieder. Schon zu Prozessbeginn im Mai 2018 erinnerten sie an den Fall Iguala im September 2014. Damals verschwanden 43 Lehramtsstudent*innen spurlos, nachdem sie von Polizist*innen und Kriminellen angegriffen worden waren, auch mit H&K-Gewehren. Sechs Menschen starben bei dem Angriff. Der Verbleib und das Schicksal der Verschwundenen sind bis heute ungewiss. Iguala liegt in Guerrero, einem der vier mexikanischen Bundesstaaten, in die keine Waffen exportiert werden dürfen. So will es die Bundesregierung – eigentlich.

Die Opfer der Waffen in Mexiko fanden keine Beachtung bei dem Prozess

Die Aktivist*innen in Stuttgart singen kurz vor der Urteilsverkündung von einer Gitarre begleitet Lieder, präsentieren Transparente und entzünden Kerzen. Unter ihnen ist Jürgen Grässlin, der 2010 die Strafanzeige gegen H&K stellte. Carola Hausotter, Koordinatorin der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko, verliest einen Brief von Leonel Gutiérrez Solano. Seinem Bruder, einem Studenten der Universität Ayotzinapa, wurde von Polizisten in der Nacht des 26. September 2014 in den Kopf geschossen. Seitdem liegt er im Koma. In dem Brief steht: „Wir wissen, dass die Polizisten des Staates Guerrero, die auf die Studenten schossen und meinen Bruder mit einem Schuss in den Kopf lebensgefährlich verletzten, Waffen aus Deutschland besaßen. Es waren Waffen der Firma Heckler & Koch, die sie nie hätten erhalten dürfen.“
Hausotter sagt, dass die Familie gerne am Prozess beteiligt gewesen wäre, das Gericht dies jedoch nicht zugelassen habe. In seinem Brief formuliert Gutiérrez Solano deutlich seine Erwartung, „die Schuldigen“ zu bestrafen und den Opfern und ihren Angehörigen wenigstens etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – auf die sie nach wie vor warten (siehe LN 533). Das Urteil wenig später erscheint vielen Beobachter*innen sehr milde. Von einer „Zwei-Klassen-Justiz“ spricht Grässlin. „Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen“, konstatiert er. Grässlins Anwalt Holger Rothbauer kritisiert die Rolle des Staates: „Mit diesem Urteil ist die gesamte Rüstungsexportkontrolle in diesem Land ad absurdum geführt, weil klar wird, dass Endverbleibserklärungen überhaupt keine sinnvolle Funktion haben und beliebig ausgetauscht und gefälscht werden können, ohne dass die Genehmigungsbehörden irgendetwas prüfen“, sagt er. In den Endverbleibserklärungen steht normalerweise, für welche Region die Waffen bestimmt sind. Das Gericht hat die Endverbleibserklärungen für Waffenexporte nicht als Bestandteil von Waffenexportgenehmigungen von Seiten des deutschen Staates gewertet. Deshalb sind die Waffenlieferungen in die verbotenen Bundesstaaten Mexikos nicht nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, sondern ausschließlich nach dem Außenwirtschaftsgesetz strafbar, das weniger harte Strafen vorsieht.

Auch Cristina Valdivia vom Ökumenischen Büro für Frieden und Gerechtigkeit bedauert, dass die Opfer in Mexiko keine Beachtung im Prozess fanden. Außerdem seien keine Menschenrechtsverletzungen verhandelt worden, sondern lediglich Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz. Trotzdem erkenne sie einen „ersten kleinen Schritt zur Gerechtigkeit“, sagt Hausotter. Sie sei zuversichtlich, dass sich in Mexiko etwas tue. Der neue Präsident Andrés Manuel López Obrador hat nach dem Machtwechsel im Dezember 2018 eine neue Wahrheitskommission für Iguala eingesetzt. Das Unternehmen aus dem baden-württembergischen Oberndorf wird vom Richterspruch aus Stuttgart empfindlich getroffen. Im Jahr 2017 machte es 13,4 Millionen Euro Verlust, in den ersten neun Monaten 2018 vier Millionen Euro. Das Urteil sieht eine Strafe von 3,7 Millionen Euro vor, der Gegenwert der Waffen, die der Prozess behandelte. Das Geld würde an den deutschen Staat gehen, die Familien von Opfern in Mexiko werden nicht berücksichtigt. H&K findet „die Einziehung des gesamten Kaufpreises nicht nachvollziehbar“. Man habe die Aufklärung „aktiv unterstützt und nachhaltig Konsequenzen gezogen“, teilte die Firma mit. Der Waffenhersteller hat, ebenso wie die Staatsanwaltschaft und die verurteilten Mitarbeiter*innen Revision eingelegt. Damit geht das Verfahren vor den Bundesgerichtshof.

Der Stuttgarter Prozess ist nicht das einzige Verfahren bei dem gegen einen deutschen Hersteller wegen illegalen Waffenexports nach Lateinamerika geurteilt wird. Auch im Prozess gegen drei Ex-Manager vom in Eckernförde ansässigen Waffenhersteller SIG Sauer vor dem Landgericht Kiel (siehe Kurznachrichten) zeichnen sich Strafen ab. Doch die Waffen existieren auch nach den Urteilen weiter.

 

EIGENE ERMITTLUNGEN UNNÖTIG

Verbrechen in der Colonia Dignidad Der deutsche Staat war mitverantwortlich (Foto: AFDD Talca/FDCL)

Das in Berlin ansässige European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hatte im April 2018 Strafanzeige gegen Reinhard Döring erstattet und der Staatsanwaltschaft Münster Hinweise auf dessen mögliche Beteiligung an Mordtaten vorgelegt. Aussagen ehemaliger Bewohner*innen der Sektensiedlung Colonia Dignidad aus vorherigen Gerichtsverfahren in Chile belegen, dass nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 in der Colonia dutzende Gegner*innen der Pinochet-Diktatur erschossen und ihre Leichen verscharrt wurden. Wenige Jahre später wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. Die betreffenden Aussagen stammen zu großen Teilen aus der Zeit nach März 2005, als der Sektenführer Paul Schäfer festgenommen wurde und die chilenischen Strafverfolgungsbehörden unter hohem Ermittlungsdruck standen. Der Beschuldigte Döring hatte sich jedoch bereits im Jahr 2004 nach Deutschland abgesetzt, sodass er in Chile nicht vernommen werden konnte. Deshalb seien die Informationen über ihn aus den chilenischen Ermittlungen spärlich, erklärt Jan Stehle vom Berliner Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), der seit Jahren zu dem Fall Colonia Dignidad forscht. Verschiedene Beschuldigte deckten sich in diesem Verfahren bis heute gegenseitig, so die Einschätzung Stehles. 2005 wurde Döring von der chilenischen Justiz international zur Fahndung ausgeschrieben. Die deutschen Justizbehörden ignorierten das chilenische Festnahmeersuchen allerdings und leiteten bis 2016 auch keine eigenen Ermittlungen gegen Döring ein.

In einem anderen Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Bonn hatte Reinhard Döring im Jahr 2009 als Zeuge ausgesagt und Straftaten wie die Bewachung von Gefangenen zugegeben, jedoch eine Beteiligung an Mordhandlungen verneint. Obwohl es Hinweise darauf gebe, so der Wissenschaftler Stehle, dass Döring Gefangene zu Erschießungen führte, wurden diese von der Staatsanwaltschaft Münster nicht als ausreichend relevant erachtet, um einen Anfangsverdacht wegen Beihilfe zum Mord zu begründen. „Der Beschuldigte war nach den vorliegenden Erkenntnissen lediglich als Bagger- und Kraftfahrzeugführer beschäftigt […]“, so lautet nun die Mitteilung der Staatsanwaltschaft Münster. Paul Schäfer habe niemals eine Person „von Anfang bis Ende“ in die Verbrechensbegehung eingeweiht, so will es die Münsteraner Staatsanwaltschaft aus einer Aussage eines weiteren, nicht näher benannten Colonia-Mitglieds, das Gefangene bewacht hat, erfahren haben. Die Staatsanwaltschaft Münster habe diese Aussagen eines Beschuldigten nicht durch eigene Ermittlungen überprüft und mit anderslautenden Aussagen kontrastiert, kritisiert Jan Stehle vom FDCL. Stattdessen zitiere sie in der Einstellungsmitteilung einen Brief des Beschuldigten Döring und erwähne, dass dieser „unwiderlegbar angegeben“ habe, in der Colonia Dignidad selbst Opfer einer nicht näher bezeichneten Straftat geworden zu sein. „Dies ist ein düsterer Tag für die Angehörigen der in der Colonia Dignidad Ermordeten und für alle, die sich seit Jahrzehnten für eine Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad einsetzen“, resümiert Stehle. Die Staatsanwaltschaft Münster habe es nicht für notwendig erachtet, den Beschuldigten zu vernehmen, so sein Fazit. Allem Anschein nach seien keine eigenen Ermittlungsschritte unternommen worden, obwohl viele Ansätze dazu vorlägen, sagt der Mitarbeiter des FDCL. Stattdessen würde der Version des Täters unhinterfragt übernommen. „Kann es tatsächlich sein, dass in zweieinhalb Jahren sogenannter Ermittlungen nur einige Altakten gelesen und Briefe nach Chile geschrieben wurden? Wer so handelt, kapituliert vor einer Verbrechensgeschichte, die Hunderten von Menschen immenses Leid zugefügt hat“, urteilt Stehle. Die Begründung für die Einstellung lasse vermuten, dass sich die Staatsanwaltschaft entweder mit der Komplexität des Sachverhalts überfordert sehe – oder kein wirkliches Aufklärungsinteresse habe.

„Dass es nicht einfach ist, vier Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen in einem anderen Land aufzuklären, steht außer Frage. Wer jedoch nach jahrzehntelanger Untätigkeit – wie die nordrhein-westfälische Justiz im Fall Colonia Dignidad – heute Ermittlungsansätze ignoriert und stattdessen die Täterdiskurse salonfähig macht, arbeitet eher einer Aufklärung zuwider als sie zu befördern. Dies ist traurig und in einem Rechtsstaat ein Skandal“, stellt Stehle fest. Auch die Rechtsanwältin Petra Isabel Schlagenhauf, Anwältin von Opfern der Colonia Dignidad, kritisiert das Münsteraner Gericht scharf. „Diese Entscheidung reiht sich ein in die lange Reihe von Versagen der deutschen Justiz im Umgang mit den Verbrechen, die in der Colonia Dignidad geschehen sind“, so die Berliner Anwältin. Die Exekution dutzender Personen sei durch mehrere Aussagen von Zeug*innen belegt. Dies gelte ebenso für die Tatsache, dass die Leichen der Menschen in Massengräbern vergraben und nach Jahren wieder ausgegraben wurden. „Wie man dies als nicht gesichert darstellen kann, ohne überhaupt die Zeugen, die hierzu aussagen können – und auch teilweise in anderen Verfahren dazu ausgesagt haben – zu vernehmen, bleibt das Geheimnis der Staatsanwaltschaft Münster“, so Schlagenhauf. Dass die Colonia Dignidad in der Diktaturzeit ein Folterzentrum des Geheimdienstes beherbergte, und dass dort politische Gefangene umgebracht wurden, wird nicht ernsthaft bestritten. Aber auch zum Verdacht gegen den in diesem Verfahren Beschuldigten hätte man nach Ansicht von Schlagenhauf und Stehle weitere sinnvolle Ermittlungen anstellen können. „Dies ist scheinbar aber nicht gewollt“, so deren bitteres Resümee.

 

 

KEINE RUHE IN DER ARAUCANÍA

“Raus mit dem Dschungelkommando” Protestmarsch am 21. November 2018 (Foto: German Andrés Rojo Arce)

Fünf entlassene Generäle, zahllose gefeuerte Polizisten, Gerichtsverfahren gegen diejenigen, die die Schüsse abgegeben haben: Die chilenische Regierung und Polizei haben so gut wie alle Register gezogen, um Druck aus der Affäre um den von Polizisten ermordeten Camilo Catrillanca zu nehmen. Weil aber immer neue Aspekte des Polizeimordes ans Licht kommen, herrscht sowohl in der Zivilgesellschaft, als auch bei der Regierung Unruhe. Der 24-jährige Mapuche und Aktivist Camilo Catrillanca war am 14. November 2018 auf dem Weg von der Feldarbeit auf seinem Traktor in den Hinterkopf geschossen worden. Die tödlichen Schüsse hatte der Polizist Carlos Alarcón abgegeben, der mittlerweile aus dem Dienst entlassen wurde und in Freiheit auf sein Gerichtsverfahren wartet. Auslöser des Polizeieinsatzes war ein vorangegangener Autodiebstahl gewesen. Als Antwort auf diesen kam eine in Kolumbien ausgebildete Spezialeinheit der chilenischen Polizei, das inzwischen aufgelöste „Dschungelkommando“, zum Einsatz. Inklusive Hubschrauber wurde die paramilitärische Einheit in die Mapuchegemeinde Temucuicui geschickt.

Aussagen entlassener Polizisten belasten auch Innenminister Chadwick

Anfängliche Behauptungen der Polizei, es habe ein Feuergefecht gegeben, bei dem Catrillanca ums Leben gekommen sei, hatten sich schnell als von Polizeioberen, Anwälten und den beteiligten Polizisten ersonnene Fantasiegebilde entpuppt. Dass die offizielle Version als Lüge entlarvt werden konnte, lag unter anderem an zahllosen Videoaufnahmen, die von investigativen Journalist*innen aufgespürt und veröffentlicht wurden. Das Nachrichtenportal ciper schreibt von mehr als 100 Videos. Zuletzt wurde ein Video vom Hubschraubereinsatz veröffentlicht. Dieses zeigt, dass die anfängliche Behauptung der Angehörigen des Kommandos, es sei zu sehen gewesen, dass einer der Autodiebe sich auf dem Traktor befinde, frei erfunden ist. Seit Beginn der Ermittlungen im Fall Catrillanca hatten soziale Bewegungen den Rücktritt von Innenminister Andrés Chadwick gefordert, da dieser die politische Verantwortung für den Mord trage. Chadwick selbst hatte immer behauptet, dass er wie alle anderen auch von den beteiligten Polizisten belogen worden sei. Nun aber sagte einer der gefeuerten Generäle der Carabineros aus, er habe Chadwick noch am Tag des Todes von Camilo Catrillanca darüber informiert, dass es keinen Schusswechsel gegeben habe und dass der Tote unbewaffnet gewesen sei. Chadwick hatte das Gegenteil behauptet. Auf Basis dieser neuen Erkenntnisse fordert nun auch die parlamentarische Opposition den Rücktritt von Innenminister Chadwick. Dieser aber klebt an seinem Stuhl: „Ich denke nicht daran zurückzutreten.“

Derweil hat ein weiterer Fall Chile erschüttert und den von Camilo Catrillanca als letzten in der langen Liste der Mapuche, die unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen sind, abgelöst. Der Lonko Juan Mendoza, eine traditionelle Autoritätsperson der Gemeinde Raquem Pillán, war am 29. Dezember verschwunden und zwei Tage später tot aufgefunden worden. Erste Ermittlungen der Polizei ergaben, dass er vor seinem Tod verprügelt worden war. Es ist nicht das erste Mal, dass Mitglieder aus Mendozas Familie Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Mendozas Sohn Víctor war 2014 von Unbekannten, sein Neffe Jaime Mendoza Collio 2009 von einem Polizisten erschossen worden. Lonko Mendoza hatte nach einem langen Rechtsstreit Anfang der 2000er-Jahre dem Forstunternehmen Arauco 500 Hektar Land abgetrotzt. Die Gemeinde Raquem Pillán liegt, genau wie die Gemeinde Temucuicu, in der Nähe von Ercilla.

„Die Opfer der Gewalt gegen Mapuche sind willkürlich“

Wie die Fälle Catrillanca und Mendoza zeigen, ist Gewalt in den von Mapuche bewohnten Gebieten in Chile allgegenwärtig. Seit dem Ende der Militärdiktatur gab es 15 Fälle von ermordeten oder unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommenen Mapuche. Einer dieser Fälle ist der von José Huenante, der 2005 in Puerto Montt von der Polizei gewaltsam verschwinden gelassen wurde und bis heute nicht wieder aufgetaucht ist. Der damals jugendliche Huenante ist eines der vielen minderjährigen Opfer von Polizeigewalt. Nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte INDH gab es allein zwischen 2011 und 2017 133 Fälle, in denen minderjährige Mapuche von der Polizei misshandelt worden sind. Die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein. Die Schicksale, die sich hinter diesen Zahlen verbergen, sind allerdings viel dramatischer als es jede Statistik ausdrücken kann. Brandon Hernández Huentecol ist ein weiteres der vielen Opfer von Polizeigewalt. Er wurde am 18. Dezember 2016 festgenommen und gefesselt. Als er auf dem Boden lag, feuerte der Polizist Christian Rivera Silva eine volle Ladung Bleischrot in seinen Rücken (s. LN 524). Brandon überlebte knapp, noch heute hat er 87 Bleikugeln im Körper, die auch nicht entfernt werden können. Im Januar 2019 fand schließlich der Prozess gegen den verantwortlichen Polizisten statt. Am Ende wurde er zu einer skandalös niedrigen Strafe verurteilt. Das Strafgericht in Angol verkündete, dass Rivera wegen schwerer Körperverletzung und Erniedrigung 3 Jahre und 541 Tage Gefängnis verurteilt wird. Geht es nach dem Gericht, wird diese Strafe in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Rivera reiht sich damit in eine lange Liste von Polizisten ein, die gemordet und gefoltert haben und nie ein Gefängnis von innen gesehen haben.

“Justicia” Nach dem Mord an Camilo Catrillanca wird Gerechtigkeit gefordert (Foto: German Andrés Rojo Arce)

Nun könnte man sagen, dass die Polizei in Chile generell gewalttätig ist und, dass Straflosigkeit der Verbrechen Polizeiangehöriger ein generelles Problem in allen Staaten ist. Das polizeiliche Handeln und die immer wieder öffentlich werdenden Verfehlungen der Polizei (s.a. LN 526) haben in Chile nun aber zumindest dazu geführt, dass die Carabineros – wichtigste Polizeieinheit des Landes mit militärischer Tradition – in der Bevölkerung rapide an Zustimmung verlieren: Konnten sie vor dem Mord an Camilo Catrillanca noch auf Unterstützungswerte von über 70 Prozent bauen, ist dieser Anteil mittlerweile auf 40 Prozent gesunken. Die Gewalt gegen Mapuche geht dennoch unvermindert weiter. Selbst wenn man die amtlichen Kriminalstatistiken heranzieht, ist die Militarisierung der Mapuchegemeinden durch Polizeieinheiten völlig maßlos. Die am stärksten von Polizeikontrollen betroffene Provinz, die Araucanía, hat dem Nationalen Institut für Statistiken zufolge eine deutlich geringere Kriminalitätsrate als Städten wie beispielsweise Valparaíso oder die chilenische Hauptstadt Santiago. Auch die viel beschworene „ländliche Gewalt“, die in Regierungserklärungen haltloser Weise als Terrorismus bezeichnet wird, ist rein zahlenmäßig mit 270 polizeilich gemeldeten Fällen im Jahr 2018 ein eher marginales Problem. Trotzdem ist die Polizei im Wallmapu allgegenwärtig präsent. Für Fernando Pairican, der auf einer Infoveranstaltung zum Thema in Berlin referierte, stellt sich die Situation folgendermaßen dar: „Die Opfer der Gewalt gegen Mapuche sind willkürlich, unter ihnen sind auch Personen, die gänzlich unpolitisch sind. Hinter der Gewalt, die sie erfahren, steckt aber eine Systematik, die von den politischen Strukturen gewollt ist, die von Großgrundbesitzern und Unternehmen unterstützt und von der Polizei mit Gewalt umgesetzt wird.“

 

 

IM SUMPF VON KORRUPTION UND MAFIA

Clan im Blick Flavio Bolsonaro (links im Bild) und sein Vater Jair Bolsonaro (ganz weit rechts), (Foto: Jeso Carneiro/Flickr (CC BY-NC 2.0)

Jair Bolsonaro kam vor allem mit dem – für viele heuchlerischen – Versprechen an die Macht, dass er die Korruption bekämpfen werde. Weniger als einen Monat an der Regierung wird gegen seinen Sohn wegen verdächtiger Bankgeschäfte ermittelt. Außerdem wird eine Verbindung zu dem Tod der linken Stadträtin Marielle Franco vermutet, die im März 2018 erschossen wurde. Der Skandal begann mit Veröffentlichungen in den brasilianischen Medien, dass auf dem Konto von Flávio Bolsonaro, Abgeordneter des Bundesstaates Rio de Janeiro und designierter Senator, ungewöhnliche Geldeinzahlungen verzeichnet wurden. Dieser erhielt in nur einem Monat – zwischen Juni und Juli 2017 – innerhalb von fünf Tagen 48 Bareinzahlungen, immer über denselben Betrag von 2.000 Reais (umgerechnet 460 Euro). Laut eines Berichts der Staatlichen Behörde für die Kontrolle von Finanzaktivitäten (COAF), die dem brasilianischen Wirtschaftsministerium untersteht, konnten die Urheber der Einzahlungen nicht identifiziert werden. Allerdings vermutet die COAF aufgrund der Merkmale der Einzahlungen, dass Bolsonaros Sohn versucht haben könnte, den Ursprung von 96.000 Reais (umgerechnet 22.240 Euro) zu verschleiern.

Die Informationen wurden am 18. Januar in der landesweiten Hauptnachrichtensendung Jornal Nacional veröffentlicht und führten zu einer Krise, die die kürzlich gewählte Regierung erschütterte. Es besteht der Verdacht, dass Beamte aus den Abgeordnetenbüros der Gesetzgebenden Versammlung von Rio de Janeiro einen Teil ihrer Gehälter zurückgezahlt haben, eine Praxis, die als illegal angesehen wird. Eine weitere Vermutung ist, dass Fabrício Queiroz, Militärpolizist und ehemaliger Berater von Flávio Bolsonaro, für das Eintreiben eines Teils der Gehälter anderer Berater aus dem Abgeordnetenbüro von Flávio Bolsonaro verantwortlich war.  Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit etwa sechs Monaten gegen Queiroz wegen Geldwäsche. Im Oktober 2018 wurde er aus dem Büro von Flávio Bolsonaro entlassen. Im Rahmen der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiro wurde Queiroz für eine ungewöhnliche Finanztransaktion von 1,2 Millionen Reais zwischen 2016 und 2017 verantwortlich gemacht. Eine der Transaktionen betrifft Schecks in Höhe von 24.000 Reais (5.560 Euro), die an die neue First Lady, Michelle Bolsonaro, gingen. Flávio Bolsonaro muss sich als neu gewählter Senator jedoch keinem Gerichtsverfahren unterziehen. Seine Rolle wird in einer internen Untersuchung der Staatsanwaltschaft Rios – dem so genannten Kriminalermittlungsverfahren (PIC) zur Untersuchung möglicher Rechtsverstöße – geklärt.

Laut Untersuchungen der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro war der ehemalige Polizeibeamte Adriano Magalhães da Nóbrega das mögliche Bindeglied zwischen der Ermordung der Stadträtin Marielle Franco und Flávio Bolsonaro. Das Büro des Abgeordneten Bolsonaro beschäftigte bis November 2018 die Mutter und die Frau von Nóbrega, den die Staatsanwaltschaft Rio als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“ betrachtet, die des Mordes an Marielle Franco verdächtigt wird. Laut der Tageszeitung Jornal o Globo ist Nóbrega ein Freund des ehemaligen Beraters von Flávio Bolsonaro, Fabrício Queiroz. Die Mutter von Nóbrega, Raimunda Veras Magalhães, sei eine der Mitarbeiterinnen, die das Geld an Queiroz weitergegeben habe. An dem Skandal, der die brasilianischen Presse im ersten Monat der Regierung von Bolsonaro dominiert, ist auch das Oberste Bundesgericht Brasiliens (STF) beteiligt. Am 16. Januar setzte der Minister des STF, Luiz Fux, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Queiroz aus, nachdem Flávio Bolsonaro eine gerichtlichen Anfrage dazu gestellt hatte. Der Sohn des Präsidenten argumentierte, dass die Untersuchungen vom STF und nicht von der Staatsanwaltschaft Rio de Janeiros durchgeführt werden sollten. Ein Anliegen, das für viele den Versuch darstellt, allgemeines Recht zu umgehen, denn am 1. Februar tritt Flávio Bolsonaro sein Mandat im Senat an, so dass er politische Immunität erhält und zudem berechtigt ist, ausschließlich Verfahren vor höheren Gerichten zu erhalten. In den sozialen Netzwerken mangelt es angesichts der Ermittlungen nicht an Kritik am gewählten Präsidenten Jair Bolsonaro. Während seines Wahlkampfes erschien er in einem Video neben seinem Sohn und erklärte, er wolle „diesen Mist der politischen Immunität“ nicht. Sein Sohn Flavio beantragt nun die Aussetzung der Ermittlungen gegen Queiroz am STF, um seine politische Immunität zu nutzen.

 

SOUVERÄNE KORRUPTION

Unterstützung für die CICIG: 2018 auf einer Kundgebung in Guatemala-Stadt (Foto: Nis Melbye)

Die Unbeliebtheit der Kommission zur Bekämpfung der Straflosigkeit (CICIG) bei Guatemalas Regierung und Eliten kommt nicht von ungefähr. Nach eigenen Angaben hat die CICIG bereits 60 kriminelle Netzwerke aufgelöst und war an Verfahren gegen rund 680 Personen beteiligt, von denen bisher 310 verurteilt wurden. Die Gründung der CICIG war eine Reaktion auf die Politik der sozialen Säuberungen, die darin bestand, dass die Kriminalpolizei nicht mehr selbst ermittelte, sondern auf der Grundlage von Untersuchungen des militärischen Geheimdienstes unmittelbar vollstreckte. Viele vermeintliche Kriminelle wurden nicht vor Gericht gestellt, sondern gefoltert und anschließend getötet. Den extralegalen Hinrichtungen fielen im Februar 2007 sogar Abgeordnete des Parlaments aus El Salvador zum Opfer, während sie sich für einen Arbeitsaufenthalt in Guatemala befanden. Bei den Abgeordneten der rechten Partei ARENA hatten die Beamten Drogen oder Drogengeld vermutet.

Die internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala (CICIG) nahm 2007 als Institution der Vereinten Nationen (VN) ihre Arbeit auf und arbeitet in erster Linie zur Aufdeckung illegaler Sicherheitsapparate innerhalb staatlicher Strukturen, die Ermittlungen decken vielfach Verstrickungen zwischen den politischen Eliten und der organisierten Kriminalität auf. Die CICIG unterstützt seitdem die Arbeit der FECI, einer Abteilung der guatemaltekischen Staatsanwaltschaft zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Die FECI führt gemeinsam mit der CICIG die Ermittlungen und Vertritt vor Gericht die Anklage.

Demonstration in Berlin im Januar 2019: Deutschland gehört zu den Geberländern für die die CICIG (Foto: Andrea Ruíz)

Als derzeitiger Leiter der CICIG wurde Iván Vélasquez in Guatemala zu einem Symbol für die Bekämpfung der Korruption (Interview in der LN 529/530). Unter keinem ihrer bisherigen Chefs war die CICIG so erfolgreich wie unter dem Kolumbianer. Vélasquez hatte bereits zuvor in seinem Heimatland als Staatsanwalt ein Netzwerk von Kongressabgeordneten und Paramilitärs, auch bekannt als „Parapolítica“, aufgedeckt. Er war also bestens vorbereitet auf die in Guatemala anzutreffenden kriminellen Strukturen.

Eines der vielen Verfahren richtet sich gegen den Amtsvorgänger des gegenwärtigen Präsidenten Guatemalas, der ein Netzwerk zur systematischen Veruntreuung von Zolleinnahmen betrieben haben soll. Angeklagte sind Otto Pérez Molina und dessen ehemalige Vizepräsidentin Roxana Baldetti in dem „La Línea“ genannten Fall. Seit Molina 2015 nach anhaltenden Protesten als Präsident zurücktrat, befindet er sich in Untersuchungshaft.
Das Mandat der CICIG wurde bisher alle zwei Jahre erneuert. Noch zu Beginn seiner Amtszeit hatte der frisch gewählte Präsident Morales geäußert, dass die CICIG einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Korruption leiste und die Regierung das Mandat um zwei weitere Jahre bis September 2019 verlängert.

Morales änderte seine Einstellung gegenüber der CICIG als im August 2017 bekannt wurde, dass die CICIG und die FECI ein Verfahren gegen ihn wegen illegaler Wahlkampffinanzierung eingeleitet hatten und nun die Aufhebung der Immunität des Präsidenten beantragten.

Zudem wurden Verfahren gegen dessen Sohn und Bruder eingeleitet, weil sie und 20 weitere Beschuldigte mittels Scheinbeschäftigungen und falscher Rechnungen, sich an den Kassen des Grundbuchamtes bereichert haben sollen.

Viele Abgeordnete wechseln nach Wahlen die Partei

Morales reagierte prompt und erklärte Vélasquez zur „persona non grata“. Eine Ausweisung des Leiters der CICIG wurde jedoch durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts verhindert.

Nachdem der guatemaltekische Kongress gegen die Aufhebung der Immunität des Präsidenten stimmte, versuchte dieser mit der Hilfe seiner Amtskontakte, von der Presse „Pakt der Korrupten“ genannt, Änderungen an Gesetzen vorzunehmen und seinem Strafverfahren wegen illegaler Wahlkampffinanzierung und weiterer Korruptionsdelikte den Boden zu entziehen. Auf internationalen Druck und nach vielen Protesten konnten die Gesetzesänderungen jedoch abgewendet werden (siehe LN 525). Mittlerweile bestätigten guatemaltekische Unternehmer*innen öffentlich, dass sie den Wahlkampf von Morales heimlich finanziert hatten.

Morales fürchtete damals um sein Image als politisch unverbrauchter Außenseiter, falls bekannt würde, dass sein Wahlkampf von den alten Eliten bezahlt wird. Schließlich war Morales demonstrativ mit dem Slogan „Weder korrupt, noch ein Dieb“ zu den Präsidentschaftswahlen angetreten. Da Morales für die Partei FNC kandidierte, eine dem guatemaltekischen Militär nahestehende und von Ex-Militärs gegründete Partei, lag jedoch schon damals die Vermutung nahe, dass der ehemalige Fernsehkomiker alles andere als ein Garant für Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung ist.

Im August 2017 begann die Regierung unter Morales Druck auf die VN und die Staaten, welche die Arbeit der CICIG finanzieren, auszuüben, um das Mandat zu beenden.

Diese Bemühungen wurden seit Anfang 2018, zunächst anlässlich eines Besuchs von Morales bei Trump im Februar und einer anschließenden Rede vor den VN, intensiviert.

Gegen Morales wird wegen illegaler Wahlkampffinanzierung ermittelt

Kurz darauf versuchte er auch den schwedischen Botschafter des Landes zu verweisen, dessen Regierung zuvor eine weitere Unterstützung der CICIG in Höhe von 9 Millionen US-Dollar zugesagt hatte.

Anschließend wurden erst Polizist*innen, welche die CICIG bei ihren Ermittlungen unterstützten, wenig später auch 20 der insgesamt 45 zur Bewachung der CICIG eingesetzten Beamten abgezogen. Zur Begründung hieß es, die Beamt*innen würden an anderer Stelle dringender benötigt.
Ende August 2018 kündigte Morales an, er werde das Mandat der CICIG nicht verlängern und diese nur noch bis September 2019 dulden. Zeitgleich fuhren Militär-Pickups vor die CICIG, die Büros verschiedener Menschenrechtsorganisationen und die Häuser bekannter Menschenrechtler*innen. Wie so häufig, wenn es für ihn eng wurde, sucht Morales demonstrativ die Nähe zum guatemaltekischen Militär.

Jimmy Morales: Präsident Guatemalas (Foto: Flickr (CC0 1.0))

Der Einsatz des Militärs an diesem Tag spricht eine eindeutige Sprache. Demonstrant*innen stehen nun erstmals seit langem wieder schwer bewaffneten Soldaten gegenüber, zudem verbreiten sich Gerüchte über einen möglichen Putsch. Dass ein Putsch, jedenfalls außenpolitisch, kaum Konsequenzen nach sich ziehen würde, kann Morales bereits seit 2009 im Nachbarland Honduras mitverfolgen.

Kurz bevor im September 2018 das Visum des CICIG-Leiters Velásquez ausläuft, bricht dieser zu einer Dienstreise in die USA auf. Unmittelbar nach dessen Ausreise erklärt die guatemaltekische Regierung, sie werde Velásquez kein neues Visum ausstellen und fordert die VN auf, einen neuen Leiter zu ernennen. Zwar verfügt das Verfassungsgericht in einer Entscheidung, dass die Regierung verpflichtet ist, Velásquez einreisen zu lassen. Doch Morales hatte bereits zuvor angekündigt, Entscheidungen des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG nicht mehr zu respektieren und kündigt damit einen offenen Verfassungsbruch an. Die CICIG wird seitdem von Velásquez aus dem Ausland geleitet.

Ende September tritt Morales erneut vor die VN und fordert die Beendigung des Mandats der CICIG. Diese sei eine Bedrohung für die nationale Sicherheit, weil sie guatemaltekisches Recht verletze und unschuldige Bürger verfolge.

An Intensität gewinnt der Konflikt nochmals, als der ehemalige Innenminister Carlos Vielman (2004–2008) verhaftet wird. Er gehört zur guatemaltekischen Elite und wird für die während seiner Amtszeit praktizierte Politik der „sozialen Säuberungen“ verantwortlich gemacht. Er soll mehrere extralegale Hinrichtungen, etwa an geflohenen Häftlingen im Jahr 2005, zu verantworten haben. Er floh zunächst nach Spanien, wo er in drei Mordfällen angeklagt und anschließend freigesprochen wurde. Nach seiner Rückkehr wurde er in Guatemala wegen der Tötung weiterer Menschen verhaftet. Morales und seine Verbündeten sehen in diesem Verfahren einen Fall politisch motivierter Verfolgung Unschuldiger durch die CICIG und die FECI.

Die CICIG wird von Velásquez aus dem Ausland geleitet

Als auch die Visa weiterer Mitarbeiter der CICIG nicht verlängert werden, landet der kolumbianische CICIG-Ermittler Yilen Osorio Anfang Januar 2019 in Guatemala-Stadt. Dort angekommen, wird ihm die Einreise verweigert und er wird vorübergehend festgenommen. Es folgen chaotische Stunden am Flughafen. Auch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts mit der die Freilassung des Ermittlers angeordnet wird, wird zunächst nicht umgesetzt. Unterdessen sammeln sich Protestierende am Flughafen und fordern die Freilassung des Ermittlers. Erst als die Generalstaatsanwältin Consuelo Porras androht, gegen das Personal der Einwanderungsbehörde wegen Freiheitsentziehung vorzugehen, wird diesem die Einreise letztlich gestattet.
Am Tag darauf trifft sich die Außenministerin Sandra Jovel mit dem Generalsekretär der VN, António Guterres, und gibt anschließend im Rahmen einer Pressekonferenz bekannt, dass die guatemaltekische Regierung das Mandat der CICIG bereits jetzt beendet. Innerhalb von 24 Stunden müsse das Abkommen beendet werden und die Mitarbeiter der CICIG das Land verlassen.

Am Abend folgt eine Ansprache des Präsidenten Morales an die Nation. In Begleitung seines Kabinetts und vermeintlicher Opfer der CICIG wie dem ehemaligen Minister Vielman, verteidigt Morales das Handeln seiner Regierung. Die CICIG sei eine Gefahr für die nationale und internationale Sicherheit, zudem habe die CICIG die Menschenrechte vieler Guatemaltek*innen und sogar die von Ausländer*innen verletzt, indem sie Unschuldige verfolge und in Untersuchungshaft gebracht habe. Er unterstellt der CICIG, sie verfolge lediglich ihre politischen Gegner*innen, die jedoch keine Straftaten begangen hätten.

Als das Verfassungsgericht das Vorgehen der Regierung für verfassungswidrig erklärt, haben die Ermittler der CICIG bereits das Land verlassen. Es ist die insgesamt sechste Entscheidung des Verfassungsgerichts zugunsten der CICIG, seit Morales deren Leiter zur „persona non grata“ erklärte.
Mit diesen Entscheidungen ist auch das Verfassungsgericht in den Fokus der Kritik geraten.

Morales, der Unternehmerverband CACIF und rechte Gruppen fordern nun die Abschaffung des Verfassungsgerichts, da dieses angeblich selbst gegen die Verfassung verstoße, weil es sich in Angelegenheiten der Außenpolitik einmische, welche von Verfassungs wegen nur der Regierung oblägen.

Es folgten Strafanzeigen gegen die für die Entscheidung verantwortlichen Richter*innen des Verfassungsgerichts, welchen der Oberste Gerichtshof den Weg frei machte, indem es die Aufhebung der Immunität der Richter*innen veranlasste.

Die Geberländer für die CICIG, unter ihnen Deutschland und die USA, drückten in einer gemeinsamen Presseerklärung ihre Besorgnis hinsichtlich der jüngsten Geschehnisse aus, bekräftigten die Wichtigkeit der Verfassungsordnung und forderten den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu respektieren.

Die Reaktion der guatemaltekischen Außenministerin Sandra Jovel hierzu fiel recht kurz aus. Es handle sich um eine souveräne Entscheidung des guatemaltekischen Staates, welche die Geberländer respektieren sollten.

Morales ging bei dessen Rede im guatemaltekischen Kongress weiter und geißelte die Einmischung der Geberländer und die Forderung nach einer Bekämpfung der Korruption als eine neue Form des Kolonialismus. Die Welt solle die natürliche Form der guatemaltekischen Politik respektieren. Dass es ausgerechnet die Nachfahren der spanischen Kolonialherren sind, die in Guatemala die Wirtschaft und Politik dominieren, scheint ihn dabei nicht zu irritieren.

Auch in Honduras stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand

Die im vergangenen Mai von Morales ernannte Generalstaatsanwältin Consuela Porras zeichnete sich bisher durch ihre Abwesenheit im Konflikt zwischen der Regierung und der CICIG aus. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Thelma Aldana, welche den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf die Korruptionsbekämpfung legte und dafür – wie Velásquez – 2018 den Alternativen Nobelpreises erhielt.

Doch nicht nur in Guatemala stößt die Korruptionsbekämpfung auf Widerstand. Auch in Honduras trifft die Unterstützungskommission gegen Korruption und Straflosigkeit (MACCIH) der VN auf einen Kongress, der sich gegenseitig die Aufrechterhaltung der Immunität sichert. Honduras, in dem die organisierte Zivilgesellschaft ohnehin unter Druck steht und die Repression gegen diese bereits auf einem deutlich höheren Niveau als in Guatemala erfolgt, könnte nun dem Beispiel Guatemalas folgen, wenn sich abzeichnet, dass eine Aufkündigung des Abkommens folgenlos bleibt.
In El Salvador hingegen, wo insbesondere die USA auf einen Ausbau der nationalen Strafverfolgungsorgane setzen, gelang im vergangenen Jahr die Verurteilung des Ex-Präsident Antonio Saca zu zehn Jahren Haft wegen Korruption.

CODECA: Die Landarbeiterorganisation gründet die neue Partei MLP (Foto: Nis Melbye)

Seit Anfang 2018 verzeichnen Menschenrechtsorganisationen in Guatemala wieder einen Anstieg der gezielten Morde an Menschenrechtsverteidiger*innen und Gewerkschafter*innen. Mindestens 23 Morde sollen es im Jahr 2018 gewesen sein. Der Ausblick für das Wahljahr 2019 verspricht keine Wendung zum Besseren. Vor den Wahlen im September ist vielmehr damit zu rechnen, dass sich die Konflikte noch verschärfen. Zumal die FECI nach dem Verweis der CICIG ohne deren Unterstützung zurückbleibt. Ob die FECI ohne diese Unterstützung dem politischen Druck standhalten kann, ist fraglich.

Die etablierten Parteien bieten jedenfalls keinen Anlass zur Hoffnung, dass es es bei der Wahl eine*n Kandidat*in geben wird, welche*r sich der Korruption im Land entgegen stellt.

In Guatemala, wo etwa 60 Prozent der Bevölkerung in Armut leben, die Bildung gerade in den ländlichen Regionen auf das Nötigste beschränkt ist und der Wahlkampf der Abgeordneten zum großen Teil darin besteht, Saatgut oder Pestizide im Gegenzug für Stimmen zu verteilen, gibt es selten positive Überraschungen. Auch wechselt üblicherweise ein nicht geringer Teil der Abgeordneten unmittelbar nach der Wahl die Partei, so dass das spätere Kräfteverhältnis im Kongress häufig nicht den Wahlergebnissen entspricht.

Lediglich die Landarbeiterorganisation CODECA mit ihrer neu gegründeten Partei MLP (Befreiung der Völker), welche dieses Jahr zur Wahl antreten will, könnte eine Alternative darstellen. Doch selbst wenn sich die MLP durchsetzen sollte, gibt es keine Garantie, dass die Abgeordneten der bestehenden Korruption etwas entgegensetzen können.

 

WAHRHEITSFINDUNG MIT HINDERNISSEN

Was erwarten Sie von der Diskussion mit den anderen Aktivist*innen im Bereich der Korruption und Straflosigkeit?
Wir haben alle Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit zu Rechtsfragen in der Region Mexiko und Zentralamerika. Dabei gibt es für die jeweiligen spezifischen Fälle unterschiedliche Formen des Kampfes gegen die Straflosigkeit. Zum Beispiel im Falle Ayotzinapas (Entführung von 43 Student*innen in Mexiko, Anm. d. Red.) die Interdisziplinäre Gruppe Unabhängiger Experten (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes, GIEI), in der Korruptionsbekämpfung allgemein die Mission der Unterstützung Gegen Korruption und Straflosigkeit in Honduras (Misión de Apoyo Contra la Corrupción y la Impunidad en Honduras, MACCIH) oder eben die CICIG. Ich glaube, dass unsere Arbeit in den betreffenden Ländern zu ähnlichen Reaktionen bei den Gruppen führt, die jeweils im Mittelpunkt der Ermittlungen stehen. Was ich mir also von einer Zusammenkunft wie dieser erhoffe, ist, den Erfahrungsaustausch fortzusetzen. Interessant ist auch der Blick von offizieller Seite oder sozialen Organisationen in Deutschland auf die Arbeit der CICIG, beispielsweise in Bezug auf die Souveränität.

Was meinen Sie mit Souveränität?
In Lateinamerika hört man oft die Kritik, dass die Untersuchungskommissionen die Souveränität der Staaten angreifen. Deshalb interessieren mich die Beobachtungen anderer Gesell­schaften, wie beispielsweise der deutschen, die im Vergleich zur guatemaltekischen, honduranischen oder mexikanischen sehr viel weniger in diese Konflikte involviert ist. Oftmals kursiert der Vorwurf der Souveränitätseinschränkung ja auch aus Unwissen über die Funktionsweise der Kommissionen. Bei der CICIG ist klar, dass ihre Arbeit komplementär ist und nicht die der nationalen Behörden ersetzt. Wenn die CICIG nur mit der Staatsanwaltschaft handeln kann, die den Fall vor den Richtern präsentieren muss, bedeutet dies, dass die Entscheidungen in Guatemala letztlich souverän sind. Es lässt sich also nicht von einem Angriff auf die Souveränität des Landes sprechen. Die Unabhängigkeit von Körperschaften wie der CICIG beruht darauf, dass sie nicht an lokale Machtstrukturen und Interessen von Zünften, Unternehmen oder politischen Parteien gekoppelt sind. Auch deshalb wird eine unabhängige Körperschaft gefürchtet, weil die Ergebnisse ihrer Unter­suchun­gen sich auf die Machtstrukturen eines Landes auswirken können.

Von welchen Gruppen erfahren Sie Kritik, seit Sie zur Persona non grata erklärt wurden und welche weiteren Kritikpunkte gibt es außer dem der Souveränität?
Als 2015 die wichtigsten Untersuchungsergebnisse im Kampf gegen die Korruption vorgelegt wurden, gab es eine sehr breite soziale Bewegung, die mit anhaltenden, wöchentlichen Demonstrationen nicht nur den Kampf gegen Korruption unterstützen, sondern auch staatliche Reformen forderten. Mitte 2016 wurden die Ermittlungen wegen Bestechlichkeit und unerlaubter Wahlkampffinanzierung auch auf den Unternehmenssektor ausgeweitet, was Ablehnung hervorrief. Als es um den Präsidenten Otto Perez Molina und die Vizepräsidentin Roxana Baldetti ging, war es möglich zu sagen, dass sie korrupt sind und die Situation ausgenutzt haben. Sobald es aber um Unternehmen geht, beginnen viele den Kampf gegen die Korruption mit dem Verweis auf die Souveränität oder die Wirtschaft in Frage zu stellen, weil er das Wachstum gefährde.

Mit welcher Begründung geschieht das?
Das Argument ist, dass ein Zustand der Instabilität und rechtlicher Unsicherheit vorherrsche, der das Investitionsvolumen verringere und zu einem Rückgang des Wirtschaftswachstums in Guatemala führe. Es kommen dann Forderungen, dass die Arbeit der CICIG nicht, oder zumindest nicht in dieser Intensität, fortgesetzt werden soll. Einige sagen sogar, dass wir uns mehr fokussieren und nicht an zu vielen Fronten gleichzeitig kämpfen sollten. Hier weiß man nicht, ob es eine gut gemeinte Kritik ist oder eher in der Absicht geschieht, etwas zu verbergen.
Der Widerstand kommt von den Betroffenen der Enthüllungen von 2015. Die Inhaftierten im Militärgefängnis Mariscal Zavala versuchten durch negative Propaganda die Ermittlungen zu delegitimieren. Sie bezeichneten sie als ideologische Verfolgung. Das verschärfte sich noch nach einer Anzeige gegen den Sohn des Präsidenten Jimmy Morales im September 2016, wodurch dessen Onkel, der Bruder des Präsidenten, ebenfalls ins Zielfeld der Untersuchungen geriet. Bis dahin hatten sich die Ermittlungen nie gegen die Familie Morales gerichtet und wir hätten nicht gedacht, dass sie darin involviert sein könnte! Aber da sich dieser Verdacht auftat, mussten wir ihm nachgehen, sonst hätten wir selektiv gehandelt.
Als 2017 der Bruder und der Sohn des Präsidenten inhaftiert wurden, begann der Präsident die CICIG zu bekämpfen. Zu dieser Zeit gab es also eine große Gruppe, die nicht mit den weiteren Ermittlungen einverstanden war: Die im Jahre 2015 Inhaftierten, Unternehmer, die mit ihnen zusammenarbeiteten oder befürchteten, mit ihnen in Verbindug gebracht zu werden, sowie ehemalige Militärs, gegen die es einen Korruptionsverdacht gab und gegen die die Staatsanwaltschaft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelte. An diesen Fällen hatte die CICIG keinen Anteil, aber diese Leute glauben, dass die Staatsanwaltschaft durch die CICIG bestärkt wurde und dass eine Schwächung der CICIG eine Möglichkeit wäre, auch die Staatsanwaltschaft zu schwächen. Hinzu kamen die Parlamentsabgeordneten, die in Korruptionsfälle verwickelt sind. In diesem Klima kündigte der Präsident am 20. August 2017 an, bei den Vereinten Nationen meine Ausweisung zu beantragen, und am 27. August wurde ich schließlich zur Persona non grata erklärt. Die Regierung beharrt bis heute gegenüber den Vereinten Nationen auf meiner Ausreise und äußert Unzufriedenheit hinsichtlich der Arbeit der Kommission.

Aber vor kurzem haben Sie vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, die Bewilligung erhalten, das Mandat fortzusetzen.
Ja, auch davor schon. Speziell nach den Ereignissen im August 2017 brachte der Generalsekretär seine Unterstützung für die Aktivität der CICIG und meine Leitungsposition zum Ausdruck.

Wo sehen Sie sonst noch Unterstützung nach August 2017?
Es gab starke Unterstützungsbekundungen durch die internationale Gemeinschaft, beispielsweise vom Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten. Viele Botschafter in Guatemala begaben sich außerdem zur CICIG, um mich am Tag meiner Ausweisung als Zeichen der Solidarität zu begleiten. Die Zivilgesellschaft hat auch eine sehr wichtige Rolle bei der Unterstützung gespielt. Sowohl für die Tätigkeit der Kommission als auch speziell für meine Person. Dieses Jahr wurden zwei neue Bewegungen gegründet, die hier hervorzuheben sind. Zum einen die Parlamentarische Front für Transparenz (Frente Parlamentario por la Transparencia), eine kleine Gruppe von Abgeordneten, die sich gegen alle Gesetzesprojekte der Straflosigkeit ausspricht, die im Parlament bearbeitet werden. Zum anderen die Zivile Front gegen die Korruption (Frente Ciudadano Contra la Corrupción), die breite Teile der Zivilgesellschaft zusammenführt. Das ist die aktuelle Situation und es ist gerade nicht abzuschätzen, ob Guatemala im Kampf gegen die Korruption bereits einen erfolgreichen Schritt vorangegangen ist, oder ob wir immer noch der Gefahr eines Rückschritts unterliegen.

Als neue Generalstaatsanwältin hat der Präsident vor kurzem Consuelo Porras ernannt. Wie bewerten Sie diesen Personalwechsel, speziell bezüglich der anhängigen Ermittlungen?
Consuelo Porras braucht nach ihrer Ernennung eine gewisse Zeit, um das Funktionieren der Staatsanwaltschaft zu verstehen. Sie ist seit einem Monat im Amt und es gab bisher keine Opposition gegen die Tätigkeit der CICIG. Im Gegenteil: öffentlich und privat hat Consuelo Porras ihre Zufriedenheit mit der Unterstützung gezeigt, welche die CICIG in der Vergangenheit gegenüber der Staatsanwaltschaft geleistet hat und weiterhin leisten wird. Ich hoffe, dass sie, wie sie es öffentlich gesagt hat, in ihrem alltäglichen Handeln ihr Engagement gegen die Straflosigkeit und die Korruption umsetzen wird.

In einigen Analysen wird der Schluss gezogen, dass die von Staatsanwaltschaft und CICIG initi­ierten Untersuchungen in dem Moment beeinträchtigt werden, da das Gerichts­wesen hinzukommt. Können Sie das bestä­tigen?
Ja, aber ich würde sagen, dass in den großen Fällen einfach nicht die erhofften Urteile gefällt wurden. Teilweise haben Anwälte die Prozesse durch Verzögerungstaktiken behindert oder über den konstitutionellen Weg der Verfassungsbeschwerde. Aber es hat verschiedene Fälle gegeben, in denen es zu Verurteilungen in einem beschleunigten Verfahren (dabei erkennen die Angeklagten nach Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft ihre Schuld an und erhalten dafür meist einen Strafnachlass, Anm. der Redaktion) kam. Andere Beschuldigte wurden am Ende eines Hauptverfahrens verurteilt.

Haben Sie ein Beispiel?
Zum Beispiel die Richterin Jisela Reinoso, die wegen unerlaubter Bereicherung und Geldwäsche verurteilt wurde. Oder Edgar Barquín, der Präsident der Bank von Guatemala, welcher Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten von Manuel Baldizón (Gegenkandidat von Jimmy Morales in der letzten Wahl, Anm. der Red.) war. Er akzeptierte seine Schuld und wurde in einem beschleunigten Verfahren wegen Vorteilsgewährung zugunsten einer der Geldwäsche beschuldigten Organisation verurteilt. Vielleicht ist der neueste Fall von neun Bauunternehmen, die ihre Schuld für die Zahlung von Bestechungsgeldern akzeptierten, ein Urteil mit innovativem Charakter im Kampf gegen die Korruption. Sie mussten in ihrer Organisation Transparenzmechanismen einführen, damit sich korruptes Verhalten nicht wiederholen kann. Außerdem mussten sie sich öffentlich bei der Bevölkerung für die begangenen Delikte entschul­digen und eine Entschädigung in Form von Straßenreparaturen mit einem Wert von etwa 4,5 Millionen Dollar zahlen. An jeder Baustelle war ein Zaun mit folgender Aufschrift angebracht: „Diese Bauarbeiten sind Teil der Umsetzung des Urteils, welches dem Bauunternehmen wegen Bestechung auferlegt worden ist.“ Wenn sich das als Praxis durchsetzt, könnte es wirklich die Realität verändern.

FREIE BAHN FÜR KORRUPTION

Kann Luiz Antonio Guimarães Marrey das Ruder noch herumreißen? Der ehemalige Generalstaatsanwalt von São Paulo steht an der Spitze der internationalen Mission zur Bekämpfung der Straflosigkeit und Korruption in Honduras. Doch der Kampf gegen die Korruption scheint schon verloren, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Im Februar dieses Jahres war der Peruaner Juan Jiménez Mayor, Guimarães Marreys Vorgänger, als Chef der MACCIH zurückgetreten. Seitdem ist unklar, ob die Mission im Land überhaupt noch eine Zukunft hat. Jiménez Mayor hatte den Posten nach anhaltenden Differenzen mit seinem Vorgesetzten, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, hingeschmissen. Zuletzt hatte dieser die Arbeit der MACCIH sogar öffentlich kritisiert: In einem Brief an den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández hatte Almagro das erfolglose Agieren der MACCIH in den vergangenen zwei Jahren beklagt.

Im Parlament wurde ein Korruptionsnetzwerk aufgedeckt.

Dabei hatte es im Dezember 2017 noch ganz danach ausgesehen, dass die MACCIH, deren Untersuchungen bis dahin in der Tat nicht von großen Ermittlungserfolgen geprägt waren, nun endlich den Kampf gegen die Korruption im Land aufnehmen würde. Gemeinsam mit der honduranischen Staatsanwaltschaft hatte die Mission Ende vergangenen Jahres die Existenz eines Korruptionsnetzwerks im honduranischen Parlament aufgedeckt, dem die Veruntreuung öffentlicher Mittel vorgeworfen wurde. Weitere Ermittlungen gegen zahlreiche Abgeordnete waren angekündigt.

Doch die Reaktion der Parlamentarier*innen ließ nicht lange auf sich warten: Umgehend verabschiedeten sie im Kongress ein Gesetz, das sämtliche Untersuchungen zur Verwendung öffentlicher Gelder zukünftig dem Obersten Rechnungshof unterstellt. Ein Einspruch gegen das Gesetz wurde vom Verfassungsgericht abgewiesen, die gemeinsamen Ermittlungen von MACCIH und honduranischer Staatsanwaltschaft in dem spektakulären Korruptionsfall fanden so ein schnelles Ende.

„Dieses Gesetz hat gezeigt, dass die Institutionen im Land nicht dafür gemacht sind, überprüft zu werden“, sagt die honduranische Journalistin Jennifer Ávila. „Das ist traurig, weil auch wir als Journalisten eine gewisse Hoffnung in die MACCIH gesetzt haben, denn es ist sehr schwer, in einem Land wie Honduras zu recherchieren.“ Die Schaffung der MACCIH Anfang 2016 war ein Zugeständnis der Regierung an die honduranische Bevölkerung gewesen, die vor drei Jahren über Monate hinweg demonstriert hatte. Auslöser der Proteste waren verschiedene Korruptionsfälle, unter anderem die Veruntreuung von Millionensummen in der honduranischen Sozialversicherung IHSS. Die Demonstrant*innen hatten die Schaffung einer Behörde nach dem Vorbild der CICIG in Guatemala gefordert – einer internationalen und unabhängigen Kommission mit UN-Mandat, die seit 2015 durch Korruptionsermittlungen gegen den guatemaltekischen Ex-Präsidenten Otto Pérez Molina Schlagzeilen gemacht hat. Doch statt einer CICIG mit UN-Mandat reichte es in Honduras nur für eine MACCIH mit Mandat der OAS – auch deshalb hatten die Honduraner*innen von Anfang an Bedenken, ob die Mission tatsächlich Erfolg haben würde. „Sie ist nicht mehr als ein Schmerzmittel, das die akuten Symptome lindert, aber die Krankheit heilt sie nicht“, sagt Journalistin Ávila.
Dabei war es durchaus zu erwarten, dass die korrupte Machtelite des Landes den Untersuchungen durch die MACCIH nicht tatenlos zusehen würde – und sich nun ähnlich wie im Nachbarland Guatemala mit neuen Gesetzen dem Zugriff der Untersuchungsbehörden zu entziehen versucht. Seit einigen Wochen wird außerdem das Gerücht gestreut, die Mission würde honduranische Staatsanwälte für Ermittlungen gegen Regierungsbeamte mit Bonuszahlungen belohnen – offenbar ein weiterer Versuch, die Arbeit der Mission in Misskredit zu bringen. Jiménez Mayor dementierte die Vorwürfe.
Überraschend ist jedoch, dass selbst der OAS-Generalsekretär ein doppeltes Spiel zu spielen scheint und dem Ex-Chef von MACCIH, Jiménez Mayor, jegliche Unterstützung versagt hat. „Ich glaube, dass Almagro die Interessen einiger Länder vertritt, die nicht wollen, dass mit der Arbeit der Mission ein erfolgreicher Präzedenzfall geschaffen wird“, meint Joaquín Mejía, Anwalt und Mitarbeiter des ERIC, eines Think-Tanks des Jesuitenordens in Honduras. „Das sind Länder wie Mexiko mit schwachen Institutionen und einem hohen Grad an Korruption und Straflosigkeit.“ In einem Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN berichten auch zwei frühere Mitglieder der MACCIH, dass es zwischen Almagro und dem honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández geheime Absprachen gegeben habe.

Auch nach dem Antritt von Luiz Antonio Guimarães Marrey als MACCIH-Chef gibt es wenig Hoffnung, dass die Mission tatsächlich erfolgreich arbeiten kann, solange sie von der OAS torpediert wird und die USA den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández unterstützen. Dieser hatte sich entgegen der Verfassung des Landes im November erneut zum Präsidenten wählen lassen, die Wahl wurde zudem von schweren Betrugsvorwürfen und Repressionen gegen die Zivilbevölkerung begleitet. „Es ist im Interesse der USA, einen leicht kontrollierbaren Präsidenten in Honduras zu haben“, meint Anwalt Mejía. „Hernández spielt diese Rolle sehr gut, und deshalb wird Washington ihn weiter unterstützen, auch wenn er autoritär und diktatorisch agiert.“

Auch drei Jahre nach den Massendemonstrationen im Land, die zur Schaffung der MACCIH führten, hat sich in Sachen Korruption wenig getan in Honduras. “Die Menschen sind damals spontan auf die Straße gegangen, um ihrem Unmut und Ärger über die Korruption Ausdruck zu verleihen“, sagt die Journalistin Ávila. „Ich denke, dass diese Bewegung jetzt langsam erwachsen wird, denn die Menschen sind heute viel politisierter und nicht mehr so indifferent.“ Das haben auch die Massenproteste nach den Präsidentschaftswahlen im vergangenen November gezeigt, bei denen zehntausende Demonstranten den Rücktritt von Präsident Hernández verlangten.

Mittlerweile sind die Demonstrant*innen zwar wieder von den Straßen verschwunden. Doch das hat vor allem mit der Angst der Bevölkerung vor Übergriffen durch die Polizei oder das Militär zu tun – seit den Wahlen im November sind mehr als 30 Menschen bei Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften ums Leben gekommen. Joaquín Mejía hat die Hoffnung trotzdem noch nicht aufgegeben: „Ich glaube, wir haben mit den Massenprotesten nach der Präsidentschaftswahl einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, und irgendwann werden wir die Früchte unserer Arbeit ernten“, meint der Anwalt. „Es wird noch lange dauern und ein entbehrungsreicher Kampf sein, aber am Ende wird die Demokratisierung von Honduras stehen.“

GEDENKEN IN ACTEAL

Am Abend des 5. Januars wurde José Vázquez Entzín am Ende einer angespannten Versammlung in seinem Dorf Los Chorros im Hochland von Chiapas festgenommen und ins Gemeindegefängnis gesteckt. Sein vermeintliches Vergehen: Ein von ihm bestellter Laster mit einer Sandladung hatte Schlamm aufgeworfen in seinem Viertel, so dass die Wege schwer passierbar wurden. Tatsächlich war dieser Vorwurf nur ein Vorwand. José ist Mitglied der Organisation Las Abejas (dt. die Bienen) und nimmt aus Überzeugung nicht an Sozialprogrammen der Regierung teil, im Gegensatz zu den meisten Menschen in seinem Dorf. Seine Weigerung, sich an Gemeindediensten zu beteiligen, die mit den Programmen verbunden sind, führte seit 2015 dazu, dass sich die Stimmung in seiner Gemeinde gegen ihn richtete, ihm Strom und Wasser abgestellt wurden. Hinter diesem jüngsten Vorfall in einem fast drei Jahre andauernden Konflikt verbirgt sich eine Geschichte, die eigentlich schon vor über zwei Jahrzehnten ihren Anfang nahm.

Als Antwort auf den Aufstand der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) am 1. Januar 1994 im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas initiierte die mexikanische Regierung unter Präsident Ernesto Zedillo (1994-2000) eine Aufstandsbekämpfungsstrategie, die von Beobachter*innen des Konflikts als Krieg niederer Intensität bezeichnet wurde. Zentraler Teil der Strategie war die Gründung, Finanzierung, Bewaffnung und Unterstützung paramilitärischer Gruppen, die ab 1995 zapatistische Gemeinden einschüchterten, bedrohten, vertrieben oder ihre Bewohner*innen ermordeten. Auch andere Organisationen wurden Zielscheibe dieser Gruppen, weil sie sich weigerten, mit ihnen zu kooperieren oder ihnen Geld für den Kauf von Waffen zu geben. Zu diesen von paramilitärischer Gewalt betroffenen Organisationen gehörten Las Abejas, eine 1992 von Tsotsiles und Tseltales ins Leben gerufene Organisation im Hochland von Chiapas, die sich für die Rechte der indigenen Gemeinden einsetzt. Es waren Mitglieder der Abejas, die am 22. Dezember 1997 Opfer des Massakers von Acteal wurden, als Paramilitärs über sechs Stunden lang in dem indigenen Dorf um sich schossen und 45 Menschen ermordeten, darunter vor allem Frauen und Kinder. Der damalige Bischof des Bistums San Cristóbal de Las Casas, Samuel Ruiz García, sprach bei der Bestattung kurz nach dem Massaker vom „traurigsten Weihnachten“, das er je erlebt hatte.

Seit dem Massaker von Acteal kämpfen die Abejas für Gerechtigkeit. Es wurden 87 Personen als Täter verurteilt, von denen seit 2009 nach und nach fast alle wegen Verfahrensfehlern in ihren Prozessen wieder freigelassen wurden. Die geistigen Urheber des Massakers wurden bis heute nicht angeklagt, geschweige denn verurteilt. Für die Abejas zählen dazu die Verantwortlichen der Aufstandsbekämpfungsstrategie, also der damalige Präsident Ernesto Zedillo, sein Innenminister Emilio Chuayffet, Verteidigungsminister Enrique Cervantes Aguirre sowie der Kommandeur der VII. Militärregion, zu der Chiapas gehört, General Mario Renán Castillo, als Zuständiger für die Umsetzung der Strategie. Da den Abejas bewusst ist, dass von mexikanischen Gerichten keine Gerechtigkeit ausgehen wird, gehört die Erinnerung an das Massaker zu den zentralen Bestandteilen einer anderen Gerechtigkeit, die von den betroffenen Gemeinden ausgeht. Es ist ein Kampf gegen das Vergessen, der auch dabei helfen soll zu verhindern, dass sich Vorfälle wie das Massaker wiederholen. Diese mahnenden Stimmen sind weiterhin wichtig, denn Konflikte und gewaltsame Vertreibungen wie in Chalchihuitán im November 2017 (LN 524) zeigen, dass die Verantwortlichen auf den verschiedenen Regierungsebenen gravierende Menschenrechtsverletzungen weiterhin in Kauf nehmen.

Die Geschichte hinter dem Konflikt nahm vor über zwei Jahrzehnten ihren Anfang.

Am 22. Dezember 2017 wurde der 20. Jahrestag des Massakers begangen. Über tausend Menschen aus verschiedenen chiapanekischen Gemeinden, anderen Teilen des Landes und der Welt nahmen an der Gedenkfeier teil. Die Abejas hoben in ihrer Erklärung anlässlich des Jahrestags hervor, dass es vor allem Frauen und Kinder waren, die dem Massaker zum Opfer fielen: „[…] wir werden die schwangeren Frauen nicht vergessen, denen der Mutterleib aufgeschnitten wurde, um ihnen die Säuglinge zu entreißen, mit der Botschaft, das Leben im Keim ersticken zu wollen“. Wie in anderen Stellungnahmen der Organisation wurde auch diesmal Bezug auf die aktuelle Situation in Mexiko genommen. Deutlich kritisierten die Abejas, dass die Regierung von Präsident Peña Nieto kurz zuvor „ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet hat, damit die Armee nun ‚legal‘ schwere Menschenrechtsverletzungen begehen kann. […] Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes zur Inneren Sicherheit unterstreicht die schlechte Regierung ihren Krieg zur Ausrottung der indigenen und nicht-indigenen Gemeinden, so wie sie es in Acteal gemacht haben“.

„Mehr und mehr Tote, als Auswirkung dieser Kultur der Gewalt, einer Kultur des Massakers, wo ganze Familien aus ihren Häuser fliehen vor der Bedrohung durch bewaffnete Gruppen“, so beschrieb das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) die aktuelle Situation in seiner Pressemitteilung zum Jahrestag des Massakers von Acteal. „Es ist das Erbe der Militarisierung, des Paramilitarismus und der Aufstandsbekämpfung, die in Chiapas weiterhin andauert“. Frayba vertritt die Abejas juristisch vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, wo ein Verfahren gegen den mexikanischen Staat wegen der in Acteal begangenen Gräueltaten läuft. Ziel ist es, über diese internationale Instanz Gerechtigkeit für die Überlebenden und Angehörigen der Opfer zu erreichen. Ein zentraler Punkt für die Abejas und Frayba ist dabei die Feststellung, dass das Massaker Folge der Aufstandsbekämpfungsstrategie des mexikanischen Staates gegen die EZLN und mit ihr sympathisierende Organisationen war, und nicht, wie von der mexikanischen Regierung dargestellt, die Eskalation eines Disputs zwischen indigenen Gemeinden. Doch die Mühlen des Interamerikanischen Systems mahlen langsam und noch ist nicht abzusehen, welche Entscheidung die Kommission fällen wird. So bleibt den Abejas und Frayba vor allem das öffentliche Erinnern und Mahnen, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie in Acteal nicht wiederholen dürfen.

In Vorbereitung auf die Gedenkfeier zum 20. Jahrestag des Massakers und anlässlich der Gründung der Abejas vor 25 Jahren hatte die Organisation mit Unterstützung von Frayba Mitte März 2017 die Kampagne „Acteal: Raíz, Memoria y Esperanza“ („Acteal: Wurzel, Erinnerung und Hoffnung“) gestartet. Ein Ziel dieser Kampagne war es, in den Medien Aufmerksamkeit zu erzeugen und daran zu erinnern, dass den Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer auch 20 Jahre später noch immer keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Zum anderen ging es für die Abejas darum, die Organisation durch Besuche in den verschiedenen Gemeinden ihrer Mitglieder zu stärken. Guadalupe Moshán Álvarez, die als Anwältin bei Frayba an der Durchführung der Kampagne beteiligt war, betonte gegenüber LN die Wichtigkeit dieser nach innen gerichteten Aktivitäten: „Es ging bei diesen Treffen in den Gemeinden auch darum, das Wissen über die Geschichte der Organisation, über die Geschehnisse an jenem 22. Dezember 1997 an die Jüngeren weiterzugeben und sie einzubinden in die Organisation“. Die Abejas erklärten, die Kampagne hätte sie „viele Dinge erkennen lassen, sowohl Fehler als auch Erfolge in unserer langen Geschichte von 25 Jahren. Wir sind dankbar und froh darüber, so viele Leute zu kennen, die ein gutes Herz haben und der Gerechtigkeit und dem Frieden verpflichtet sind. Wir danken für all die Zeichen der Unterstützung im Laufe der Kampagne“.

Vor der CIDH läuft ein Verfahren gegen Mexiko wegen der in Acteal begangenen Gräueltaten.

Im Vergleich zu früheren Gedenken, bei denen oft ausschließlich die Männer der Organisation durch die Zeremonie führten, war es dieses Mal eine Frau, die den zentralen Beitrag hielt. Hierbei handelte es sich um Guadalupe Vázquez Luna, die am 22. Dezember vor 20 Jahren fast ihre gesamte Familie verloren hatte. Doch es dürfte nicht allein ihre Eigenschaft als Überlebende des Massakers gewesen sein, die die Organisation zu diesem Schritt bewegt hatte. Denn Vázquez Luna wurde von den Abejas und anderen Organisationen als Vertreterin der Tsotsil-Region in den Indigenen Regierungsrat entsandt, den der Nationale Indigene Kongress im Mai 2017 gebildet hatte. Hatte sie anfangs noch mit dieser Rolle gezaudert, zeigte sich im Verlauf der Zeit und insbesondere seit der Rundreise der indigenen Präsidentschaftskandidatin Marichuy in Chiapas im Oktober und November vergangenen Jahres (LN 523) eine andere Guadalupe Vázquez, die ohne Scheu ans Mikrofon trat und das Publikum durch ihre spürbare Begeisterung für das Anliegen des Nationalen Indigenen Regierungsrates (CIG) mitzureißen verstand.

Vazquéz Luna gehörte auch zu einer Gruppe von Frauen, die sich am 9. Januar 2018 auf den Weg nach Los Chorros machten. Zu jenem Zeitpunkt waren neben José noch acht weitere Männer der Abejas inhaftiert worden, als sie José besuchten, um ihn in der Haft moralisch zu unterstützen. Der Pilgermarsch der Frauen sowie wachsender öffentlicher Druck verschiedener Organisationen auf die Regierung von Chiapas und die lokalen Behörden führte schließlich dazu, dass die Männer am Abend des 9. Januar freigelassen wurden. In einer Mitteilung bedankten sich die Abejas für die Unterstützung, die zur Freilassung geführt hatte. Sie erklärten aber auch, dass trotz der Freilassung „der Ursprung des Problems nicht gelöst ist. […] Wir hoffen, dass die Gemeindevertreter ihre Bereitschaft zum Dialog bestätigen, um diesen seit 2015 schwelenden Konflikt aufgrund politischer und sozialer Differenzen zwischen unseren Mitgliedern der Abejas und den Bewohner*innen der besagten Gemeinde wirklich und definitiv zu lösen“.

KEIN FUNKEN REUE

Das Geheimnis lüften, um es in den Akten seiner Institution verschwinden zu lassen: Die Mission Padre Garcías ist so zwielichtig wie die Atmosphäre des kleinen Orts am Meer, wo die Sonnenstrahlen auf eine gewaltig düstere Wolkenfront treffen. Dass dieser Ort La Boca heißt und an der chilenischen Küste 160 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago liegt, ist unwichtig; wesentlich ist vielmehr die Tatsache, dass er abgelegen ist, überschaubar und wenig Abwechslung zu bieten hat. Hierher kommt Padre García als Abgesandter der katholischen Kirche Chiles, Seelsorger und Psychologe mit europäischen Diplomen, der für eine „neue Kirche“ eintritt. Der kriminellen Vergangenheit der vier Priester in dem so harmlos wirkenden gelben Haus am Hang will er auf die Spur kommen, herausfinden, ob sie sich ihrer Verfehlungen bewusst sind.
Nachdem sich Pablo Larraín in vorhergehenden Filmen – darunter sein bekanntester No! (2012) – mit der chilenischen Geschichte auseinandergesetzt hatte, behandelt El club ein Thema, das in der Öffentlichkeit vieler Länder seit einigen Jahren verstärkt diskutiert wird. Durch den diesjährigen Oscar für den US-amerikanischen Film Spotlight wurde den sexuellen Vergehen von Priestern an Minderjährigen gerade wieder umso mehr jener medialen Aufmerksamkeit zuteil, der die Kirche jahrzehntelang zu entkommen suchte: Anstatt die staatliche Justiz walten zu lassen, zog sie es vor, ihre straffällig gewordenen Mitglieder in eigenen Einrichtungen vor der Außenwelt zu isolieren, zu verstecken. Die Existenz zahlreicher solcher „Häuser der Buße“ überall auf der Welt habe für El club den Anlass gegeben, so Larraín im Interview. Bei der 65. Berlinale 2015 feierte sein Film Weltpremiere, er erhielt den Großen Preis der Jury zusammen mit einem Silbernen Bären und gewann in der Folge weitere Preise bei internationalen Festivals.
„Es ist ein schönes Leben. Den Brüdern geht es gut. Sie sind gesund und rein im Herzen.“ So versichert es Schwester Mónica gegenüber Padre García bei einem Gespräch unter vier Augen am Strand. Als einzige Frau bei den Priestern nimmt sie die Rolle einer Haushälterin ein und sorgt für die Einhaltung der strengen internen Regeln. Unberechenbar in ihrer Art, aber besorgt in der Beschaulichkeit ihres Alltags behelligt zu werden, geht Schwester Mónica sogar noch weiter: „Wir führen ein heiliges Leben. Es ist wirklich sehr schön.“ Da mag Padre García mit seiner Erwiderung vom „Ort der Reue“ der Wahrheit zwar näher kommen – aber bereuen diese Priester wirklich die Verbrechen, die sie begangen haben? Kann eine immer gleiche Abfolge von Beten, Essen, Singen, Schlafen, in der auch Alkohol und Hunderennen ihren Platz haben, wirklich angemessene Strafe sein?
El Club möchte ausdrücklich nicht den moralischen Zeigefinger erheben, wie Schauspieler Roberto Farías, der im Film in der Figur des Sandokan als einziges Opfer auftritt, bei der Pressekonferenz zur Berlinale klarstellte, sondern es dem Publikum überlassen, was es mit den Eindrücken aus dem Film anfängt. Dabei wirken Musik und visuelle Ästhetik so eindringlich mit der vielfach als „Kammerspiel“ bezeichneten Handlung zusammen, dass die Suche wenigstens nach einem Funken Reue in der Redeweise und im Mienenspiel der Priester in ihrer abgekapselten Welt für das Publikum zu einer verzweifelten, ungläubigen Aufgabe und der Film doch zu einer klaren Anklage der Straflosigkeit von Kirchenleuten wird. Die Abscheu gegen die Bewohnerschaft des gelben Hauses wächst mit der Gewissheit, dass diese Padres immer noch eine Gefahr darstellen. Der schwer traumatisierte und gesellschaftlich vollkommen marginalisierte Sandokan, der seinem Peiniger bis nach La Boca gefolgt ist und dessen schonungslose Sprache auf Interviews mit realen Opfern basiert, muss den Beweis dafür liefern.
Fahles Licht und fortwährende Beklemmung – verstärkt durch sowjetische Linsen aus den 60er Jahren – und kein einziger Sympathieträger. Dafür nimmt der Film die Zusehenden besonders in den Verhördialogen und mit seiner Kameraführung gefangen, wenn sie geduldig forschend über Gesichter und Landschaft streift. Zugleich zeigt El Club nicht, was die Menschen im Dorf über das Priesterhaus denken, was sie womöglich ahnen oder wissen. Da wäre zu fragen, ob diese nicht wir selbst sind, die es hinnehmen, dass die katholische Kirche sich hinter ihre Mauern zurückziehen kann, sodass nur ein Kunstwerk wie El club es schafft, einen vagen Blick dahinter zu werfen.

 

UNANTASTBAR

„Lasst den Mann seine Arbeit machen!“, rief der Abgeordnete aus Pará, Wladimir Costa, am 25. Oktober im brasilianischen Abgeordnetenhaus der Opposition zu. Costa wollte den amtierenden Präsidenten Michel Temer verteidigen, gegen den eine Anklage wegen Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung vorliegt. Die Kammer des Parlaments hatte darüber zu entscheiden, ob ein Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof zugelassen wird.

Am Ende des Tages hatte es Michel Temer wieder geschafft, einer Strafverfolgung zu entkommen, auch wenn es diesmal knapper war. Die Abgeordneten stimmten mit 251 zu 233 Stimmen dagegen, dass die Anklage zugelassen wird. Wenn man die 29 Enthaltungen und Abwesenheiten berücksichtigt, konnte Temer nicht einmal die einfache Mehrheit für sich gewinnen. Das Ergebnis ist damit schlechter als das vom 2. August. Bereits damals votierte das Parlament mit 263 zu 227 Stimmen dagegen, eine andere Klage wegen Korruption gegen den Präsidenten zuzulassen. Um das Verfahren zu eröffnen, wäre eine Zweidrittelmehrheit notwendig gewesen. In dem Fall hätte Temer für 180 Tage sein Mandat verloren; wäre er schuldig gesprochen worden, endgültig.

Die Klage gegen Temer war eine der letzten, die der ehemalige Generalbundesstaatsanwalts Rodrigo Janot eingeleitet hatte, bevor sein Mandat am 17. September endete. Neben dem Staatschef waren auch der Kabinettschef Eliseu Padilha und verschiedene Abgeordnete der Partei PMDB mitangeklagt. Die Verfahrenseröffnung wurde nun vom Parlament untersagt, doch die Klagen bleiben weiter anhängig: Nach Ende der Legislaturperiode am 31. Dezember 2018 werden sie weiter bearbeitet.

Hintergrund ist der Korruptionsskandal, der im Rahmen der Operation „Lava Jato“ (Autowaschanlage) von der brasilianischen Bundespolizei und Generalbundesstaatsanwaltschaft untersucht wird. Dabei geht es um Schmiergeldzahlungen von Baufirmen und Agrarunternehmen an Politiker*innen aller Parteien, um an öffentliche Aufträge oder günstige Staatskredite zu gelangen. Insbesondere der brasilianische Baukonzern Odebrecht musste zugeben, 788 Millionen Dollar Schmiergeld in zwölf Ländern Afrikas und Lateinamerikas gezahlt zu haben (siehe LN 517). Die Staatsanwaltschaft warf nun Michel Temer und seinen Verbündeten vor, Schweigegelder gezahlt zu haben, um sich vor Lava Jato zu schützen und die Untersuchungen der Justitz zu behindern.

Temer hat es wieder geschafft, der Strafverfolgung zu entkommen.

Temer versucht derweil, sich selbst als Opfer darzustellen. In einem Brief an die Abgeordneten erklärte er, Rodrigo Janot und andere Staatsanwälte hätten eine Verschwörung gegen ihn angezettelt. Alle Anschuldigungen gegen den Präsidenten seien unglaubwürdig, da diese auf Aussagen von verurteilten Verbrecher*innen basierten, die im Rahmen von Kronzeugenregelungen gemacht wurden. Zuletzt hatte der verurteilte „doleiro“ (Geldwechsler ohne Lizenz) Lúcio Funaro ausgesagt, die Schmiergeldzahlungen zwischen Unternehmen und Temer und seinen Vertrauten vermittelt zu haben.

Zudem sind Dokumente von Odebrecht aufgetaucht, die den Präsidenten und seine Vertrauten belasten. Die Abteilung für „Stukturierte Operationen“ des milliardenschweren Baukonzerns war ausschließlich dafür zuständig, die Schmiergeldzahlungen an Politiker*innen in aller Welt zu koordinieren. Dabei nutzte sie ein internes System namens “Drousys“. Der Staatsanwaltschaft liegen nun Belege aus diesem System dafür vor, dass Zahlungen an Padilha und andere Politiker*innen der PMDB über umgerechnet etwa 3,4 Millionen Euro angewiesen wurden. Dabei wurden die Politiker*innen mit Spitznamen bezeichnet, der Kabinettschf Padilha ist etwa als „Fodão“ (in etwa: „Krasser Typ“) benannt. Diese Dokumente sind kein Beweis, dass die Zahlungen getätigt wurden, aber starke Indizien.

Im Vergleich dazu wirken die Korruptionsvorwürfe, die dem ehemaligen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva gemacht werden, geradezu lächerlich: Dem Präsidenten von der Arbeiterpartei PT wird zur Last gelegt, zwei Privatwohnungen vom Bauunternehmen Odebrecht spendiert bekommen zu haben. Umstritten ist, ob die Apartments wirklich ihm gehörten. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass die im Grundbuch eingetragenen Personen nur Strohmänner sind. Lula nutzte den Fall, um sich als Mann der Armen zu zeigen: Falls das Gericht zu der Auffassung gelänge, er sei der Besitzer der Wohnungen – was er aber bestreitet -, werde er eine der Wohnungslosenbewegung MTST überschreiben.

Bereits in der Woche vor der Entscheidung über Temers Anklage rehabilitierte der brasilianische Senat ihr Mitglied Aécio Neves (PSDB). Der Oberste Gerichtshof hatte dem Senator aus dem Bundesstaat Minas Gerais Ende September das Mandat entzogen, da er ebenfalls wegen Korruption und Behinderung der Justiz angeklagt ist. Am 17. Oktober stimmte der Senat über die Entscheidung des Gerichtshofs ab und machte sie mit 44 gegen 26 Stimmen rückgängig. Kein Wunder: Von den 44 Senator*innen, die für Neves stimmten, sind 19 selbst von Ermittlungen im Rahmen von Lava Jato betroffen.

In Brasilien vergleichen viele Medien die Operation Lava Jato mit den italienischen Anti-Korruptions-Untersuchungen “Mani Pulite”, die in den frühen 1990er Jahren zum Zusammenbruch der sogenannten Ersten Republik geführt haben. Mehrere italienische Staatsanwälte waren im Oktober auf Einladung verschiedener Medien in São Paulo und bestätigten Parallelen der beiden Fälle.

In Italien führte die Diskreditierung der traditionellen Politiker*innen damals zum Zusammenbruch der etablierten Parteien sowie zum Aufstieg Silvio Berlusconis – und auch in Brasilien befürchten viele, dass die derzeitige Krise einem Rechtsaußen wie Jair Bolsonaro den Weg ebnen könnte. Dem Umfrageinstitut Datafolha zufolge würden 36 Prozent wieder den Expräsidenten Luis Inácio Lula da Silva wählen, auf Platz zwei kommt bereits der rechtsradikale Bolsonaro.

Temers Regierung ist die unbeliebteste seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985.

Auch wenn der Präsident der Strafverfolgung entgangen ist, wirft das Ergebnis kein gutes Licht auf seine restliche Amtszeit. Michel Temers Regierung ist mittlerweile die unbeliebteste seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985. Datafolha zufolge bewerten lediglich fünf Prozent der Befragten die Regierung mit „gut“, dagegen 73 Prozent mit „sehr schlecht“.

Um so mehr hängt die Regierung vom Parlament ab. So schrieb die Tageszeitung O Estado de São Paulo in einem Editorial: „Der Kongress kontrolliert heute nicht nur die nationale Agenda, sondern hat auch jede Scheu verloren, in ihr Rückschritte in der Sozial- und Umweltpolitik und den Verhaltensregeln für Parlamentarier zu platzieren.“ Diese Verschiebung des Machtgewichts von Exekutive zur Legislative sei im brasilianischen Präsidialsystem außergewöhnlich. Die Zustimmung des Parlaments ließ Michel Temer die Regierung einiges kosten. O Estado de São Paulo rechnete aus, dass die Zugeständnisse Temers an Abgeordnete, mit denen er seine parlamentarische Basis auf Regierungskurs hielt, den Staatshaushalt umgerechnet etwa 837 Millionen Euro kosteten. Dabei ging es vor allem um steuerliche Vergünstigungen für bestimmte Unternehmensbranchen und die Herabsetzung von Strafzahlungen für Umweltverbrechen – woran insbesondere die mächtige Agrarlobby interessiert war.

In deren Interesse war auch die sicherlich umstrittenste Entscheidung der Regierung vom 16. Oktober. In einer Regierungsdirektive wurde die Definition für sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse abgeschwächt. Vorher galt als Sklavenarbeit, wenn die Arbeiter*innen unter menschenunwürdigen Bedingungen wohnen und arbeiten, in Schuldknechtschaft gehalten werden oder wenn sie mit Gewalt am Verlassen des Arbeitsplatzes gehindert werden. Mit der Novelle gilt nur noch der letzte Punkt als konstitutiv für Sklaverei.

„Mit dieser Novelle kann praktisch kein sklavereiähnliches Arbeitsverhältnis mehr nachgewiesen werden“, erklärt Maurício Torres, Geograph und Sozialwissenschaftler aus Santarém in Bundesstaat Pará, gegenüber den Lateinamerika Nachrichten. Insbesondere in dieser Region in Amazonien ist diese moderne Sklaverei alltäglich. Meist sind es spezialisierte Banden, die mit Sklavenarbeit illegal Wald roden, gefälschte Landtitel besorgen und die Güter dann an Agrarunternehmen weiterverkaufen. „Ich habe noch keine Regenwaldrodung gesehen, bei der es nicht zum Einsatz von Sklaven kam“, sagt Torres.

Temers Zugeständnisse an Abgeordnete haben den Staatshaushalt 837 Millionen Euro gekostet.

Die Gesetze gegen Sklavenarbeit aufzuweichen ist eine alte Forderung der „bancada ruralista“, der parteiübergreifenden Fraktion von Abgeordneten, die die Interessen des Agrarbusiness vertritt. Viele Abgeordnete besitzen selbst riesige Farmen und wollen nicht auf den „schmutzigen Listen“ auftauchen, in denen das Arbeitsministerium die Namen der Unternehmen veröffentlich, die von Sklaverei profitiert haben.
Der zuständige Staatsanwalt Deltan Dallagnol erklärte im Interview mit O Estado de São Paulo, dass die Operation Lava Jato das Ziel habe „sehr mächtige Menschen unter das Gesetz zu stellen. Es gibt nur ein Problem: Sie machen die Gesetze.“ Derzeit ist die Legislative damit beschäftigt, Gesetzesinitiativen durchzubringen, die die Untersuchungen von Lava Jato enorm erschweren würden. So sollen Kronzeugenregelungen, auf denen die Untersuchungen vor allem basieren, erschwert werden. Außerdem sollen Gefängnisstrafen nur umgesetzt werden, wenn den Angeklagten keine Rechtsmittel mehr zur Verfügung stehen und Richter*innen sollen leichter wegen „Amtsmissbrauch“ belangt werden können. Rechtsexpert*innen sind sicher, dass diese Gesetzesvorschläge nur einen Zweck haben: Die Korruptionsuntersuchungen gegen Parlamentsmitglieder zu erschweren. So kann sich der Abgeordnete Wladimir Costa aus Pará sicher sein, dass der Präsident und das Parlament ihre Arbeit machen. Und die besteht derzeit vor allem darin, ist ihre eigene Straflosigkeit zu garantieren.

 

“FRAUENRECHTE SIND MENSCHENRECHTE”

Die Nachrichten, die uns aus Mexiko erreichen, drehen sich um Verschwundene, um Femizide und den Drogenhandel. Wie ist es, in einem solchen Klima zu arbeiten?
Es gibt kein anderes Gegengewicht zur Regierung als die Zivilgesellschaft und diese ist akut bedroht. Korruption und Straflosigkeit betreffen auch das Gesundheitssystem. In manchen Dörfern gehen die Medikamente aus, weil sie geklaut werden. Es ist wichtig zu zeigen, dass Korruption und Straflosigkeit die tödliche Mischung in allen Bereichen ist. Am meisten leiden darunter die Frauen, die, weit entfernt von den Städten, kaum finanzielle Mittel haben. Es ist schwierig zu arbeiten, während das Land in Stücke zerfällt. Wir kooperieren viel mit Menschenrechtsorganisationen. Zum Beispiel machen wir jetzt ein Projekt zum Thema Straflosigkeit, das zeigen soll, dass es egal ist, an welchem Thema du arbeitest. Ob es um Migration, Mord, Verschwindenlassen oder Abtreibung geht – die Mechanismen der Straflosigkeit sind die gleichen.

Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
GIRE hat einen Bereich für Rechtsstreitigkeiten eröffnet. Wir nehmen Fälle an, begleiten, dokumentieren sie und führen Gerichtsprozesse. Dadurch sind wir in engem Kontakt mit den Frauen. Die Fälle sind fast nie in Mexiko-Stadt, sodass wir viel durch das ganze Land reisen. Wenn es einen Fall gibt, betreuen wir ihn. Ein Grund einen Fall nicht anzunehmen wäre höchstens, wenn die Frau genug Geld hat, selbst einen Anwalt zu bezahlen. Schwierig ist auch, wenn die Taten sehr lange zurückliegen, dann kann man rechtlich oft nichts mehr machen. Auch kämpfen wir für Gesetzesänderungen im Kongress und organisieren Kampagnen, denn der öffentliche Druck hilft bei der rechtlichen Aufarbeitung schon sehr. Wir machen öffentlich, dass es um Muster, nicht um Einzelfälle geht. Der klassische Fall ist der der indigenen, armen Frau, die stirbt, schlecht behandelt oder der die Abtreibung verweigert wird.

Wie können diese Missstände behoben werden?
Ein wichtiger Schritt ist, dass während der medizinischen Schwangerschaftsbegleitung über Gewalt gesprochen wird. Die Frauen und die Ärzte sollen wissen, dass es nicht normal ist, dass Frauen der Zugang zu Kliniken verwehrt wird, sie mit niemandem in ihrer Sprache sprechen können. Viele erleiden schreckliche Grausamkeiten, von Überdosierung von Medikamenten, Demütigung, Schläge. Und das in einem Moment größter körperlicher und psychischer Verwundbarkeit. Es muss öffentlich gemacht werden, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist die schlimmste Art von Machismus, weil sich die Frau in diesem Moment nicht verteidigen kann.

Was verbindet die meisten Fälle, die Sie begleiten?
In fast allen Fällen geht es um Vergewaltigung. Manchmal sind es junge Mädchen, die von Verwandten oder Nachbarn vergewaltigt wurden und schwanger sind. Sie bitten um legale Abtreibung. Wir übernehmen ihre Verteidigung, verklagen die örtliche Verwaltung wegen Vorenthaltung medizinischer Grundversorgung. Wir haben Klagen gegen Bundesstaaten eingereicht. Diese Fälle haben wir nicht gewonnen. Die Richter sagen, dass die Frau die Schwangerschaft fortsetzen müsse, um den Fall zu gewinnen. Immerhin haben wir erreicht, dass Frauen ihren Vergewaltiger – manchmal den eigenen Vater – nicht mehr anzeigen müssen und Minderjährige nicht mehr das Einverständnis ihrer Eltern benötigen, um abtreiben zu dürfen. Die politische Rechte hat Einspruch eingelegt, die Entscheidung liegt jetzt beim Obersten Gericht. Das Schlimme ist, dass so viele Mädchen dazu gezwungen werden, sehr jung Mütter zu werden, das Risiko einer frühen Geburt zu tragen und die Schule abzubrechen.

Warum stellt sich die Politik so gegen die Legalisierung von Abtreibung?
Ich glaube, es ist ideologisch motiviert. Viele können nicht tolerieren, dass eine Frau nicht Mutter sein will. Es gibt diese Wahrnehmung, dass die Mutterschaft ein Geschenk Gottes ist, über das man sich freuen muss. Es gibt viel Druck von Seiten verschiedener Kirchen und Konservativer, die glauben, dass du das Leben ab Empfängnis respektieren musst. Der politische Wille von oben fehlt, zu sagen, dass Mexiko ein laizistischer Staat ist und es die Option geben muss, auf legale und sichere Weise abzutreiben.

Haben Sie schon konkrete Angriffe auf Ihre Organisation erlebt?
Unsere Internetseite wurde angegriffen, wir haben Briefe bekommen, dass wir Kindermörder*innen seien, solche Sachen, aber mehr zum Glück noch nicht. Schwierig ist, dass die Frauen, die wir verteidigen, manchmal bedroht werden. Ich weiß nicht, wie ihre Identität bekannt wird, wahrscheinlich durch die lokalen Behörden selbst. Jemand bietet ihnen Geld an für ein Video, in dem sie behaupten sollen, dass GIRE sie gezwungen habe abzutreiben. Das ist besorgniserregend. Deshalb müssen wir sehr eng mit den Familien zusammenarbeiten, Vertrauen aufbauen. Wir haben auch ein Sicherheitsprotokoll für alles. Zum Beispiel reisen wir nicht mehr nach Michoacán, Tamaulipas und Sinaloa. Es ist schrecklich, einer Frau zu sagen, dass wir sie nicht begleiten können. Wir suchen dann nach anderen Wegen, um ihnen in ihren Bundesstaaten zu helfen.

Wie schätzen Sie die aktuelle politische Situation ein?
Ich bin besorgt darüber, was im nächsten Jahr bei den Wahlen passieren wird. Die PRI (Partei der institutionellen Revolution, Anm. d. Red.) ist absolut korrupt. Andrés Manuel López Obrador von Morena (Bewegung der nationalen Erneuerung, Anm. d. Red.) ist auch nicht unser Freund. Zwar will niemand die PRI. Aber die Alternative ist für Frauen auch nicht überzeugend. Neulich wurde López Obrador in einem Interview gefragt, ob er Feminist sei und hat geantwortet, dass die Frauen „den Himmel verdienen“. Es ist traurig.

Was müsste passieren, damit sich die Situation für die Frauen verbessert?
Legalisierung von Abtreibung. Gute medizinische Versorgung. Die Möglichkeit, Armut nicht dein Leben bestimmen zu lassen. Vor allem die Entnormalisierung von Gewalt gegen Frauen. Nicht mehr ständig in der Defensive sein zu müssen, alltägliche Entscheidungen frei von Angst treffen zu können. Es ist im internationalen Kontext wichtig, Solidarität zu zeigen. Das gibt den Organisationen in Mexiko Kraft. Ein Gegengewicht zur offiziellen Version muss her. Für uns war dieser Preis sehr wichtig. Normalerweise bekommt das Thema Frauenrechte nicht viel Aufmerksamkeit.

 

BLUTIGE BANANEN

Das investigative Nachrichtenportal VerdadAbierta.com veröffentlichte kürzlich zahlreiche Auszüge aus Gerichtsakten, welche beweisen, dass das Unternehmen Chiquita Brands L.L.C. jahrzehntelang unter anderem paramilitärische Gruppen finanzierte, die zur gleichen Zeit schwe­­re Gewalttaten und Menschrechtsverletzungen begingen. Die Dokumente wurden dem Gericht im Zuge eines Verfahrens von der US-Börsenaufsichtsbehörde zur Verfügung gestellt. Sie zeigen, dass Chiquita seit Ende der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er regelmäßig Zahlungen an verschiedene bewaffnete Akteure des kolumbianischen Konflikts leistete. Insgesamt gingen mehrere Millionen Dollar sowohl an linke Guerillagruppen als auch an rechte Paramilitärs und zivile Milizen sowie an Brigaden der kolumbianischen Armee. Die Zahlungen konzentrierten sich auf die Bananenanbauregionen der Bundesstaaten Antioquia und Magdalena. Insbesondere die Zeug*innenaussagen einiger Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer*innen des zu den größten Bananenexporteuren der Welt zählenden Unternehmens bieten einen Einblick in die Vorgänge. So beschreiben die befragten Personen die getätigten Zahlungen an bewaffnete Akteure in Kolumbien wiederholt als „ganz normale Ausgaben“, die sich nicht von Zahlungen für Düngemittel oder Insektenvernichtungsmittel unterschieden hätten.

Sieben Jahre lang kämpfte das National Security Archive, eine Forschungs- und Archivierungseinrichtung an der George Washington University in Washington D.C., für die Freigabe der mehr als 9.000 Seiten an Informationen in den Händen der US-amerikanischen Börsenaufsicht. Diese hatte zahlreiche Mitarbeiter*innen von Chiquita Brands International unter Eid aussagen lassen. Die gesammelten Protokolle zeigen das Bild eines routinierten Systems geheimer Transaktionen auf allen Seiten des Konflikts. Und sie zeigen das Kalkül und die Skrupellosigkeit der hinter den Zahlungen stehenden Verantwortlichen.

Robert F. Kistinger war über 27 Jahre lang in leitenden Managementpositionen bei Chiquita tätig und berät das Unternehmen bis heute. In seiner Aussage vor der Börsenaufsicht im Jahr 2000 bestätigte er, seit den 1980er Jahren über die Zahlungen informiert gewesen zu sein. Diese Vorgänge hätten jedoch kaum spürbare Auswirkung­en auf die Gesamtumsätze des Un­ter­neh­mens gehabt: „Wissen Sie, wir hören doch nicht auf, in Kolumbien Geschäfte zu machen, nur, weil wir 25.000 Dollar extra ausgeben müssen“, so Kistinger. Die Kosten wurden von Chiquita demnach als „notwendig, aber zu verschmerzen“ betrachtet und sollten offenbar eine mög­lichst störungsfreie Bananenproduktion im Land ga­rantieren.

Die Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich für Verbrechen an der Zvilbevölkerung verantwortliche Gruppen finanziert wurden, wenig beeindruckt.

Die verantwortlichen Manager*innen zeigen sich von der Tatsache, dass dabei kontinuierlich unter anderem terroristische und paramilitärische Gruppen finanziert wurden, die zur gleichen Zeit für Massaker an der Zivilbevölkerung, Auftragsmorde, gewaltsames Verschwindenlassen von Personen, Vergewaltigungen sowie Vertreibungen ganzer Gemeinden verantwortlich waren, wenig beeindruckt. So berichtete Jorge Forton, der ab 1995 für Chiquita in Kolumbien ein standardisiertes Zahlungsmodell einführen sollte, dass das Geld zunächst gewaltsame Übergriffe der bewaffneten Gruppen auf Mitarbeiter*innen von Chiquita verhindern sollte. Er sei sich jedoch auch bewusst gewesen, dass damit Gruppen finanziert wurden, die zu einer Intensivierung des gewalttätigen Konflikts in der Region beigetragen hätten. Das habe seine Chefs in den USA jedoch kaum interessiert, so Forton.

Bereits 2007 wurde Chiquita als erster multinationaler Konzern in den USA dafür verurteilt, einer internationalen terroristischen Organisation Geld gezahlt zu haben. In dem Verfahren ging es um Zahlungen von rund 1,7 Millionen Dollar zwischen 2001 und 2004 an den nationalen Dachverband der rechtsgerichteten ko­lum­bianischen Paramilitärs (AUC). Chiquita wurde in diesem Verfahren zu einer Geldstrafe in Höhe von 25 Millionen Dollar verurteilt. Allerdings wurden bis heute keine Angestellten des Unternehmens zur Verantwortung gezogen. Dies fordert nun ein Zusammenschluss kolumbianischer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Mindestens 14 ehemalige und aktuelle Mitarbeiter*innen von Chiquita wurden von den NGOs als Personen mit Verantwortung in den beschriebenen Vorgängen identifiziert. Als Begründung für die Anrufung des IStGH führen die Organisationen an, dass der Geltungsbereich der kolumbianischen Justiz für ein solches Verfahren nicht ausreiche, da unter anderem die USA die verantwortlichen Personen nicht ausliefern wollen.

“Chiquita war nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und die Akteure des Konflikts zu bezahlen.”

In ihrem Schreiben an den IStGH beschreiben die NGOs, dass es sich bei den Zahlungen schon auf Grund ihrer Regelmäßigkeit und ausgeklügelten Abrechnung nicht um einzelne „Fehler“, sondern um absichtliche Zuwendungen gehandelt habe. Sprecher*innen von Chiquita haben immer wieder argumentiert, die Zahlungen an den AUC hätten auf Grund von Erpressung stattgefunden. Dieser Darstellung wiedersprach jedoch bereits ein US-Richter, der 2007 an dem Verfahren gegen Chiquita teilnahm: „Als multinationales Unternehmen war Chiquita nicht dazu gezwungen, 15 Jahre lang in Kolumbien zu bleiben und gleichzeitig die drei wesentlichen Akteure des Konflikts zu bezahlen, die währenddessen das kolumbianische Volk terrorisierten.“ Auch der damalige stellvertretende Oberstaasanwalt, Michael Chertoff, äußerte in dem Zusammenhang: „Das Unternehmen hatte eine legale Alternative: Kolumbien verlassen.“

Bezüglich der Zahlungen an die Guerillagruppen FARC, ELN und ELP wurden bisher weder in den USA noch in Kolumbien Verfahren eingeleitet. In dem Verfahren um die Zahlungen an den Dachverband der Paramilitärs (AUC) gab Chiquita auch Zahlungen von mehr als 850.000 US-Dollar an die linken Guerillas zu, jedoch nur im Zeitraum von 1989 bis 1997, als diese von den USA noch nicht als terroristische Gruppen deklariert wurden. In diesem Zeitraum wurden, nach Informationen der kolumbianischen Beobachtungsstelle für Erinnerung und Konflikt, in den Bananenanbauregionen 181 Menschen bei 21 Massakern getötet. 15 dieser Massaker werden der FARC zugeschrieben. Nach einem Treffen zwischen Vertreter*innen von Chiquita und dem Anführer des AUC, Carlos Castaño Gil, 1997, wurden die meisten Zahlungen an linke Guerillagruppen eingestellt und von da an vor allem paramilitärische Gruppen und rechtsgerichtete Milizen bezahlt.

Die nun von dem Zusammenschluss kolumbianischer NGOs angestrebte juristische Auf­arbeitung auf internationaler Ebene wird unter dem Stichwort „Ende der Straflosigkeit“ vorangetrieben. Ziel ist es, so die Organisationen in ihrem Schreiben, auch auf nationaler Ebene klare strafrechtliche Verantwortlichkeiten zu bestimmen. Zudem sei das Handeln des Internationalen Strafgerichtshofs entscheidend für die mögliche Verhinderung ähnlicher von multinationalen Konzernen finanzierter Verbrechen, so der Brief.

FRAGWÜRDIGE ÜBERGANGSJUSTIZ

Die Vorfreude auf die Realisierung des Friedensprozesses zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) schwindet. Einen Monat vor dem Fristablauf zur Entwaffnung der 6.900 Guerillerxs am 1. Juni hagelt es Kritik an der vom Kongress beschlossenen Übergangsjustiz. Zu viele Änderungen wurden während der Diskussionen im Senat und Repräsentant*innenhaus vorgenommen; dazu verstärken die bereits bekannten, strittigen Begnadigungsanträge von ehemaligen Staatsbediensteten den Verdacht, dass die Sonderjustiz wegen der verhältnismäßig milden Strafen von fünf bis acht Jahren bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden könnte.

Die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) ist der juristische Bestandteil des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung (SIVJRNR), das im fünften Punkt des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den FARC vereinbart wurde. Das System koppelt an das im Dezember 2016 erlassene Amnestiegesetz an und ist die tragende Säule des Friedensprozesses. Es besteht aus juristischen Maßnahmen – ein Sondertribunal für den Frieden wird zur Zeit gegründet – sowie nicht-juristischen Instanzen, die zur Aufklärung der direkten und indirekten Verantwortung bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen und zur Wiedergutmachung für die Betroffenen beitragen sollen. Einen Schritt in Richtung Aufklärung machte die Regierung am 6. April, als Präsident Juan Manuel Santos die Wahrheitskommission und die Sondereinheit für die Suche nach den Verschwundenen, auch Bestandteile der SIVJRNR, per Dekret ins Leben rief. 25.000 Menschen werden nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historische Erinnerung seit 1985 immer noch vermisst.

Teil der Maßnahmen für die Wiedergutmachung ist aber auch die Rückkehr der 7 Millionen Inlandsvertriebenen in ihre Heimatregionen. Trotz der im ersten Punkt des Friedensabkommens geplanten integralen Agrarreform, welche die Rückgabe von Land ermöglichen soll, bleibt noch unklar, wie sich das mit der kolumbianischen Verfassung und dem Wirtschaftsmodell der Lizenzvergabe von Megaprojekten mit der Wiedergutmachung für Vertriebene vereinbaren lässt. In dem Gesetzesentwurf des SIVJRNR wird dies nicht erwähnt.
Möglicherweise bleibt jedoch mit den 72 Änderungen des mit der Opposition vereinbarten Abkommens, das die Regierung und die FARC am 23. November unterzeichneten, der Weg zur weiteren Aufklärung versperrt. Die Zivilgesellschaft, die nach der ersten Unterzeichnung des Abkommens die JEP begrüßte (LN 510), kritisiert die nun vorgenommenen Änderungen an der Sonderjustiz.

Die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), das Anwaltskollektiv CAJAR und das Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CPDH) äußerten sich in einem gemeinsamen Kommuniqué empört darüber, dass die Möglichkeit gestrichen wurde, Zivilist*innen, die paramilitärische Gruppen direkt oder indirekt finanziert haben, zu verurteilen und zu bestrafen. Die JEP wird gegen diese Personen nur vorgehen können, wenn eine klare Verbindung zu einem Verbrechen gegen die Menschheit bewiesen wird. Ob sich das beispielsweise bei den 1.166 Massakern zurückverfolgen lässt, die von paramilitärischen Gruppierungen verübt wurden, ist mehr als fragwürdig. „Das wiederkehrende und alarmierende Phänomen, dass Unternehmen in umkämpften Gebieten die bewaffneten Gruppen unterstützt haben, obwohl sie über die schrecklichen Verbrechen Bescheid wussten, wird somit geleugnet“, äußerten sich die Organisationen in ihrem Schreiben. Gleichermaßen halten sie die festgelegten Einschränkungen hinsichtlich der Kommandoverantwortung bei den von Soldat*innen begangenen Menschenrechtsverletzungen für besorgniserregend. Laut der Pressemitteilung der Organisationen verstoße das nun ratifizierte Vorhaben gegen die Rechte der Opfer und das Römische Recht, wonach gegen hochrangige Generäl*innen juristisch ermittelt werden kann, wenn ihnen untergeordnete Soldat*innen Verbrechen begangen haben. Dafür ist es nicht nötig zu beweisen, „dass das Verbrechen im Zuständigkeitsbereich des Befehlshabers lag oder ob dieser fähig war, Operationen in den Gebieten vorzubereiten und durchzuführen, wo die Straftaten verübt worden sind“, erklärte die Staatsanwältin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Fatou Bensouda, in einem Artikel zu diesem Thema für die Zeitschrift Semana. Dem stimmen die oben genannten Organisationen zu. Sie sehen in diesem Gesetzesvorhaben „ein deutliches Hindernis für den wirklichen Erfolg von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung in Kolumbien“.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen. Viele davon machen die Schwierigkeiten deutlich, vor denen die Richter*innen der JEP stehen. Der jüngste Fall ist derjenige des Hackers Andres Sepúlveda, der 2014 als Berater des Präsidentschaftskandidaten des Uribismus, Oscar Iván Zuluaga, fungierte. Mitten im Wahlkampf spähte Sepúlveda die Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der Regierung aus. Noch 2014 wurde Sepúlveda zu 10 Jahren Haft verurteilt, nun will er seinen Fall im JEP eröffnen lassen. Sein Argument: Ziel der Ausspähung sei es gewesen, eine Politik zur Fortsetzung des bewaffneten Konflikts zu etablieren, den Friedensprozess mit den FARC zu torpedieren und mit illegalen Mitteln zu verhindern, dass Präsident Santos an der Macht bleibe. So lautete die Formulierung in einer Pressemitteilung des Anwalts von Sepúlveda.

Opferorganisationen sind jedoch vor allem von der Aufnahme der Fälle der Generäle Jaime Humberto Uscátegui Ramírez und Jesús Armando Arias in die Sondergerichtsbarkeit alarmiert. Uscátegui wurde 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 37 Jahren verurteilt, weil er die von der paramilitärischen AUC verübten Massaker in Mapiripán nicht verhinderte: 120 Paramilitärs stürmten 1997 das kleine Dorf im Verwaltungsbezirk Meta. Sie folterten, zerstückelten und enthaupteten mindestens 49 Menschen. Dagegen gelang es Armando Arias den von der Guerilla M-19 besetzten Justizpalast militärisch zurückzugewinnen, wobei 98 Menschen starben. Dafür wurden 2012 sowohl die M-19 als auch die Armee vom Verfassungsgericht Kolumbiens für schuldig erklärt und Arias zu 35 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Doch mit der Aufnahme dieser Fälle in die JEP könnten beide Generäle in den nächsten Wochen freigelassen werden, zumindest bis der Prozess in dem Sondertribunal für den Frieden anfängt.

Das sind nur einige der Fälle, welche Nachrichtenanalyst*innen und Menschenrechtsorganisationen die Stirn runzeln lassen. Die Empörung der Menschenrechtsorganisationen über das, was die ratifizierte Übergangsjustiz bewirkt hat, wuchs umso mehr, als ein Richter in Bogotá die Anhörung von zwölf Armeeangehörigen Ende März aussetzen wollte; gegen die Soldaten wurde wegen der willkürlichen Hinrichtung von jungen Männern, den sogenannten Soacha-Fällen, ermittelt.

Im Jahr 2008 verschwanden Dutzende junger Männer aus den ärmeren Bezirken Bogotás, sie wurden von Soldat*innen der Armee mit dem Versprechen auf Arbeit rekrutiert, 600 Kilometer von der Stadt entfernt ermordet und als militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerillas präsentiert. Der Richter in Bogotá behauptete nun, dass er infolge der Ratifizierung der JEP nicht befugt sei, die Anklage fortzusetzen, weil dieser Fall nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich liege. Doch am 4. April kippte die vorsitzende Richterin des Verwaltungsbezirks Cundinamarca diese Entscheidung wieder und verurteilte 21 weitere Angeklagte, darunter den Oberst Gabriel de Jesús Rincón, zu 46 Jahren Haft für den Mord an zwei Männern und fünf Jungen. „Die Opfer sind nicht im Kampf gefallen“, erklärte die Richterin, „die Militärs haben sich in einer kriminellen Bande organisiert“. Da die Motivation der Militärs von einem höheren Leistungslohn abhinge, müssten sie von der ordentlichen Justiz und nicht von der JEP aufgebarbeitet werden.

Diese Meinung teilen die Mütter von Soacha, die nach zehn Jahren des Wartens endlich wissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist. „Zu erlauben, dass dieser Fall in das Sondergericht für den Frieden aufgenommen wird, wäre ein Geschenk an die Mörder meines Sohnes“, sagte Idaly Garcerá, Mutter von Diego Tamayo, einem der Ermordeten.

Der Gerichtsprozess ist jedoch längst nicht abgeschlossen. Offen bleibt, ob der Oberst und seine Männer den Fall vor das Sondergericht bringen werden. Trotz lautstarker Kritik von Menschenrechtsorganisationen, versicherte der Exekutivsekretär der JEP, Néstor Raúl Correa, dass diese Fälle durchaus vom Sondergericht aufgenommen werden könnten. Er berief sich dabei auf das Urteil des Verfassungsgerichts, das die Verbindung zwischen dem bewaffneten Konflikt und den willkürlichen Hinrichtungen feststellt. Das Gesetz für Frieden und Gerechtigkeit „ist kein Jahrmarkt, auf dem es Preise zu gewinnen gibt, und auch kein Basar, auf dem Freiheitsgeschenke verteilt werden, sondern es ist eine Struktur, die Rechte und Pflichten generiert“, unterstrich Correa.

Am 17. April wurden die ersten zwei Fälle von Militärs offiziell von der JEP angenommen; Elvin Andrés Caro und Luis Emiro Sierra Padilla, die 2010 in Medellín zu 30 Jahren Haft wegen des Mordes am Schüler Samir Enrique Díaz Galet verurteilt, kamen dadurch aus dem Gefängnis frei. „Mit der Abgabe der Fälle an eine noch nicht funktionierende Jurisdiktion setzen die Autoritäten die Anklagen auf unbestimmte Zeit aus“, kritisierten 33 nationale und internationale Organisationen, darunter Human Rights Watch, in einer Pressemitteilung. Doch welche Verbrechen haben mit dem Konflikt zu tun und welche nicht?

„Die noch nicht freigelassenen Guerillerxs sind verzweifelt und sehen große Widersprüchlichkeiten im Amnestiegesetz“, sagt Pastor Alape, eine der bekanntesten Figuren der Guerilla im Interview mit der Zeitung El Tiempo. „Es wurde eine Anzahl an Freilassungen vereinbart, die zur Zeit nicht erfüllt wird“, erklärte er. Nur 54 der 2.800 inhaftierten Guerillerxs, die vom Amnestiegesetz vom vergangenen Dezember profitieren sollten, weil sie keine Menschenrechtsverletzungen, sondern Verbrechen wie Rebellion, Volksverhetzung oder Diebstahl begangen haben, wurden bis jetzt aus dem Gefängnis entlassen. Einer der Freigelassenen, Luis Alberto Ortiz Cabezas, wurde allerdings am 17. April in Tumaco, Nariño, vom Narco-Paramilitär „Benol“ ermordet. „Solche Ereignisse untergraben das Vertrauen in die Sicherheitsgarantien für die begnadigten Guerilleros“, betonten die FARC in einer Stellungnahme. Es sei nicht hinzunehmen, dass inmitten des Friedensprozesses dessen Hauptfiguren vor den Augen der Weltgemeinschaft ermordet würden, ohne dass darauf reagiert werde. Und die Ex-Guerillerxs machten deutlich: „Hinsichtlich unserer strikten Einhaltung des Vereinbarten, verlangen wir von der Regierung, es ebenfalls zu tun.“

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